Von Monstern und Mythen - Nicholas Jubber - E-Book

Von Monstern und Mythen E-Book

Nicholas Jubber

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Beschreibung

Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2020, Dumont Reiseverlag

Der preisgekrönte Autor Nicholas Jubber bereist Europa von der Türkei bis nach Island und erkundet die großen Epen unseres Kontinents – von der Odyssee und den Kosovo-Mythos über das Rolands- und Nibelungenlied bis zum Beowulf und zur Njálls-Saga.
Er greift zurück auf prägende Werke aus alten Epochen und untersucht Fragen, die die Menschen in Europa seit Jahrtausenden bewegen: Was bedeutet uns Nationalität, was ist Fundamentalismus, welchen Einfluss haben Schicksal oder Klassenzugehörigkeit? In diesen blut- und feuergetränkten Geschichten entdeckt Nicholas Jubber, wie die Welt der Götter und Kaiser, Drachen und Wassermädchen, Ritter und Prinzessinnen zu unserer eigenen wurde: Ihr tiefer Einfluss auf die europäische Identität und ihre Bedeutung in unseren turbulenten Zeiten.

  • Das neue E-Book des SPIEGEL-Besteller-Autors von "Acht Lektionen der Wüste"
  • Die Identität Europas neu entdeckt
  • Die großen Sagen Europas in einem packenden aktuellen Reisebericht

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Seitenzahl: 533

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»Mit Odysseus’ Segen« steht auf dem Wandbild geschrieben, das sich auf der ­griechischen Insel Ithaka, der Heimat des Helden, befindet.

Das berühmte Trojanische Pferd als Graffito in Athen.

Der Held Miloš Obilić als Statue vor dem Kloster Gračanica.

Die Gazimestan-Gedenkstätte im Kosovo. Sie wurde 1953 erbaut, um an die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 zu erinnern.

Mit Bruder Gavril in einem serbisch-­orthodoxen Kloster.

Eine Statue von Roland, dem Helden aus dem Rolandslied, in der Altstadt von Dubrovnik, Kroatien.

Der puparo (Puppenmacher und Puppenspieler) Vincenzo Argento in Palermo, Sizilien.

Eine baskische Demonstration in Roncesvalles, dem Ort, an dem Roland getötet wurde.

Der Klosterkomplex von Rocamadour in den französischen Pyrenäen. Hier können Besucher Rolands angeblich wundertätiges Schwert Durendal besichtigen.

Hagen von Tronje wirft den Nibelungenschatz in den Rhein.

»Der Streit der Königinnen« von dem Wormser Künstler Eichfelder, eine Neuinterpretation einer Schlüsselszene aus dem Nibelungenlied.

Hagen ermordet Siegfried in Odenheim, einem von mehreren Orten, die den Schau­­platz des Mordes für sich beanspruchen.

Die Kirche von Breedon-on-the-Hill in England, bekannt für ihre angelsächsischen ­Kunstwerke von Ungeheuern und Fabelwesen.

Der Grabhügel eines der alten Könige von Skjöldinger in Gammel Lejre, Dänemark. Ein sagenreicher Ort, der mit Beowulf in Verbindung gebracht wird.

Das Arktische Denkmal bei Raufarhöfn im Nordosten Islands.

Unterwegs in Island mit Hilmar Örn Hilmarsson, einem Komponisten und ­Hohepriester der Ásatrúarfélagið, einer heidnischen Glaubensgemeinschaft.

Der Wandteppich, entworfen von der isländischen Künstlerin Kristín Ragna Gunnarsdóttir, zeigt einen Ausschnitt aus der Saga von Brennu-Njáll.

Im Tal des Flosidalur, benannt nach Flosi, dem Anführer der Brandstifter aus der Saga.

FÜR MILO UND RAFE

NICHOLAS JUBBER

VON      

MONSTERN

     UND

  MYTHEN

EINE REISE ZU EUROPAS

  WILDEN GESCHICHTEN  

AUS DEM ENGLISCHEN VON HEIDE HORN, GERLINDE SCHERMER-RAUWOLF UND THOMAS WOLLERMANN, KOLLEKTIV DRUCK-REIF

1. Auflage 2020

© 2019 Nicholas Jubber

© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Die englische Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel »Epic Continent« bei John Murray in Großbritannien erschienen.

Übersetzung: Heide Horn, Gerlinde Schermer-Rauwolf und Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif

Redaktion: Boris Heczko

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: PixxWerk, München

Fotos (Innenteil und Autorenfoto): Nicholas Jubber

www.dumontreise.de

INHALT

CHRONIK DER EREIGNISSE

PROLOG

ERSTER TEIL

AUF DEN SPUREN EINES SPÄTHEIMKEHRERS – DIE ODYSSEE

ZWEITER TEIL

KLAGELIED AUF EINE EWIG SCHMERZENDE WUNDE – DER KOSOVO-ZYKLUS

DRITTER TEIL

EIN LIED FÜR EUROPA – DAS ROLANDSLIED

VIERTER TEIL

DER BITTERE GESCHMACK DER GÖTTERDÄMMERUNG – DAS NIBELUNGENLIED

FÜNFTER TEIL

WIE MAN MONSTER TÖTET – BEOWULF

SECHSTER TEIL

EIN ÖDLAND DER GLEICHEN – DIE SAGA VON BRENNU-NJÁLL

EPILOG

DANKSAGUNG

FÜR DIE BIBLIOTHEK

CHRONIK DER EREIGNISSE

Einige der folgenden Zeitangaben beruhen auf Vermutungen

1188 v. Chr. – Troja wird von den Griechen erobert, und Odysseus macht sich auf die Heimreise nach Ithaka

1178 v. Chr. – Odysseus kehrt nach Ithaka zurück

8. Jh. v. Chr. – Abfassung der Odyssee

437 – vernichtende Niederlage der Burgunder, Tod ihres Königs Gundahar (Gunther im Nibelungenlied)

451 – burgundische Truppen kämpfen gegen den Hunnenkönig Attila (Etzel im Nibelungenlied)

516 – Hygelac, Häuptling der Gauten (und Beowulfs Oberherr) fällt bei einem Überfall auf die Friesen

778 – Roland wird bei Roncesvalles in einem Hinterhalt getötet

990 – Gunnar von Hlíðarendi wird von seinen Feinden in Island getötet

1000 – Niederschrift des Beowulf

1010 – In Island wird der Bauernhof von Njáll, dem Gesetzeskundigen, niedergebrannt

Mitte des 11. Jh. – Abfassung des Rolandsliedes

1190 bis 1210 – Abfassung des Nibelungenliedes

1280 – Abfassung der Saga von Brennu-Njáll

1389 – Schlacht auf dem Amselfeld und Tod des serbischen Fürsten Lazar

15. Jh. – Abfassung der ersten Lieder des Kosovo-Zyklus

1488 – Erste Druckausgabe der Odyssee

1755 – Wiederentdeckung des Nibelungenliedes

1722 – Erste Druckausgabe der Saga von Brennu-Njáll

1787 – Wiederentdeckung des Beowulf

1814–15 – Veröffentlichung der Volkslieder der Serben, herausgegeben von Vuk Stefanović Karadžić, die auch den Kosovo-Zyklus enthalten

1835 – Wiederentdeckung des Rolandsliedes

PROLOG

Unter einem Epos stellen wir uns meist eine Geschichte vor, die vor langer Zeit in einem fernen Lande spielt. Doch als ich vor einigen Jahren in die europäische Sagenwelt eintauchte, ging mir auf, wie aktuell diese Erzählungen sind. Sie berühren uns nicht weniger unmittelbar als die Tagesnachrichten, sie haben die erzählerische Wucht von Blockbuster-Filmen, und sie bieten die knisternde Spannung von Lagerfeuererzählungen.

Die Idee zu diesem Buch kam mir während einer Reise durch Europa. Meine Frau hatte Mutterschaftsurlaub, und ich redigierte ein Buch, es sprach also nichts dagegen, »uns ein paar Monate zu vergnügen«, wie sie es ausdrückte. Auch stand am Ende des Sommers die Einschulung unseres Ältesten bevor, und das hieß: jetzt oder nie. Und so kam es, dass wir vier Monate lang von einer Minikatastrophe zur nächsten kreuz und quer durch sieben Länder Europas zockelten, mal bei Freunden und Verwandten unterkrochen, mal günstig eine Bleibe über Airbnb organisierten. Auf Sardinien ruinierten wir auf einer Schotterstraße unsere Reifen und mussten das Auto in die Werkstatt bringen, und die Überfahrt mit der Fähre nach Sizilien verbrachten wir zum größten Teil auf der Krankenstation, weil ich vergessen hatte, unser Baby im Kinderstuhl anzuschnallen. Aber im Großen und Ganzen schlugen wir uns gar nicht so schlecht: Wir brachten die Kinder heil und ganz nach Hause, wir zerstritten uns nicht, und unser zehn Jahre alter Peugeot 206 gab nicht den Geist auf.

Es war also eine unbeschwerte, friedliche Zeit, und wir hatten viel Spaß dabei, Europa mit den Augen kleiner Kinder zu entdecken. In Nürnberg bestaunten wir mit glänzenden Augen Modelleisenbahnen in Europas schönstem Spielzeugmuseum und anschließend, ziemlich ernüchtert, das Aufmarschgelände für die Reichsparteitage der Nazis. In Syrakus besuchten wir ein Puppentheater, nachdem wir ein antikes Amphitheater erkundet hatten. Hie und da drangen auch die wachsenden Probleme des Kontinents bis in die Glücksblase unserer kleinen Familie – von rassistischen Graffiti in Hannover bis zu Migranten aus Afrika, die uns auf Sardinien um Hilfe baten. Doch schmutzige Windeln und aufgeschlagene Knie lenkten unsere Aufmerksamkeit schnell von solchen Dingen ab. Wenn uns die Nachrichtenmeldungen zu sehr aufs Gemüt schlugen, konnten wir uns einfach in die Abenteuer der Oktonauten versenken oder uns an der schönen Holzausstattung der deutschen Kindergärten freuen.

