Von Sex, Liebe und Farben - Mona Eichler - E-Book

Von Sex, Liebe und Farben E-Book

Mona Eichler

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Beschreibung

Paula hat so gerne Sex mit Helen- heimlich, in der Damenumkleide ihres Golfclubs; heimlich bei Paula zu Hause; heimlich, sodass Helens Mann Thomas nichts merkt. Sex mit Helen macht Spaß, ja. Und danach? Anziehen, nach Hause schleichen, sich von ihrem besten Freund dumm anreden lassen, weil er nichts von Helen hält. Gedichte schreiben und ins Netz stellen, im Sexshop arbeiten, studieren, feiern. Was für Paula vor zwei Jahren als heiße, grenzüberschreitende Affäre anfing, nervt sie inzwischen: Helen, 44, erfolgreiche Journalistin, Ehefrau, Mutter zweier Söhne und mit Hund, trifft sich zwar jeden Mittwoch mit ihr zum Sex - mehr aber auch nicht. Keine Gefühle, schon gar keine Liebe, dabei ist Paula tief drinnen doch Romantikerin. Auch wenn sie das gar nicht merkt zwischen ihrem Studium, der Arbeit und den Partys mit ihrer Clique. Helen nervt jedenfalls mit ihrer Vorsicht, nicht erwischt zu werden. Sie nervt. Deshalb braucht Paula Ablenkung. Noch besser: Sie braucht eine, mit der sie Helen eifersüchtig machen kann - vielleicht merkt sie ja dann, dass Paula besser zu ihr passt als Thomas, der fette BMW und die braven Kiddies. Da kommt Annika, die Kunststudentin, die Paulas Gedichte im Internet so liebt, ins Spiel- und bringt ungefragt neue Regeln mit. Mona Eichler hat einen lesbischen Roman für Frauen geschrieben, die kein klassisches Coming-out-Buch lesen möchten. Erfrischend, fesselnd und explizit erzählt sie von der sexuellen und emotionalen Selbstfindung einer jungen Frau.

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Seitenzahl: 467

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Mona Eichler

Von Sex, Liebe und Farben

Erotischer Roman

Für Sarah und Lenny – danke für all die Abenteuer,

die wir zusammen erleben.

Für Isabell – deine Leidenschaft für die Welt

reißt mich immer wieder mit.

Für Jakob – deine Freundschaft begleitet mich

durch jeden einzelnen Tag.

Für meine Mädels – ohne euch ist das Leben nur halb.

1. Kapitel

»Ist dir aufgefallen, dass hier kleine Mösen an die Wand gemalt sind?«

»Hast du was dabei?« – Helen steht nur wenige Zentimeter von mir entfernt, ihr Brustkorb hebt und senkt sich unter ihren tiefen Atemzügen. Ihr kupferrotes glattes Haar glänzt und umhüllt ihren Kopf, ihren Hals und endet erst zwischen ihren Schulterblättern. Es lässt Helens weiße Haut noch blasser leuchten. Helen pflegt diesen Kontrast. Ich weiß, dass sie nie länger als 15 Minuten ungeschützt in die Sonne geht.

Wir berühren uns nicht, aber ich kann ihren Atem riechen, wenn sie spricht. Ich mag das. Mag, dass ihr Mund nach diesen braunen Salbeibonbons duftet, wenn ich sie küsse.

»Was meinst du?«, entgegne ich in gespieltem Unwissen. Ich packe sie an der Hüfte und ziehe sie ganz nah an mich heran. Ihr Körper presst sich gegen meinen, ich kann ihre Bauchmuskeln spüren, ihr Beckenknochen drückt sich an meinen Bauch. Ich fahre ihr mit der Hand unters T-Shirt und öffne ihren BH mit Daumen und Zeigefinger. Helen lacht leise auf. »Ich will auch lernen, die Dinger so schnell aufzumachen«, sagt sie und tastet meinen Rücken ab.

Ich nehme ihre Hände in meine und führe Helen durch den Raum. Vorbei an Metallschränken mit goldenen Namensschildchen, hell glänzenden Holzbänken und Kleiderhaken mit Designerjacken daran. Ich schaue ihr tief in die Augen, während ich rückwärts gehe. Angst, gegen etwas zu stoßen, habe ich nicht, denn ich kenne den Weg über den hellen Marmorboden blind. Helen erwidert meinen Blick. Seit ihrem 44. Geburtstag vor ein paar Tagen scheint sie noch schöner geworden zu sein. Für mich ist sie eine MILF – eine Mother I’d Like to Fuck – eine Frau, die erst ab 35 richtig schön wird, weil sich erst dann Lebenserfahrung mit Selbstbewusstsein mischt. Obwohl sie jetzt fast so alt ist wie meine Mutter und die ist nicht gerade sexy.

Es scheint mir, als würde Helen sich ganz auf mich konzentrieren. Ich genieße ihren Blick, wie sie mit ihren Augen mein Gesicht streichelt, von meinem Kinn die Wangen entlang hinauf zur Stirn, in meine Augen, auf meine Nase schaut. Einzig ein kaum merkliches Lächeln verrät ihre Aufregung. Die Luft wird überlagert vom Geruch von sechs Holzstäbchen, die in einer stinkenden Flüssigkeit mit der Aufschrift »Ocean Breeze« auf dem Regal über dem Waschbecken stehen.

Seit Helen und ich uns beim Golfunterricht kennengelernt haben, spielen wir zusammen. Dabei geht es nicht immer darum, Bälle einzulochen.

»Also, hast du was?«, flüstert Helen, während sie sich von mir in eine der drei Duschkabinen auf der linken Seite des Umkleideraums führen lässt. Sie lehnt sich gegen die kalten Kacheln und beobachtet mich dabei, wie ich die beschichtete Glastüre verriegle. Als ich mich umdrehe, streckt sie ihren Arm nach mir aus und kriegt mein Hemd zu fassen.

»Einen Schwanz?«, frage ich, um sie weiter mit meiner gespielten Naivität zu ärgern, und betrachte sie. Nicht einmal das grelle Neonlicht, das in dem fensterlosen Raum von oben auf sie herabfällt, schafft es, Helen ihre Feinheit zu nehmen. Sie steht mit dem Rücken zur Wand, ich kann die Formen ihrer Bauchmuskeln unter ihrem weißen Poloshirt erahnen. Der hellgrüne Faltenrock verhüllt zwar die straffen Oberschenkel, hebt dafür aber den Rest ihrer Beine hervor. Helen hat schlanke Beine, an denen lange, wohlgeformte Muskeln entlanglaufen. Ihre Knie sind spitz und außer einer kleinen Narbe am linken Knie makellos.

