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Lassen Sie sich von Grace und ihrer außergewöhnlichen Tante Millie verzaubern! Grace steht vor den Scherben ihres Lebens: Nach langer Krankheit stirbt ihre geliebte Mutter, erst kurz zuvor hat ihr Ehemann Brian sie verlassen. Grace ist allein, dabei bedeutet Familie ihr alles. Als sie in der Post eine rätselhafte Karte findet, adressiert an ihre verstorbene Mutter und unterzeichnet nur mit einem "M", zögert sie nicht lange und ruft die unbekannte Telefonnummer an, die auf der Postkarte steht. Die Absenderin ist Millie, ihre Großtante – von der Grace noch nie gehört hat. Kurzerhand beschließt Grace, Millie in Florida zu besuchen. Warum hat ihre Mutter die Tante nie erwähnt, obwohl sie Grace immer eingetrichtert hatte, Familie sei das Wichtigste? In Florida angekommen, wird Grace entgegen ihrer Erwartungen nicht von einer klassischen alten Dame empfangen, sondern von einer schillernden 81-Jährigen mit der Ausstrahlung eines Broadway-Stars. Schnell merkt Grace: Millie bringt Schwung in ihr Leben! Sie gehen gemeinsam shoppen und zur Maniküre, genießen die erholsame Sonne Floridas und führen tiefe, inspirierende Gespräche. Millie hilft Grace dabei, ihre Gefühle auszuleben und zu verarbeiten – und schließlich trifft Grace in ihrem Urlaub nicht nur einen interessanten Mann, sondern erfährt auch von Millies Vergangenheit, die dazu führte, dass sie der Familie den Rücken gekehrt hat … Phoebe Fox' bezaubernder Roman Von Mut und Meer ist eine warmherzige, inspirierende und oft witzige Familiengeschichte mit tollen Charakteren, die im Gedächtnis bleiben. Das Setting am Meer und unter der Sonne Floridas macht dieses Buch zur idealen Urlaubslektüre, und Sie werden es ihrer besten Freundin schenken wollen, nachdem Sie es gelesen haben!
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2022
Phoebe Fox
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Sonja Fehling
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Über Neuanfänge, Selbstfindung und die Bedeutung von Familie
Grace steht vor den Scherben ihres Lebens, als sie herausfindet, dass sie eine Großtante hat, von der sie noch nie gehört hat. Kurzerhand reist sie zur neugewonnenen Tante Millie nach Florida. Und die ist ganz anders, als Grace erwartet hatte: Sie entpuppt sich als schillernde 81-Jährige mit der Ausstrahlung eines Broadway-Stars – und sie bringt Schwung in Grace’ Leben! Sie genießen zusammen die erholsame Sonne Floridas, liegen am Meer und führen tiefe, inspirierende Gespräche. Und mit Millies Hilfe lüftet Grace nicht nur ein Familiengeheimnis: Sie kommt vor allem endlich dem Leben näher, das sie sich heimlich immer erträumt hat …
Widmung
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Danksagung
Anmerkung der Autorin und Quellenangaben
Für all diejenigen, die den Mut haben, sie selbst zu sein.
Für John Jones, der jeden Tag nach diesem Motto lebte.
Und für Joel, wie immer.
Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich sie beim Vorlesen der Gutenachtgeschichte – meiner Lieblingszeit des Abends, weil ich Mom dann endlich ganz für mich allein hatte –, immer mittendrin bat, aufzuhören, um mir stattdessen selbst auszudenken, wie es mit den Figuren weiterging. Die Geschichten, deren Ausgang ich tatsächlich erraten hatte, musste sie mir immer wieder vorlesen. Die wenigen, bei denen ich falschlag, wurden ganz hinten ins Bücherregal verbannt, woraus sie dann nie wieder hervorkamen.
Das letzte Mal, dass ich das Ende einer Geschichte absolut nicht vorhersehen konnte, ist allerdings erst ein Jahr her. Mit diesem grandiosen Finale wurde ich an dem Tag konfrontiert, als mein Ehemann und Geschäftspartner – und die Liebe meines Lebens, solange ich denken konnte – mir eröffnete, dass er mich zwar liebte und das auch für immer tun würde, aber trotzdem ständig den Gedanken hätte, dass es da noch mehr geben müsse – für uns beide. Ich hätte einen Besseren verdient als ihn, sagte Brian zu mir, während ich ihn zum ersten Mal Tränen vergießen sah. Ich würde jemanden verdienen, der verrückt nach mir sei.
Womit er noch einmal eindrücklich klarstellte – als hätte er das nicht schon längst getan –, dass er offensichtlich nicht verrückt nach mir war.
Und so zog ich mitsamt meinem gebrochenen Herzen drei Häuser weiter, zurück in mein Elternhaus in einer Kleinstadt in Missouri, und schloss damit einen Kreis: Brian und ich endeten genau dort, wo wir angefangen hatten – als beste Freunde und Nachbarn, die mittlerweile eine gemeinsame Kanzlei für Nachlassplanung führten.
Offensichtlich hatte ich schon immer ein Faible für Abschlüsse.
Wahrscheinlich lag mir das im Blut. Unsere Kanzlei war schon vor vielen Jahrzehnten von meinen und Brians Urgroßeltern gegründet worden; somit befasste sich meine Familie seit Generationen mit dem Ende – dem einzig vorhersehbaren, definitiven Teil des Lebens. Dem Ende, das man zwar nicht verhindern, aber zumindest vorbereiten konnte. Und anderen Menschen dabei zu helfen hatte irgendwie etwas Tröstliches.
Der Tod – der endgültige Schluss – war bei uns ständig präsent; genauso ein Teil der Familie wie meine Mutter und ich.
Vielleicht sogar noch stärker, seit mein Vater uns verlassen hatte.
Deshalb verspürte ich wahrscheinlich auch weder Angst noch Entsetzen – ich war noch nicht einmal besonders überrascht –, als ich über die verschneite Einfahrt von Dorothy Fielding stapfte, den eiskalten schmiedeeisernen Griff an ihrer Holztür betätigte und sie aufrecht sitzend in einem Lehnstuhl vorfand, die Augen weit aufgerissen, während sie ins Leere starrte – oder vielleicht nun endlich alles im Blick hatte.
Ich ignorierte den starken süßlichen Geruch von Verwesung, der mir in der stickigen Hitze ihres Hauses entgegenschlug und mir nach der kühlen Luft draußen fast den Atem nahm, und ging zu Mrs Fielding hinüber, beugte mich über ihren reglosen Körper und legte eine Hand auf ihre kalten Finger, mit denen sie die Armlehne ihres Stuhls umklammerte – als wollte sie sich gleich hochstemmen, sobald sie den nächsten Atemzug tat, der aber nie mehr kommen würde.
Wir hatten uns über diesen Stuhl unterhalten – einen antiken Hepplewhite-Sessel, der schon seit Generationen im Besitz ihrer Familie war und den sie einer Cousine in Springfield vererben wollte. Der geblümte Seidenstoff war verblasst und an den Rändern zerschlissen – sie wusste, dass er erneuert werden musste, hatte jedoch nie die Möglichkeit gehabt, genügend Geld für die teure Arbeit zu sparen.
»Außerdem gefallen mir die Blumen«, hatte sie in meinem Büro zu mir gesagt – und damit eine der wenigen positiven Bemerkungen gemacht, die ich je von ihr gehört hatte. »Sie erinnern mich an Flevoland.«
Mrs Fielding hatte mir in einem persönlichen Moment, während wir ihren Nachlass geplant hatten, anvertraut, dass sie immer davon geträumt habe, einmal zum Tulpenfestival nach Noordoostpolder zu reisen, um die riesigen Blumenfelder zu sehen. Über dieses Geständnis hatte ich mich sehr gewundert – schließlich hatte sie uns als Kinder ständig terrorisiert und jeden mit ihrem Gartenschlauch bespritzt, der es wagte, einen Fuß auf ihren hypergepflegten Rasen zu setzen. Selbst wenn wir nur auf dem Gehweg gestolpert waren (was ich seit einer gründlichen Dusche meines Schienbeins bezeugen kann). Die Reise in die Niederlande hatte sie sich leider nie leisten können. Stattdessen hatte sie für die Betreuung ihres an Schizophrenie erkrankten Bruders aufkommen müssen, nachdem ihre Eltern verstorben waren, die selbst jeden Penny für die lebenslange Behandlung ihres Sohnes aufgebraucht hatten.
»Und außerdem: Wer hätte denn darauf achten sollen, dass dieses faule Pflegepersonal Franklin nicht verhungern lässt, während ich in den Niederlanden durch die Tulpenfelder scharwenzle?«, hatte sie geschimpft.
Dorothy Fieldings Verständnis für ihre Mitmenschen war in etwa genauso ausgeprägt wie ihr positives Gemüt.