Ich lernte Europa in diesem Sommer lieben: das messingfarbene Licht auf den Stränden des Mittelmeers, wo das türkisfarbene Meer unsere Füße umschmeichelte; das staubige Goldgrün der Nadelwälder; die traditionellen Bräuche, die auf dem Kontinent noch gepflegt werden: angefangen bei den sizilianischen signoras, die die Füßchen unseres Babys und den blonden Schopf seines älteren Bruders berührten und sich dabei bekreuzigten, bis hin zu den Doktoranden in Göttingen, die nach bestandener Prüfung auf dem Marktplatz der Figur der Gänseliesel einen Kuss auf die bronzenen Lippen drücken. Großartiger Kaffee, köstliches Eis, und wo die Würste nicht ganz so gut waren, wurden sie wenigstens größer, genau wie die Bierkrüge.

Doch zu Hause in England beherrschte der Brexit die Schlagzeilen. Dort versuchte man, aus der nationalen Identität politisches Kapital zu schlagen; historische Begriffe wie »Angelsachse« und verstaubte Ansichten über »Souveränität« wurden für den Stimmenfang instrumentalisiert; Facebook-Profile wurden ausgespäht, und Politstrategen, die sich ihre Ideen aus Sun Tzus Die Kunst des Krieges klaubten oder die uralten politischen Manöverspielchen eines Bismarck kopierten, produzierten provokative Videos auf YouTube.

Als wir in den bayerischen Alpen ankamen, war das Kind (keines der unseren, zum Glück) dann endgültig in den Brunnen gefallen: Eine Mehrheit der Briten stimmte dafür, nach 42 Jahren die politische Union mit dem Festland aufzukündigen. Wir hatten uns in eine Pferdekutsche gequetscht und klapperten Neuschwanstein entgegen. Ein netter Düsseldorfer, der mir seinen Ellbogen in die Rippen drückte, hielt mir mit dem mitfühlenden Kommentar »Da habt ihr euch ja was Schönes eingebrockt!« sein iPhone unter die Nase, um mich über den freien Fall des britischen Pfunds auf dem Laufenden zu halten. Das Schloss ist ein romantischer Fantasiebau, errichtet für einen Schöngeist des 19. Jahrhunderts, den verrückten »Märchen­könig« Ludwig II. von Bayern, aber wir waren nicht in Stimmung für eine Schlossbesichtigung. Meine Frau dachte an ihre Handtasche, die sie in der Kutsche vergessen hatte, und mir ging angesichts des aberwitzigen Prachtbaus im Kopf herum, was dabei herauskommen kann, wenn die politisch Verantwortlichen im Wolkenkuckucksheim leben. Zum Glück war wenigstens ein Mitglied unserer Familie auf Zack.

»Daddy«, rief unser Jüngster, »da ist ein Drache!«

Meine Augen folgten seinem Finger zu einem Fresko in einem Mauerbogen, und ich erblickte ein Schuppenbiest mit langem Schweif, dem ein Held in goldschimmernder Rüstung mit einem glänzenden Schwert die Brust durchbohrte. Wir schauten uns an und lächelten.

Das war der Moment, in dem es bei mir »Klick!« machte.

Bei dem Helden handelte es sich um Sigurd, auch Siegfried genannt, aus der mittelalterlichen Nibelungen-Sage. Es existieren mehrere Fassungen der Geschichte. Vor einigen Wochen hatte ich mir die Version aus dem 12. Jahrhundert – das Nibelungenlied – auf meinen Kindle heruntergeladen. Die Gemälde, die Ludwig II. in Auftrag gab, orientierten sich allerdings an einer anderen Version, die im Island des 13. Jahrhunderts angesiedelt war. Bei der Betrachtung rekapitulierte ich kurz die Geschichte von Siegfried: Er tötet einen Drachen, reißt sich einen sagenhaften Schatz unter den Nagel, heiratet eine schöne Prinzessin … und fällt auf einem Jagdausflug im Wald dem Speer eines hinterlistigen Mörders zum Opfer.

In den folgenden Tagen und Wochen ging mir diese düstere Geschichte nicht mehr aus dem Sinn. Wie ein Wollknäuel, mit dem ein Kätzchen spielt, verwickelten sich ihre Fäden mit anderen Erzählungen. Ich dachte an ihren Einfluss auf das angelsächsische Epos Beowulf und die isländischen Sagas und später auch auf die Bücher von J. R. R. Tolkien, der Geschichten über Drachen so populär gemacht hat, dass das Bild eines schuppigen, geflügelten Wesens heutzutage jedem Dreijährigen etwas sagt. Und ich dachte an Siegfrieds Verbindungen zu den großen Helden Homers: Er ist ein Meister der Tarnung, genau wie der listenreiche Odysseus, aber auch ein fast unsterblicher Kraftprotz wie Achilles – samt dessen »Achillesferse«, die bei ihm allerdings ein Fleck auf der Schulter in Form eines Lindenblatts ist.

»Das Epos schildert eine Reise, auf der jemand etwas sucht«, bemerkte der Dichter Derek Walcott. »Das Grundschema ist bekannt: Ein Ritter zieht in die Welt hinaus, um irgendetwas zu erreichen, und unterwegs begegnet er diversen Drachen und so weiter.« Aristoteles hat es vor mehr als zwei Jahrtausenden formaler definiert: »Die Epik stimmt mit der Tragödie insoweit überein, als sie Nachahmung guter Menschen in Versform ist; sie unterscheidet sich darin von ihr, daß sie nur ein einziges Versmaß verwendet und aus Bericht besteht.« Was mich an den europäischen Epen ansprach, war allerdings nicht so sehr ihre Form als vielmehr die Ähnlichkeit ihrer Motive und Handlungsstränge, die den Kontinent wie mit einer Patchworkdecke aus Erzählungen überzogen.

Die Literaturwissenschaft hat diese Verbindungen ins Korsett ihrer Theorien zu zwingen versucht, Jacob Grimm suchte in ihnen eine einigende Klammer für das deutsche Nationalgefühl, Joseph Campbell sprach von den zwölf Stationen der Heldenreise, für die James Joyce den Begriff Monomythos prägte. Bereits in den 1870ern parodierte George Eliot diese Bemühungen in ihrem Roman Middlemarch in der Figur des Casaubon, der nach dem »Schlüssel aller ­Mythologien« forscht. Die Literaturwissenschaft hat viele Erkenntnisse zutage gefördert, aber insgesamt finde ich sie zu schematisch für die verwickelten und tiefgründigen Verbindungen zwischen den mythischen und folkloristischen Elementen dieser Erzählungen. In meinen Augen bestehen zwischen diesen Geschichten so viele überraschende Verknüpfungen, sie sind so organisch miteinander verwoben, dass ihre Bezüge dem kreuz und quer verlaufenden Wurzelgeflecht der Bäume eines großen, undurchdringlichen Waldes gleichen.

Einige Monate nach unserem Familientrip durch Europa plante ich eine neue Reise, die mich auf den Spuren der europäischen Sagen von Anatolien bis zum Polarkreis führen sollte. Diesmal wollte ich mich ohne Familie auf den Weg machen. Im Unterschied zu Odysseus wurde ich nicht von einem kriegslüsternen Herrscher zum Militärdienst genötigt, und ich begab mich auch nicht wie Siegfried auf die Jagd nach Ruhm und Reichtum. Ich bin bloß ein schlaksiger, bebrillter Büchermensch, kein muskelbepackter Held. Mein Ziel war es, den Geschichten und ihren vielen Figuren nachzuspüren, und als Lohn für meine Mühen erhoffte ich mir, ein Buch nach Hause zu bringen.

Einige Jahre zuvor hatte ich auf einer Reise versucht, mich dem persischen Epos Schahnameh (»Buch der Könige«) anzunähern. Ich hatte Bauern getroffen, die seine Verse während der Feldarbeit rezitierten, und ehemalige Soldaten, die das Buch in den 1980er-Jahren in die Schützengräben des iranisch-irakischen Kriegs mitgenommen hatten. Die alten Geschichten waren für sie keine hehre Kunst, die man im Elfenbeinturm pflegte, sondern lebendiger Teil ihres täglichen Lebens.

Bis vor Kurzem hatte ich noch gedacht, Europa sei anders, hier habe man die Geschichte fein säuberlich in den Vitrinen von Museen verstaut. Nun fragte ich mich, ob mir eine Reise mit den Epen als Richtschnur – den ältesten, wildesten, zerfleddertsten Geschichten, die es überhaupt gibt – helfen konnte zu begreifen, was es heißt, Europäer zu sein. Wenn die Epen noch lebendig waren, sie also Menschen auch außerhalb der akademischen Absperrgitter, die sie für neue Leser so einschüchternd machen, beeinflussen konnten, dann müsste es doch möglich sein, ihrer Spur quer über den Kontinent zu folgen?

Die großen europäischen Sagen entstanden sämtlich in Zeiten gewaltiger Erschütterungen oder beschreiben solche. Die Odyssee erzählt uns von der Zeit nach dem Trojanischen Krieg, dem Ursprungskonflikt der griechischen Nation; verfasst wurde sie, als das heroische Zeitalter durch die Stadtstaaten abgelöst wurde, die Europas Zukunft bestimmen sollten. Das Nibelungenlied behandelt den Untergang eines germanischen Königreichs in der Endzeit des west­römischen Kaiserreichs. Beowulf, das einzige erhaltene Beispiel der altenglischen Epenkunst, spiegelt den Übergang von der heidnischen Zeit zum Christentum wider.

Viele dieser Geschichten wurzeln in der Epoche der Völkerwanderung. Stämme zogen aus den Steppen Zentralasiens und von den skandinavischen Archipelen los, überquerten die Flüsse im Herzen Europas und bevölkerten die Ebenen und Halbinseln, mit denen man sie fortan assoziieren sollte: die Franken und ­Dänen, die germanischen Stämme, die Angelsachsen. Neben vielem anderen sind diese Geschichten auch die Gründungsmythen Europas.

Literarisch wird Europa zum ersten Mal in Homers Ilias erwähnt. Die Königstochter Europa wird von Zeus nach Kreta entführt, weil er sich dort mit ihr vergnügen will – sie muss also ihre Heimat verlassen wie so viele Stämme, die dann die Geschichte des Kontinents ausmachen. Nichts Ungewöhnliches im Grunde – Vertreibung war schon immer der Treibstoff, der den Motor der europäischen Geschichte in Schwung gehalten hat.