Jetzt wird Helen ungeduldig. Sie zieht mich heftig zu sich, sodass die Nähte meines Hemdes leise nachgeben. Ich lasse es zu. »Ja, einen Schwanz«, haucht sie, als ich sie mit meinem Körper gegen die Wand presse und mich an ihrem Hals festbeiße. Endlich verschwindet Ocean Breeze aus meiner Nase und ich tauche in Helens Haut ein. Sie riecht nach Kokosmilch. Ich atme ein, so tief ich kann, und genieße den schweren, intensiven und süßen Geruch. Aber etwas stört mich.

Sommerblumen, schießt es mir durch den Kopf. Sie müsste wie eine Wiese voller bunter Blumen im Juli riechen. Es ist nicht so, dass ich Kokos nicht mag. Ich finde einfach, der Duft passt nicht zu ihr. Helen ist groß und schlank und weich und sportlich zugleich. Der Duft einer runden, kackbraunen Frucht, die man nie aufkriegt, weil ihre Schale hart wie Stein ist, passt nicht zu ihr.

Plötzlich stößt Helen mich von sich und schaut mich an, ihre Hände auf meinem Bauch, ihre Augen flackern. »Du hast sie vergessen, Paula, habe ich recht? Die Dildos?«, fragt sie leise und voller Ungeduld. Helen hat jetzt genug von unserem kleinen Spiel.

Ich grinse sie an und zucke mit den Schultern. »Nicht vergessen. Ich hatte nur heute keine Lust auf die Dinger«, sage ich und reibe demonstrativ die Hände aneinander. Statt zu antworten, zieht Helen lächelnd ihr Poloshirt aus und streift den offenen BH ab. Dann knöpft sie langsam mein Hemd auf und streichelt meinen Busen.

Ich schmiege mich an sie, unsere Brüste berühren sich, reiben aneinander. Ich küsse ihren Salbeimund, beiße zärtlich in ihre Unterlippe.

Ich liebe Helens Mundwinkel, die von winzigen Falten umspielt werden, wann immer sie lächelt. Ich liebe Helens Mundwinkel. Mit geschlossenen Augen ertaste ich meine Lieblingsstelle mit der Zunge. Ich spüre die nachwachsenden Härchen auf ihrer Oberlippe, die sie regelmäßig mit Wachs entfernen lässt.

Dann packe ich ihren rechten Arm und drehe sie mit dem Gesicht zur Wand. Sie stöhnt auf, als ich sie mit meinem Becken an die kalten Kacheln drücke. Ich packe ihre Handgelenke und presse sie über ihrem Kopf zusammen, gegen die Platten. Helen reibt ihren Po an mir. Ganz leicht, von links nach rechts und von rechts nach links. Ihre Haare nehmen mir die Sicht, ich atme sie ein, als ich versuche, ihren Nacken zu küssen.

»Willst du gefickt werden?«, flüstere ich in ihr Ohr, während ich ihr den Rock hochschiebe. Innerlich lache ich über mich selbst. Meine Stimme klingt schon wieder so rau und heiser und so gar nicht nach mir. Helen nennt dieses dunkle Raunen meinen Sexton.

»Ja«, kommt Helens Antwort gegen die Wand gepresst und atemlos. Sie trägt heute einen Tanga, was mich wundert. Mittwochs kommt sie sonst ohne Unterwäsche zum Golf. Damit nichts zwischen uns steht.

Als ich meine Finger unter das winzige Stück Stoff schieben will, bleibe ich mit meinem Ring daran hängen. Genervt halte ich inne und versuche, das Teil mit dem Daumen von meinem Finger zu schieben. Erfolglos. Da nimmt Helen meine Hand und steckt sich meinen Finger in den Mund. Ich spüre, wie sie den Ring mit Zunge und Zähnen löst.

»So ist’s besser«, flüstert sie und lässt ihn auf den Boden fallen.

Schwer atmend fahre ich mit meiner Hand ihren Bauch entlang, streichle ihren Po und schiebe meine Hand wieder unter ihren Tanga. Dann fühle ich ihren perfekt rasierten Venushügel. Helen schiebt ihr Becken gegen meine Hand, schiebt sich mir entgegen.

Mit meinem heftigen Keuchen habe ich sogar ihre Haare zur Seite geblasen.

Sie zu berühren versetzt mich jedes Mal in einen Rausch aus Atem, Schweiß und Lust. Mein Blick verschwimmt leicht, ich liebe es, wenn das passiert. Plötzlich fallen mir die Kacheln an der Wand auf. Ich versuche, ihr Muster scharf zu stellen, schaffe es aber nicht. Sind das kleine Muschis? Noch nie zuvor habe ich die Kacheln bewusst wahrgenommen, dabei haben Helen und ich schon hundert Mal in dieser Duschkabine gevögelt.

»Paula? Alles okay?« Helen dreht ihren Kopf und versucht, mir in die Augen zu schauen. Mir schlägt ein gereizter Unterton in ihrem Flüstern entgegen.

Da erst merke ich, dass ich aufgehört habe, sie zu berühren. Ich zögere kurz, bevor ich sage: »Ist dir aufgefallen, dass hier kleine Mösen an die Wand gemalt sind?«

Helen dreht sich stürmisch um. Ihre Schulter knallt dabei gegen meinen Brustkorb, ihre Haare fliegen durch mein Gesicht. Sie zischt: »Das sind Muscheln, Paula. Muscheln!« Sie schüttelt leicht den Kopf. Gerade so, als wollte sie sagen: »Man merkt, dass 21 Jahre zwischen uns liegen.«

Und Helen hat recht: Es ist kein Kompliment an sie, wenn ich mich von Wandkacheln ablenken lasse. Vielleicht sollten wir endlich mal Sex in einem Bett haben, in einem Raum ohne bemalte Kacheln. Allerdings – sie wusste ganz genau, was auf den Kacheln ist, ohne noch mal hinschauen zu müssen …

»Muscheln also? Die machen mich horny«, hauche ich übertrieben sanft, um so zu tun, als sei meine Unaufmerksamkeit reine Verzögerungstaktik gewesen. Bevor Helen etwas entgegnen kann, küsse ich sie. Langsam zuerst, sanft. Dann immer wilder. Ich stemme mit meinem Oberschenkel ihre Beine auseinander, reibe ihn zwischen ihren Schenkeln. Auf meinen schwarzen Bermudashorts wird später ein Fleck zu sehen sein, aber das ist mir egal.

Dann endlich dringe ich in sie ein. Zuerst mit dem Mittelfinger, dann nehme ich den Zeigefinger dazu. Helen atmet schwer und versucht, ein Stöhnen zu unterdrücken. Sie will nicht erwischt werden. Ich liebe es, sie aus der Reserve zu locken, sie dazu zu kriegen, lauter zu stöhnen. In ihr reibe ich meine Finger aneinander und massiere gleichzeitig mit meinem Handballen ihren Kitzler – das mag sie, mehr als schnelles Rein-Raus.