Ich kannte all diese Einzelheiten über ihr Leben – und ich wusste noch mehr: dass sie ihr Haus komplett abbezahlt hatte, zum Beispiel, bis sie für Franklins Behandlung darauf eine zweite Hypothek hatte aufnehmen müssen und später noch eine dritte. Ich wusste auch, dass sie es trotzdem irgendwie geschafft hatte, hier und da einige Dollar zu sparen – manchmal buchstäblich nur ein paar –, die sich nun auf einem Festgeldkonto bei der Bank von Sugarberry befanden und dort langsam verstaubten, weil sie weder der Wall Street noch den nationalen Bankketten über den Weg traute. Unser einziges lokales Finanzinstitut wurde von den Mitgliedern der Familie Faraday geleitet, die im Ort wohnten und dementsprechend »wissen, dass sie lieber gut auf mein Geld aufpassen sollten – Sarabeth Faraday muss mir nämlich jeden Sonntag in der Kirche in die Augen sehen«, hatte Mrs Fielding zu mir gesagt. Ich wusste, dass sie dieses Konto nie angerührt hatte, außer um in unregelmäßigen Abständen Geld darauf einzuzahlen, und obwohl sie es schon 1989 eröffnet hatte, befanden sich gerade einmal 3410,97 Dollar darauf.
In meinem Beruf hatte ich schon die intimsten Dinge über die Menschen in unserer Kleinstadt erfahren – Menschen, die ich bereits mein ganzes Leben lang kannte –, aber genauso wie bei Mrs Fielding stückelte ich vieles zusammen wie bei einer Flickendecke. Manche der Geheimnisse, die mir die Leute anvertrauten, kannten vermutlich nicht einmal deren engste Freunde – Mrs Fielding zum Beispiel hatte ihr Haus und alles, was sich darin befand (mit Ausnahme des Lehnstuhls), einer vermeintlich Fremden aus Arizona vermacht, die sie nie getroffen hatte. Und ich war wahrscheinlich die einzige Person in ganz Sugarberry, die wusste, dass es sich bei dieser Frau um Mrs Fieldings Tochter handelte, die sie zur Adoption hatte freigeben müssen, nachdem ihre Eltern erfahren hatten, dass sie mit siebzehn schwanger geworden war. Davon abgesehen kannte ich aber nicht einmal ihre Lieblingsfarbe, hatte keine Ahnung, welcher der schönste Tag ihres Lebens gewesen war, und wusste auch nicht den Namen ihrer ersten Liebe, dem Erzeuger ihrer Tochter, der die Stadt verlassen hatte, um aufs College zu gehen, und der danach nie wieder zurückgekommen war. Solche Einzelheiten erfuhr ich auch eher selten bei meiner Arbeit.
Eine Sache wusste ich allerdings genau: Obwohl das Leben eines Menschen für immer endete, ging es für alle anderen weiter.
Nachdenklich streckte ich die Hand aus und drückte Mrs Fielding sanft die knittrigen Augenlider zu, bevor ich Ben Ferguson anrief, damit er vorbeikam, um den Tod zu bestätigen und sie ins Leichenschauhaus zu bringen. Erst dann verständigte ich Mrs Fieldings Cousine Mandy Yeager, von der sie oft erzählt hatte – mit einem harten Funkeln in den blassgrünen Augen und einem spöttischen Grinsen in ihrem faltigen Gesicht, was ich nie verstanden hatte, bis sie mir mit schadenfroher Miene erklärte, warum sie ihrer Verwandten lediglich den Hepplewhite-Stuhl vermachen wollte: »Weil ich Mandy gesagt habe, dass sie Großmutters Stuhl nur über meine Leiche kriegt, und wenn ich etwas verspreche, dann halte ich das auch.« Mrs Fielding hatte dieses Versprechen extrem wörtlich genommen, schoss es mir durch den Kopf, während ich durch den Mund atmete und ihren zusammengesunkenen Körper in ebendiesem Stuhl betrachtete. Ich fragte mich, ob eine neue Polsterung wohl ausreichen würde, um den Geruch ihres verwesenden Leichnams aus dem antiken Möbelstück zu bekommen.
Neben Ms Yeager informierte ich auch das Pflegeheim in St. Louis. Franklin Fielding war zwar bereits im vorigen Jahr verstorben, aber ich hoffte, dass es trotzdem noch ein paar Leute innerhalb des Personals gab, die sich einen Moment Zeit nahmen, um seiner Schwester zu gedenken, nachdem sie über so viele Jahre mehrmals die Woche zu Besuch gekommen war.
Nicht dass ich wirklich daran glaubte.
Ich drehte das Thermostat herunter, um die stickige Hitze zu vertreiben, in der die arme Mrs Fielding wie in einem Backofen gebraten wurde. Dann ging ich zwei Häuser weiter zu Marbelle Mason und bestätigte ihr, dass es richtig gewesen war, jemanden bei Mrs Fielding vorbeizuschicken. Gestern Abend hatte mich Mrs Mason zwischen den Suppenregalen im örtlichen Supermarkt abgepasst und mir erzählt, dass bei ihrer Nachbarin seit zwei Tagen das Licht auf der Veranda brannte. »Und man kann ja über Dorothy sagen, was man will – was ich natürlich nicht tue –, aber sie ist nicht verschwenderisch.« Mrs Mason hielt sich für die Schaltzentrale von Sugarberry, deshalb schoss sie auch jedes Mal sofort auf mich zu, wenn sie mich sah – in der Hoffnung, dass ich ihr die eine oder andere pikante Info über unsere Kunden verriet, die sie selbst noch nicht ausgegraben hatte. Und wenn ich das Thema wechselte, ging sie stets mit einem missbilligenden, beleidigten Gesichtsausdruck davon.
Nachdem ich das alles erledigt hatte, machte ich mich auf den Weg ins Büro. Ich legte allerdings vorher noch einen Zwischenstopp in der Bäckerei ein; heute war ich damit an der Reihe, unsere Freitagsdonuts zu besorgen.
Früher wäre ich an einem Freitag nach der Arbeit nach Hause geeilt und hätte dort auf meinen Mann gewartet. Und wie es aussah, würde ich diese Gewohnheit heute zum ersten Mal seit langer Zeit wiederaufnehmen.
Als ich gestern in der Nacht noch wach gelegen hatte, klingelte mein Handy, und Brians Name auf dem Display ließ mich mindestens genauso hell strahlen wie der Bildschirm.
»Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät zum Anrufen.« Seine Stimme hüllte mich so warm, weich und beruhigend ein wie meine Schnuffeldecke aus der Kindheit, unter der ich immer noch schlief.
»Überhaupt nicht«, entgegnete ich, während ich das Handy an meine Wange schmiegte.
»Dann … ähm … also …« Brian räusperte sich, und ich konnte hören, wie nervös er war. »Ich hatte gehofft, wir könnten uns vielleicht … ähm … morgen Abend treffen, um … ähm … zu reden.«
Sofort richtete ich mich kerzengerade auf und spürte, wie der Pulsschlag in meinem Hals an Tempo zunahm. Wir hatten schon lange nicht mehr über irgendetwas Tiefergehendes als die Organisation der Kanzlei »geredet«; stattdessen hatten wir uns auf einen heiter-fröhlichen Umgang miteinander beschränkt, was sich in etwa so anfühlte wie mit Schlittschuhen über eine Plastikfläche zu fahren. »Ich hab morgen Abend nichts vor.« Als hätte es irgendeinen Termin auf diesem Planeten gegeben, den ich nicht direkt abgesagt hätte. »Wann?«
»Wie wär’s, wenn ich einfach bei dir vorbeikomme?«
»Okay«, willigte ich ein und bemühte mich, das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. »Ich werde da sein.«
Für Dorothy Fielding war es zu spät, ihr größter Traum würde sich nicht mehr erfüllen.
Meiner vielleicht schon.
In dem Moment, als ich die Kanzlei betrat und unsere langjährige Empfangsdame Susie sah, wusste ich sofort Bescheid.
»Mist, ich hab die mit bayrischer Creme vergessen. Tut mir echt leid.«
In der Bäckerei war ich wie auf Autopilot gewesen, hatte nur ein halbes Dutzend gemischter Donuts bestellt und völlig verschwitzt, dass man Susies Lieblingsgeschmacksrichtung extra angeben musste.
Sie nahm mir die Schachtel aus den Händen und stellte sie auf den Tresen. »Ist ja nicht so, als wäre ich auf die besonderen Inhaltsstoffe angewiesen«, sagte sie und zog mich an ihren umfangreichen Busen. »Du hattest ja auch den Kopf voll, Grace. Es tut mir so leid, dass ausgerechnet du Mrs Fielding gefunden hast.«
Ich hätte es wissen müssen. Susies Sohn Daniel war der Polizeichef von Sugarberry, und es gab kein Verbrechen, keinen Unfall oder Todesfall, worüber Chief Smith seine Mutter nicht informierte. Das war ihr größtes Hobby.
