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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiß, ob sie sich nicht noch mehr die Zeit mit mir vertreibt, als ich mit ihr?« – Unscheinbare, skeptische Fragen sind es, die Michel de Montaigne zu einem Vorbild des 21. Jahrhunderts machen. Vor 475 Jahren in eine Zeit der Glaubenskämpfe hineingeboren, hat Montaigne stets neugierig und kritisch auf sich selbst und seine Umwelt geschaut. Wo andere den Überblick zu haben glaubten, sah er vor allem die Beschränktheit eigener Perspektiven. Wo andere im Namen ewiger Wahrheiten Kriege führen, steht er für Toleranz und radikale Subjektivität.
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2012
Michel de Montaigne
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-401900-0
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Dass Philosophieren sterben lernen heiße
Von der Freundschaft
Von den Kannibalen
Von der Ungleichheit, die zwischen uns ist
Von der Ungewissheit unserer Urteile
Von dem Alter
Von der Unbeständigkeit unserer Handlungen
Von der Völlerei
Von den Büchern
Von der Grausamkeit
Von der Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Vätern
An die Frau von Duras
Von dreierlei Umgange
Anhang
Editorische Notiz
Daten zu Leben und Werk
Michel de Montaigne, ›Essais‹
Michel de Montaigne
Cicero sagt, das Philosophieren sei nichts anders, als eine Vorbereitung zum Tode.[1] Dieses kommt daher, weil das Studieren und die tiefsinnigen Betrachtungen unsere Seele einigermaßen außer uns ziehen, und derselben, ohne dass der Körper daran Teil hat, etwas zu tun verschaffen; welches gleichsam eine Anweisung zu dem Tode ist, und eine gewisse Ähnlichkeit mit demselben hat: oder vielmehr daher, weil alle Weisheit und alles Reden der Welt endlich darauf hinauslaufen, uns zu lehren, dass wir den Tod nicht fürchten sollen. In der Tat, entweder weiß die Vernunft selbst nicht was sie will: oder, sie muss bloß auf unser Vergnügen sehen, und alle ihre Bemühungen müssen überhaupt auf nichts anders abzielen, als uns ein glückseliges Leben und Ruhe zu verschaffen, wie die H. Schrift sagt.[2] Die Meinungen der Menschen stimmen darinnen überein, dass die Belustigung unser Zweck sei; ob sie gleich unterschiedene Mittel dazu zu gelangen ergreifen: sonst würde man dieselben gleich anfangs verbannen. Denn, wer wollte einem Gehör geben, welcher unsern Verdruss und unsere Beschwerlichkeit zu seinem Endzwecke wählte? Die Streitigkeiten der Weltweisen kommen also in diesem Falle bloß auf Worte an. Transcurramus, solertissimas nugas.[3] Es zeigt sich hierbei mehr Eigensinn und Zanksucht, als einem so ehrwürdigen Stande geziemet. Allein, der Mensch mag eine Person vorstellen, welche er immer will, so spielt er doch allezeit die seinige mit unter.
Sie mögen sagen, was sie wollen: selbst bei der Tugend ist unsere Hauptabsicht die Wollust. Ich gebe ihnen mit Fleiße dieses Wort an zu hören, welches ihnen so verhasst ist. Und bedeutet dasselbe ein vorzüglich großes Vergnügen und ungemeines Ergötzen: so ist es eher vermittelst der Tugend, als vermittelst sonst etwas, zu erhalten. Diese Wollust ist desto mehr eine wahre Wollust, je lebhafter, stärker und männlicher sie ist: ja, wir sollten ihr den Namen des Vergnügens beilegen, welcher vorteilhafter, angenehmer und natürlicher ist, und sie nicht Munterkeit (vigueur) nennen, wie wir getan haben. Die andere niederträchtigere Wollust müsste, wenn sie anders diesen schönen Namen verdiente, denselben nur gemeinschaftlich, nicht aber vorzüglich führen. Ich finde sie nicht so von Unbequemlichkeiten und Widerwärtigkeiten befreiet, als es die Tugend ist. Ohne daran zu gedenken, dass ihr Genuss nur einen Augenblick dauert, flüchtig und vergänglich ist: so geht sie noch darzu nicht ununterbrochen fort, sie hat ihre Beschwerlichkeiten, und kostet blutsauern Schweiß; überdies aber wird sie von so vielerlei schmerzhaften Leidenschaften begleitet, und hat zur Seite einen so starken Ekel, dass derselbe so gut als die Reue ist. Wir tun sehr unrecht, wenn wir meinen, ihre Unbequemlichkeiten dienten ihrer Süßigkeit statt eines Stachels und Gewürzes, gleichwie in der Natur entgegengesetzte Dinge einander beleben; und hernach, wenn wir auf die Tugend zu reden kommen, sprechen, sie wäre mit dergleichen Folgen und Unbequemlichkeiten überhäuft, und würde dadurch rauh und unzugänglich gemacht: da dieselben doch hier, weit mehr, als bei der Wollust, das göttliche und vollkommene Vergnügen, welches sie uns verschaffet, edler und empfindlicher machen, und erheben. Gewiss! Derjenige ist nicht wert sie kennen zu lernen, welcher derselben Geschmack ihrem Nutzen entgegensetzt, und weder ihre Annehmlichkeiten noch ihren Gebrauch erkennet! Sagen uns diejenigen, welche uns vorstellen, dass sie beschwerlich und mühsam aufzutreiben, ihr Genuss aber angenehm sei, wohl etwas anders, als dass sie allezeit unangenehm? Denn, durch was für menschliche Mittel kann man jemals zu derselben Genusse gelangen? Die Allervollkommensten haben sich wohl begnügt darnach zu trachten, und sich demselben zu nähern, doch ohne denselben zu erhalten. Allein sie betrügen sich: weil bei allen uns bekannten Ergötzlichkeiten sogar das Bestreben nach denselben ergötzlich ist. Die Unternehmung ist von eben der Art, als die Sache, auf welche sie abzielet: denn sie ist ein wichtiger Teil der Wirkung, und gleichen Wesens. Die Glückseligkeit und Wonne, welche in der Tugend hervorleuchtet, erfüllet alle ihr Zubehör und ihre Zugänge; sogar den ersten Eingang, und die äußersten Grenzen.