Helen legt ihr Bein um mich und zieht mich näher an sich heran. Dann drückt sie meine Hand schmerzhaft zwischen ihren starken Schenkeln zusammen. Ich muss meine ganze Kraft einsetzen, um mich noch weiter bewegen zu können. Helens Atem zischt schnell und kurz an meinem Ohr vorbei, bevor sie die Luft anhält. Ihre Muskeln legen sich um mich, schließen mich völlig ein und nehmen mir die Luft. Helen reißt mir meinen Haargummi aus den Haaren und krallt sich in meinem Nacken fest. Ein heißer Schmerz läuft meinen Rücken herunter, bis zu meinen Nieren, wo ihre zweite Hand liegt und sich in mein Fleisch drückt. Unsere aneinandergepressten Oberkörper sind nass vom Schweiß, der sich mit dem Geruch von Kokos und Ocean Breeze mischt. Helen atmet immer noch nicht. Sie hat ihren Mund zwar wie zu einem Schrei geöffnet, aber es kommt kein Ton, kein Lufthauch heraus.

»Helen? Helen? Sind Sie da?« Frau Seidels Stimme schreckt mich auf. Dieser schrille und gleichzeitig kratzende Ton fühlt sich an, als würden einen tausend kleine Nadeln zur selben Zeit treffen. Meine Nackenmuskeln verkrampfen sich.

»Ihr Mann ist am Telefon«, schnarrt die Seidel, während sie den Raum durchquert. Die selbsternannte Hausherrin des Golfclubs genießt jedes ausgesprochene Wort. Ich kann spüren, wie sie vor der Duschkabinentür auf Helens Antwort lauert.

Helen starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an und legt sich den Finger über die Lippen. Als ob sie mich daran erinnern müsste, still zu sein! Ich weiß, dass die Seidel uns durch die blickdichte Glastüre zwar nicht sehen kann – aber hören könnte sie uns sehr wohl.

Langsam atmet Helen aus, vorsichtig, nur durch einen winzigen Spalt zwischen ihren Lippen. Ihre Muskeln entspannen sich und der Druck auf meine Hand und meinen Rücken lässt nach.

»Ich komme gleich, Frau Seidel«, bringt sie mit leicht zitternder Stimme hervor. Meine Hand steckt immer noch zwischen ihren Beinen, ich wage nicht, sie hervorzuziehen.

»Wie lange brauchen Sie denn noch?«, will die Seidel – ganz Blockwart – wissen. Sie zieht die Worte ein wenig zu lang und ich habe das Gefühl, dass sie eigentlich wissen will: »Läuft da was schief in Ihrer Ehe oder warum telefoniert Ihr Mann Ihnen am Damen-Golfnachmittag hinterher?«

»Ich komme gleich«, wiederholt Helen hilflos. Sie tastet mit der linken Hand zum Duschhahn und dreht ihn gerade weit genug auf, dass die Wassertropfen hörbar auf den Boden plätschern, ohne uns zu treffen.

Die Seidel beschließt: »Ich sage ihm dann, Sie rufen zurück.« Ich kann in der völligen Stille immer noch ihren Atem vor der Tür hören. Ocean Breeze dringt wieder in meine Nase. Helen schaut mich ratlos an, dann sagt sie mit eindringlicher Stimme: »Danke, Frau Seidel.«

Endlich entfernen sich die klickenden Absätze mit kurzen, schnellen Schritten.

Helen legt ihre Hände gegen meine Schultern und drückt mich sanft von sich. Meine Nippel werden steif, als ihr warmer Körper mich nicht mehr berührt. Ich knöpfe mir hastig die Bluse zu. Durch die Löcher in meinen Chucks dringt nun doch Wasser.

»Ich muss dann jetzt«, sagt Helen mit heiserer Stimme und schaut dem Wasser zu, wie es meine Füße durchnässt. Dann zieht sie ihren Rock aus, schiebt mich aus der Dusche und dreht das Wasser ganz auf.

»Was musst du? Mich stehen lassen und zu deinem Mann hetzen? Du sollst ihn doch nur anrufen, das kannst du auch in einer halben Stunde machen«, motze ich Helen durch das Glas an. Sie antwortet nicht.

*

Ich stehe regungslos vor der Kabine und starre auf den Boden, auf die Kacheln mit den Muscheln drauf. In langweiligen und unauffälligen Pastelltönen prangen sie dort und grinsen mir entgegen.

»Als Muschis habt ihr mir besser gefallen«, zicke ich wie ein Kleinkind und meine eigentlich Helen – sie hat mich mal wieder hängen lassen. Das tut sie in den letzten Monaten viel zu oft. Sie lässt sich vögeln und dann haben ihre Söhne entweder Liebeskummer oder eine Klausur oder ihr Mann ruft an oder sie muss für ihre Frauenzeitschrift einen wichtigen Artikel über die zehn besten Sexstellungen schreiben.

Genervt lasse ich mich auf eine der Holzbänke im Umkleideraum fallen. Die silbernen Metallschränke auf der rechten Seite des Raumes sind an die Stammspieler des Golfclubs vermietet, auf goldenen Namensschildchen steht Holzerer, Schuster, Mösbauer, Adam und Ähnliches. Die Reihe auf der linken Seite trägt keine Namen, sondern fortlaufende Nummern und gehört den Gästen und denen, die keinen Sinn darin sehen, für einen Spind in der Umkleidekabine Geld auszugeben. So wie ich. Ich gehöre zu den Nummern, nicht zu den Namen. Die Bankinsel in der Mitte des Raumes ist für alle da: Vier Bänke sind zu einem gleichwinkligen Viereck angeordnet. Das Metallgerüst darüber bietet die Möglichkeit, seine Jacke aufzuhängen. Ich schätze, die Abstände zwischen den Jackenhaken waren zu kurz für Namensschildchen. In der Mitte des Bankvierecks wächst eine Birkenfeige, deren Blätter täglich poliert werden. Um vom Umkleidebereich in den Duschbereich zu kommen, reichen wenige Schritte. Von meinem Platz aus kann ich die Duschkabinen sehen und den Dampf, der aus der linken hochsteigt. Helens Spind steht offen, sie hat ihr Shampoo und ihr Duschgel vergessen. Ob ich es ihr bringen soll? Ich mache ja eh nichts anderes mehr: Ich besorge es ihr.

Warum vögelt Helen eigentlich mit mir? Wenn es ihr nur um den Orgasmus geht, soll sie doch bei Thomas bleiben. Aber nach 17 Jahren Ehe ist der Sex wahrscheinlich tot und Helen nennt Thomas Papa. Wenn sie als heile Familie mit ihren zwei wohlgeratenen, privatschulbesuchenden, nur leicht pubertierenden Söhnen die Maximilianstraße auf und ab flanieren, nennt Helen Thomas bestimmt Papa.

Ich wüsste gerne, ob sie bei ihm so stöhnt wie bei mir. Ob Thomas sie auch schon in jeder Stellung hatte? Bei diesem Gedanken wird mir übel. Ich will mir nicht vorstellen, wie er Helens Beine spreizt und mit seinem warmen, steifen Schwanz in sie eindringt. Nicht wie ich mit einem kalten Teil aus Jelly. Thomas hat seinen Dildo immer griffbereit und muss nicht daran denken, ihn mitzubringen.