Ich ließ mich an ihren weichen, gepolsterten Körper sinken und erlaubte mir, nur für einen Moment, ihre tröstliche Umarmung zu genießen. Mom war am Ende so dünn gewesen, nur noch Haut und Knochen, die so zerbrechlich gewesen waren, dass ich Angst hatte, sie in den Arm zu nehmen. Es war schön, sich an Susie zu klammern und den beruhigenden Duft von Babypuder einzuatmen, vor allem, da mir der Verwesungsgestank aus Mrs Fieldings Haus immer noch in der Nase hing. Ihr Tod hatte mich ungewohnt stark aus dem Gleichgewicht gebracht, und ich konnte nicht mal genau sagen, warum.
»Ist Brian schon da?«, fragte ich, als Susie mich aus ihrer Umarmung entließ.
Einen Augenblick lang schien sich ihre Miene anzuspannen. »Noch nicht«, sagte sie knapp. »Also, ich habe schon Mrs Fieldings Akte rausgesucht und sie dir auf den Schreibtisch gelegt. Kaffee kommt sofort, und dazu empfehle ich einen schönen, frischen Cake Donut.«
»Danke, Susie. Ja, was den Kaffee angeht – aber bitte keinen Donut für mich.« Der Gedanke ans Essen brachte nur die Bilder und Gerüche des Morgens zurück.
Was ich viel lieber wollte, war Brian – was wiederum nichts Ungewöhnliches war, weil es mich jedes Mal zu ihm hinzog, wenn ich durcheinander war … oder besorgt … oder glücklich. Egal, was ich fühlte: Er war immer derjenige gewesen, mit dem ich alles geteilt hatte.
Ein leichtes Flattern in meinem Bauch erinnerte mich daran, dass ich das in etwa acht oder neun Stunden vielleicht wieder tun würde.
Wie versprochen lag die Mappe mit den Dokumenten, an denen Mrs Fielding und ich so fleißig gearbeitet hatten, auf meinem Schreibtisch. Wir hatten Stunden damit verbracht – sowohl in meinem Büro als auch in ihrem Haus –, weil ich dieser misstrauischen Frau sämtliche Informationen aus der Nase hatte ziehen müssen. Irgendwann kam mir der Verdacht, dass sie einfach nur Gesellschaft brauchte: Was ihr Testament, ihre finanzielle Situation und die gesundheitliche Vorsorge betraf, gab es keine komplizierten Punkte, und die meisten meiner Besuche endeten damit, dass Mrs Fielding mir in allen Einzelheiten vom Tulpenfestival, der Bollenroute und dem Orchideenhof in Noordoostpoldern erzählte. Aber das machte mir nichts aus – es waren die einzigen Momente, in denen sich ihre sonst so harten Gesichtszüge gelöst hatten, und es rührte mich, dass die mürrische alte Dame diese Begeisterung für etwas so Zartes wie Blumen entwickelt hatte und mich in ihre Pläne für eine Traumreise einweihte, die sie nie hatte antreten können. Ich hoffte, unsere Gespräche darüber hatten ihr wenigstens ein bisschen von dem guten Gefühl gegeben, das sie bei einem Besuch vor Ort wahrscheinlich empfunden hätte.
Während ich darauf wartete, dass mein Computer hochfuhr, klappte ich die Aktenmappe auf und sah die Dokumente durch, die ich schon auswendig kannte. Das Testament war einfach gehalten – nur ein paar Seiten. Die Handlungsvollmacht und Patientenverfügung waren nun irrelevant, deshalb legte ich sie beiseite. Daneben hatten wir eine Liste mit den Kontaktdaten ihrer wenigen Erben erstellt: die Handynummer, E-Mail- und Postadresse ihrer Cousine und den Namen samt Anschrift ihrer nichts ahnenden Tochter – zum Glück hatte ich die strikte Anweisung, der Erbin nicht den Grund dafür zu nennen, warum sie im Testament bedacht worden war. Wenn es mir in meinem Job vor etwas graute, dann davor, lang bewahrte Familiengeheimnisse lüften zu müssen, und ich wollte auch nicht wissen, woher Mrs Fielding die Adresse des Mädchens hatte – das inzwischen eine Frau mittleren Alters sein musste –, obwohl die Adoptionspapiere unter Verschluss gehalten wurden. Das Einzige, was wir sonst noch in die Mappe gelegt hatten, war ein versiegelter Umschlag mit einem Brief, den sie für das Kind geschrieben hatte, auf das sie verzichtet hatte. Den Inhalt des Briefs kannte ich nicht, und ich hatte auch nie vor, ihn je zu lesen.
Heute befand sich dahinter jedoch ein weiterer Umschlag, den ich noch nie gesehen hatte. Auf der Vorderseite stand mein Name, geschrieben in Dorothy Fieldings harter, entschlossener Handschrift. Ich zog das Kuvert heraus und blickte es stirnrunzelnd an.
»Susie?«, rief ich, doch sie stand bereits in der Tür.
»Den hat sie mir schon vor einer Weile gegeben«, erklärte sie, noch bevor ich sie fragen konnte. »Sie hat bei mir am Empfangstresen gestanden und mich so lange genervt, bis ich quasi einen Eid abgelegt habe, dass ich den Brief in die Mappe lege, wenn sie … na ja …«
»Und was steht da drin?«
Susie hob die Augenbrauen. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Dorothy Fielding einer ›besseren Tippse‹ wie mir ihre dunkelsten Geheimnisse anvertraut, oder?«
Ich stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Das tut mir echt leid.«
»Dass die Frau so ein loses Mundwerk hatte, ist ja wohl kaum deine Schuld, Grace«, entgegnete Susie und verschwand wieder aus meiner Tür.
Nachdenklich schlitzte ich mit dem Nagel meines Daumens den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus. Die Worte waren mit dicker schwarzer Tinte geschrieben, als hätte Mrs Fielding versucht, sie in das Papier einzugravieren. Zusammen mit dem Brief fiel noch ein anderes Blatt heraus – ein dünnes, rechteckiges –, doch das ignorierte ich erst einmal. Dafür war ich viel zu neugierig auf das, was Mrs Fielding mir offensichtlich schriftlich hatte mitteilen wollen, nachdem wir so viele Stunden persönlich miteinander gesprochen hatten.
Grace,
tun Sie sich damit irgendetwas Gutes. Seien Sie unvernünftig.
Warten Sie nicht damit.
Dorothy Fielding
Noch bevor ich das andere Stück Papier aufhob und es umdrehte, wusste ich, was ich auf der Rückseite sehen würde.
Es war ein Bankscheck. Ausgestellt auf meinen Namen. Über den Betrag von 3410,97 Dollar.
Ein leises Klopfen an meinem Türrahmen ließ mich etwas später erschreckt zusammenzucken. Als ich hochblickte, sah ich Brian dort stehen. Seine dunkelgraue, perfekt gebügelte Hose schmiegte sich eng um seine schmalen Hüften, und das kobaltfarbene, maßgeschneiderte Button-down-Hemd hob das Blau seiner Augen noch stärker hervor – eine Wirkung, die definitiv beabsichtigt war, schließlich hatte sich auf seiner Seite unseres nach Farben sortierten Kleiderschranks immer eine beeindruckende Vielfalt an Blautönen befunden.
»Kann ich dich kurz stören?«
Mein Lächeln ließ sich in etwa genauso gut kontrollieren wie mein Kniesehnenreflex. »Du störst nie, das weißt du doch. Komm rein.«
Er kam zu meinem Schreibtisch herüber, nahm auf der Kante Platz – genau an der Stelle, die schon ein wenig abgenutzt war von all den Jahren, in denen wir diese Art von formloser Unterhaltung geführt hatten – und winkelte seine langen Beine an. Einen Moment lang war es wieder genauso zwischen uns wie immer. »Ich hab das mit Dorothy Fielding gehört. Hast du Ben gesagt, er soll erst mal einen Pfahl durch ihr Herz rammen, bevor er den Sack zumacht? Nur, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder aufsteht.«
Gegen meinen Willen musste ich lachen. »Ob du’s glaubst oder nicht, es war traurig.«
»Susie meinte, Donner-Dora roch schon ein wenig, als du sie gefunden hast?«
»Jepp, wahrscheinlich saß sie schon ein paar Tage da. Allein.« Bei der Vorstellung, wie sie dort gesessen hatte – leblos, ohne dass irgendjemand Bescheid wusste oder sich darum scherte –, legte sich eine unsichtbare Faust um mein Herz. Gab es etwas noch Traurigeres, als vollkommen allein auf der Welt zu sein? »Die meisten ihrer Unterlagen sind fertig. Ich warte nur noch, bis die Polizei die offiziellen Benachrichtigungen erledigt hat, dann rufe ich die Begünstigten an. Aber sie hat etwas ziemlich Seltsames hinterlassen.«
»Seltsamer als Bob Sheldons Gallenblase?«
Eine Anekdote, die wir uns immer wieder erzählten, drehte sich um einen unserer ersten Mandanten, den Brian und ich gemeinsam betreut hatten, nachdem wir in die Familienkanzlei eingestiegen waren. Sie diente uns immer noch als Maßstab für skurrile Hinterlassenschaften: Ein Chirurg aus dem Ort hatte in seinem Testament verfügt, dass man ihm die Gallenblase entnehmen, sie in Formaldehyd konservieren und anschließend seiner Ex-Frau überbringen solle – »die schon zu meinen Lebzeiten alles aus mir herausgequetscht hat, also soll sie auch noch nach meinem Tod ein Stück von mir haben«.