Mit dem Namen Europa bezeichneten die Griechen dann ihre Territorien westlich der Ägäis, später übernahmen ihn die Römer für den Westteil ihres Reiches, die Enzyklopädisten und Kartographen taten es ihnen bis ins Mittelalter gleich, und die Propagandisten Karls des Großen benutzten ihn als Sammelbegriff für dessen Imperium. Aber erst mit dem Humanismus im 15. Jahrhundert wurde es üblich, dass Menschen sich als »Europäer« bezeichneten, um sich innerhalb der Christenheit abzugrenzen.

Wir können natürlich nicht wissen, was man in der Zukunft unter »Europa« verstehen wird. Aber wir können uns die Geschichten anschauen, aus denen seine Gründungsbestandteile geformt wurden: die Geschichten, die man sich einst an den Lagerfeuern erzählte und in den Thronsälen der Könige vortrug, die Geschichten, die Armeen zum Losmarschieren animierten, die Vorstellungskraft ihrer Führer beflügelten und Revolutionäre mit Vorbildern versorgten.

Bis heute lieben wir Geschichten, in denen geschildert wird, wie jemand unter den widrigsten Umständen irgendein Monster erledigt. Der weiße Hai, Game of Thrones … oder auch die Sagen, die frappierende Parallelen zu diesen modernen Klassikern aufweisen: Beowulf, Odyssee und das Nibelungenlied. Es ergeht uns wie dem treuen Schweinehirten Eumaios, der von Odysseus’ Erzählungen sagt: »Wie wenn ein Mann auf den Sänger hinblickt, der, belehrt von den Göttern, sehnsuchterweckende Sagen singt vor den sterblichen Menschen, und sie begehren seinem Gesang unermüdlich zu lauschen, so hat er mich bezaubert, als er in der Hütte bei mir saß.«

Doch wie soll man eine Auswahl unter so vielen Epen treffen? Mich reizten besonders jene Geschichten, die den Hintergrund mündlicher Überlieferung hatten und die ich vielleicht in irgendeiner Form im öffentlichen Vortrag hören konnte. Die Bezeichnungen »Epik« und »episch« leiten sich ja von dem griechischen Wort Epos, ἔπος, her, das so viel wie »Wort, Rede« bedeutet. Damit eine Geschichte wirklich »episch« ist, muss sie wie eine Rede vorgetragen werden. Das gesprochene Wort hat eine eigene Kraft – kelethmos, altgriechisch: κηληθμός, die Verzauberung –, das Publikum hört wie gebannt zu. Da diese Geschichten, die aus einer Zeit lange vor Erfindung des Buchdrucks stammen, mündlich vorgetragen wurden, konnten sie tiefe Wurzeln schlagen und sich im Herzen der europäischen Kultur verankern.

Die epische Tradition Europas beginnt mit Homer, und so soll die Odyssee, die beliebte Erzählung über den langwierigen Heimweg eines listigen Helden aus dem Krieg auch Startpunkt meines Unterfangens sein. Danach stoße ich in unbekanntere Gefilde vor und will weiter nördlich auf dem Balkan dem Kosovo-Zyklus nachspüren, der Geschichte der christlichen Ritter, die gegen das Osmanische Reich kämpften. Als Nächstes geht es über die Adria, wo ich quer durch Westeuropa dem Rolandslied folgen will, das von den Taten der Paladine Karls des Großen auf waldigen Pyrenäenpässen handelt. In Zentraleuropa folgt die Fortsetzung mit dem Nibelungenlied, das die Geschichte vom Drachentöter Siegfried und der schrecklichen ­Rache erzählt, die auf seine Ermordung folgte. Weiter geht es gen ­Norden, nach Britannien und Skandinavien, wo ich mich mit dem Beowulf auseinandersetzen will – einer unheimlichen Geschichte von Ungeheuern und Methallen und einem Helden, der es mit einem feuerspeienden Drachen aufnehmen muss. Schließlich will ich mich den Nationen am äußersten Rand Europas zuwenden und der Saga von Brennu-Njáll (sowie ihrer gereimten Version Gunnarsrímur) widmen, der Geschichte zweier isländischer Freunde und der Fehden, die ihre Leben zerstören.

Das epische Erbe Europas ist zu reichhaltig, um es in ein einziges Buch zu pressen, ich kann hier weder alle Regionen abdecken noch sämtliche großen Erzählungen berücksichtigen. Doch auch wenn ich viel am Wegesrand liegen lassen muss, habe ich doch die Hoffnung, auf den Spuren dieser sechs Geschichten quer über den Kontinent eine Reihe von drängenden Fragen wenigstens teilweise beantworten zu können: Welchen Beitrag haben diese Epen zur Schaffung Europas geleistet? Lohnt es sich nach wie vor, sie zu lesen? Können sie uns heute helfen, Europa besser zu verstehen?

Ich hatte keine klare Vorstellung, was mich erwartete, als ich nach Griechenland aufbrach. Es erschien eher unwahrscheinlich, dass mir Drachen begegnen würden, und ich rechnete auch nicht ­damit, von einer tückischen Zauberin in ein Schwein verwandelt zu werden. Andererseits erwartete ich auch nicht, an Trinkgelagen mit Kriegsveteranen teilzunehmen, die singend Gedichte vortrugen, in einer Grabkammer aus der Bronzezeit zu schlafen, flaggenschwingenden Sezessionisten auf einem mittelalterlichen Schlachtfeld zu begegnen oder mit einem heidnischen Hohepriester um einen noch unvollendeten Tempel herumzulaufen.

Die Epen zeichneten mir den Weg vor. Ein ganzes Leben lang bin ich Europäer gewesen. Nun wollte ich den Kontinent meiner Geburt bereisen und herausfinden, was das bedeutete.

ERSTER TEIL

AUF DEN SPUREN EINES SPÄTHEIMKEHRERS

DIE ODYSSEE

Der Krieg um Troja ist beendet, Odysseus möchte nur noch nach Hause. Nach sieben Jahren als Gefangener der Nymphe Kalypso wird er auf einem Floß zur Insel der Phaiaken gesandt. Dort erzählt er die Abenteuer, die er seit der Plünderung von Troja erlebt hat – von seinem Kampf mit dem Zy­klopen, vom verlockenden Gesang der Sirenen, von den Rindern des Sonnengottes, die seine Mannschaft trotz ausdrücklichen Verbots gebraten hat, worüber die Götter so erzürnt waren, dass sie alle in einem Sturm umkommen ließen. Die Phaiaken haben Mitgefühl mit Odysseus und schicken ihn, mit Geschenken beladen, heim nach Ithaka.

Als Bettler verkleidet gibt er sich zuerst seinem Sohn Telemachos zu erkennen, der selbst erst von einer Reise zurückgekommen ist. Gemeinsam hecken sie einen Plan aus, um die Freier loszuwerden, die sich in Odysseus’ Haus breitgemacht haben, sein Vermögen verprassen und ein Auge auf seine Frau Penelope geworfen haben. Als diese einen Wettbewerb im Bogenschießen ausruft, dessen Gewinner ihre Hand erhalten soll, ist der Moment zum Losschlagen gekommen. Einige der Freier versuchen, Odysseus’ Bogen zu spannen, doch keiner schafft es. Da nimmt er selbst die Herausforderung an und schießt einen Pfeil durch die Löcher von zwölf Axtköpfen.

Doch der Wettbewerb war, wie sich sogleich zeigt, nur eine Waffenprobe. Unterstützt von Telemachos tötet Odysseus die Freier und erhängt die Mägde, die ihnen zu Gefallen waren. Schließlich gibt er sich der leidgeprüften Penelope zu erkennen, die seine Identität mit intimen Fragen auf die Probe stellt. Mann, Frau und Sohn sind wieder vereint, und zu guter Letzt steigt die Göttin Athene herab und beschwichtigt den wütenden Mob der Inselbewohner und Verwandten der Freier.

1

Wär’ doch der Fremde auf Irrfahrt woanders zugrunde gegangen, ehe er herfuhr; dann hätt’ er erspart uns dieses Gelärme!

Die Freier, Odyssee, 18. Gesang

Gleich volles Tempo oder das Ganze langsam angehen? Ich hatte achtzehn Länder zu durchqueren, mehr als 5000 Kilometer lagen vor mir. Doch bevor ich kreuz und quer den Kontinent abklapperte, musste ich mir erst einmal darüber klar werden, was ich eigentlich wollte. Das europäische Epos beginnt mit den Griechen, die Odyssee ist die berühmteste aller Reiseerzählungen, also bot es sich an, auch meine epische Abenteuerfahrt mit ihr zu beginnen. Sie wird einem Barden namens Homer zugeschrieben, der sie um 800 v. Chr. verfasste. Die Geschichte um Sirenen, Zyklopen und den großen Showdown in Odysseus’ Palast am Ende ist uns allen vertraut. Wie leicht vergisst man da, dass sie aus einer Zeit stammt, in der es weder feste Mahlzeiten noch Münzprägung gab. Trotzdem hat man beim Lesen der Odyssee das Gefühl, dass sie uns auch heute noch ganz unmittelbar berührt. Verspielte Handlungsführung, nichtlineare Erzählstruktur, eine große Bandbreite von Figuren, drastische Gewaltszenen – also das, was wir an modernen Geschichten so schätzen – können wir auch ganz frisch und ursprünglich bei Homer finden. Der griechische Barde bietet uns eine Kombination von Roadmovie und Katastrophenfilm, seine Figuren erleiden schwere Rückschläge oder sterben ganz unerwartet, und alles mündet in ein bluttriefendes Finale, das jedem Spaghetti-Western Ehre machen würde.