Seufzend lege ich mich auf der Bank auf den Rücken und starre an die weiße Decke. Die drei Kronleuchter über mir strahlen hell und ihre tausend Lichter brechen sich in meinen Tränen. In meinem Hals setzt sich ein dicker Kloß fest, der es mir schwer macht zu atmen.

»Schön, dass du noch hier bist, Paula.« Helens Stimme klingt traurig. Als ich den Kopf drehe und sie ansehe, löst sich der Kloß und ich atme einmal tief durch. Sie steht da mit nassen Haaren und ihren Klamotten in der Hand. Das hellgelbe Handtuch, das sie sich um den Körper gewickelt hat, schmiegt sich an sie und formt ein wunderschönes Dekolleté. Es ärgert mich, dass ich bei dem Anblick ihrer noch feuchten Haut schon wieder horny werde. Ich will sauer sein. Sauer, weil sie mich schon wieder für Thomas hängen lässt. Aber sie sieht so sexy aus. Ich gehe auf Helen zu und küsse ihr einen Wassertropfen vom Schlüsselbein.

»Ich hätte gerne noch mehr mit dir angestellt«, hauche ich ihr ins Ohr und spüre, wie sie scharf Luft einsaugt. Langsam entzieht sie sich meinen Lippen. Sie lächelt mich an und legt mir meinen Ring in die Hand. Dann geht sie an mir vorbei und flüstert im Weggehen: »Ich hätte auch alles mit mir machen lassen.«

Draußen hören wir das Gelächter einiger Golfspielerinnen, die auf dem Weg zum Clubrestaurant an der Umkleide vorbeikommen.

»Sehen wir uns morgen auf dem Platz?«, will ich wissen, als Helen schon in ihre kiwigrünen Segelschuhe von Sebago schlüpft. Diese Dinger liegen zurzeit bei allen angesagten Magazinjournalistinnen im Trend.

»Gerne«, entgegnet sie, setzt aber hastig nach: »Thomas wird auch dabei sein. Ist das okay?«

Ich setze mein tapferes Gewinner-Lächeln auf. »Klar«, lüge ich routiniert.

Bevor Helen sich auf den Nachhauseweg macht, legt sie mir die Hand auf die Wange und lässt sie einige Sekunden dort liegen. Sie schaut mich zärtlich an, doch ihr sanfter Blick wird von der Falte zwischen ihren Augen getrübt.

»Bis morgen, Paula«, sagt sie leise.

2. Kapitel

»Paula, ab heute wird mein Leben neu!«

Jo hat eine E-Mail geschickt. Um Hallo zu sagen nach all den Jahren. Um zu sagen, dass es ihr gut geht. Und ach ja: Sie will ihren Ring zurück.

Die hat Probleme! Als ob ich nicht andere Sachen im Kopf hätte als ihren dummen Ring. Ich sitze in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch und starre auf den riesigen Stapel Blätter, der bei jeder Bewegung gefährlich schwankt. Zwischen Rechnungen, die ich noch überweisen muss, hängen Erinnerungen für Arzttermine, nicht einsortierte Kontoauszüge und Nachrichten von meiner Krankenkassenberaterin, die um ein Telefonat bittet. Nicht zu vergessen der ganze Uni-Mist, der auf mich wartet. Allein die Vorlesung bei Frau Siller-Gratzl könnte ein ganzes Semester Kommunikationswissenschaft füllen. Ich mag Sprachwissenschaft, wirklich, aber die Zusatzaufgaben dieser Dozentin machen mich fertig.

Voller Abscheu nehme ich ihr Studienbuch Praktische Anwendungen zu Konnektoren in die Hand und lasse es gleich wieder fallen. Alle vier Ecken sind von den vielen Stürzen auf die Schreibtischplatte eingedrückt. Nur noch zwei Semester, dann hab ich den Bachelor – dann sieht mich keiner mehr gähnend in einer Vorlesung. Dann sitze ich tippend in einer Redaktion und bin eine angesagte Journalistin. So wie Helen.

Die Sonne ist hinter den dicken, grauen Wolken nicht auszumachen und durch mein Fenster sehe ich die ersten Leute aus den Nachbarhäusern durch den riesigen Innenhof in ihren Feierabend schlurfen. Die meisten laufen mit hochgezogenen Schultern, als ob ihnen kalt wäre. Ich sehe ihre fahlen Gesichter und stelle mir vor, wie sie nach Hause kommen. Ich wünsche mir, dass sie trotz ihrer Müdigkeit einen schönen Abend haben, mit ihren Ehefrauen oder Männern oder Kindern plaudern und Spaß haben – denn manchmal ist mir die graue Realität ein Stückchen zu hart, zu lieblos. Ich mag es, mir die Dinge schönzudenken. Auch wenn es mir nicht immer gelingt. So wie bei Jo.

Eigentlich heißt Jo Josephine und war meine erste große Liebe. Oder ist meine erste große Liebe, weil sie ja noch lebt. Inzwischen zwar nicht mehr in München, sondern in einem kleinen Dorf irgendwo in Vietnam, aber am Leben ist sie. Vor zwei Jahren waren wir ein Paar.

Ich war 21 und Jo 30 und ich war so stolz auf die acht Monate, die unsere Liebe nun schon gedauert hatte. Bis zu dem Tag, an dem Jo mich zu ihrem Lieblingsvietnamesen einlud.

»Paula, ab heute wird mein Leben neu«, grinste Jo mir entgegen.

Ich saß auf dem knarrenden Plastikstuhl in dem kleinen Laden voller Plastikdeko und kapierte nichts.

»Was meinst du?«, fragte ich erwartungsvoll. Mir schossen tausend mögliche Antworten durch den Kopf: Jo hat im Lotto gewonnen und kauft uns ein Haus im Grünen. Jo hat mit den Aktfotos, die sie von mir gemacht hat, den 1. Preis bei einem Fotowettbewerb gewonnen und schmeißt endlich ihr Lehramtding hin. Jo hat …

»Ich gehe nach Vietnam. In drei Tagen ist Abflug«, platzte sie mit vollem Mund heraus. Ein Stück zerkautes Rindfleisch landete auf meinem T-Shirt.

»Du machst Urlaub?« Ich glotzte meine Freundin mit großen Augen an. Wir hatten eigentlich geplant, in zwei Wochen zusammen nach Frankreich zu fahren.