»Nein, nicht seltsam auf diese Art. Aber es ist mir trotzdem irgendwie unangenehm – ethisch gesehen.« Ich griff in meine unterste Schreibtischschublade und holte Mrs Fieldings Scheck heraus, der mittlerweile ein wenig knittrig war, denn ich hatte dieses letzte Geschenk von ihr schon mehrere Male an diesem Morgen betrachtet. In unseren Gesprächen hatte Mrs Fielding ihr Bankkonto nie gesondert erwähnt – normalerweise wäre es unter den Teil des Erbes gefallen, den sie ihrer Tochter hinterließ, hätte sie diese Verfügung nicht durch den Brief, den sie mir geschrieben hatte, aufgehoben.
Brian beugte sich zu mir herüber, um den Scheck zu nehmen, und berührte dabei meine Hand. Das war neu – seit Monaten waren wir sorgsam darum bemüht, jeglichen Körperkontakt zu vermeiden. »Ist das ein Honorar?«, fragte er, während er stirnrunzelnd das Stück Papier betrachtete.
»Nein. Das ist der Betrag, den sie auf ihrem Sparkonto hatte. Das Geld war eigentlich für eine Reise vorgesehen, von der sie immer geträumt hat. Aber jetzt hat sie es mir vermacht, in einem handschriftlichen Nachtrag zum Testament, und sie hat dazugeschrieben, dass ich es für irgendwas Sinnloses ausgeben soll.«
Lachend gab Brian mir den Scheck zurück. »Anscheinend kennt sie dich nicht. Du bist jetzt nicht gerade der Typ, der loszieht und sich ein Paar Manolos kauft.«
»Ein paar was?«
Ein warmes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er schüttelte den Kopf. »Grace … Du bist buchstäblich die einzige Frau auf dem gesamten Planeten, die noch nie von Manolo Blahniks gehört hat.«
Und »buchstäblich« ist hier buchstäblich falsch. Ich biss mir auf die Zunge, um den Gedanken nicht laut auszusprechen.
»Das sind Schuhe. Klar kenne ich die«, warf ich ein und senkte den Blick wieder auf den Scheck hinunter. »Aber was soll ich jetzt damit machen? Das ist ein Bankscheck, also ist das Geld schon vom Konto abgegangen. Heißt, ich kann ihn nicht nicht einlösen.«
»Wieso willst du ihn nicht einlösen?«
Ich fuhr mit dem Daumen einen Stapel Papiere entlang, die ich noch durchsehen musste, und lauschte dem Rascheln der Blätter. »Ich kannte Mrs Fielding doch kaum. Ich weiß ja nicht mal, wieso sie das ausgerechnet mir hinterlassen hat – für alles andere hat sie konkrete Erben benannt. Und ich hab selbst Ersparnisse … Es ist also nicht so, als bräuchte ich das Geld unbedingt.«
Brian starrte mich einen langen Moment an. »Grace …«, sagte er dann, »gönn dir doch um Himmels willen mal was Schönes. Das hast du dir verdient.«
Hitze stieg in meine Wangen, und das nicht nur wegen seiner Worte. Es war lange her, dass Brian mich so angesehen hatte. Mich wirklich angesehen hatte, meine ich.
»Hm. Schauen wir mal«, gab ich murmelnd zurück. Vielleicht würde ich das Geld dem Personal des betreuten Wohnheims schenken, in dem ihr Bruder so viel Zeit seines Lebens verbracht hatte. Die Pflegekräfte hatten sicher einen kleinen Bonus verdient, nachdem ihnen Mrs Fielding jahrzehntelang im Nacken gesessen hatte.
»Hör mal, Grace, was ich dich fragen wollte …« Brian rutschte auf der Kante meines Schreibtischs ein wenig näher heran – so nah, dass ich den gewohnten Impuls unterdrücken musste, meine Hand auf seinen Oberschenkel zu legen. »Es ist mir echt unangenehm – ich weiß, ich war in letzter Zeit kaum hier in der Kanzlei –, aber hättest du noch Kapazitäten, meinen Termin mit dem Ehepaar Kravitz heute Nachmittag zu übernehmen?« Sein verlegener Gesichtsausdruck erinnerte mich an früher, als wir noch Kinder waren und er irgendeinen Blödsinn angestellt hatte, aus dem ich ihm heraushelfen sollte. Damals hatte er mich genauso angesehen.
Um das Geräusch meines entweichenden Atems zu übertönen, den ich instinktiv angehalten hatte, stieß ich ein leichtes Lachen aus und nickte. »Klar. Gib mir einfach die Akte, damit ich mich vorbereiten kann.«
Als er mich anlächelte, war es, als würde die Sonne hinter einer dunklen Wolke hervorbrechen. »Du bist die Beste. Ich mache es wieder gut.«
Möglicherweise beugte er sich vor, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. Vielleicht stemmte er sich aber auch nur vom Schreibtisch hoch. Auf jeden Fall war ich zu nervös, um es herauszufinden, und stattdessen wandte ich mich schnell wieder meinem Computerbildschirm zu.
»Du … Grace …«
Ich schaute auf und stellte fest, dass er an der Tür stehen geblieben war und schnell einen Blick in den Flur warf, in die Richtung, aus der das rhythmische Klackern von Susies künstlichen Fingernägeln drang, mit denen sie auf ihrer Tastatur herumtippte. Dann kam Brian wieder herein und schwang die Tür zu, bis nur noch ein winziger, dezenter Spalt übrig blieb. Langsam richtete ich mich in meinem Stuhl auf.
»Hör mal …«, begann Brian und legte die Hand um seinen Nacken, wie er es immer tat, wenn er angespannt war; als wollte er seinen Hirnstamm damit massieren. »Also … ähm … wir sehen uns dann ja heute Abend zu Hause.« Wieder schob sich sein strahlendes Lächeln durch die Wolkendecke, während er kurz zum Abschied die Hand hob und dann mein Büro verließ. Diesmal schloss er die Tür hinter sich ganz.
Automatisch stand ich auf und ging hinüber – bei mir galt das Prinzip der offenen Tür –, doch anstatt sie zu öffnen, verharrte ich einen Moment lang unbeweglich davor, die Hand schon am Türknauf. Langsam blies ich den Atem aus, um mein klopfendes Herz zu beruhigen.
»Wir sehen uns zu Hause, Brian«, antwortete ich leise. Erst dann zog ich die Tür wieder auf.
In meinem Leben gab es nur sehr wenige Momente, in denen Brian McHale nicht vorkam.
Sugarberry, Missouri, war keine große Stadt – als ich geboren wurde, hatten wir 6436 Einwohner, die sich mittlerweile um ein paar Tausend verringert hatten, weil die jüngeren Generationen den grünen Wiesen entflohen, um sich in weniger ländlichen Gegenden bessere Zukunftsperspektiven zu schaffen. Von denen, die geblieben waren, kannten meine Familie und die McHales die meisten – zum Teil wegen der Kanzlei.
Unsere Mütter hatten die Firma genauso geerbt wie Brian und ich und waren schon BFFs, bevor der Begriff überhaupt erfunden wurde. Sie wuchsen beide im Garrison Way auf, nur drei Häuser voneinander entfernt, waren im Laufe der gesamten Schulzeit unzertrennlich, teilten sich ein Zimmer, während sie an der University of Missouri in Columbia studierten, und als sie nach ihrem Juraabschluss wieder nach Hause zurückkehrten – beide mit ihren Verlobten im Schlepptau, ebenfalls Juristen –, zogen sie in die Häuser, in denen sie aufgewachsen waren, und wurden erneut Nachbarn.
Brians Mutter Barbara – die sich auf der Uni den Spitznamen Bobbie zugelegt hatte und bis zum Rest ihres Lebens von jedem so genannt wurde – heiratete Richard McHale, Sportler bei den Fighting Tigers – sowohl im Baseball als auch beim Wrestling –, und meine Mom heiratete William Adams, den Starathleten der Uni, dessen Verdienste als Wettkampfläufer ihr eigentlich als Warnung hätten dienen können, wenn sie sich nicht so rettungslos in ihn verliebt hätte.
Mom und Bobbie hatten wenige Wochen nacheinander geheiratet, und mit ihren ersten und einzigen Kindern verlief es ähnlich – sie brachten uns sogar so dicht hintereinander zur Welt, dass sie einen Tag lang dasselbe Krankenzimmer teilten.
Brian und ich hätten genauso gut Cousin und Cousine sein können, so eng wie wir miteinander aufgewachsen waren. Unsere Familien arbeiteten zusammen, verbrachten ihre Freizeit miteinander und fuhren sogar meistens gemeinsam in den Urlaub. Wir tobten durchs Haus des anderen, als wären wir auch dort zu Hause, und für uns beide fühlte es sich so an, als hätten wir vier Eltern.