Allein unter die vornehmsten Vorteile, welche uns die Tugend verschaffet, gehöret die Verachtung des Todes: ein Mittel, welches unserm Leben eine holde Ruhe verschafft, und uns desselben Genuss rein und angenehm macht, ohne welches alle andere Wollust verloschen ist. Dieses ist die Ursache, warum alle Sekten der Weltweisen in diesem Stücke übereinstimmen. Denn, ob sie uns gleich alle einmütig den Schmerz, die Armut, und andere Zufälle, welchen das menschliche Leben unterworfen ist, zu verachten Anleitung geben; so geschieht es doch nicht so sorgfältig: teils, weil diese Vorfälle nicht so unvermeidlich sind, da die meisten Menschen ihr Leben hinbringen, ohne etwas von der Armut zu wissen, und noch andere gar ohne Schmerz und Krankheit zu empfinden, wie Xenophilus, der Tonkünstler, welcher 106 Jahre bei vollkommener Gesundheit gelebet hat; teils, auch deswegen, weil der Tod, wenn es auf das Schlimmste geht, nach unserm Belieben allen Unbequemlichkeiten ein Ende machen, und abhelfen kann.[4] Allein der Tod selbst ist unvermeidlich.
Omnes eodem cogimur, omnium
Versatur urna, serius ocius
Sors exitura et nos in aeternum
Exilium impositura cymbae.[5]
Und folglich haben wir, wenn wir uns vor demselben fürchten, beständig Ursache zu einer Marter, die auf keine Art gelindert werden kann. Es ist kein einziger Ort, von welchem sie nicht herkommen sollte. Wir können, wie in einer verdächtigen Gegend, den Kopf immerfort herumdrehen: quae quasi saxum Tantalo semper impendet.[6] Unsere Parlamente lassen öfters die Missetäter auf der Stelle, wo das Verbrechen begangen worden ist, hinrichten. Man führe sie unter Weges durch die schönsten Häuser: man tue ihnen so viel zu gute, als man will,
– Non Siculae dapes
Dulcem elaborabunt saporem;
Non avium cytharaeque cantus
Somnum reducent.[7]
Meint man wohl dass sie sich daran ergötzen werden? Dass ihnen der Endzweck ihrer Reise, welcher ihnen gemeiniglich vor Augen schwebet, nicht allen Geschmack an diesen Ergötzlichkeiten benommen und verdorben hat?
Audit iter, numeratque dies, spatioque viarum
Metitur vitam, torquetur peste futura.[8]
Das Ziel unseres Laufes ist der Tod. Auf diesen Gegenstand müssen wir unumgänglich unsere Absicht richten. Erschrecken wir vor demselben: wie ist es möglich, dass wir ohne Schauer einen Schritt fortsetzen können? Der Pöbel hilft sich dadurch, dass er nicht daran gedenket. Allein, durch was für viehische Dummheit verfällt er in einen so groben Fehler? Er muss den Esel bei dem Schwanze zäumen.
Qui capite ipse suo instituit vestigia retro.
Es ist nicht zu verwundern, wenn derselbe so oft betrogen wird. Man macht die Menschen bloß mit dem Namen des Todes furchtsam, und die meisten kreuzigen und segnen sich davor, wie vor dem Teufel. Und weil desselben in den Testamenten Meldung geschieht: so darf man nicht denken, dass sie eher Hand daran legen werden, als bis ihnen der Arzt das Leben abspricht; und Gott weiß mit was für Überlegung sie bei Schmerz und Schrecken dasselbe schmieden. Die Römer, welchen dieses Wort allzu hart klang, und ein böses Anzeichen zu sein schien, haben dasselbe mildern und umschreiben gelernet. Anstatt zu sprechen, er ist tot, sagten sie, er hat zu leben aufgehöret, er hat gelebet. Sie sind zufrieden, wenn es nur Leben ist, gesetzt, dass es vorbei ist. Von denselben haben wir unser feu Maistre Jehan (weyland Herr Johann) entlehnet.[9] Zum Glücke gelten, wie es heißt, die Worte wie die Münze. Ich bin gegen 11 Uhr und Mittags den letzten Tag des Hornungs geboren, im Jahre 1533, wie wir jetzo rechnen, da wir von dem Wintermonate anfangen. Es sind gerade 15 Tage, dass ich das neun und dreißigste Jahr zurückgelegt habe; und wenigstens muss ich noch einmal so lang leben. Indessen würde es eine Torheit sein wenn man nicht auch an so weit entfernte Dinge denken wollte. Allein, was? Junge und Alte büßen das Leben auf einerlei Art ein. Keiner geht anders aus der Welt, als ob er den Augenblick erst in dieselbe getreten wäre; wozu noch kommt, dass kein so abgelebter Greis ist, der, wenn er es auch so hoch als Mathusalem gebracht hat, nicht noch zwanzig Jahre mitzulaufen gedächte. Überdies, armer Tropf, wer hat denn deinem Leben ein gewisses Ziel gesetzt? Du verlässest dich auf das Geschwätze der Ärzte. Betrachte vielmehr das, was wirklich geschieht, und was die Erfahrung lehret. Nach dem gemeinen Laufe der Natur lebst du aus einer außerordentlichen Gnade lange. Du hast das gewöhnliche Ziel des Lebens überschritten. Lass es sein. Rechne einmal, ob nicht unter deinen Bekannten ungleich mehr gestorben sind, ehe sie in deine Jahre gekommen, als nachdem sie dieselben erreicht. Ja, bring einmal sogar diejenigen, welche ihr Leben durch den erlangten Ruhm geadelt haben, in ein Verzeichnis. Ich will mich verwetten deren mehr zu finden, die vor, als die nach fünf und dreißig Jahren, gestorben sind. Es ist beides der Vernunft und Religion vollkommen gemäß, selbst an der Menschheit des Heilandes ein Beispiel zu nehmen. Allein dieser starb in seinem drei und dreißigsten Jahre. Der größte Mensch, der ein bloßer Mensch gewesen ist, Alexander, starb auch in diesem Alter. Auf wie vielerlei Art pflegt uns der Tod nicht zu überfallen?