»Ach, Urlaub! Ich ziehe nach Vietnam, Paula.« Statt auf eine Reaktion von mir zu warten, plapperte Jo einfach weiter: »Um genauer zu sein nach Sapa, das ist ein Ort in den Hoang-Lien-Bergen. Der liegt fast 1600 Meter hoch, Paula! Ist das nicht super? Ich kann dort in einer kleinen Schule Deutsch unterrichten und leben und einkaufen und das Land sehen.«

Ihr Mund entwickelte plötzlich ein Eigenleben: Die Lippen wurden lang und schmal, zogen sich in Richtung Ohren und legten sich in Falten, die Zähne blitzten hervor. Dann guckte ich in ein tiefes, dunkles Loch und aus ihrem aufgerissenen Mund kam ein großes Lachen. Ich hörte die Wörter. Aber ich verstand nicht, was sie sagte. Oder ich wollte es nicht.

»Und«, beendete Jo ihren Monolog. »Ist das nicht toll?«

Bevor ich etwas sagte, legte ich meine Gabel auf den Tisch. Ich hatte sie die ganze Zeit über so fest in der linken Hand gedrückt, dass meine Knochen sich ganz heiß und steif anfühlten, als ich sie wieder bewegte. Ich schaute auf den gebratenen Reis mit Gemüse vor mir auf dem Teller. Er sah aus wie Kotze.

»Und was wird aus uns?« Es war mir peinlich, dass meine Stimme zitterte. Ich klang wie ein Schulmädchen, das ein schlecht vorbereitetes Referat halten soll. Mir lief Rotz aus der Nase und ich traute mich nicht, Jo anzusehen.

»Wie, mit uns?« Zunächst schien sie nicht zu begreifen, wovon ich sprach. Dann klang ihre Stimme plötzlich höher als sonst. »Was? Denkst du, ich sollte bleiben? Wegen unserer Beziehung?« Sie lehnte sich ein Stück vor und tätschelte meine von der Gabel geschundene Hand. »Paula, bitte. Wir sind doch noch gar nicht so lange zusammen …«, sagte sie und betonte jedes Wort einzeln, als ob sie darauf achten würde, besonders sanft und freundlich zu klingen.

»Acht Monate und vier Tage«, zischte ich. Die erste Träne tropfte in meinen Reis. Jetzt schaute ich Jo an. Aus Wut und Enttäuschung fand ich, dass sie blöd aussah mit ihren kurzen braunen Haaren, die sie zum modischen Irokesen geformt hatte. Das Muster auf ihrem Batik-Shirt wirkte, als hätten es Kinder gemalt. Ihre Hand fing an, auf meiner zu brennen. Ich lehnte mich so weit es ging in meinem Plastikstuhl zurück und verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Gerne hätte ich sie angeschrien, ihr gesagt, wie wütend ich bin. Aber das stimmte nicht. Ich war gar nichts. In mir war gar nichts. Ich versuchte, einen Satz in meinem Kopf zu bilden, um ihr zu sagen, wie es mir geht. Aber die Wörter fielen mir nicht ein. Die Angst vor dem Verlassenwerden breitete sich in meinem Körper aus und lähmte jeden Muskel, erstickte jeden Gedanken im Keim. Ich würde sie nicht aufhalten können und allein zurückbleiben. Mein Brustkorb tat höllisch weh, als hätte jemand mit der Unterseite einer Pfanne darauf geschlagen, nachdem ich 30 Zigaretten am Stück geraucht hatte. Jo hatte ihre Entscheidung längst gefällt. Ihre Entscheidung gegen mich und gegen unsere Liebe. Kämpfen hatte keinen Sinn. Beleidigt sein hatte keinen Sinn. Sie würde gehen.

Plötzlich stand der Kellner neben mir. »Wollen Sie noch etwas bestellen?«, fragte er in gebrochenem Deutsch.

»Ja«, sagte ich, ohne ihn anzuschauen, und orderte: »Zwei Reisschnaps und die Rechnung.«

»Paula, ich habe wirklich gehofft, du würdest dich für mich freuen«, fing Jo wieder mit ihrer besonders sanften und besonders freundlichen Stimme an und fischte ihren Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche ihrer Jeans. »Ich will dir nicht wehtun, aber du musst doch einsehen, dass das die Chance meines Lebens ist. Ich wollte schon immer weg aus Deutschland und den Menschen da draußen helfen.«

Was sie sagt, hat Sinn, dachte ich mir.

»Unsere Liebe ist es also nicht wert, dass du hierbleibst«, sagte ich viel zu laut. Die anderen Gäste drehten sich nach uns um.

Der Kellner hatte die zwei Reisschnaps noch auf dem Tablett, als ich nach ihnen griff und beide nacheinander runterkippte.

»Sie zahlt«, hauchte ich mit einer stinkenden Fahne und deutete mit dem Kinn auf Jo. Meine Ex.

*

Heute, zwei Jahre später, schickt Jo mir eine Mail aus Sapa. Einfach so, als sei es das Normalste der Welt, mir zu schreiben. Ich habe in all der Zeit nie wieder etwas von ihr gehört und jetzt schreibt sie mir und verlangt ihren Ring zurück.

Und jedes einzelne Wort erinnert mich daran, wie egozentrisch Jo ist. Wie sie von ihren tollen Schülern und ihren tollen neuen Bekannten im tollen Vietnam schreibt – als wären sie nur Darsteller in ihrem Abenteuerfilm, die die von ihr zugedachten Rollen spielen. So wie ich früher. Nur, dass ich damals einen Part in ihrem Liebesfilm hatte. Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, es wäre die weibliche Hauptrolle gewesen, aber in Wirklichkeit spielte ich eine unbedeutende Komparsenrolle. Jo führte Regie. So wie Helen heute. Ich komme mir so vor, als würde ich mein Leben in Wartestellung verbringen. Früher habe ich auf Jo gewartet, heute auf Helen.

Ich sitze in meinem Zimmer und spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. Jetzt auf einmal will Jo den Ring zurück! Sie hat nicht einmal gefragt, wie’s mir geht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihr Ring überhaupt bei mir ist – und ich hatte geglaubt, er sei ein Geschenk für mich gewesen. Der erste Milchzahn von Jo, den ihre Mutter in Gold fassen ließ und der Großmutter zum 65. Geburtstag schenkte. Ich hätte wissen müssen, dass Jo ihn nicht absichtlich bei mir liegen gelassen hat.

Der Papierstapel auf meinem Schreibtisch nervt mich plötzlich maßlos. Mit aller Kraft fege ich ihn von der weißen Holzplatte. Unter wildem Geraschel flattern die einzelnen Blätter auf den Fußboden und verteilen sich zwischen der herumliegenden Schmutzwäsche. Die Box mit den Stiften fliegt hinterher. Mein Lieblingsbleistift rollt hinter die Heizung unter meinem Fenster. Danke, Jo!

Ich ziehe den Rotz in meiner Nase hoch und krame in der Schublade meines roten Metall-Schranks nach einem leeren Briefumschlag. Mit einem tiefen Seufzer strecke ich meine rechte Hand vor mir aus und betrachte den kleinen goldenen Ring daran. Gestern hing er noch in Helens Slip fest, heute schicke ich ihn quer über den Globus.