In der Schule bewegten wir uns allerdings in unterschiedlichen sozialen Kreisen – Brian war im Debattierklub, im Footballteam und in der Schülervertretung; ich dagegen nahm an Mathewettbewerben teil und engagierte mich in der Theater-AG, hinter der Bühne. Im Gegensatz zu seinen Freunden schien Brian jedoch nichts auf gesellschaftlichen Status oder Beliebtheit zu geben. Nicht dass ich unbeliebt gewesen wäre, aber auch wenn ich das Gefühl hatte, in die meisten Highschool-Cliquen aufgenommen worden zu sein, bewegte ich mich doch eher im Randbereich – selbst in der Theater-AG, wo der harte Kern der Darsteller wie Pech und Schwefel zusammenhielt, während die Crew stumm im Hintergrund agierte; wir waren eine Gruppe stiller Menschen, die ihre Aufgaben erledigten und dann schnell wieder in die Seitenbühnen huschten, froh, nicht im Rampenlicht zu stehen.
Doch Brian war immer da, begleitete mich nach Hause, wenn wir zur selben Zeit Schluss hatten, und setzte sich sogar manchmal beim Mittagessen zu mir an den Tisch. Wenn er mich an meinem Spind stehen sah, der seinem gegenüberlag, kam er herüber und lehnte sich einen Moment gegen den Nachbarschrank, um sich in den Pausen kurz mit mir zu unterhalten. Mein Spielkamerad aus Kindertagen hatte sich zu einem jungen Mann entwickelt, der nicht nur freundlich, aufmerksam und offen war, sondern auch groß und attraktiv.
Nachdem die schöne, blonde Marilyn Martin in unserem Abschlussjahr zum dritten Mal an uns vorbeigelaufen war, ohne mich zu beachten, während Brian und ich uns bei den Spinden unterhielten, und er sie höflich abgewiesen hatte, traute ich mich endlich zu fragen, wieso er das hübscheste Mädchen der Schule nicht beachtete, das doch so offensichtlich an ihm interessiert war.
»Sie ist nur äußerlich schön«, erklärte er und hob eine Schulter.
Vielleicht war das der Moment, in dem ich mich in ihn verliebte. Wobei das schwer zu sagen war. Ich glaube, ich war mein ganzes Leben lang in ihn verliebt.
Ich sei seine beste Freundin, sagte Brian oft – ein Kompliment, das mich gleichzeitig wärmte und frösteln ließ. Ich genoss unsere Beziehung, unsere Nähe, das gegenseitige Vertrauen, aber es war immer klar, dass es – zumindest für ihn – nie mehr sein würde.
Trotzdem war er mir gegenüber immer loyal. Ohne Rücksicht auf die anderen Mädchen, mit denen er während der Highschool zusammen war, ging er mit mir zum Abschlussball, wo ich voller Stolz und mit wild klopfendem Herzen zusehen durfte, wie er zum König des Abends gekrönt wurde – an der Seite der fiesen Marilyn, die vor Wut kochte, als Brian sie stehen ließ, sobald sie das Podium verlassen hatten. Stattdessen kam er wieder zu mir, machte sich darüber lustig, wie albern die ganze Veranstaltung war, und setzte mir zum Spaß seine Krone auf, bevor er mir einen Kuss auf die Wange gab.
Er war mein guter und treuer bester Freund, und das war mehr als genug.
Nach dem Studium allerdings, als wir beide mit einem Juraabschluss in der Tasche von verschiedenen Unis zurückkehrten – er aus Alabama, ich aus Kansas –, um in die Familienkanzlei einzusteigen, hatte sich etwas verändert.
Brian war während des Studiums mit einigen Frauen zusammen gewesen – nicht mit vielen, wie ich von seinen gelegentlichen Anrufen und Mails wusste, und es waren auch keine ernsten Beziehungen darunter; mit Ausnahme einer Kommilitonin, die er während unseres Abschlussjahrs an Thanksgiving mit nach Hause gebracht hatte: eine schlanke, dunkelhaarige, aufgetakelte Schönheit, in deren Anwesenheit ich mir wie ein klobiger Trampel vorgekommen war. Zum Glück war sie kurz darauf wieder in der Versenkung verschwunden. Als Brian und ich jedoch zurück nach Sugarberry zogen, verhielt er sich mir gegenüber anders. Nicht unbedingt aufmerksamer oder so was – aber irgendwie sah er mich mit einem Blick an, den ich nicht kannte. Als hätte er irgendetwas Neues an mir entdeckt, das ihm vorher nie aufgefallen war.
Doch erst als er zum dritten Mal mit mir essen gehen wollte, wurde mir klar, dass es sich bei diesen Einladungen um Dates handelte. Und das fiel mir auch nur auf, weil er sich – nachdem er mich nach Hause gefahren und vor unserer Einfahrt angehalten hatte – zu mir herüberlehnte und mit seinem Gesicht ganz dicht an meines kam. Und dann noch dichter.
Das kam so unerwartet, dass ich den Kopf zur Seite neigte, damit er besser an mein Ohr herankam, weil ich dachte, er wolle mir irgendein Geheimnis erzählen. Hätte er nicht mein Kinn umfasst und mein Gesicht wieder zu sich gedreht, hätte ich seine Lippen auf meinem Mund und damit einen absolut unvergleichlichen Kuss verpasst.
Einen Kuss, der mein Herz wie ein Presslufthammer schlagen ließ und mein Blut zum Kochen brachte. Einen Kuss, der alles veränderte.
Und gleichzeitig fühlte sich alles so vertraut und angenehm an, so richtig, als wir anfingen, uns offiziell zu daten, und in der Stadt als Paar bekannt wurden. An einem kalten Winterabend, nach einem ungewohnt steifen Abendessen in einem Nobelsteakhouse in Kansas City, rutschte Brian in der eisigen Einfahrt aus, doch als ich mich zu ihm hinunterbeugte, um ihm aufzuhelfen, blieb er mit einem Knie auf dem Boden und hielt den Ring hoch, den seine Großmutter bis zu ihrem Tod im Jahr davor getragen hatte. Seine Hände zitterten richtig, sowohl von der Kälte als auch vor Nervosität.
Ich brach in Tränen aus und sank neben ihm auf die Knie, ohne den Schnee zu beachten, der nass durch meine Vliesstrumpfhose drang. Überwältigt presste ich die rechte Hand auf meinen Mund, um meine Schluchzer zurückzuhalten, und streckte Brian erstaunlich ruhig die linke entgegen, um mir von ihm den Ring über den Finger streifen zu lassen.
Brian McHale hätte jede haben können – jede der unzähligen wunderschönen Frauen, die ein Auge auf ihn geworfen hatten. Doch er hatte mich ausgewählt.
Er war mein bester Freund gewesen und wurde mein Partner, nachdem er schon immer meine Familie gewesen war.
Und zehn Monate nach diesem unerwarteten magischen Abend wurde er endlich mein Ehemann.
Als ich schließlich mit dem Ehepaar Kravitz durch war – unser einstündiger Termin hatte sich auf fast drei Stunden ausgedehnt, weil Marsha und Ken Kravitz sich einfach nicht einigen konnten, wie viel von ihrem Erbe an seinen Sohn aus erster Ehe gehen sollte –, war es in der Kanzlei still geworden, und in den meisten Räumen brannte kein Licht mehr. Hektisch fuhr ich meinen Computer runter, ich brauchte vor lauter Nervosität drei Anläufe dafür.
»Machst du Feierabend?«, fragte Susie, als ich am Empfangstresen vorbeiging, und überrascht blieb ich stehen.
»Susie, ich wusste gar nicht, dass du noch hier bist. Das tut mir echt leid – du hättest schon vor ’ner Stunde nach Hause gehen können.«
Ihre dick bemalten Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich wollte nicht, dass du hier so spät noch allein rausmusst im Dunkeln.« Die Wintertage in Missouri waren deprimierend kurz, und die meiste Zeit über bekam ich die Sonne nur durch die Lamellen meiner Jalousien vor dem Bürofenster zu sehen. »Wie lief es mit dem Rosenkrieg da drinnen?«
Ich warf ihr ein klägliches Lächeln zu. »Ich nehme an, du hast das Gebrüll gehört?«
»Das haben sie sicher noch im McDonald’s an der Ecke gehört, würde ich sagen. Du scheinst sie allerdings zu einem Waffenstillstand bewegt zu haben – mir ist aufgefallen, dass sie Händchen haltend rausgegangen sind.«
»Sie brauchten nur einen gemeinsamen Nenner zu finden.«
»Tja, da hatten sie aber Glück, dass du den Termin übernommen hast. Komm, ich will endlich raus hier.« Susie drückte auf ein paar Tasten, um ihren Computer auszuschalten, und griff sich ihre Handtasche aus einer Schublade im Aktenschrank.