Quid quisque vitet numquam homini satis
Cautum est in horas.[10]
Ich will die Fieber und das Seitenstechen übergehen. Wer hätte jemals gedacht, dass ein Herzog von Bretagne in dem Gedränge erdrücket werden sollte, wie es einem bei dem Einzuge des Papsts Clemens zu Lyon begegnete?[11] Hast du nicht einen unserer Könige in einem Lustkampfe das Leben einbüßen sehen?[12] Und starb nicht einer von seinen Vorfahren darüber, dass er von einem Schweine verwundet worden war?[13] Äschylus mag sich immer auf die Beine machen, wenn ihm ein Haus über dem Kopfe einstürzen will: er wird endlich doch von einer Schildkrötenschale, welche einem Adler in der Luft aus den Klauen fällt, erschlagen.[14] Ein anderer stirbt an einem Weinbeerkorne.[15] Ein Kaiser, weil er sich mit dem Haarkamme geritzet hat.[16] Ämilius Lepidus, weil er sich mit dem Fuße an seiner Türschwelle gestoßen hat.[17] Ausidius aber, weil er bei dem Eintritte in die Ratsversammlung gestolpert.[18] Der Prätor Cornelius Gallus, Tigillinus Hauptmann über die Leibwache zu Rom, und Ludewig des Guy von Gonzaga Sohn, Marquis von Mantua, sind in den Armen der Weibespersonen gestorben; und, welches noch ärger ist, Speusipp, ein Platonischer Philosoph, und einer von unsern Päpsten, ebenfalls.[19] Der arme Bebius, ein Richter, gab einer Partei acht Tage Aufschub, ward aber indessen selbst überfallen, und endigte sein Leben.[20] Indessen, dass Caius Julius ein Arzt, einem Kranken die Augen salbete, drückte ihm der Tod seine eigenen zu.[21] Mein Bruder, der Hauptmann S. Martin, wenn ich denselben hier mit erwähnen soll, ward in seinem drei und zwanzigsten Jahre, da er seine Herzhaftigkeit bereits genugsam bewiesen hatte, beim Ballspiele mit dem Balle etwas über dem rechten Ohre getroffen, doch, dem Ansehen nach, ohne Quetschung und Verwundung. Er setzte sich deswegen auch nicht nieder, und ruhte nicht; starb aber fünf oder sechs Stunden darauf an einem Schlagflusse, welchen ihm dieser Wurf zugezogen hatte. Da uns nun diese häufigen und ganz gemeinen Beispiele vor Augen schweben: wie ist es möglich, dass wir uns der Vorstellung des Todes entschlagen können, und dass wir nicht alle Augenblicke denken er habe uns bei der Krause? Was liegt daran, wird man mir antworten, es sei damit wie es wolle, wenn man sich nur keinen Kummer darüber macht? Ich bin selbst der Meinung. Wenn man nur mit ganzer Haut entwischen kann, durch was für Mittel es auch geschehen mag, und sollte es unter dem Kalbfelle sein so würde ich mich darüber nicht lange besinnen: denn ich bin zufrieden, wenn ich mich nur wohl dabei befinde, und mit einer guten Art davonkomme; sie mag übrigens noch so wenig rühmlich und erbaulich sein.
– – Praetulerim delirus inersque videri,
Dum mea delectent mala me, vel denique fallant,
Quam sapere et ringi.[22]
Allein, es würde eine Torheit sein, wenn man es damit auszurichten dächte. Man geht, man kommt, man springt, man tanzt: niemand denkt an den Tod. Ganz gut. Allein stellt sich derselbe auch einmal ein, und überraschet entweder uns, oder unsere Weiber, Kinder, und Freunde, plötzlich und unvermutet: was für Wehklagen, was für ein Geschrei erhebt sich nicht; was für Unsinn, und was für Verzweiflung befällt uns nicht? Hat man jemals einen so niedergeschlagen, so verändert, so bestürzt gesehen? Man muss sich bei guter Zeit darauf gefasst machen. Die viehische Sorglosigkeit, wenn sie jemals bei einem verständigen Manne Statt haben könnte, (welches mir ganz und gar unmöglich scheint) kommt uns allzu teuer zu stehen. Ja, wenn es ein Feind wäre, dem man ausweichen könnte, so würde ich das Haasenpanier zu ergreifen raten. Allein dieses gehet gar nicht an. Er erwischt dich, du magst flüchtig werden, und dich feige finden lassen; oder dich als ein rechtschaffener Mann bezeigen.
Nempe et fugacem persequitur virum,
Nec parcit imbellis iuventae
Poplitibus, timidoque tergo.[23]
Kein Harnisch kann dich, wenn er auch noch so gut gehärtet wäre, schützen.
Ille licet ferro cautus se condat et aere,
Mors tamen inclusum protrahet inde caput.[24]
Lasst uns also denselben mit unverrücktem Fuße erwarten, und uns zur Gegenwehr setzen. Und damit wir ihm seinen besten Vorteil abgewinnen, so wollen wir einen ganz andern Weg erwählen, als man gemeiniglich geht. Wir wollen ihm das Fremde nehmen, wir wollen Bekanntschaft mit ihm unterhalten, wir wollen uns an ihn gewöhnen, wir wollen nichts so oft als den Tod in den Gedanken haben, wir wollen ihn unserer Einbildungskraft alle Augenblicke und unter allen möglichen Gestalten vorstellen. Wir wollen, wenn das Pferd stolpert, wenn ein Dachziegel herunter fällt, wenn wir uns nur im geringsten mit einer Nadel stechen, gleich die Betrachtung anstellen: Wenn nun dies das Leben kostete? und uns dabei aufs äußerste stemmen, und alle unsere Kräfte anstrengen. Wir wollen bei den Gastmahlen und Lustbarkeiten immerfort das Andenken unserer Sterblichkeit in dem Sinne behalten, und niemals dem Vergnügen so sehr nachhängen, dass es uns nicht zuweilen einfallen sollte, auf wie vielerlei Art unsere Lust dem Tode ausgesetzt ist, und von wie vielen Seiten uns derselbe drohet. So machten es die Ägypter, welche mitten unter ihren Schmausen und Wohlleben, den Gästen zur Warnung, einen einbalsamierten Menschenkörper hereinbringen ließen.[25]
Omnem crede diem tibi illuxisse supremum.
Grata superveniet, quae non sperabitur hora.[26]
Es ist ungewiss, wo der Tod unserer wartet: lasst uns also allerwegen seiner warten. Die Vorbereitung zum Tode ist die Vorbereitung zur Freiheit. Wer sterben gelernet hat, hat ein Sklave zu sein verlernet. Derjenige, welcher recht eingesehen hat, dass der Verlust des Lebens kein Unglück ist, weiß in seinem Leben von keinem Unglücke. Die Kunst zu sterben befreiet uns von aller Unterwürfigkeit, und allem Zwange. Paulus Ämilius gab dem Abgeschickten, durch welchen der elende König von Macedonien, sein Gefangener bitten ließ, dass er ihn nicht in dem Siegesgepränge mit herumführen möchte, zur Antwort: Er darf nur bei sich selbst darum ansuchen.[27] In Wahrheit, Kunst und Fleiß kommen bei keiner Sache gar weit, wenn die Natur nicht ein wenig hilft. Ich bin für mich nicht schwermütig, aber immer in Gedanken. Ich habe mich von Anfang an mit nichts so sehr, als mit den Vorstellungen des Todes, beschäftiget: ja, ich habe dieses in meinen wildesten Jahren getan.