Der winzige Zahn, der in einer Fassung in der Mitte des Kreises steckt, sieht sowieso eklig aus. Wie Helen stecke ich mir den Finger in den Mund und sabbere ihn voller Spucke, damit er abgeht. Er hat eigentlich nie wirklich gepasst.

Ob Jo noch an mich denkt? Ich denke oft an ihre leuchtenden blauen Augen bei unserem ersten Date im Kerzenschein. Oder an unseren ersten Ausflug aufs Land, als Jo mich in einem kleinen Wald verführt hat. Ich habe so viele erste Male mit Jo erlebt, dass ich sie nicht zählen kann. Oft waren es nur Kleinigkeiten – Jo war die erste Frau, mit der ich ein klassisches Konzert gehört habe, und die Erste, mit der ich nach Kochrezept gekocht habe. Ich glaube, für Jo war in unserer Beziehung kein erstes Mal dabei. Vielleicht ist sie deswegen ohne zu zögern abgehauen. Ich knie mich auf den Boden, um meine Unterlagen wieder einzusammeln, sacke aber bald kraftlos zusammen. Von Jo zu hören hat mich in die Vergangenheit gerissen. Plötzlich liege ich wieder auf der kleinen Picknick-Decke im Wald, nackt auf dem Bauch, und spüre Jos zärtliche Küsse, die meinen Hals, meinen Rücken, meinen Po bedecken. Um mich herum zwitschern Vögel und weil mir bewusst wird, dass ich gerade meine Unschuld an eine erfahrene, ältere und wunderschöne Frau verliere, kriege ich eine Gänsehaut.

Ich stöhne wütend auf, um die Gedanken zu verscheuchen. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das noch so hart trifft. Ich wische mir eine Träne aus den Augen. Meine Stirn glüht, als hätte ich plötzlich Fieber bekommen. Mein Kiefer tut höllisch weh und da erst merke ich, dass ich mit aller Kraft die Zähne aufeinanderbeiße. Nachdem Jo weg war, hat mir mein Kiefer auch immer wehgetan. Ich habe in dieser Zeit angefangen, nachts mit den Zähnen zu knirschen – viele meiner One-Night-Stands haben sich darüber beschwert. Nachdem ich mir monatelang die Seele aus dem Leib geheult und gleichzeitig alles gevögelt hatte, was nicht bei drei in einem anderem Bett lag, dachte ich, ich hätte den Liebeskummer besiegt. Und als Helen in mein Leben trat, war Jo wie ausradiert. Die Affäre mit Helen war so aufregend und verboten, dass in meinem Leben kein Platz mehr war für Jo.

Und plötzlich ist sie wieder da. Und es tut wieder so weh wie früher. Ich setze mich an meinen Computer und schreibe ein Gedicht, um den Schmerz aus mir herauszubekommen. Ich habe schon immer gegen meinen Schmerz angedichtet. Wörter und Reime können Schmerzen aufsaugen. Sie sind wie ein Schwamm, der jeden Dreck in sich aufnimmt und einschließt.

Ring, los!

Mach dich rigoros sinnlos

Auf den Weg zurück zu ihr.

Denn ihr – ihr bedeutest du mehr als mir.

Für sie hast du Inhalt,

Für mich hast du Häme und Spott und Kindheit.

Doch ich bin kein Kind mehr.

Bin nicht mehr die, die ich war, als ich unter ihr lag,

als der Tag

nur aus ihr bestand.

Und die Nacht kein Ende fand,

war ich in ihren Armen nur.

Wie blind muss ich gewesen sein,

wie blind und dumm und taub.

Dass ich nicht sah, was kommen muss

zwischen all dem rosa Staub.

Jetzt sitz ich hier und hasse sie,

weil sie nicht weiß, wie es mir geht.

Ich schreie und verlasse sie,

weil sich in mir nichts um sie dreht.

Das Klingeln an der Wohnungstür befreit mich aus der Jo-Welt. Ich springe von meinem Computer auf und rutsche fast auf meinen Socken aus, als ich durch das Wohnzimmer zum Eingang stürze. Gerade noch so bekomme ich den Türstock zu fassen und rapple mich wieder hoch. Dann öffne ich die Tür, ohne durch den Spion zu gucken. Vor mir steht meine Nachbarin Rita Mayr aus dem dritten Stock in Boxershorts und BH. Ihr Gesicht ist rot und aufgedunsen, ihre schwarzen Haare hängen ihr in dünnen, fettigen Strähnen ins Gesicht. Ihre mageren Beinchen und Ärmchen schwanken leicht im Takt ihres Oberkörpers und sie grinst schief.

»Hallo du, ich bräuchte einen halben Liter Milch, geht das?«, lallt sie mich an. Ich schätze sie auf Mitte 50, aber sie könnte auch halb so alt sein.

»Hallo Rita. Kein Problem, komm rein«, sage ich und schüttle ihre eiskalte Hand. Ich bin ihr dankbar, dass sie mich ausgerechnet jetzt stört. Mit Rita rollt ein Gemisch aus Brandwein und kaltem Rauch in meine Wohnung. Ich gehe in die Küche, die ans Wohnzimmer angrenzt, und fülle Rita die Milch in eine Glasflasche ab.

»Schön habt ihr’s hier, ich mag den Couchtisch, meine Mutter hatte auch so einen. Ist Tina nicht da? Es ist echt schade, dass sie mich nicht leiden kann, sonst wäre ich öfter mal da, würde zum Ratschen vorbeikommen, nicht immer nur zum Schnorren, ist echt schade«, rattert meine Nachbarin vor sich hin. Ich höre ein Knarren, als sich Rita mit Schwung auf das weiße Sofa im Wohnzimmer schmeißt und es ein paar Zentimeter nach hinten schiebt.

»Yael, meine Mitbewohnerin heißt Yael«, sage ich, als ich aus der Küche komme. Ich reiche Rita die Milchflasche.

»Danke, ist echt super, das mit der Milch, echt. Wollen wir einen nehmen? So ein Kurzer hat noch keinem geschadet, weißt du«, brabbelt Rita vor sich hin und sieht mir durchdringend in die Augen. Ihre Brüste sind viel zu klein für den roten BH, den sie anhat. Ob sie mal sexy war? Ich glaube schon. Sie ist nicht größer als 1,65 Meter und unter den groben Poren könnte sie sexy sein. Ich setze mich neben sie auf die Couch und lasse sie weiter plappern, während ich versuche, sie mir schönzudenken. Ein bisschen Make-up, ein paar hübsche Kleider, gewaschene Haare. Rita hätte diese toughe Ausstrahlung, die so viele kleine Frauen haben.

Ich stehe mehr auf große Frauen. So wie Helen. Mit ihren 1,78 Metern wirkt sie so aufrecht. Als hätte sie den vollen Überblick. Kleine Menschen müssen sich immer von unten durchmogeln, große Menschen teilen die Massen. Helen ist groß.