Sicher, es gibt ein Prequel, die Ilias mit ihrer etwas spröden Darstellung des Trojanischen Krieges und des Zorns von Achilles. Doch die Odyssee hat die Drehbuchautoren von Hollywood weit mehr inspiriert: Eine Reihe unglücklich verlaufender Abenteuer münden in eine blutige Konfrontation mit den Gegnern, und am Ende sind die Liebenden im Happy End vereint. Wenn sich die Größe eines literarischen Werks an der Zahl der Nachahmer misst, dann ist die Odyssee mit Sicherheit die größte Geschichte aller Zeiten. Und gerade das macht es nicht einfach, auf den Spuren dieser Geschichte zu reisen. Bei der Odyssee ist der Name Programm – man denke allein an die zahllosen Bücher, die in den Bibliotheken und Buchhandlungen über sie zu finden sind: Die neue Odyssee; Ithaka; Odysseus: Die Rückkehr; Die Odyssee: Verschollen; Niemand besiegt den schrecklichen Monoglotz: Ein zwirkisches Abenteuer frei nach Homer; Homers Odyssee: Die Simpsons und die Literatur. Und das ist nur eine kleine Auswahl dessen, was in den letzten zehn Jahren veröffentlicht wurde.

Warum zieht uns gerade diese Geschichte vor allen anderen so in ihren Bann? Und was sagt das aus über Europa – den Kontinent, dessen Kultur sie so stark beeinflusst hat? Zur Lösung dieser Fragen will ich der Odyssee auf drei Wegen nachgehen. Einer soll mich geradewegs zu den Griechen führen, dem Volk, das die direkteste Verbindung zu dieser Geschichte hat. Der Einzelfall erschließt oft das Allgemeine, deshalb wollte ich die Menschen im Auge des Orkans kennenlernen. Aber die Odyssee ist auch die Reise- und Abenteuergeschichte schlechthin: Wenn ich ihr irgendwie gerecht werden wollte, musste ich unbedingt selbst ein paar Reiseabenteuer bestehen.

Mein erstes Ziel sollte eine kleine Insel sein, auf der Homer der Überlieferung nach sein Epos verfasst haben soll und die im Zen­trum einer Krise unserer Tage steht. Schließlich ist die Odyssee kein Stück tote Literatur – das ist ja gerade das Aufregende an den großen Geschichten, die so viele Jahrhunderte überdauern. Sie behalten immer Bedeutung, erneuern sich mit der sich verändernden Welt. Man stelle sich die Handlung einmal als eine Reihe von Schlagzeilen vor: Flüchtlinge aus Kriegsgebiet, gestrandet auf Mittelmeerinseln, suchen verzweifelt eine neue Heimat. Traumatische Schicksale unserer Tage mit Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zu verknüpfen ist nie verkehrt, vorausgesetzt, man erweist beiden Respekt.

Chios, nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt. Einst war die Insel berühmt für ihr Harz und ihren schwarzen Wein, bis die Osmanen 1822 dort während des griechischen Unabhängigkeitskrieges ein Massaker an der griechischen Bevölkerung verübten. Heute ist Chios eine Drehscheibe der »Flüchtlingskrise«: Gegenwärtig befinden sich dort fast 4000 Asylbewerber, die auf die Bearbeitung ihrer Anträge warten.

Eine alte Festung erhebt sich trotzig über dem Meer. Gras und Kreuzkraut sprießen aus den Ritzen der Bastion und überziehen die Mauern wie ein Tattoo den Bizeps eines Türstehers. Durch die Schießscharten und Lücken im Mauerwerk lugt der Himmel hindurch; gleißendes Sonnenlicht liegt auf den Containern, in denen die meisten Flüchtlinge untergebracht sind. Hinter einer Ansammlung von Zelten sitzen Männer an einem Klapptisch und spielen Karten. Hinter ihnen eine Warteschlange vor einer Essensausgabe. Einige haben sich aufgeklaubte Zigarettenstummel zwischen die Lippen geklemmt, andere durchsuchen die Taschen ihrer aus Kleiderspenden stammenden Jacken nach der Essenskarte. Wir sind im Flüchtlingscamp von Souda; heute Abend stehen Reis und Feuerbohnen auf dem Speiseplan.

»He, Lehrer«, sagt Yassin, »iss was mit uns!«

Ich schäle mich aus meiner Warnweste und lasse sie zusammen mit meinen Schuhen am Zelteingang liegen. Eigentlich möchte ich nicht mit ihnen essen. Nichts gegen Feuerbohnen – es ist nur so, dass das Essen den Flüchtlingen vorbehalten ist. Doch Yassin lässt nicht locker, und ich war noch nie gut im Neinsagen.

»Ich nehme mir eine Handvoll Reis und koste davon. Lasis!« (persisch für »Lecker!«)

»Danke, Lehrer. Ich würde dich gern zu mir nach Hause einladen. Dann würden wir einen großen Hammel braten!«

Vor zwei Jahren hatte Yassin noch Medizin an der Universität von Homs studiert – bis sie wegen des Krieges in Syrien geschlossen worden war. Er kehrte ins Dorf seiner Familie zurück und arbeitete als Sanitäter. Doch sein mageres Einkommen wurde ihm von den lokalen Machthabern, Vertretern der herrschenden Alawiten, abgeknöpft. Sie erpressten ihn und drohten ihm mit der Einberufung.

»Aber ich wollte nicht zur Armee. Die geben einem nicht mal eine Waffe – man wird einfach verheizt. Also flüchtete ich über die Berge in die Türkei, ich war sehr vorsichtig, damit mich die Soldaten nicht erwischten.«

Yassin fand Arbeit in Bursa, doch sein eigentliches Ziel war Europa. Schließlich hatte er sich von seinem mageren Gehalt einiges zusammengespart, und auch Verwandte hatten ihm Geld geschickt, sodass er sich einen Schleuser suchen konnte. Aber das Boot tauchte nicht auf. Es dauerte einige Monate, bis er wieder genug Geld beisammen hatte. Dieses Mal wurde das Boot von der Küstenwache aufgebracht. Ein weiterer Überquerungsversuch scheiterte daran, dass ein rivalisierender Schleuser das Boot stahl. So ging es immer weiter, bis zum sechsten Versuch.

»Es war ein ruhiger Tag«, sagte Yassin. »Diesmal klappt es, dachte ich.« Doch als sie schon die Hälfte der Überfahrt geschafft hatten, kamen ihm Zweifel. »Wir waren einfach zu viele. Das Wasser stand uns bis zu den Knöcheln, wir schöpften mit den bloßen Händen, vergebens.«

Aber zum Glück waren sie schon weit genug gekommen. Schiffssirenen ertönten als laute Antwort auf ihre stillen Gebete. Ein Fischer hatte die griechische Küstenwache alarmiert. Sie wurden nach Chios gebracht, vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) registriert, bekamen Formulare in die Hand gedrückt und Zelte oder Containerplätze zugewiesen, in denen sie den langen Prozess des Asylverfahrens abwarten konnten.

In Syrien hatte Yassin in einem dreistöckigen Haus mit Satellitenfernsehen und WLAN gelebt; nun musste er sich an das Leben in einem Zelt gewöhnen und konnte den Ratten zuschauen, die sich im Lager ausbreiteten, und den Schlangen, die die Ratten jagten. Wenn er morgens aufwachte, hörte er die Wellen ans Ufer schlagen und die Zeltplanen mit dem UNHCR-Aufdruck im Wind flattern, und manchmal schrie auch einer der Geflüchteten, der seine Vergangenheit nicht loswerden konnte.

Mir war von Anfang an klar gewesen, dass ich in Europa auch auf Flüchtlinge treffen würde, schließlich war ich auf denselben Wegen unterwegs wie sie. Doch ich wollte ihnen nicht völlig ahnungslos begegnen. Wenn ich einige Wochen in einem Flüchtlingslager verbrachte, würde ich vermutlich das Problem besser verstehen, das die Gemüter auf dem Kontinent so stark erhitzt. Also meldete ich mich als freiwilliger Helfer in einer Schule für Flüchtlinge, in der vagen Hoffnung, mich zugleich auch ein wenig nützlich machen zu können.

Das alte steinerne Gebäude, ein ehemaliger Friseursalon, verfügte über mehrere Unterrichtsräume, einen durch einen Vorhang abgetrennten Eingangsbereich und eine kleine Küche. Die Hausregeln hingen neben Papiermaché-Arbeiten und Zeichnungen der Flüchtlinge, darunter Porträts der Lehrer (meines zeigte ein seegrasgrünes Gesicht, was vermutlich der verfügbaren Farbauswahl der Filzstifte geschuldet war, Henkelohren und einen langen, purpurroten Hals). Zum Ausklang des Tages gab es meist Besprechungen, die manchmal so lang und spannungsgeladen waren wie nur je ein Kriegsrat in der Ilias. Alle gaben ihre Meinung zum Besten, diskutierten über Disziplinarmaßnahmen, stellten Projektideen vor oder berichteten das Neueste von dem Kampf zwischen syrischen und afghanischen Schülern, in dem sich die Rivalitäten ihrer erwachsenen Verwandten um die Vormachtstellung im Lager widerspiegelte.

Wenn man bedachte, was sie durchgemacht hatten, war es erstaunlich, wie ausgeglichen die meisten Schüler waren. Es gab aber auch Jungs, die zu kämpfen hatten. Einige ertränkten mit ihren 90 Euro monatlichem Taschengeld ihre Erinnerungen im Alkohol, andere konnten den Drogendealern des Lagers nicht widerstehen, manche hatten Wunden an den Armen, die teils von Kämpfen, teils von Selbstverletzungen herrührten. Sie waren jung, doch ihre Augen wirkten alt. Ich hatte ein wenig persönliche Erfahrung mit psychischen Problemen, aber nicht mit solchen. Sie litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen und hätten professionelle Hilfe ­gebraucht. Nun waren sie hier im Lager zusammengepfercht, ihre Asylanträge hingen in endlosen Warteschleifen. Kein Wunder, dass viele mit ihren Enttäuschungen und Zukunftsängsten nicht klarkamen.

Aber wenn man mit ihnen zusammensaß und Schach spielte, sich ihre Zeichnungen anschaute oder ihre Gedichte las, mit den kleineren Kindern Fangen spielte und einem ihr Lachen im Ohr kitzelte, dann bekam man ein Gefühl für die Grausamkeit der Welt, die sie hier einsperrte und gefangen hielt wie einst die Zauberin Kirke die Ithaker.