Iucundum quum aetas florida ver ageret.[28]
Mancher glaubte zuweilen, wenn ich mitten unter Frauenzimmer und bei der Lust war, ich marterte mich in Geheim mit einiger Eifersucht, oder einer ungewissen Hoffnung: da ich doch indessen, ich weiß nicht an wen, dachte, welcher die vergangenen Tage, gleich da er von so einem Schmause, den Kopf mit Müßiggange, Liebe, und Wohlleben erfüllt, ebenso, wie ich, weggegangen war, von einem hitzigen Fieber und seinem Ende überfallen worden war; wobei mir immerfort die Worte in dem Sinne lagen
Iam fuerit, nec post umquam revocare licebit.[29]
Ich runzelte über diesem Gedanken die Stirne so wenig, als über einem andern. Es ist nicht möglich, dass uns diese Vorstellungen anfangs nicht empfindlich sein sollten: allein durch öftere Wiederholung und Übung wird man sie endlich gewiss gewohnt. Sonst würde ich, meines Teils, beständig in Schrecken und Wahnwitze sein: denn niemals hat ein Mensch seinem Leben so wenig getrauet, niemals hat sich ein Mensch auf dessen Dauer so wenig Rechnung gemacht, als ich. Die sehr frische und selten unterbrochene Gesundheit, die ich bisher genossen habe, verlängert mir die Hoffnung dazu nicht; und die Krankheiten verkürzen dieselbe nicht. Es ist mir nicht anders, als ob ich mir selbst jeden Augenblick entwischte. Ich wiederhole daher ohne Unterlass bei mir selbst: »Alles, was einen andern Tag geschehen kann, kann heute geschehen.« In Wahrheit, die Zufälle und Gefährlichkeiten bringen uns unserm Ende wenig oder gar nicht näher. Wenn wir erwägen, wie viel Millionen andere Unfälle, außer demjenigen, welcher uns am meisten zu drohen scheint, noch über unserm Haupte schweben: so werden wir befinden, dass uns das Ende allezeit gleich nahe ist; wir mögen munter oder mit dem Fieber befallen sein, wir mögen uns auf dem Meere oder in unsern Häusern, in der Schlacht oder in Ruhe befinden.[30]Nemo altero fragilior est: nemo in crastinum sui certior. Zur Vollbringung einer Sache, die ich noch vor meinem Tode tun muss, scheint mir jede Zeit zu kurz, und wenn sie nur eine Stunde kostete. Als neulich jemand in meiner Schreibetafel blätterte, und einen gewissen Aufsatz wegen einer Sache darinnen fand, die ich nach meinem Tode getan wissen wollte, sagte ich ihm, wie es auch die Warheit war, dass ich denselben geschwinde hier zu Papiere gebracht hätte, ob ich gleich nur eine Meile von Hause und frisch und gesund wäre, weil ich mich nicht versichert hielte, dass ich wieder heim kommen würde. Ich bin ebenso, wie derjenige, welcher mir beständig meine Gedanken eingibt, und dieselben in mich leget, alle Augenblicke bereit, so viel ich es ungefähr sein kann, und mich wird nichts aufs neue an den bevorstehenden Tode erinnern können. Wir müssen allezeit gestiefelt und reisefertig sein, so viel auf uns ankommt, und uns vornämlich hüten, dass wir alsdann mit niemandem, als mit uns selbst zu tun haben.
Quid brevi fortes iaculamur aevo multa?[31]
Wir werden alsdann ohnedem genug zu tun finden, ohne dass noch etwas dazu kommen darf. Einer beklagt sich mehr darüber, dass ihm ein schöner Sieg unterbrochen wird, als über den Tod: ein anderer darüber, dass er fort muss, ehe er seine Tochter verheiratet, oder die Erziehung seiner Kinder veranstaltet hat. Einer bedauert den Umgang mit seiner Ehegattin, der andere mit seinem Sohne, als seine größten Ergötzlichkeiten. Ich befinde mich, Gott Lob, gegenwärtig in einer solchen Verfassung, dass ich fortwandern kann, wenn es ihm beliebt, ohne etwas zu bedauren. Ich wickle mich allerwegen los. Ich werde von allen, außer mir selbst, in kurzer Zeit Abschied nehmen können. Niemals hat sich ein Mensch so sehr gefasst gemacht die Welt völlig und rein zu verlassen, und sich derselben vollkommener entschlagen, als ich es zu tun hoffe. Ein frischer Tod ist der beste Tod.
Miser, o miser, (aiunt) omnia ademit
Una dies infesta mihi tot praemia vitae![32]
Und einer, welcher bauet, sagt:
Manent opera interrupta, minaeque
Murorum ingentes.[33]
Man muss entweder nichts anfangen, was so gar lange Zeit erfordert; oder wenigstens nicht so, dass man das Ende sehnlich zu sehen wünschet. Wir sind zur Arbeit geboren.
Quum moriar, medium soluar et inter opus.[34]
Meinetwegen mag man sich immer bemühen, und die Lebenspflichten so weit treiben, als man kann. Der Tod mag mich immer über dem Kohlpflanzen finden: wenn ich mich nur nicht über denselben, und noch viel weniger über meinen noch unvollkommenen Garten, gräme. Ich habe einen sterben gesehen, welcher, da es zum Ende mit ihm ging, unaufhörlich klagte, dass ihm das Schicksal an der Fortsetzung einer Geschichte unsers fünfzehnten oder sechzehnten Königes, die er unter den Händen hatte, hinderte.