Nachdem Rita von ihrer verschwundenen Katze, Hartz IV, den erhöhten Preisen bei Tengelmann und den vielen Kindervergewaltigern in unserer Gegend erzählt hat, will sie gehen. Ich stehe auf und helfe ihr hoch.

»Nee, danke, das war jetzt echt nett und ich finde, wir sollten das öfters mal machen. Frag doch mal Tina, ob wir uns nicht wieder vertragen wollen, ich hab doch nicht mit Absicht in den Hausflur gemacht, na ja, das passiert eben manchmal, frag sie einfach, okay?«

»Okay«, sage ich und winke Rita zum Abschied. Kaum habe ich die Tür geschlossen, höre ich die Milchflasche auf den Boden krachen und ein lautes »Scheiße, verdammt!«. Dann klingelt Rita bei meinem Nachbarn zur Linken.

Lachend schlage ich mir die Hand auf die Stirn – und spüre, dass Jos Ring weg ist.

Das Gute ist, dass ich mich darum nicht mehr kümmern muss. Ich atme einmal tief durch, schiebe meine Hände gemütlich in die Hosentaschen meiner Jeans und klemme meine Daumen in die Gürtellaschen. Dann schlendere ich zurück in mein Zimmer, wo ich das Chaos aus Papier und Wäsche einfach mit dem Fuß in die rechte hintere Ecke schiebe. Ich schlage jetzt eine neue Seite in meinem Leben auf und hey: Wenn Rita halbwegs zufrieden sein kann, kann ich das auch.

*

Ich logge mich als MadPoet bei Lokalisten ein und lade Ring, los! hoch.

Ich schreibe Gedichte, seit ich 14 bin. Damals musste ich in der Schule Prometheus auswendig lernen und war sofort angefixt. Ich stellte mir Prometheus als muskelbepackten Kerl vor, der mit über den Kopf erhobenen Fäusten – und nacktem glänzenden Oberkörper – dasteht und die Eier hat, sich gegen die Götter zu stellen. So wollte ich auch sein, nur dass meine Götter Helmut und Doris Niedling hießen. Ich wollte meine Fäuste ballen und mich gegen meine Eltern auflehnen, die mich unentwegt maßregelten, wenn sie mich nicht ignorierten. Ich schrieb ein Anklagegedicht nach dem anderen, mit herzzerreißenden Titeln wie Untergang, Seelenschmerz und Die Pein in meinen Adern, und ließ sie offen in der Wohnung herumliegen. Doris hat nie etwas zu den Gedichten gesagt, aber ich habe sie oft dabei beobachtet, wie sie eines gelesen hat. Sie starrte dann immer auf das Blatt, als könnte sie durch ihren bösen Blick die Zeilen löschen. Als könnte sie zwischen ihren geschürzten Lippen meine Gedanken aufsaugen, zerkauen, runterschlucken und diese Dreistigkeit ungeschehen machen. Nach dem Lesen zerknüllte sie die Gedichte. Jedes Mal.

Ich war Prometheus. Ich war die wütende Stimme aller unterdrückten Töchter, die der Übermacht ihrer Eltern entgegenschreibt. Ich war total kindisch.

Ein kleiner Realitäts-Check hätte mir damals sicher nicht geschadet. Statt gefangen in vorpubertärer Dramatik den Prometheus zu spielen, hätte ich mich lieber um mich selbst kümmern sollen. Dann hätte ich vielleicht nicht erst mit 17 gemerkt, dass ich eigentlich auf Frauen stehe.

Trotzdem: Prometheus hat mir viel Kraft gegeben. Durch ihn wusste ich, dass ich nicht die Einzige bin, die sich gegen eine Übermacht auflehnt und ihren eigenen Weg geht. Noch heute kann ich mich so in Texten verlieren. Zum Beispiel in den Songs von Pink. Ich habe ein Ritual: Bei jedem Besuch bei meinen Eltern schleiche ich mich in ihren Keller, klicke auf 18 Wheeler auf meinem iPod und gröle lauthals mit.

Wenn Pink im Refrain singt: »Ihr könnt mich mit einem Sattelschlepper überfahren, und ich scheiß drauf«, strecke ich beide Mittelfinger in Richtung der Wohnung meiner Eltern.

Genau das will ich, wenn ich schreibe. Ich will Menschen mitreißen. Ich will, dass sie in meinen Gedanken etwas finden, was sie auch empfinden. Dadurch fühle ich mich nicht so allein.

Eine, die mir schon seit Monaten ebendieses Gefühl gibt, ist »Munchs Tochter«. Sie liest regelmäßig meine Gedichte, die ich bei den Lokalisten hochlade, und malt Bilder dazu. Bestimmt studiert sie Kunst. In ihrem neuesten Eintrag in meinem Gästebuch schreibt sie:

Ich habe heute Morgen »Tik’« gelesen und fand die Stelle am besten, in der dein Leben aus eurer gemeinsamen Wohnung auszieht, weil du es so schlecht gelebt hast, und sich zum Abschied in Druckbuchstaben »FICK DICH« auf den Arsch schreibt.

Dazu habe ich ein ziemlich witziges Bild gemalt, eine Bleistift-Skizze. Die hängt jetzt an meinem Kühlschrank, denn ich habe heute auch das Gefühl, dass mein Leben mich zum Kotzen findet …

Ich muss lächeln. Der Eintrag ist von gestern Abend und ich frage mich, ob es »Munchs Tochter« heute schon besser geht. Sie schreibt mir oft, dass sie zu meinen Gedichten Bilder malt. Für Trauer hat sie Holzkohle genommen und für Ich bilde eine Lücke Ölfarben. Ich würde zu gerne wissen, wie ein Bild von ihr zu Ring, los! aussehen würde.

3. Kapitel

»Thomas könnte was merken …«

Mein Driver schwingt durch die Luft und knallt mit voller Wucht auf den Golfball. Ich höre den hellen, metallenen Klang des Schlägerkopfs und der kleine weiße Ball schießt in hohem Bogen 180 Meter weit ins Feld.

»Ui«, macht Thomas und zieht das i, als hätte er eine Angst einflößende Spinne gesehen. Helen steht einfach nur da und starrt dem Ball mit offenem Mund nach. Ich mag es, sie zu beeindrucken. Das ist meine Belohnung dafür, dass ich einen Tag mit Thomas durchstehe.

Kurz nach der Landung bleibt mein Ball auf einer Erhebung in der Mitte des Fairways liegen, die wie ein kleiner Venushügel aussieht.

Das getrimmte Gras erinnert mich an perfekt gestutztes Schamhaar: so kurz, dass meine Zunge problemlos durchkommt und lang genug, dass ich nicht das Gefühl habe, mit einer Zehnjährigen zu vögeln. Wie bei Helen.