»Es tut mir echt leid«, wiederholte ich. »Hätte ich gewusst, dass du …«
»Nun hör schon auf, dich dafür zu entschuldigen, Süße. Du hast mich doch nicht gezwungen zu bleiben.«
»Kann ich dich wenigstens zum Essen einladen?«, bot ich reflexartig an, doch in Wirklichkeit drängte es mich innerlich, endlich in mein Auto zu springen und nach Hause zu Brian zu fahren.
Susie lachte. »Schätzchen, du zappelst schon die ganze Zeit so herum wie damals, als deine Mama mit dir in den Freizeitpark gefahren ist und du Ameisen in der Hose hattest.« Einer der Nachteile, wenn man in einem Familienunternehmen arbeitete und in einer Kleinstadt wohnte – in der die eigene Familie schon seit Generationen lebte –, war, dass man nie ganz als die Erwachsene angesehen wurde, die man inzwischen geworden war. »Wo auch immer du so dringend hinwillst – ich halte dich ganz sicher nicht länger auf. Ich hoffe nur, es ist was Gutes.«
Das Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, konnte ich mir nicht verkneifen – ich hoffte nämlich ebenfalls, dass der Abend gut werden würde. Sehr, sehr gut. »Komm«, sagte ich. »Gehen wir zusammen. Ich glaube, der Parkplatz ist zum Teil immer noch vereist.«
Susie gesellte sich zu mir an die Eingangstür, hakte sich mit einem ihrer üppigen Arme bei mir unter und zwinkerte mir zu. »Ich halte mich einfach an dir fest, Süße. So sehr, wie du auf Wolken schwebst, muss ich auf dem Weg zu meinem Auto vielleicht gar nicht den Boden berühren.«
Brians Elternhaus, in das wir zogen, nachdem Bobbie und Rich in Rente gegangen waren und sich ein wesentlich kleineres Stadthaus im Herzen von St. Louis gekauft hatten, war mir genauso vertraut wie das, in dem ich aufgewachsen war. An diesem Februarabend leuchtete es in der frühen Dunkelheit von innen, in einem Licht, zu dem ich mich unweigerlich hingezogen fühlte. Brian hatte die Zeitschaltuhren nicht umprogrammiert, die ich in jedem Zimmer eingerichtet hatte. Ich hatte es schon immer gehasst, in ein dunkles, leeres Haus zu kommen, vor allem im Winter.
Drei Häuser weiter bog ich in meine eigene Einfahrt ein. Auch aus meinen Fenstern drang gelbes Licht nach draußen auf den Schnee, doch das Haus kam mir nicht annähernd so einladend vor wie das von Brian.
Ich ließ meine Tasche auf den Tisch im hinteren Eingangsbereich fallen, wo meine Mutter ihre nach Feierabend ebenfalls immer abgestellt hatte, und ging bis in die Küche durch. Dort warf ich den Stapel Post aus dem Briefkasten auf die Arbeitsplatte und holte eine kalte Flasche Wasser aus dem Kühlschrank – viel mehr befand sich momentan auch nicht darin, abgesehen von hauptsächlich unbenutzten Würzmischungen. Dann nahm ich noch einen Burrito aus dem Gefrierfach, legte ihn jedoch sofort wieder zurück. Brian hatte nicht gesagt, wann er vorbeikommen würde, und ich wollte mir nicht den Bauch vollschlagen, für den Fall, dass er mit mir essen gehen wollte.
Also nahm ich stattdessen ein Glas Nüsse aus dem Schrank, und während ich den Deckel öffnete, ließ ich meinen Blick durch die Küche schweifen.
Damals in meiner Kindheit, als dieser Raum das Herzstück des Hauses gewesen war, ging es hier noch laut und betriebsam zu; mittlerweile herrschten jedoch schon seit einem viel längeren Zeitraum Ruhe und Leere in diesem Zimmer. Nachdem Dad uns verlassen hatte, schien meine Mutter mit ihm auch einen wichtigen Teil von sich selbst verloren zu haben. Sie hörte auf, die selbst gekochten Mahlzeiten zuzubereiten, mit denen ich aufgewachsen war – als wäre das Kochen nur für uns beide die Mühe nicht wert –, und so hatte unser Essen meistens aus irgendeinem Fertig- oder Mikrowellenprodukt bestanden. Davon abgesehen hatte sie sich in ihre Arbeit vergraben und war immer später aus der Kanzlei nach Hause gekommen. »Weil ich jetzt die Arbeit von zweien machen muss«, hatte sie ständig zu mir gesagt, nachdem Dad mit seiner neuen Freundin Nan, einer aufstrebenden Schauspielerin, nach L.A. gezogen war.
Das war auch der Grund gewesen, warum ich, direkt nachdem man mir mein Abschlusszeugnis überreicht hatte, nach Hause zurückgekommen war und angefangen hatte, in der Kanzlei zu arbeiten, obwohl ich noch gar nicht bereit dafür gewesen war. Als ich jung war, träumte ich davon, zu reisen und die Welt zu sehen, bevor ich mich in Sugarberry niederlassen würde; denn trotz der weiten Landschaft, die unsere kleine Stadt hier im Mittleren Westen umgab, hatte ich mich in ihren Grenzen immer ein wenig eingeengt gefühlt.
Nachdem Dad die Kanzlei verlassen hatte, stellte sich die Frage einer Weltreise jedoch gar nicht mehr; schließlich wusste ich seit der Mittelstufe, was ich beruflich tun würde: das Vermächtnis meiner Familie weiterführen, das meiner Mutter alles bedeutete. Damals war Brian auch schon hier gewesen, und überraschenderweise machte mir meine Arbeit großen Spaß.
Als Mom die Diagnose Parkinson bekam, war ich besonders froh darüber, dass ich wieder in meinem Heimatort wohnte, und einige Jahre später, als sie rund um die Uhr betreut werden musste, war ich bei ihr und konnte sie so lange unterstützen, bis sie der Krankheit erlag – denn zu jenem Zeitpunkt hatte Brian bereits die Bombe platzen lassen und unsere Ehe für beendet erklärt.
Unsere Scheidung ging schon fast zu leicht über die Bühne – keiner von uns wollte den anderen verletzen, und darüber hinaus waren wir uns beide darüber einig, dass wir unsere Freundschaft erhalten wollten. In vielerlei Hinsicht ging unser Leben genauso weiter wie bisher – wir arbeiteten immer noch jeden Tag in der Kanzlei zusammen, hatten weiterhin ein kameradschaftlich-liebevolles Verhältnis, und an vielen Abenden landeten wir sogar gemeinsam auf der Couch, bei ihm oder bei mir, wo wir aneinandergekuschelt zusammen Filme schauten, so, wie wir es jahrelang getan hatten.
Tatsächlich hatte sich lediglich meine Adresse geändert, und dabei auch nur die Hausnummer. Hätte ich nicht jeden Abend allein in meinem alten Bett aus Jugendtagen gelegen – nach Moms Tod in deren altes Schlafzimmer zu ziehen brachte ich einfach nicht übers Herz –, wäre mein Leben fast genauso verlaufen wie während unserer Ehe.
Wieso hatte sich nichts geändert?, dachte ich plötzlich, während ich durchs Erdgeschoss des Hauses schlenderte und die Vorhänge mit den Hortensienblüten im Wohnzimmer betrachtete. Dabei fiel mir wieder ein, dass ich deren Blätter immer zu zählen versucht hatte, als ich noch kaum über die Fensterbank der Erkerfenster gucken konnte, die sie einrahmten. Mein Blick wanderte über die türkisblauen Sessel und hinüber zum geblümten Sofa, dessen Zwilling in meinem Büro stand – sparsam, wie meine Eltern waren, hatten sie die Garnitur schon mit der Absicht gekauft, sie aufzuteilen –, weiter zum Couchtisch, den Mom von Oma geerbt hatte und der wahrscheinlich schon an genau derselben Stelle gestanden hatte, als meine Mutter noch hatte darunter hindurchkrabbeln können. Selbst oben in meinem Zimmer herrschte ein Potpourri aus Möbeln, Kissen und Vorhängen, die jemand anderes ausgesucht hatte – meine Großmutter, bevor es sie und Opa in die Jagdgründe verschlug (nicht die ewigen, zumindest damals noch nicht) und sie sechzehn Kilometer außerhalb der Stadt eine Farm kauften; und meine Mutter, als ihr solche Dinge noch wichtig gewesen waren. Bevor Dad ging und Mom aufhörte, an irgendetwas Gefallen zu finden.
Ich ging an dem hohen, golden umrahmten Spiegel im Eingangsbereich vorbei, der sich schon seit Generationen im Besitz meiner Familie befand, und zwischen den Mustern auf seiner blinden Oberfläche erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild.