Illud in his rebus non addunt, nec tibi earum
Iam desiderium rerum super insidet una.[35]
Man muss sich der pöbelhaften und schädlichen Grillen entschlagen. Unsere Gottesäcker sind zunächst an den Kirchen und an den volkreichsten Örtern der Stadt angeleget worden, damit das gemeine Volk, wie Lykurg sagte, die Weibespersonen, und Kinder, einen Toten ohne Entsetzen anzusehen gewohnt werden, und damit der beständige Anblick der Gebeine, der Gräber, und Leichengepränge, uns unsers Zustands erinnern soll.[36]
Quin etiam exhilare viris convivia caede
Mos olim, et miscere epulis spectacula dira,
Certantum ferro, saepe et super ipsa cadentum
Pocula, respersis non parco sanguine mensis.[37]
Desgleichen ließen die Ägypter, auch nach ihren Gastmahlen den Anwesenden ein großes Bild des Todes von einem vorzeigen, welcher ihnen zurief:[38]Trink, und sei lustig. Denn, wenn du tot bist, wirst du ebenso sein. Ebenso habe auch ich die Gewohnheit den Tod nicht allein beständig in den Gedanken, sondern auch in dem Munde, zu führen. Ich pflege auch nach nichts lieber, als nach der Leute ihrem Tode, zu fragen, was für Worte sie dabei geführet, was für Gebärden sie dabei gemacht haben. Ich bin auf keine Stellen in der Geschichte aufmerksamer. Man sieht es wohl an der Menge der angeführten Beispiele, dass ich an dieser Materie besonders Gefallen finde. Wenn ich Bücher schriebe, so würde ich ein mit Anmerkungen versehenes Verzeichnis verschiedener Todesfälle aufsetzen. Wer die Menschen sterben lehrete, würde sie leben lehren. Dicäarch verfertigte eines unter dieser Aufschrift: allein aus einer andern, und nicht so nützlichen Absicht.[39]
Vielleicht wird man mir einwenden, der Erfolg überstiege die Vermutung so sehr, dass der beste Fechterstreich vergeblich sei, wenn es so weit kommt. Allein man mag sagen, was man will. Die Vorbereitung ist ohne Zweifel sehr vorteilhaft. Und zu dem, ist es dann für nichts zu achten, wenn man ohne Schauer daran geht? Ja, was noch mehr ist: die Natur selbst bietet uns die Hand, und macht uns Mut. Ist es ein geschwinder und gewaltsamer Tod: so haben wir keine Zeit uns vor demselben zu fürchten. Ist er von anderer Art: so merke ich, dass ich das Leben ganz natürlich immer desto weniger zu achten anfange, je mehr die Krankheit zunimmt. Ich befinde, dass mir der Entschluss zu sterben weit schwerer zu verdauen fällt, wenn ich gesund bin, als wenn ich das Fieber habe. Da ich überdies nicht mehr so sehr an den Ergötzlichkeiten des Lebens hänge, weil ich des Genusses derselben und des Vergnügens daran beraubet zu werden anfange: so betrachte ich um so viel mehr den Tod mit weit gelassenern Augen. Dieses macht mir Hoffnung, dass ich mir den Tausch desto eher werde gefallen lassen, je mehr ich mich von jenem entferne, und diesem nähere. Gleichwie ich bei vielen andern Gelegenheiten befunden habe, dass uns, nach Cäsars Worten, die Dinge öfters von weitem viel größer vorkommen, als bei nahem:[40] ebenso habe ich beobachtet, dass ich mich bei gesunden Tagen weit mehr vor den Krankheiten gescheuet, als wenn ich dieselben wirklich empfunden habe. So lange ich munter, lustig, und bei Kräften bin, dünkt mich der andere Zustand von diesem so sehr unterschieden, dass ich aus einer falschen Einbildung diese Unbequemlichkeiten um die Hälfte vergrößere, und mir dieselben weit schwerer vorstelle, als ich sie befinde, wenn ich sie auf dem Halse habe. Ich hoffe, es wird mir mit dem Tode ebenso gehen. Lasst uns aus der gewöhnlichen Veränderung und der Abnahme der Kräfte, welche wir empfinden, urteilen, wie uns die Natur den Anblick unsers Verlusts und unserer Verschlimmerung entzieht. Was bleibt einem Greise von der Munterkeit seiner Jugend, und seinem vergangenen Leben, übrig?
Heu senibus vitae portio quanta manet![41]
Cäsar gab einem von seiner abgedankten und zu fernern Diensten untüchtigen Leibwache, welcher ihn auf der Straße um Urlaub sich das Leben zu nehmen ersuchte, nachdem er dessen baufällige Gestalt betrachtet hatte, scherzend zur Antwort: Du denkst doch also, du lebest noch?[42] Ich glaube selbst nicht, dass wir vermögend wären einen solchen Wechsel zu ertragen, wenn er uns plötzlich befiele. Allein, da wir durch ihre Hand ganz gemach, und gleichsam unvermerkt nach und nach und stufenweise, hinab geleitet werden, versetzt sie uns endlich in diesen elenden Zustand, und lehrt uns uns dazu zu bequemen, sodass wir nicht die geringste Erschütterung empfinden, wenn die Jugend in uns stirbt. Gleichwohl ist dieses in Wahrheit und in der Tat ein weit härterer Tod, als der ganze Tod eines kränklichen Lebens, und als der Tod des Alters: und um so viel mehr, weil der Sprung von dem Elendsein, zu dem Nichtsein, nicht so arg ist, als der von einem angenehmen und blühenden Leben zu einem beschwerlichen und schmerzhaften. Ein gebeugter und gekrümmter Leib kann eine Last nicht so gut ertragen; und ebenso geht es unserer Seele. Man muss sie also wider den Anfall dieses Gegners aufrichten, und gerade stellen. Denn, gleichwie sie unmöglich ruhig sein kann, so lange sie sich vor ihm fürchtet: so kann sie sich gegenteils, wenn sie denselben überwältiget, (welches gleichsam die menschlichen Kräfte übersteiget) rühmen, dass weder Unruhe, Angst, Furcht, noch der geringste Verdruss, in ihr Wohnung haben.
Non vultus instantis tyranni
Mente quatit solida, neque Auster
Dux inquieti turbidus Adriae,
Nec fulminantis magna Iovis manus.[43]
Sie ist ihrer Leidenschaften und Begierden, der Weichlichkeit, der Schande, der Armut, und aller andern Widerwärtigkeiten, Meisterin. Lasst uns, so viel wir können, diesen Vorteil gewinnen. Dieses ist die wahre und vollkommenste Freiheit, bei welcher wir der Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit Trotz bieten, Gefängnisse und Ketten verlachen können,
– – – in manis et
Compedibus, saevo te sub custode tenebo.
Ipse Deus, simul atque volam, me solvet opinor.