Flüchtling zu sein bedeutet vor allem, unerwünscht zu sein, von den Behörden, den Einheimischen und überhaupt allen mit Argwohn betrachtet zu werden. Ganz ähnlich erging es Odysseus, als er inkognito nach Ithaka zurückkehrte, als »frecher und unverfrorener Bettler«, wie es der Freier Antinoos ausdrückt. Ein echter Bettler bricht einen Streit mit ihm vom Zaun, und von den Freiern angestachelt, beginnen die beiden schließlich einen Ringkampf, dessen Sieger ein gebratener gefüllter Ziegenmagen winkt. Odysseus schlägt seinen Rivalen mit der Faust, diesem schießt »purpurnes Blut aus dem Munde«, und er fällt »brüllend hin in den Staub«. Für Homer ist das ein selten glimpflicher Ausgang eines Kampfes.

Die Odyssee ist voller Flüchtlinge und Außenseiter, die von irgendwo herkommen. Wenn man liest, wie freundlich Odysseus’ Sohn Telemachos, der ohne eine Belohnung zu erwarten einen Flüchtling an Bord nimmt, den Mittellosen begegnet oder wie der Schweinehirt Eumaios einen Bettler (in Wahrheit sein verkleideter Herr) bei sich aufnimmt und ihm die ergreifende Geschichte seiner eigenen Versklavung erzählt, dann dämmert einem, dass der Dichter eine Ahnung davon hatte, was Vertreibung bedeutet.

»Gibt’s bei uns nicht genug schon andere Strolche, lästiges Bettlerpack und gründliche Säubrer der Tafel?«, fragt der Freier Antinoos mit genau jener Logik, die schon seit mindestens drei Jahrtausenden gegen Flüchtlinge eingesetzt wird. Etwas Ähnliches hörte ich eines Abends in einer Hafenbar bei einer Flasche Wein, die ich mit einem pensionierten Fischer namens Michaelis leerte. »Sie lassen überall ihren Müll liegen«, sagte er, »sie nehmen Drogen und betrinken sich. Sie benehmen sich wie Tiere!« Seine dicken, vom ständigen Hantieren mit Tauen von Hornhaut überzogenen Finger umklammerten ein Weinglas. »Wenn du diesen Leuten helfen willst, warum nimmst du sie nicht mit in dein Land?«

Da war was dran. Was konnte man von Europa als politischer Union schon erwarten, wenn der wohlhabende Kontinent mit 500 Millionen Einwohnern es nicht schaffte, einen Bevölkerungszuwachs von gerade einmal 0,3 Prozent zu organisieren? Doch die europäischen Führer zeigten sich noch zerstrittener als die olympischen Götter. Ihre Wiederwahl war ihnen wichtiger als die viel dringendere Aufgabe, eine gemeinsame europäische Politik zu entwickeln. Ungarn errichtete einen Stacheldrahtzaun, Angela Merkel vollzog eine Kehrtwende in ihrer Flüchtlingspolitik, und die britischen Euroskeptiker gingen mit Plakaten, die »Schwärme« von Immigranten zeigten, auf Stimmenfang für den Brexit. Das Resultat war, dass Griechenland wider Willen die Rolle zugeschoben bekam, als »Lagerhaus für menschliche Seelen« zu dienen, wie es Premierminister Alexis Tsipras ausdrückte.

Einmal, in einem Englischkurs auf mittlerem Niveau, erläuterte ich einer jungen afghanischen Schülerin die Handlung der Odyssee. »Hört sich ganz wie meine Reise an«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. Die Odyssee gehörte nicht zu ihrem kulturellen Erbe, trotzdem erkannte sie deutlich ihre Aktualität. Noch deutlicher kam das in einer AG zum Ausdruck, in der wir eine bearbeitete Fassung der Odyssee zusammen mit dem Text von Bob Dylans Song Rolling Stone lasen, zwei Geschichten über Seelen auf der Wanderschaft. Zu meiner Überraschung fiel den Schülern zu dem Klassiker von Homer mehr ein als zu Dylan.

»Da geht es wirklich um etwas«, meinte Nouri. »Da steckt einer echt in der Klemme, aber er tut alles, um zu überleben. Damit kann ich was anfangen.«

»Wir haben es allerdings noch schwerer«, fügte Faizullah hinzu. »Wir sind nicht Kapitäne auf einem Schiff mit vielen Sklaven, die alles tun, was wir ihnen sagen.«

Es war weniger Literaturbetrachtung, was die Schüler motivierte, sondern die Gelegenheit, ihre eigenen Gefühle auszudrücken. Besonders spürbar wurde das in einem Lyrik-Workshop. Im Unterschied zu britischen Schülern waren diese jungen Flüchtlinge ganz erpicht darauf, etwas zu Papier zu bringen: Überall kratzende Bleistifte, ärgerlich zerknüllte Entwürfe, zurückgeworfene Köpfe, geflüsterte Worte, stilles Lächeln …

Sie schrieben Gedichte über die Natur, den Frühling und »die Jahreszeit des Küssens«, surreale Gedichte über endlose Reisen (ein Schüler schrieb über unhörbare Schreie), Satiren über die hygienischen Verhältnisse in den Lagern und die endlose Bürokratie des Asylverfahrens, Erinnerungen an die Menschen, die in ihrer Heimat zurückgeblieben waren. Sie schilderten, wie ihre Mütter in leeren Zimmern standen, oder erinnerten sich, wie sie auf dem Dach ihres Hauses waren und die Stimmen der Familienmitglieder zu ihnen heraufdrangen. Ich verfasste ebenfalls einige Verse, das war wichtig, um eine gemeinschaftliche Atmosphäre entstehen zu lassen. So entstanden sprachliche Bilder, die mich während der kommenden Monate meiner Reise begleiten sollten – ein Herz, das sein Blut ins Meer vergießt, das Flüstern von Zeltplanen, die sich im Wind blähen …

Wir rezitierten keine langen Verserzählungen, obgleich einige meiner Schüler sicher auch dafür Sinn gehabt hätten. Doch wir genossen das Gemeinschaftsgefühl des gesprochenen Wortes, behandelten die Dichtung nicht als etwas Statisches, Stummes auf den Seiten eines Buches, sie floss uns von der Zunge wie die Erzählungen, die auf den homerischen Festen vorgetragen wurden. Das Epos, altgriechisch »ἔπος«, was so viel wie »Wort, Vers« bedeutet, ist etwas, das laut gesprochen wird. Und wir teilten Verse, wie man sich einen Witz erzählt oder gemeinsam eine Kleinigkeit isst oder einander einfach anlächelt: ein Symbol der Gemeinschaft.

An einem freien Nachmittag unternahm ich einen Spaziergang an der felsigen Küste. Ich kam an Ferienwohnungen vorbei, die um Mieter warben, und an Terrakotta-Häusern, die von Opuntien eingehegt waren. In einer Kiesbucht waren Fischer damit beschäftigt, den Rumpf eines umgedrehten Bootes zu kalfatern.

Eine gewundene Treppe führte vom Strand weg hinauf zu einem Heiligtum der phrygischen Fruchtbarkeitsgöttin Kybele. Ich stieg weiter hinauf, bis ich einen grasbewachsenen Aussichtspunkt erreichte, in dessen Mitte ein fünfzig Zentimeter hoher Kalkstein wie ein Pickel aufragte.

»Homers Schemel« wird der Stein genannt, was immer das bedeuten soll. Saß hier einst ein barfüßiger, bärtiger Barde in einem ­gefältelten Chiton und trug die Klage der Andromache um den getöteten Hektor vor oder erzählte Gruselgeschichten von menschenfressenden Zyklopen? Unterhielt er die Jugend und die Spaßvögel mit seiner Parodie des Froschmäusekriegs? Oder rezitierte er aus der Thebais, einem nur noch in Fragmenten erhaltenen Werk, das ihm von einigen zugeschrieben wird?

Ob es überhaupt jemanden gab, der sich Homer nannte, ob die Epen von einem einzelnen Sänger oder einem ganzen Sängerkollektiv verfasst wurden, ist letztlich unerheblich. Wichtig sind nur die erhaltenen Texte; der Name »Homer« ist nicht viel mehr als ein Kürzel für die ihnen zugrunde liegende Sensibilität.1

Die Lage von Homers Schemel, so nahe am Tempel der anatolischen Göttin Kybele, passt allerdings zu einem erwiesenen Faktum über Homers Werk. Egal ob der Dichter nun auf Chios lebte (wie Herodot behauptet), in Smyrna (laut Aristoteles) oder anderswo: Allem Anschein nach war er von der Kultur Kleinasiens geprägt. Dies schlägt sich in seinen Epen nieder. Nicht nur, dass Troja sozusagen vor Homers Haustür lag, spürbar ist auch das »Erzählklima Kleinasiens, das die Griechen so viel gelehrt hat«, wie der große Epenforscher Albert Lord schrieb. Besonders spürbar ist das in der Odyssee, in der Anklänge an verschiedene asiatische Mythen und Geschichten zu finden sind, nicht zuletzt an das älteste sumerische Epos, den Gilgamesch.2 Chios wäre eine geeignete Heimat für einen Geschichtenerzähler der Eisenzeit gewesen, und zwar aus demselben Grund, aus dem es heute Kriegsflüchtlinge anzieht – es liegt am Rand von Europa und lauscht hinüber zu den Dramen Vorderasiens.

1 Chios erhebt gleich aus drei verschiedenen Gründen Anspruch darauf, einst die Heimat Homers gewesen zu sein. Da ist erstens die antike Tradition der Homeridae: Rhapsoden oder Barden, die seine Epen auf der Insel vortrugen. Zweitens sieht die Wissenschaft eine Verbindung zwischen der Sprache der Epen und dem ionischen Dialekt, der im antiken Chios gesprochen wurde. Und schließlich gibt es ein antikes Gedicht mit dem Titel Auf den delischen Apoll, das zu den sogenannten Homerischen Hymnen zählt und in dem es heißt: »Blind ist dieser und wohnt in dem Felseilande von Chios, / Dessen Gesänge die ersten genannt sind unter den Menschen.«

2 Gilgamesch leidet wie Achilles schmerzlich unter dem Verlust eines Freundes, und wie Odysseus wird er von einer Zauberin durch die Unterwelt geführt. Das Schicksal seines Freundes hat mit dem von Odysseus’ Mannschaft gemein, dass er für den Tod eines heiligen Rinds bestraft wird. Eine etwas weiter hergeholte Verbindung kann man zu dem indischen Epos Ramayana herstellen, das ebenfalls die Reise eines Helden schildert, der wieder mit seiner Frau vereint sein möchte und wie Odysseus ein vorzüglicher Bogenschütze ist. Näher an Chios angesiedelt ist der türkische Erzählzyklus Dede Korkut, der auf alten Legenden der Oghusen beruht, in denen ein einäugiger Riese mit einem glühenden Spieß geblendet wird und dem Helden in ein Widderfell gehüllt die Flucht gelingt. Doch es gibt mehr als 200 Geschichten von einem Menschenfresser, dem das Augenlicht genommen wird. Wer hier von wem abgeschrieben hat, darüber kann man sich bis ans Ende aller Tage streiten.