Nicht mal einen eigenen Stil hatte ich entwickelt, wie mir in diesem Augenblick bewusst wurde, und ich blieb stehen, um mich eingehend zu betrachten. Meine langen Haare, deren Farbe irgendwo zwischen braun und blond rangierte, hatte ich zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden, der Frisur, die ich schon seit der Grundschule trug. Mein Gesicht war ungeschminkt. Selbst meine Klamotten waren so schlicht wie möglich gehalten, und ich hatte sie eher nach den Gesichtspunkten Bequemlichkeit und Größe aus dem Katalog ausgewählt anstatt nach Stil, Farbe oder Form.
Wieso war ich immer so zufrieden damit, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen? Ich hatte nicht einmal um meine Ehe gekämpft, hatte den Mann, den ich immer noch liebte, nicht festgehalten, als sich vor ein paar Jahren das erste Hindernis vor uns auftat. Stattdessen hatte ich fügsam alles hingenommen, als wäre ein Streit der Gipfel der Unhöflichkeit.
In allen Ehen gab es auch mal harte Zeiten. Alle gingen durch Höhen und Tiefen, durch Flauten und Stürme – Brians Eltern waren der beste Beweis dafür: eine felsenfeste Einheit bis zur Rente, als sich die ersten Risse zeigten und bis dahin unbekannte Phasen des Ärgers und der Ungeduld anbrachen. Aber sie überwanden die Krise, standen sie gemeinsam durch und hielten danach noch stärker zusammen, bis 2009 ein betrunkener Fahrer auf der Autobahn mit seinem Wagen in ihren raste und sie genauso starben, wie sie gelebt hatten: Seite an Seite. Solange zwei Menschen sich liebten und füreinander da waren – für die Familie, die sie gemeinsam gegründet hatten –, mussten sie in Krisenzeiten einfach durchhalten und den Sturm überstehen.
Wieso hatten Brian und ich das nicht erkannt?
Aber vielleicht hatten wir das ja. Vielleicht kam er heute Abend vorbei, weil er die Erleuchtung hatte, die mir erst gerade gekommen war: dass es nicht so bleiben musste. Dass wir uns den Weg, den wir gehen wollten, selbst ebnen konnten. Wir konnten darum kämpfen und über die Bodenwellen hinüberfahren, um auf dem Weg zu bleiben, den wir uns ausgesucht hatten.
Tun Sie sich irgendetwas Gutes … Warten Sie nicht damit, hatte in Mrs Fieldings Nachricht gestanden.
Ich wusste jetzt, was ich mir Gutes tun wollte: Ich wollte Brian zurückgewinnen. Mehr als alles andere auf der Welt. Und ich war bereit, um ihn zu kämpfen.
Als die Türklingel ertönte, sprintete ich beinahe zur Tür, und mein Herz fing an zu galoppieren.
Heute würde sich endlich etwas ändern.
Zur Beruhigung atmete ich einmal tief durch, doch als ich die Tür öffnete und mir ein Schwall kalter Luft entgegenschlug, war es nicht Brians breites, nervöses und hoffnungsvolles Lächeln, das mich am meisten aus der Fassung brachte.
Es war die atemberaubend schöne und unerwartet vertraute Brünette, die neben ihm stand – eine Frau, die ich seit zwölf Jahren nicht gesehen hatte. Seit sie Brian zum Thanksgiving-Essen begleitet hatte – das Mom und ich immer gemeinsam mit den McHales verbrachten –, wo sie fast stumm neben ihm am Tisch gesessen hatte.
Heute würde sich tatsächlich etwas ändern, dachte ich, während ich die Tür so fest umklammerte, dass das alte Holz unter meinen Fingern knackte.
Nur nicht so, wie ich es erwartet hatte.
Ich schlug den beiden die Tür vor der Nase zu.
Das passierte, ohne dass ich es verhindern konnte; bevor mir überhaupt bewusst wurde, dass ich es getan hatte. Meine Hand, die mit eisernem Griff das Holz umklammerte, schwang plötzlich nach vorn, und dann ließ ich einfach los.
Wumms!
Das harte Klopfen weckte mich aus dem tranceartigen Zustand, in dem ich mich befunden hatte, und als ich durch die facettierte Milchglasscheibe – die zu meinem Erstaunen nicht durch den Aufprall zersplittert war – sah, wie die beiden Silhouetten dahinter sich unsicher hin und herbewegten, fingen meine Gedanken an zu rasen. Ich streckte die Hand nach dem Messingknauf aus und riss die Tür wieder auf, mit dem aufmunternden Lächeln im Gesicht, das ich sonst für meine Mandanten reservierte.
»Es tut mir so leid«, sagte ich entschuldigend. »Ich bin mit der Hand abgerutscht. Kommt rein. Wir kennen uns doch, oder?«, wandte ich mich an die Brünette, die noch genauso schlank und aufgetakelt war wie in meiner Erinnerung. War die Frau in all den Jahren seit unserer ersten Begegnung überhaupt älter geworden? Ich musste an das Gesicht denken, das ich gerade noch im Spiegel untersucht hatte; an die Linien, die sich darüberzogen.
Die kamen durch die spinnennetzartigen Schatten auf der Spiegelfläche, erinnerte ich mich. Nicht von irgendwelchen Falten.
Die Frau blickte fragend zu Brian, der ihr mit einer Geste bedeutete einzutreten, bevor er ihr folgte. Leicht hölzern führte ich sie ins vordere Wohnzimmer, wo sie sich wie eine Ballerina auf das geblümte Sofa sinken ließ, während Brian sich einige Zentimeter entfernt neben sie setzte und ich in einen der türkisen Sessel plumpste, direkt auf die harten Sprungfedern. Sofort rutschte ich an die Kante vor, richtete den Rücken stockartig auf und umklammerte meine Knie. Meine Augenbrauen schossen nach oben, während das mechanische Lächeln wie ein Collagenbild auf meinem Gesicht klebte.
»Unglaublich, dass du dich noch an Angelica erinnerst«, sagte Brian.
Angelica. Natürlich. Sie hätte ja auch nicht Olga, Bertha oder Gertrude heißen können.
»Das ist aber schon lange her«, sagte ich und suchte den Blick der anderen Frau. Große, dunkle Kleopatra-Augen funkelten mich unter langen Wimpern hinweg an, die im Vergleich zu ihrer strahlenden Haut und ihren glänzenden Lippen fast stumpf wirkten. Alles an dieser Frau leuchtete irgendwie: von ihrem fließenden schulterlangen dunklen Haar, das praktisch das gelbe Licht der Lampen zu reflektieren schien, über ihre enge, seidige Bluse bis hin zu ihren glatt polierten Lacklederpumps. Ich kam mir vor wie ein schwarzes Loch. »Thanksgiving zweitausendsechs«, sprach meine Stimme weiter.
Herrgott noch mal – selbst die perfekten weißen Zähne dieser Frau spiegelten die Lichtstrahlen, als sie lächelte. »Du bist genauso klug, wie Brian gesagt hat. Ich kann nicht glauben, dass du das noch weißt.«
Tja, komisch, dass ich den Tag nicht vergessen hab, an dem die Liebe meines Lebens es offensichtlich so ernst mit einer Frau meinte, dass er sie mit nach Hause brachte, und dass diese Frau dann auch noch aussah wie eine Göttin. Das war ja auch kein geplatzter Traum, der mir das Herz gebrochen hat …
Aber ich war ja klug. Zumindest klug genug, diese Gedanken nicht laut auszusprechen.
»Also … ihr zwei habt wieder Kontakt?«, sagte ich stattdessen. »Wie schön.«
»Grace, ich könnte dich nie anlügen oder irgendetwas vor dir verheimlichen«, entgegnete Brian. »Deshalb wollten wir auch …« Er sah kurz zu Angelica, die das jedoch überhaupt nicht mitbekam, weil sie stattdessen direkt zu mir schaute, mit einem Blick, der mir unangenehm mitleidig vorkam. »Deshalb wollte ich auch mit dir reden. Ich wollte nicht, dass du es von irgendwem anders erfährst. Angelica und ich … Also, das mit uns hat damals, während der Uni, nicht funktioniert, weil … na ja, weil sie sich noch nicht vorstellen konnte, aus Boston wegzuziehen, in so eine Kleinstadt wie Sugarberry. Aber jetzt …« Er zuckte die Achseln. »Na ja, du weißt ja selbst, wie sich die Dinge im Leben plötzlich ändern können, obwohl man nie damit gerechnet hätte.«
Ja, da fällt mir spontan ein Beispiel ein.
Ich sah zu, wie er in Zeitlupe die Hand über die zentimeterbreite Kluft hinwegstreckte, die sein Bein – mein Bein, das an meinem Mann dranhing und in der Hose steckte, die ich ihm geschenkt hatte – von Angelicas langem, schillerndem, von Nylon umhüllten Oberschenkel trennte, um ihre glatten, hellen Finger zu nehmen und sie mit beiden Händen zu umfassen; als wollte er sie vor dem brennenden Blick beschützen, mit dem ich die Geste bedachte und der mir erst in diesem Moment bewusst wurde.