Hoc sentit, moriar. Mors ultima linea rerum est.[44]
Unser Glaube hat keinen festern menschlichen Grund gehabt, als die Verachtung des Lebens. Die Vernunft ermuntert uns nicht allein dazu: denn warum wollen wir uns vor dem Verluste einer Sache fürchten, welche, wenn sie einmal verloren ist, nicht bedauert werden kann? sondern, da wir auf so vielerlei Art mit dem Tode bedrohet werden, ist es nicht weit schlimmer sich vor allen zu fürchten, als eine einzige zu überstehen? Was liegt daran, wenn es geschieht, weil es doch nicht zu ändern ist? Sokrates gab demjenigen, welcher zu ihm sagte, die dreißig Tyrannen haben dich zum Tode verdammet, die Antwort: Und die Natur sie.[45] Was für eine Torheit ist es nicht, dass wir uns wegen des Übergangs zur Befreiung von allem Kummer bekümmern! Gleichwie in Ansehung unserer alle Dinge mit uns zugleich geboren worden sind: so wird auch alles mit uns sterben. Daher ist es eine ebenso große Torheit wenn wir weinen, dass wir in hundert Jahren nicht mehr leben werden, als wenn wir weinen wollten, dass wir vor hundert Jahren nicht gelebt haben. Der Tod ist der Anfang eines andern Lebens. Ebenso sehr weineten wir, und ebenso sehr schmerzte es uns, als wir in dieses traten: ebenso legten wir bei dem Eintritte unsere alte Hülle ab. Was nur einmal kommt, kann nicht beschwerlich sein. Haben wir wohl Ursache, uns vor einer Sache, die so kurze Zeit dauert, so lange zu fürchten? Der Tod macht ein langes Leben und ein kurzes Leben beide einander gleich: denn bei Dingen, die nicht mehr sind, hat weder kurz noch lang statt. Aristoteles sagt,[46] es gäbe auf dem Flusse Hypanis kleine Tierchen, welche nur einen Tag leben. Eines, das früh Morgens um acht Uhr stirbt, stirbt in der Jugend: das andere, welches Abends um fünf Uhr stirbt, stirbt in hohem Alter. Wer würde nicht lachen, wenn man diese augenblickliche Dauer als ein Glück oder Unglück betrachten wollte. Das länger und kürzer in unserm Leben ist nicht weniger lächerlich in Vergleichung mit der Dauer der Berge, der Flüsse, der Sterne, der Bäume, und so gar einiger Tiere.
Ja die Natur nötiget uns selbst dazu. »Verlasst diese Welt wieder«, sagt sie, »so, wie ihr hinein gekommen seid. Wandert eben den Weg, welchen ihr ohne Unruhe und Furcht von dem Tode zum Leben gelanget seid, wieder zurück von dem Leben zum Tode. Euer Tod ist mit in der Ordnung der Natur begriffen, und ein Stück von dem Leben der Welt.
– – Inter se mortales mutua vivunt,
– – –
Et quasi cursores vitai lampada tradunt.[47]
Soll ich euch zu Gefallen die schöne Verbindung der Dinge ändern? Mit dieser Bedingung seid ihr geschaffen. Der Tod ist ein Teil von euch: ihr flieht euch selbst. Das Sein, welches ihr genießet, ist unter den Tod und das Leben gleich geteilet. Der erste Tag euerer Geburt nähert euch sowohl dem Tode, als dem Leben.
Prima, quae vitam dedit, hora, carpsit.[48]
Nascentes morimur, finisque ab origine pendet.[49]
So viel ihr lebet, so viel entzieht ihr euch dem Leben: es geht auf dessen Rechnung. Eure beständige Bemühung in eurem Leben ist den Tod zu bauen. Ihr seid in dem Tode, indem ihr noch im Leben seid: denn, ihr seid über den Tod weg, wenn ihr nicht mehr im Leben seid. Oder, wenn es euch besser gefällt, ihr seid nach dem Leben gestorben, sterbet aber während des Lebens; und der Tod trifft den Sterbenden weit härter, und weit empfindlicher, als den Verstorbenen. Wenn ihr das Leben recht genossen habt, so seid ihr dessen satt. Geht also vergnügt aus demselben.
Cur non ut plenus vitae conviva recedis?[50]
Habt ihr euch dasselbe nicht zu Nutze zu machen gewusst: was schadet es euch, dass ihr es verloren habt? Weswegen wollt ihr es noch länger haben?
– Cur amplius addere queris
Rursum quod pereat male, et ingratum occidat omne?[51]
Das Leben ist, an sich betrachtet, weder etwas Gutes noch etwas Böses: es ist der Wohnplatz des Guten und Bösen, nachdem ihr damit umgehet. Ihr habt alles gesehen, wenn ihr einen Tag gelebt habt. Ein Tag ist wie alle andere Tage. Es ist kein anderes Licht, keine andere Nacht. Eben die Sonne, eben den Mond, eben die Sterne, eben die Einrichtung, haben eure Vorfahren auch gesehen; und eben diese werden auch eure spätetesten Nachkommen beschäftigen.
Non alium videre patres: aliumve nepotes
Aspicient.[52]
Wenn es aufs höchste kommt, reicht die Einteilung und Abwechslung aller Aufzüge in meinem Schauspiele auf ein Jahr zu. Meine vier Jahrszeiten, wenn ihr auf ihre Veränderungen Acht gegeben habt, begreifen die Kindheit, die Jugend, die männlichen Jahre, und das hohe Alter der Welt, in sich. Sie hat ihre Person gespielt. Nunmehr weiß sie weiter nichts, als wieder von vorn anzufangen; und es ist immer wieder einerlei.
– Versamur ibidem, atque insumus usque.[53]
Atque in se sua per vestigia volvitur annus.[54]
Ich bin gar nicht Willens euch einen neuen Zeitvertreib auszudenken.
Nam tibi praeterea quod machiner, inveniamque
Quod placet, nihil est: eadem sunt omnia semper.[55]
Macht andern Platz, gleichwie euch andere Platz gemacht haben. Die Gleichheit ist ein wesentliches Stück der Billigkeit. Wer kann sich darüber beschweren, dass er unter dem begriffen ist, worunter alle begriffen sind. Ihr möget noch so lange leben: deswegen werdet ihr die Zeit, da ihr tot sein müsst, doch nicht vermindern. Es ist alles vergebens. Ihr werdet in diesem Zustande, vor welchem ihr euch so fürchtet, ebenso lang sein als wenn ihr an der Mutter Brust gestorben wäret.
Licet quotvis vivendo condere saecla,
Mors aeterna tamen nihilominus illa manebit.[56]
Bei dem Allen will ich euch in einen solchen Stand setzen, dass ihr keinen Verdruss haben sollet.
In vera nescis nullum fore morte alium te,
Qui possit vivus tibi te lugere peremtum,
Stansque iacentem.[57]
Und dass ihr euch das Leben, welches ihr so sehr bedauret, nicht wünschen sollt.
Nec sibi enim quisquam tunc se vitamque requirit
– – –
Nec desiderium nostri nos afficit ullum.[58]
Der Tod ist weniger als Nichts zu fürchten, wenn etwas weniger als Nichts sein kann.