Bevor ich mich westwärts wandte, musste ich erst ein Stück nach Osten reisen, an den Ort, wo alles begann. Also machte ich mich an einem freien Wochenende auf nach Troja. Eine Fähre tuckerte über das Meer, und Busse rollten die türkische Küste entlang in Richtung der Schwemmebene, in der Troja liegt. Ich wanderte zwischen Tomatenfeldern und grasenden Schafen umher, folgte meinem zyklopenlangen Schatten entlang dem mit Tamarisken bestandenen Ufer des Skamandros. Endlich am Meer angelangt, umschwamm ich den Hügel, auf dem der Sage nach Achilles beerdigt wurde, und setzte mich dann zum Trocknen auf einen Felsvorsprung. Als Alexander der ­Große im Jahr 334 v. Chr. hier vorbeikam, soll er nackt um den Hügel ­getanzt sein und ihn mit Wein besprenkelt habe, doch so etwas ist heute bestimmt nicht mehr erlaubt.

Ganz in der Nähe planschten Frauen in Burkini und Abaya vergnügt im seichten Wasser. Der Meltemi, der vorherrschende Wind in der Ägäis während der Sommermonate, fuhr in ihre Kleider, die sich im Wind bauschten wie Segel, die es hinaus aufs Meer zieht.

Troja ist hauptsächlich der Schauplatz der Ilias, doch der Ort ist auch in der Odyssee allgegenwärtig. Es ist der unheilvolle Ort, dessen Name Penelope nicht gerne aussprechen will. Seine Ruinen werden von Sirenen und Barden besungen, und Odysseus vergießt Tränen, als er bei den Phaiaken einer Schilderung von Trojas Untergang lauscht.

Und so wie Trojas Schatten über der Odyssee liegt, so liegt er auch über Europa. In seiner History of the Kings of Britain lässt Geoffrey von Monmouth, ein Chronist des 12. Jahrhunderts, die Geschichte der Briten mit Brutus dem Trojaner beginnen, eine mythische Genealogie, die sich in der mittelalterlichen Erzählung von Sir Gawain und der Grüne Ritter wiederholt, in der König Artus trojanische Wurzeln angedichtet werden. Dagobert, ein Frankenkönig des 7. Jahrhunderts, rühmte sich, von König Priamos abzustammen, und der Normannenhäuptling Rollo zählte den Trojaner Antenor unter seine Ahnen. Der römische Dichter Vergil verfasste eines seiner bedeutendsten Epen, die Aeneis, über einen der wenigen trojanischen Überlebenden. Bezeichnenderweise identifizieren sie alle sich nicht mit den Siegern, sondern mit den Verlieren, den Menschen aus Kleinasien, den Geflüchteten, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Verlust und Zerstörung sind nicht einfach Themen, die in den Epen vorkommen, sie bilden das Fundament, auf dem die europäische Kultur errichtet wurde.

Troja, von vielen Wunden und tiefen Kratern gekennzeichnet, liegt auf dem Hisarlık Tepe (»Palasthügel«) wie ein ausgeweideter Leichnam unter dem kalten Licht eines Seziersaals. Ich verbrachte den Nachmittag damit, über das Gelände zu wandern, vom Propyläum, dem Tempeleingang, zur steil abfallenden Wallmauer, deren Stützen laut Archäologen in Homers Erzählung beschrieben sind. In den 1930er-Jahren entdeckte man hinter dem Wall offenbar hastig errichtete Anlagen zur Abwehr einer Belagerung. Die vier Meter dicke Kalksteinmauer lässt erahnen, dass hier eine Stadt war, die einer feindlichen Streitmacht standzuhalten vermochte – und die wohl nur durch die List eines Odysseus überwunden werden konnte, der einige griechische Angreifer mit einem hölzernen Pferd in die Stadt schmuggelte.

Nun stand ein Modell dieses Trojanischen Pferds unweit des Stadttors. Kinder tobten darin herum, schrien aus den schmalen Fenstern, von ihren Eltern fleißig mit iPads und iPhones abgelichtet: die homerische Bilderwelt im Zeitalter von Instagram.

Zwischen den Mauern sprenkelte roter Mohn die zerfurchte Erde, die seit anderthalb Jahrhunderten umgegraben wird. Ich musste an Priamos’ Sohn Gorgythion denken, der in der Ilias fällt: »So wie der Mohn zur Seite das Haupt neigt, welcher im Garten steht, von Wuchs belastet, und Regenschauer des Frühlings: Also neigt’ er zur Seite das Haupt, vom Helme beschweret.« Und ich dachte an die Mohnblumen, die für uns Engländer so stark mit dem Ersten Weltkrieg verbunden sind.

Priam und die fünfzig Söhne

Hören der Kanonen Töne

Da packt sie Angst um Troja wieder …

Dies schrieb Rupert Brooke 1915, kurz bevor er an einer Blutvergiftung im Hafen von Skyros starb. Sein Schiff war auf dem Weg nach Gallipoli gewesen, wo eine heftige Schlacht tobte. Der Kampf um Troja war nicht irgendein Krieg, Troja ist das Symbol für Krieg schlechthin. Das ist vielleicht auch der Grund, warum sich das Militär immer noch gerne bei dem homerischen Epos bedient, wenn es gilt, eine Operation zu benennen – von der Operation Achilles (Afghanistan, 2007) bis zur Operation Odyssey Dawn (Libyen, 2011). In Versen wie denen Brookes und in vielen anderen Gedichten über den Ersten Weltkrieg klingen nicht nur homerische Töne an, sie überhöhen auch den Kampf und hüllen ihn mit dem Mantel der Geschichte ein. Dabei aber wird übersehen, dass »nie endender Jammer« die Veteranen der Odyssee betrübt. Schon vor Troja gab es Kriege, aber im westlichen Bewusstsein ist dieser die blutbefleckte Mutter aller Kriege – kein Wunder also, dass er mir auch auf den zahlreichen Graffiti an den Mauern der griechischen Hauptstadt begegnete.

2

Sehr lang ist diese Nacht, ohne Ende; noch nicht ist die Zeit da, in der Halle zu ruhn; drum erzähl mir die Taten und Wunder!

Alkinoos, Odyssee, Elfter Gesang

Menschenfressende Riesen, die Versuchung durch die Sirenen oder die Flaute, die Odysseus’ Mannschaft auf der Insel mit den Rindern des Sonnengottes festhält – mit solchen Widrigkeiten hat der Inseltourist von heute nicht zu kämpfen. Die größte Gefahr, die ihm droht, sind Streiks. Ich sollte noch öfter aufgehalten werden, doch nun, am Ende meines einmonatigen Aufenthalts auf Chios, verhinderten erst einmal die Proteste der Panhellenischen Seemannsgewerkschaft gegen Rentenkürzungen, dass ich zügig nach Athen kam.

Nachdem ich ein paar Tage mit Neuankömmlingen aus der Türkei am Hafen rumgelungert hatte, tauschte ich meine Tickets gegen eine Passage mit dem nächstbesten Schiff, das den Hafen verließ. Ich musste mich unbedingt auf die Socken machen, denn in nur wenigen Tagen sollte in Athen eine Veranstaltung zum Thema Odysseus stattfinden, zu der ich mit einem Musiker verabredet war. Und auf dem Weg nach Ithaka wollte ich auch noch einige Abenteuer erleben.

Wenigstens ging es nun los. Das Deck wurde hauptsächlich von ein paar stämmigen, glatzköpfigen Typen bevölkert, die unter der Radaranlage eine Zigarette nach der anderen rauchten. Die Asche, die sie wegschnippten, tanzte im Licht der Schweinwerfer mit der Gischt. Neben mir stand eine Frau in einem leopardengemusterten Kostüm. In der einen Hand hielt sie ebenfalls eine Zigarette, mit der anderen streichelte sie ein Hündchen, das aus ihrer Handtasche lugte.

Die ganze Nacht über herrschte kabbelige See. Als der Morgen erwachte, legte sich der Horizont ein Collier aus bernsteinfarbenem Licht um.

Im Stadtviertel Exarchia kämpfte ich mich aus der U-Bahn wieder ans Tageslicht und schlenderte zwischen den mit Graffiti übersäten Betonbauten umher, vorbei an den Schaufenstern von Antiquariaten, in denen Bücher mit goldgeprägtem Rücken prangten. An einer Metalltür sah ich das Stencil eines Pferdes unter einem Drahtglasfenster und drückte auf die Klingel der Gegensprechanlage. An den Wänden um mich herum blühten Graffiti: Ranken in Blutrot, Ritterspornblau und mattem Schwarz, Ausdruck des Zorns über die politischen Verhältnisse.

Exarchia ist das lebendige, stets aufmüpfige Herz von Athen. Hier nahmen 1973 die von der Militärjunta blutig niedergeschlagenen Studentenproteste an der Nationalen Technischen Universität ihren Ausgang, und hier begannen auch die Unruhen des Jahres 2008, ausgelöst durch den Tod des fünfzehnjährigen Alexis Grigoropoulos, der unweit der Universität durch eine Polizeikugel starb. Dieses Viertel tätowiert sich seine politische Haltung sozusagen auf die Brust, an jeder Ecke finden sich hier öffentliche Suppenküchen, ­Recyclingprojekte, Guerilla-Gärten, besetzte Häuser und Nachbarschaftszentren. Es beherbergt auch eins von Athens wichtigsten Museen, das Archäologische Museum, in dem in wenigen Tagen eine Odyssee-Lesung stattfinden sollte. In Erwartung dieser Veranstaltung erkundete ich das Viertel, allerdings ohne große Hoffnung, inmitten all der Symbole der Protestbewegung des 21. Jahrhunderts etwas aus der homerischen Bilderwelt zu finden.