»Na ja, und jetzt, da sich die Umstände bei uns beiden geändert haben … zieht Angelica hierher. Nach Sugarberry.« Seine Stimme war mit jedem Wort sanfter und weicher geworden, als würde er die Einschläge dämpfen, wenn er das Gesagte in Watte packte. Angelica beobachtete mich stattdessen wachsam, wie eine Bombe, die jeden Moment explodieren könnte.
»Das … das ist ja … toll.« Mein Lächeln fühlte sich an, als hätte jemand meine Lippen aus Knete geformt und sie bis zu den Ohren hochgezogen.
»Echt?«, sagte Brian. »Das … ich meine … du hast kein Problem damit?«
»Ich will nur das Beste für dich. Und ich meine … Ich brauche sie mir ja nur anzuschauen!«, gab ich zurück und deutete vage mit der Hand in Angelicas Richtung. »Wenn das nicht die schönste Frau ist, die ich je gesehen habe, dann weiß ich’s auch nicht.«
Brian runzelte die Stirn. »Grace …«
Angelica hatte sich schützend zurückgelehnt, als wartete sie darauf, gleich von einer Klapperschlange angegriffen zu werden. Ich richtete meinen Blick wieder auf sie. »Ich meine, du hast definitiv alles, was Männer so wollen. Also, dieser hier auf jeden Fall!«
Ich schaute die beiden an, die nebeneinander auf meinem Sofa saßen wie zwei genetisch überlegene Lebewesen einer anderen Spezies, die sich gerade in die Galaxie des primitiven Menschen gebeamt hatten und ihn mit nachsichtigem, mitleidvollem Lächeln betrachteten, während er sie damit zu beeindrucken versuchte, wie toll er Feuer machen konnte. In diesem Moment fiel mir wieder mein wilder Entschluss ein, um meinen Ehemann zu kämpfen – darum, dass er mich wieder lieben würde –, und ich spürte, wie die Schamesröte in mir hochkroch.
Mein Lachen schoss durch den Raum wie Pistolenkugeln. »Wenn er dich nicht geschnappt hätte, hätte ich es vielleicht getan, und dabei bin ich nicht mal lesbisch. Ha, ha, ha!« Die Töne drangen einfach weiter aus meiner Kehle, strömten aus mir heraus wie das künstliche Gelächter während einer Sitcom, dessen Band einen Sprung hatte, während das schöne Paar vor mir mich mit ausdruckslosen Mienen ansah. Offensichtlich hatten die beiden den Witz nicht verstanden.
Nachdem sie gegangen waren – gnädigerweise kurz nach meinem unkontrollierten Kicheranfall –, stand ich oben im Bad und musterte mich erneut im Spiegel.
Ich löste das Gummi von meinem Pferdeschwanz und schüttelte meine Haare, sodass sie meinen Rücken hinunterflossen, zog meinen Blazer aus und legte ihn auf den Waschtisch. Dann strich ich den weißen Baumwollstoff meiner Bluse glatt. Ach, zum Teufel damit – ich machte den obersten Knopf auf.
Ich wollte sehen, was Brian sah, wenn er mich anschaute. Was die überragende Angelica gesehen hatte.
Kein Wunder, dass sie so selbstbewusst gewirkt hatte.
Ich knipste das Licht aus.
Um sechs Uhr dreißig am nächsten Morgen sah es in meiner Küche genauso aus wie draußen vor dem Fenster: Weißes Puder bedeckte fast jede Fläche. Der bräunliche Rasen im Garten lag schon seit Wochen unter einer Schneedecke verborgen, und auf meinen Arbeitsflächen hatten sich Verwehungen aus Mehl und Zucker gebildet.
Der Streuselkuchen, der im Ofen vor sich hin backte, wölbte sich langsam an den Rändern, und der Duft von Zimt waberte durchs Haus. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, dass ich diesen Kuchen nach altem Familienrezept schon zusammen mit Mom gebacken hatte – immer in derselben verbeulten, rechteckigen Metallform –, als ich alt genug war, um auf den Plastikhocker zu klettern, den sie in der Speisekammer aufbewahrte, damit ich neben ihr stehen und ihr helfen konnte. Doch mittlerweile war es schon lange her, seit die vertrauten Gerüche des Sauerrahmkuchens die Küche erfüllt hatten.
Ich nutzte die restliche Backzeit, um schnell unter die Dusche zu hüpfen und mich anzuziehen. Dann stellte ich den Kuchen zum Abkühlen auf die Arbeitsplatte und betrachtete mein Werk, während ich die Kaffeekanne polierte. Mom hatte immer gesagt, dass man diesen Kuchen am besten genau fünfzehn Minuten nach dem Backen servieren sollte, wenn er noch heiß und knusprig war. Deshalb hatten Dad und ich uns jedes Mal gierig um den gelben Küchentisch versammelt, in dessen Mitte Mom die Form platzierte, bevor sie jedem von uns ein noch dampfendes Stück abschnitt. Dad bestrich den sowieso schon buttrigen Kuchen mit frischer Butter und wartete, bis sie in den Teig geflossen war, während Mom die Augen verdrehte und lächelte … jedes einzelne Mal.
Meine Augen fingen an zu brennen, während diese schöne Erinnerung an meine Familie mir durch den Kopf geisterte. Es gab nicht allzu viele davon.
Um die Form transportieren zu können, ohne mir dabei die Finger zu verbrennen, musste ich noch ein wenig warten, und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass es für einen nachbarschaftlichen Besuch noch viel zu früh war – gebackenes Friedensangebot hin oder her.
Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich die Einfahrt von der frischen Schneeschicht freischaufelte – so leise wie möglich, um Mrs Aronson nicht zu stören; die Witwe, die schon mein ganzes Leben lang allein nebenan wohnte. Heute sollten die Temperaturen auf über null steigen, bevor sie abends wieder unter den Gefrierpunkt fielen, und ich wollte morgen früh keine Eisfläche aufmeißeln müssen, weil ich den Schnee auf dem Asphaltbeton hatte schmelzen lassen. Dieser Gedanke brachte mich dazu, auch Mrs Aronsons Einfahrt freizuräumen.
Als ich damit fertig war, las ich die Zeitung – komplett, einschließlich sämtlicher Todesanzeigen, aus Gewohnheit. Dann checkte ich meine Mails, beantwortete die Fragen einiger Mandanten, und anschließend schaute ich mir die ersten zehn Minuten irgendeiner grob gezeichneten Animationsserie an, über ein Wesen, das wie ein Papiertiger aussah, der Regenbogen furzte. Als ich noch ein Kind war, hatten die Wochenenden irgendwie wesentlich mehr Spaß gemacht.
Oder als ich noch verheiratet war.
Um kurz nach zehn zog ich mir endlich einen Mantel an, setzte meine Mütze auf und ging, meinen Tribut vor mich hertragend, die Straße hinunter. Mit Kuchen wird alles besser, alles, hatte Brian immer mit leuchtenden Augen gesagt, als wir noch Kinder waren, und er schob sich jedes Mal ein faustgroßes Stück in den Mund, wenn er die vertraute Backform auf der Arbeitsplatte stehen sah.
Hoffen wir, dass sein Motto auch für peinliche Auftritte vor Ex-Männern und deren neuen Freundinnen galt.
Bei Brians Haus angekommen, balancierte ich die Form in der einen Hand, während ich mit der anderen gedämpft durch meine Handschuhe an die Tür klopfte. Eisige Luft strömte in meine Lunge, als ich zu viel davon einatmete, in dem Versuch, mein klopfendes Herz zu beruhigen. Als die rote Holztür nach innen aufschwang, stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass Brian dahinterstand. Die schöne Angelica im Eingang meines früheren Zuhauses zu sehen, hätte ich sicher nicht verkraftet.
Brian wirkte erschrocken über meinen Besuch, doch im nächsten Moment breitete sich ein warmes Strahlen auf seinem Gesicht aus.
»Grace … hi.«
Wie ein Pizzalieferant hielt ich ihm die Kuchenform mit den Fingerspitzen vor die Nase. »Ich hab euch was mitgebracht«, sagte ich mit einem Lächeln, das meine eingefrorenen Wangen dehnte.
»Ist das etwa das, was ich denke?«
»Hast du je irgendwas anderes aus dieser Form kommen sehen?«, gab ich zurück. Brian lachte, und einen Augenblick lang war es wieder wie früher zwischen uns.
»Komm rein«, sagte er und zog die Tür noch weiter auf. »Iss ein Stück mit mir.«
Mit mir. Die Luft, die sich in meinen Lungen angestaut hatte, entwich schlagartig. Sie war nicht hier. Sie hatte nicht hier übernachtet. Vielleicht existierte sie gar nicht. Vielleicht war das gestern Abend nur ein ziemlich real wirkender Albtraum gewesen.
Doch in der Sekunde, als ich mir den Schnee von meinen Stiefeln abgetreten hatte und den ersten Schritt über die Türschwelle setzte, schwebte Angelica mit einem Lächeln auf den glänzenden Lippen die Treppe herunter, und sofort krampfte sich meine Brust wieder zusammen.