Multo mortem minus ad nos esse putandum
Si minus esse potest quam quod nihil esse videmus.[59]
Er geht euch, ihr möget leben oder tot sein, nichts an: wenn ihr lebt, weil ihr seid; wenn ihr tot seid, weil ihr nicht mehr seid. Zudem stirbt keiner eher, als seine Stunde kommt. Die zurückstehende Zeit gehört euch ebenso wenig, und gehet euch ebenso wenig an, als die, welche vor eurer Geburt verflossen ist.
Respice enim, quam nil ad nos anteacta vetustas
Temporis aeterni fuerit.[60]
Wo sich nur euer Leben endiget, da ist es alle. Der Nutzen des Lebens kommt nicht auf desselben Dauer, sondern auf den Gebrauch an. Mancher, der kurze Zeit gelebt hat, hat lange gelebt. Macht euch dazu gefasst, so lange ihr noch am Leben seid. Es beruht auf euerm Willen, nicht auf der Anzahl der Jahre, die ihr gelebt habt. Habt ihr dann gemeinet, ihr würdet niemals dahin gelangen, worauf ihr beständig zugegangen seid. Es ist ja kein Weg, der nicht einmal ein Ende nehmen sollte. Und wenn euch die Gesellschaft trösten kann; geht nicht die ganze Welt eben die Straße, die ihr geht?
Omnia te vita perfuncta sequentur.[61]
Kommt nicht alles an den Reihen? Ist wohl eine Sache, die nicht ebenso gut als ihr altert? Tausend Menschen, tausend Tiere, und tausend andere Geschöpfe, sterben eben den Augenblick, da ihr sterbet.
Nam nox nulla diem, neque noctem aurora sequuta est,
Quae non audierit mistos vagitibus aegris
Ploratus, mortis comites et funeris atri.[62]
Warum weigert ihr euch lange, da ihr doch nicht zurück könnt? Ihr habt ja genug Leute gesehen, die sich beim Sterben wohl befunden haben, und dadurch großem Elende entgangen sind. Habt ihr gegenteils wohl einen einzigen gesehen, der sich übel dabei befunden hat? Also ist es eine große Einfalt, dass ihr eine Sache verwerfet, die ihr weder selbst versucht habt, noch durch andere habt versuchen lassen. Warum beklagst du dich über mich, und über das Schicksal? Tun wir dir Unrecht? Hast du uns etwas vorzuschreiben, oder wir dir? Wenn auch dein Alter noch nicht zur Reife ist, so ist doch dein Leben zur Reife. Ein kleiner Mensch ist ebenso wohl ein Mensch, als ein großer. Man misset weder die Menschen, noch ihr Leben, nach der Elle.
Chiron schlug die Unsterblichkeit aus, als er selbst von seinem Vater Saturn, dem Gott der Zeit und Dauer, die dabei vorkommenden Umstände erfahren hatte. Bedenkt nur recht, dass ein immerwährendes Leben dem Menschen weit unerträglicher und beschwerlicher sein würde, als dasjenige ist, welches ich ihm verliehen habe. Wenn ihr den Tod nicht hättet, so würdet ihr mich ohne Unterlass lästern, dass ich euch desselben beraubet. Ich habe mit Wissen ein wenig Bitterkeit mit untergemischet, um euch zu verhindern, dass ihr nicht so gar begierig und unbesonnen dazu schreiten sollet, wenn ihr die davon zu hoffenden Vorteile erkennt. Um euch zu dieser von mir verlangten Mäßigung anzuhalten, dass ihr das Leben nicht flieht, und euere Zuflucht zu dem Tode nehmet, habe ich beide mit etwas Süßem und etwas Herbem vermischet. Ich habe dem Thales, den ersten unter euren Weisen, gelehret, dass Leben und Sterben gleichgültig sei: daher er demjenigen, welcher ihn fragte, warum er also nicht stürbe, weislich antwortete: Weil es gleichgültig ist.[63] Wasser, Erde, Luft, und Feuer, und andere Teile meines Gebäudes, sind ebenso wohl Werkzeuge deines Todes, als deines Lebens. Warum fürchtest du dich vor deinem letzten Tage?[64] Er trägt nicht mehr, als jeder der übrigen, zu deinem Tode bei. Der letzte Schritt verursacht die Müdigkeit nicht: er offenbart sie nur. Alle Tage gehen nach dem Tode zu, der letzte gelangt dahin.« Dieses sind die guten Ratschläge unserer Mutter, der Natur.
Ich habe öfters nachgedacht, was doch wohl die Ursache sein möchte, dass uns in dem Kriege der Anblick des Todes, es sei nun an uns, oder an einem andern, bei weitem nicht so entsetzlich vorkommt, als in unsern Häusern; denn sonst würde das Heer aus nichts, als Ärzten und feigen Memmen, bestehen: desgleichen, woher es kommt, dass man das Landvolk und die gemeinen Leute weit beherzter, als andere, findet; ungeacht der Tod allerwegen einerlei ist. Wahrhaftig, ich glaube, dass die entsetzlichen Umstände und Anstalten, welche wir dabei machen, uns mehr, als er selbst, in Furcht jagen. Eine ganz neue Lebensart, das Geschrei der Mütter, Weiber, und Kinder, die Besuche von erschrockenen und ganz außer sich gesetzten Personen, die Gegenwart einer Menge erblasster und jämmerlich weinender Bedienter, ein dunkeles Zimmer, brennende Wachslichter, die Ärzte und Prediger welche unser Bette umringen: kurz, alles was um uns ist, verursacht Grausen und Entsetzen. Wir sind schon so gut als begraben und verscharrt. Die Kinder fürchten sich sogar vor ihren Freunden, wenn sich dieselben verkleidet haben: so machen wir es auch.[65] Man muss sowohl den Sachen, als den Personen, die Larve abziehen. Ist das geschehen: so werden wir unter derselben nichts als eben den Tod verborgen finden, welchen ein Diener, eine schlechte Magd, vor kurzem unerschrocken überstanden haben. Glücklich ist der Tod, welcher zu dergleichen Weitläufigkeiten keine Zeit lässt![66]
[1]
Tota Philosophorum vita commentatio mortis est. Quaest. Tusc. L. I. 30. 31.
[2]
Eccles. Cap. III. v. 12. Et cognovi quod non esset melius, quam laetari, et facere bene in vita sua.
[3]
Wir wollen diese spitzfindigen Possen geschwinde übergehen. Seneca Ep. 117.
[4]
Omnis humani incommodi expers (sagt Valerius Maximus L. VIII. c. 13. in Externis §. 3. ) in summo perfectissimae doctrinae splendore exstinctus est.