»Willkommen in Exarchia!«, sagte Lewsha, meine amerikanische Gastgeberin, und führte mich die baufällige Treppe hinauf.

Über Airbnb hatte ich mir einen marineblauen Lagerraum mit einer Matratze auf einem Stapel Paletten gemietet. Lewsha war mit James verheiratet, einem anglo-griechischen Kurator mit einem Hang zu langatmigen Tiraden, die ich einfach nur bewundern konnte.

»Diese Jet-Set-Kuratoren!«, schimpfte er. »Die rauschen hier an, spielen sich als die großen Didaktiker auf und benutzen uns als Bühne. Documenta, wenn ich das schon höre! Die organisieren hier ihre mit Staatsknete finanzierten Ausstellungen und verkaufen das als Protest gegen Sparmaßnahmen!«

Er produzierte Projektideen am laufenden Band, Ausstellungslisten und Terminkalender, ein wahrer Schreibtischkrieger. Überall in Exarchia kämpften Leute gegen oder für etwas, manche mit Schlagstöcken und Plastikschilden, andere mit den Fingern über der Tastatur ihrer Laptops. Manche machten ihrem Protest durch Tags Luft, die sie eifrig mit der Farbsprühdose verteilten. Wir leben nun mal in einem Zeitalter des Protests, man begegnet ihm also vielerorts, aber nirgends so auf Schritt und Tritt wie in Exarchia.

Spiderman befand sich einige Blocks von meiner Bleibe entfernt, er kam von rechts herangeschlittert, während sich über ihm eine Eierschachtel entleerte. Das Bild eines alten Stadtstreichers zog sich über die Fassade eines halb verfallenen Wohnhauses, gewidmet »den Armen und Obdachlosen hier und auf der ganzen Welt«. »Barack? O Mama!« zeigte den ehemaligen amerikanischen Präsidenten mit einer Baby-Ausgabe von sich selbst im Arm, eine umrisshaft gezeichnete Gestalt versank in einer riesigen Sanduhr, und ein klauenbewehrter mechanischer Drache verschlang einen Euro. Mein Spaziergang durch die Straßen von Exarchia gab mir das Gefühl, zwischen die knallbunten Seiten eines Comics geraten zu sein, dessen Sprechblasen von linken Agitatoren gefüllt wurden. Klassische Bilder vermischten sich mit Pop Art und den Runenzeichen politischer Bekenntnisse: ein zyklopenhafter einäugiger Kopf, dem das Gehirn herausquoll, die Eule der Athene, die barbusige Göttin Artemis, mit gespanntem Bogen.

Vorbei an geschlossenen Läden voller Slogans schlenderte ich durch die Arkaden und studierte die Plakate: Proteste gegen die Polizei, den »Verrat« durch Syriza, die EU und die Troika. Bewohner waren mit Bürsten und Kleister unterwegs, um neue Plakate zu kleben – Ankündigungen für eine LGBT-Pride-Veranstaltung, Demos gegen die Wirtschaftslage, eine Fotomontage verschiedenster Proteste (Palästinenser mit der Zwille im Anschlag, indigene Mexikaner, die drohend Stöcke schwangen, kurdische Separatisten mit Gewehren hinter Sandsäcken, griechische Demonstranten mit Bandanas – Rebellion weltweit).

Doch das Bild, das mich in diesem semiotischen Dschungel am meisten verblüffte, war das allgegenwärtige Stencil des Pferdes. Die hohe Mähne, die Leiter, die von seinem Bauch herabbaumelte: Das war nicht irgendein Pferd. Es war ein künstliches Pferd, das auf Rollen stand, ein hölzernes Pferd. Da war sie wieder, die listige Falle des Odysseus, die mir als Replik bereits in Troja begegnet war. Aber welche Bedeutung hatte sie hier in Athen?

Ich erkundigte mich bei Demonstranten auf dem Exarchia-Platz (schlagstockschwingende Männer mit Motorradhelmen und Balaklavas vor brennenden Ölfässern) und ein paar Homer-Fans in Buchläden, in denen sich die Klassiker der Linken wie Chomsky, Bakunin und Slavoj Žižek stapelten. Beides machte mich jedoch kein bisschen schlauer. Aber manchmal ist das Gesuchte viel näher, als man glaubt. Dies war einer der glücklichen Zufälle, die einem Reisen gelegentlich bescheren. Die Quelle des Graffito mit dem Trojanischen Pferd fand sich in meiner Unterkunft!

Da war es, mitten auf James’ Schreibtisch, ein Din-A5-Blatt in Schwarz und Weiß. Der Stummelschwanz, die Leiter unter dem Bauch. Der einzige Unterschied war, dass dieses Pferd mit Worten vollgestopft war: »Hegemonie«, »Ästhetik des Widerstands«, »der entfremdende Blick« – Dutzende Schlagworte, wie sie in Kunstzirkeln und Weltverbesserungsinitiativen gang und gäbe sind. Es handelte sich um ein Projekt von James’ Kollektiv, und Lewsha machte die Guerilla-Arbeit an der Front: Sie hatte diese Stencils in ganz Exarchia verbreitet. »Wir versuchen die Diskurshoheit zurückzugewinnen«, sagte James, eine Camel paffend. »Die Documenta ist Ausdruck der globalen Maschinerie des Kunstmarkts, und diese Machtdynamik stellen wir in Frage. Wir holen die Diskussion auf die Straße und in die besetzten Häuser.«

James und sein Team versuchten einen ähnlichen Effekt wie das trojanische Pferd zu erzeugen, sie wollten die Waffen der Eindringlinge gegen sie selbst richten. Aber das war eine komplizierte, widersprüchliche Sache. Wenn man es so sah, waren die Griechen zu den Trojanern geworden, die ihre Kultur gegen Invasoren verteidigten. Aber mit Waffen war da nichts mehr auszurichten. Deshalb hatten James und seine Kollegen das Trojanische Pferd mit Worten gefüllt, wird doch schon in der Odyssee gesagt, dass Worte nicht weniger heftige Wunden als Stahl zu schlagen vermögen. Im bekanntesten Abenteuer von Odysseus – seiner Begegnung mit dem menschenfressenden Zyklopen – retten den Helden schließlich listige Worte, nicht ein Schwert.

»Niemand ist mein Name, und Niemand rufen mich immer Mutter und Vater und ebenso all meine Gefährten«, erklärt Odysseus dem Zyklopen Polyphem, der schon einige Mitglieder seiner Mannschaft verspeist hat. Odysseus macht hier ein geniales Wortspiel mit seinem Namen, den er wie: »Οὖτις« (Outis) ausspricht, was »Niemand« bedeutet. Und nachdem er mit seinen Gefährten dem Riesen einen Holzpfahl ins Auge gerammt hat, rettet es ihm sogar das Leben. »Niemand will listig, nicht gewaltsam mich morden«, brüllt Polyphem, worauf ihm keiner zu Hilfe eilt: Ein einziges Wort ist unserem Helden zum Schutzschild geworden.

»Wir sind alle Griechen. Unsere Gesetze, unsere Literatur, unsere Künste, sie alle haben ihre Wurzeln in Griechenland. Wenn es Griechenland nicht geben würde … wir wären vielleicht immer noch Wilde und Götzenanbeter.«

Dies schrieb Percy Bysshe Shelley im Jahr 1822. Fast zwei Jahrhunderte später fanden seine Worte ein Echo auf einem Spruchband, das über dem Omonia-Platz am Rand von Exarchia hing: »Willkommen bei den Barbaren«. Und trotzdem kommen noch die Philhellenen, die »Liebhaber Griechenlands«.

Shelley war ein großer Bewunderer von Homer. Die Epen der Griechen waren für ihn »die Säule, auf der die gesamte nachfolgende Kultur ruht«. Er schrieb auf dem Höhepunkt der Homerbegeisterung, die eines der folgenreichsten Ereignisse des 19. Jahrhunderts befeuerte und aus ihm ihrerseits neue Energie bezog: den griechischen Unabhängigkeitskrieg.

Zwischen 1821 und 1829 kamen Tausende wohlmeinende Aktivisten vom gesamten europäischen Kontinent nach Griechenland: Offiziere, die im Exil lebten, weil sie in den Napoleonischen Kriegen auf der falschen Seite gestanden hatten, aus Amerika zurückkehrende Pelzhändler, ein französischer Fechtlehrer, der sich als Kavallerieoffizier ausgab, ein spanisches Mädchen, das sich als Mann verkleidete, Hunderte Deutsche, die sich selbst als Bürger eines neuen »Hellas«, eines kulturell einflussreichen, aber politisch nicht geeinten Landes sahen, und schließlich Englands berühmtester Dichter.

Das war Lord Byron, der wie kein anderer den literarischen Philhellenismus vertrat. Er war von einer romantischen Liebe zum antiken Griechenland durchdrungen, der er in Childe Harolds Pilgerfahrt Ausdruck gegeben hatte. Verfasst hatte er dieses Gedicht, das seinen Ruhm begründete, nach einem Besuch Trojas und Ithakas, der Heimat des Odysseus. Für seine Teilnahme am griechischen Unabhängigkeitskrieg entwarf er sich, inspiriert von Beschreibungen aus der Ilias, seine eigene Uniform. Doch er starb in Mesolongi an der Malaria, bevor seine Illusionen erschüttert werden konnten. Anderen blieb dies nicht erspart.

»Ich sagte mir, du kämpfst nun unter dem Banner von Achilles an der Seite der Helden, die einst Troja belagerten«, berichtete ein preußischer Offizier namens Ludwig Bollmann. »Aber die alten Griechen gibt es nicht mehr …« Allmählich enthüllte sich ihnen die trostlose Wahrheit hinter ihren romantischen Phantasien. War es schon desillusionierend, dass ihre griechischen Kameraden gar nicht in der Sprache von Homer mit ihnen parlieren konnten, so dämpfte es auch erheblich die Stimmung, dass jeder dritte Kämpfer den Tod fand. Genauso wenig begeisterte es die Philhellenen, dass griechische Kriegsbanden nach der Einnahme von Tripolis Tausende von Menschen massakrierten.