[5]
Wir müssen alle an einen Ort. Für jeden ist ein Loos in dem Topfe, welches über lang oder kurz heraus kömmt, und uns zur ewigen Verbannung in Charons Nachen bringt. Horat. L. II. Od. 3. v. 23.
[6]
Welche uns, wie der Fels dem Tantal, beständig über dem Haupte schwebet. Cic. de Finibus bonorum et malorum L. I. C. 18.
[7]
Die besten Leckerbissen werden ihnen nicht schmecken, das Gesänge der Vögel und die Cyther werden den Schlaf nicht wieder bringen. Horat. L. III. Od. I. v. 18. seq.
[8]
Er hört von der Reise, zählt die Tage, misst sein Leben nach der Weite des Weges, und quält sich mit der bevorstehenden Marter. Claudian in Ruff. L. II. v. 137. 138.
[9]
Feu von fuit, er ist gewesen.
[10]
Der Mensch weiß nicht einmal auf eine Stunde gewiss, wovor er sich zu hüten hat. Horat, L. II. Od. 13.
[11]
Im Jahre 1305, unter der Regierung Philipps des Schönen.
[12]
Heinrich II. welcher in einem Turnier, von dem Grafen von Montgommery, einem Hauptmanne unter seiner Leibwache, tödlich verwundet ward.
[13]
Philipp, der älteste Sohn Ludwigs des Dicken, und welcher bei dessen Lebenszeiten gekrönt worden war.
[14]
Val. Maximus L. IX. c. 12. in Externis § 2.
[15]
Anakreon S.Val. Maxim. in Externis c. 12. § 8.
[16]
Plin. Hist. Nat. L. VII, c. 53. Q. Ämilius Lepidus iam egrediens incusso pollice limini cubiculi.
[17]
Id. ibid. Quum in senatum iret, offenso pede in Comitio.
[18]
Id. ibid. Cornelius Gallus Praetorius, et Haterius eques Romanus in Venere obiere.
[19]
Tertullian versichert dieses, aber ohne besonderen Grund. Audio, sagt er in seiner Apologie, c. 46. et quendam Speusippum e Platonis schola in adulterio periisse. Wegen Speusipps Tode kann man den Laerz zu Rate ziehen, welcher sagt, dass dieser Weltweise durch eine heftige Lähmung entkräftet, und von Gram und hohem Alter beschweret, sich endlich selbst das Leben zu nehmen entschlossen habe. Και τελος ὑπο αθυμιας έκων τον βον μετηλλαξε, γεραιος ων
[20]
Plin. Hist. nat. L. VII, c. 53. Bebius Judex, quum vadimonium differri iubet.
[21]
Id. ibid. Super omnes C. Julius Medicus, dum inungit, specillum per oculos trahens.
[22]
Lieber will ich mich für einen wahnwitzigen und trägen Menschen halten lassen, wenn ich nur an meinen Schwachheiten Vergnügen finde, oder sie wenigstens nicht bemerke, als weise und zugleich voll Verdruss sein. Horat. L. II. Ep. II, v. 126.
[23]
Der Tod verfolgt auch einen Flüchtling, und schont nicht einmal den furchtsamen Rücken der wehrlosen Jugend. Horat. L. III. Od. 2. v. 14. seqq.
[24]
Es mag sich einer unter Eisen und Erz verbergen, so wird doch der Tod das wohl verwahrte Haupt heraus ziehen. Propert. L. III. Eleg. 18. v. 25. 26.
[25]
Herodot. L. I. p. 133.
[26]
Betrachte jeden Tag, als ob es dein letzter wäre. Jede Stunde, die du unverhofft noch darüber lebst, wird dir desto angenehmer sein. Horat. L. I, Epist. 4. v. 13. 14.
[27]
Plutarch in des Aemilius Leben. Paullus Persae deprecanti, ne in triumpho duceretur: In tua id quidem potestate est. Cic. Tusc. Quaest. L. V. c. 40.
[28]
Als die blühende Jugend in dem angenehmen Frühlinge war. Catull. Epigr. LXVI. v. 16.
[29]
Wenn einer einmal weg ist, kann man ihn nicht wieder zurück rufen. Lucret. L. III. v. 928.
[30]
Keiner ist hinfälliger, als der andere. Keiner ist seines Lebens auf den folgenden Tag besser versichert, als der andere. Sen. Epist. 9.
[31]
Warum setzen wir uns, bei unserer kurzen Lebenszeit, ein so weites Ziel? Horat. Od. 16. L. II. v. 17. 18.
[32]
Ich Elender! Ach! ich Elender! (sprechen sie) Ein einziger unglücklicher Tag hat mir alles geraubt, was mich vergnügte. Lucret. L. III, v. 911. 912.
[33]
Virg. Aeneid. L. IV. v. 88. 89.
Die Arbeit und der Bau der Mauern geht nicht fort.
[34]
Sterbe ich, so wünsche ich mir mitten unter der Arbeit aufgelöset zu werden. Ovid. Amor. L. II. Eleg. 10. v. 36.
[35]
Sie vergessen dabei, dass dir nach dem Tode kein Verlangen nach diesen Dingen übrig bleiben wird. Lucret. L. III: v. 913. 914.
[36]
Plutarch in dem Leben des Lykurgs.
[37]
Ja, ehedem waren die Männer gar gewohnt, die Gastmahle durch Mord lustiger zu machen, und den greulichen Anblick kämpfender Fechter, die öfters sogar auf die Trinkgeschirre fielen, und den Tisch mit Blute bespritzten, mit ihren Schmausen zu vermischen. Sil, Ital. L. II. v 51. seqq.
[38]
Eς τουτον όρεων, πινε τε και τερπνευ. Εσεαι γαρ αποθανων τοιοτος.. Herodot. L. II.
[39]
Cic. de Off. L. II. c. 5.
[40]
Omnia enim plerumque quae absunt, vehementius hominum mentes perturbant. De Bello Gall. L. VII. c. 84.
[41]
Ach! wie wenig Leben hat ein Greis noch übrig! Eleg. I. Maximiniani v. 16.
[42]
Caesar, quum eum unus ex custodiarum agmine, demissa usque in pectus vetere barba, rogaret mortem: Nunc enim, inquit, vivis? Sen. Epist. 77.
[43]
Der Anblick eines drohenden Tyrannen, der stürmische Südwind der auf dem Adriatischen Meere herrscht, selbst des donnernden Jupiters starke Hand, nichts macht ihn wankend. Horat. Od. 3. L. III. v. 5. seqq.
[44]