Dennoch blieben die Philhellenen ihrer Sache treu, und in der Bucht von Navarino führte dann eine Kette von unklaren Befehlen zur unbeabsichtigten Beschießung und weitgehenden Zerstörung der osmanisch-ägyptischen Flotte, wodurch die Türken keine Möglichkeit mehr hatten, die griechischen Inselfestungen zu erobern. Der Krieg zog sich noch eine Weile hin, aber die griechische Unabhängigkeit war im Wesentlichen gesichert. Endgültig besiegelt wurde sie 1832 im Vertrag von Konstantinopel. Der griechische Befreiungskampf wurde zum Modellfall für Unabhängigkeitsbewegungen auf dem ganzen Kontinent. »Das Griechenland, für das Byron focht – das Griechenland, das bis heute existiert«, schreibt der Historiker Roderick Beaton, »mit all seinen immerwährenden Problemen, die es aus seiner gewaltsamen Geburt geerbt hat, bildet das eigentliche Fundament von Europa, wie wir es heute kennen.«

Diese komplizierte Beziehung hat seit jeher das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa bestimmt, bis hin zur mangelhaft vorbereiteten Aufnahme Griechenlands in die Eurozone. Aber wenn die europäische Kultur tatsächlich ihre »Wurzeln« in Griechenland hat, wie Shelley behauptet, wie kann man dann auf die Idee kommen, Griechenland aus Europa auszuschließen? Allein das Symbol der Union – das Eurozeichen – leitet sich vom griechischen Buchstaben Epsilon ab, laut der Website der EU eine Referenz an »die Wiege der europäischen Kultur«.

Die Debatte um die Bedeutung der griechischen Krise ist längst nicht ausgestanden: Handelte es sich um interne Differenzen oder eine Krise des neoliberalen Wohlfahrtskapitalismus? Ein systematisches Versagen der Währungsunion oder Fehler einer einzelnen Nation in der Eurozone? Das Land mit dem größten Beitrag zur Gründung Europas hat nach wie vor die widersprüchlichste Beziehung zu dem Staatenbund. Wenn Griechen in andere Länder fahren, dann sagen sie: »Ich reise nach Europa«, genau wie die Briten, wenn sie den Kanal überqueren. Sie haben Europa seinen Namen, seine Gründungsliteratur, seine Philosophie und seine politischen Konzepte gegeben, seine ersten Karten und wissenschaftlichen Entdeckungen, aber sie bleiben Außenseiter im europäischen Projekt. Das macht die paneuropäische Intimität mit Homer umso problematischer. Haben wir das Recht, Anspruch auf diese Geschichten zu erheben, wenn unser Verhältnis zu der Nation, die sie geschaffen hat, so zwiespältig ist?

Die Zeit war gekommen, Homer zu lauschen. Am Rande von Exarchia, hinter einer Reihe Polizisten, die sich mit Schilden gegen Proteste gewappnet hatten, überquerte ich einen sauber gepflegten Rasen und trat zwischen die kannelierten ionischen Säulen des Archäologischen Museums.

Drinnen hatte man eine Ausstellung über die Irrfahrt des Odysseus vorbereitet. Über eine Amphore aus der Bronzezeit und eine Lekythos (einem Olivenölkrug, auf dem dargestellt war, wie Kirke ihren Zaubertrank an die Mannschaft von Odysseus’ Schiff verteilt) erhob sich der Blickfang: eine Statue, die man im Jahr 1900 aus einem 2000 Jahre alten Wrack geborgen hatte. Der Marmor war korrodiert und durchlöchert, von Meeresbakterien angefressen und hatte die krümelige Struktur eines mürben Kekses. Leicht gebeugt, das pockennarbige Gesicht unter einem spitz zulaufenden Pileus, einer Filzkappe, stellte sie den »leidengestählten Odysseus« als Bettler dar. Der antike Bildhauer zeigte ihn nicht als listigen Waffenerfinder oder intrigenreichen Inselkönig, sondern als heimatlosen Wanderer, der auf die tiefste Stufe der Gesellschaft herabgesunken ist.

Von James Joyces’ Ulysses über den Film O Brother, Where Art Thou? von den Coen-Brüdern, Fénélons Abenteuer des Telemach (ein Bestseller aus dem 18. Jahrhundert über die Reisen des Sohns unseres Helden) bis zu Margaret Atwoods Penelopiade haben die Großen und Gewichtigen der westlichen Literatur reihenweise ihre Coverversionen der Odyssee produziert und dabei die Handlung mal aus dem Blickwinkel der Romantik, mal aus dem des Modernismus, Feminismus, Absurdismus oder Postkolonialismus interpretiert. Odysseus ist ein Jedermann, ein ort- und zeitloser Held. Schwerlich lässt sich eine zweite Geschichte finden, die so oft kopiert worden ist.

Man vergisst leicht, dass es sich um eine griechische Geschichte handelt – geschrieben von einem Griechen und der Frage gewidmet, was es heißt, Grieche zu sein. Wenn Homer von der Vereinigung verschiedener ägäischer Königreiche für ein gemeinsames Ziel singt (die Heimholung Helenas und Rache an den Trojanern für ihre angebliche Entführung) und »von des leidengestählten Odysseus Rückkehr nach Hause«, dann schafft er damit die Grundlage für die griechische Nationalität. Kurz gesagt, Homer hat Griechenland erfunden. Bei den Panathenäen, dem großen Fest zu Ehren der Göttin Athene, das mit Spielen und Opfern an die Götter, darunter auch Poseidon, begangen wurde, standen Homer-Rezitationen fest auf dem Programm. Sie wurden Teil des imperialen Repertoires, mit dem die athenischen Eliten die vielgestaltige Insel- und Halbinselwelt zusammenklammerten, unter dem wir heute Griechenland verstehen. Auch ohne Homers Epen würde es eine griechische Nation geben, aber sie hätte ein anderes Band zur Sicherung ihres Zusammenhalts finden müssen.

Diese halb zerfressene Statue des mittellosen Wandersmanns stellt nun die Lage von Odysseus bei seiner Ankunft am Hof der Phaiaken dar. Mithilfe der freundlichen und bezaubernden Prinzessin Nausikaa schildert er wie jeder Fremdling, der irgendwo auftaucht, sein Schicksal, und das so einnehmend, dass die Phaiaken Sympathie für ihn empfinden. »[W]ie ein Sänger kundig erzähltest du die Geschichte … und deine eigenen traurigen Leiden«, erklärt König Alkinoos. Odysseus ist nicht bloß ein Kriegstreiber, ein Kapitän, ein Waffenerfinder, er ist auch ein Geschichtenerzähler.

Aber wenn ein Soldat ein Geschichtenerzähler sein kann, wie halten wir dann die Magie seiner Poesie und die blutigen Taten, die er mit seinem Bogen begeht, auseinander? Dieses Problem stellt sich bei vielen der großen Epen, deren Helden ziemlich viel Blut an den Händen klebt, und es sind nicht selten fragwürdige Gründe, aus denen sie es vergießen. Was verlockte die Philhellenen, für die griechische Unabhängigkeit zu den Waffen zu greifen? Die homerischen Helden vermochten offenbar noch im 19. Jahrhundert Menschen dazu zu bewegen, sich als Kanonenfutter verheizen zu lassen. Schon Sokrates hatte im 5. Jahrhundert v. Chr. bei der Vorstellung seines Idealstaats in der Politeia vor der Schädlichkeit der Homer-Lektüre für junge Männer gewarnt.

Odysseus ist an diesem Abend nicht der einzige Geschichtener­zähler im Palast von Alkinoos. Auch ein Barde der Phaiaken hat seinen Auftritt, »der göttliche Sänger, der im Volke geehrte Demodokus«, der seinen Vortrag mit der Lyra begleitet. Nun saß ich in der Galerie des Museums in Erwartung eines Lyraspielers unserer Tage. Nikos Xanthoulis ist einer der größten klassischen Musiker Griechenlands. Schlicht mit Jeans und blauem Hemd bekleidet, passte er so gar nicht zu den Marmorreliefs um uns herum, wenn man von seiner Lyra absah. Er stützte sie auf seinem linken Bein ab und ließ die ersten plätschernden Noten erklingen. Ich dachte an einen Höhepunkt der Odyssee: Der Held spannt seinen gewaltigen Bogen, bevor er seinen Rachedurst an den Freiern stillt. »So ohne Mühe spannte den großen Bogen Odysseus. Mit der Rechten sie greifend, prüfte er nunmehr die Sehne, und die sang schön unter ihr, einer Schwalbe ähnlich im Klange.«

Das Publikum war begeistert. Eine grauhaarige Frau mit einer Beehive-Frisur hielt ein Manuskript umklammert und trug Homers Schilderung des prachtvollen phaiakischen Hofes vor: »goldne und silberne Hunde, welche Hephaistos geschaffen mit kunstgeschicktem Verstande, um des hochbeherzten Alkinoos Haus zu bewachen«, sowie viele Frauen, denen Athene »reichlichst gegeben Kenntnis ringsum edlen Handwerks und tüchtiges Denken«. Die grauhaarige Frau übergab an eine Dame mit Hornbrille, welche die Passage über das Land der Lotusesser las. Die Lyra untermalte ihren Vortrag wie ein leise rauschender Wasserfall. Als Nächstes übernahm eine Frau mit lila Bluse und Schal die Zügel der Erzählung; die Lyrabegleitung wurde etwas spritziger und setzte hier und da einen dramatischen Akzent auf die Verse:

τὸν δ’ ἀπαμειβόμενος προσέφη πολύμητις Ὀδυσσεύς

Ihm antwortete drauf der einfallsreiche Odysseus:

»Ἀλκίνοε κρεῖον, πάντων ἀριδείκετε λαῶν,

»Herrscher Alkinoos, ausgezeichnet vor allen im Volke,

ἦ τοι μὲν τόδε καλὸν ἀκουέμεν ἐστὶν ἀοιδοῦ

ja, das ist wahrlich schön, solch einem Sänger zu lauschen,

τοιοῦδ’ οἷος ὅδ’ ἐστί, θεοῖς ἐναλίγκιος αὐδήν.«