Ich schaue ihr zu, wie sie ihren rosafarbenen Ball aufs Tee setzt, sich dabei bückt und ihren spitzen Po zeigt. Beim Rückschwung holt Helen weit aus, ihr Körper spannt sich, ihre Muskeln ziehen sich lang. Dann schwingt sie durch und mit einem dumpfen Plopp trifft sie ihren Ball auf der oberen Kante. Die rosa Kugel macht einen Sprung in die Höhe und rollt dann traurige 20 Meter. Helen tut so, als suche sie in weiter Ferne nach ihrem Ball. Sie schirmt ihre Augen mit der rechten Hand ab und ahmt ein lautes Zischen nach, als würde ihr Ball geräuschvoll durch die Luft schießen. Dann lacht sie fröhlich.

»Gut, dass der nicht rückwärts geflogen ist«, mokiert sie sich über ihren Schlag und lacht weiter. Ihre weißen Zähne blitzen auf und um ihren Mund und ihre Augen bilden sich kleine Falten. Ich liebe es, wenn Helen lacht. Da kommt kein Grunzen oder Röcheln, kein hektisches Luftholen. Helen lacht so melodisch, so rhythmisch. Fast, als hätte sie es in einer Lach-Schule gelernt. Auf dem Platz schenkt sie mir oft dieses wunderschöne Strahlen, weil sie sich selbst nicht zu ernst nimmt. Das ist eine meiner Lieblingseigenschaften an Helen: Sie ist zwar ehrgeizig, aber vergisst dabei nie die richtige Portion Selbstironie. Im Gegensatz zu ihrem Mann.

»Du hast deinen Körperschwerpunkt zu früh verlagert«, schulmeistert Thomas dann auch ungefragt und stellt sich in Position.

*

Eigentlich könnte dieser warme Junitag perfekt sein. Ich treffe meine Bälle gut und kann sie oft dorthin spielen, wo auch Helen ihre hinschlägt. So können wir zusammen über den Golfplatz schlendern, während ich davon träume, sie zu ficken. Die Sonne scheint heiß auf uns herab und Helen kramt unentwegt ihr Sonnenspray heraus. Ab und zu watscheln Enten über das Fairway.

Wäre nur Thomas nicht hier. Dann könnte ich jetzt Helens Hand nehmen und ich glaube, sie würde es zulassen.

Ich schaue Helen von der Seite an. Sie lächelt vor sich hin, bemerkt meinen Blick aber nicht. So schlecht war es gestern eigentlich nicht, auch wenn ich nichts davon hatte, weil die Seidel uns gestört hat. Kein Treffen mit Helen könnte jemals schlecht sein.

Ich mache mich schon auf den Weg zu meinem Muschi-Hügel, da höre ich, wie Helen und Thomas sich unterhalten. Als ich begreife, dass Helen gerade in Babysprache mit ihrem Mann spricht, muss ich kurz stehen bleiben. Leider kann ich nur einzelne Sätze ausmachen – »Och, ich weiß doch, dass Bärchen so schöne lange Golfschläge machen kann …« und »Och, ist Bärchen heute gar nicht zufrieden mit seinem Spielchen?« –, aber das reicht schon, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen.Im Weggehen drehe ich mich noch einmal um. Bei jedem vierten Wort drückt Helen ihr Kinn nach vorne und spitzt die Lippen, während Thomas dümmlich grinsend vor sich hin lächelt. Es will mir nicht in den Kopf, warum eine erwachsene, erfolgreiche und heiße Frau in so peinliche Gebärden und Tonlagen verfällt. Typisch Hete! Immer schön kleinmachen, damit der Mann sich nicht bedroht fühlt. Wäre ich ein Kerl, mir würde nach den ersten fünf Silben in Babygetuddel der Schwanz abfallen und meine Eier würden sich nach innen verziehen.

Thomas aber scheint es zu gefallen, wenn Helen in der Kindchen-Schatztruhe kramt. Schon wenn er seinen Arm um ihre Schultern legt, sieht es aus, als wolle er Helen mit seinem Straußenei-großen Bizeps unten halten.

Objektiv betrachtet könnte man sagen, dass Thomas gut aussieht. Er ist 1,86 Meter groß, braun gebrannt, hat dunkelbraunes, halblanges Haar, das zu einem Seitenscheitel gekämmt ist. Der Typ rennt drei Mal die Woche ins Fitnessstudio, seine Muskeln ziehen und dehnen und strecken sich bei jeder noch so kleinen Bewegung.

Im Vergleich zu Helen schlägt Thomas auf den Golfball wie ein Metzger, der eine Kuh schlachtet. Oder zumindest, wie ich mir das vorstelle. Er holt weit aus und lässt den Schläger mit aller Kraft runtersausen. In der Sekunde, in der er ihn trifft, entfährt Thomas meistens eine Art Urschrei. Umso mehr ärgert es mich, dass sein Handicap um ganze drei Punkte besser ist als meins.

Zum Golfen trägt Thomas immer die schicksten Outfits. Er stolziert in weiß-hellblau karierten Shorts neben Helen her und kickt im Laufen mit seiner Schlägerspitze immer wieder Grashalme von seinen Golfschuhen.

Zum Glück bröckelt die Perfektion mit jeder Minute mehr: Das weiße Hemd mit den kurzen Ärmeln und den drei vergoldeten Knöpfen am Ausschnitt klebt an seiner Brust, unter den Armen bilden sich langsam gelbliche Flecken.

An der Fahne treffe ich die beiden wieder. Ich beobachte Helen, wie sie sich aufs Einlochen konzentriert. Hinter ihr ragen hohe Tannen auf, deren Nadeln satt und dunkelgrün leuchten. Kleine Zitronenfalter flattern über das Rasenstück, auf dem wir stehen, und Helen schiebt ihren Ball mit dem ersten Schlag ins Loch.

»So mögen wir das«, ruft Thomas, der schon seine Sachen zusammenpackt, jeden Schlag seiner Frau allerdings aufmerksam beobachtet.

Helen fischt ihren Ball aus der Versenkung, während ich mit der Fahne neben ihr stehe. Als sie sich aufrichtet, trennen uns keine drei Zentimeter.

»Ich hab’s mir gestern noch mal selbst besorgt und dabei an dich gedacht«, flüstere ich Helen ins Ohr. Ich lege eine Hand auf ihre Hüfte und drücke mich sanft an ihr vorbei, um die Flagge ins Loch zurückzustecken. Helens warmer Körper berührt meinen und zu sehen, wie der Stock in die Erde gleitet, erregt mich. Ich spüre, dass ich feucht werde.

Helen atmet einmal tief ein und aus, packt meine Hand und hält sie fest in ihrer, bevor sie sie hektisch schüttelt, um mir zum Ende des Spiels zu gratulieren.

»Tolles Spiel, Paula. Kommst du mit auf ein Feierabendbier?«, sagt Helen plötzlich ganz laut. Dabei spricht sie jedes Wort so deutlich aus, dass es Thomas, der inzwischen in die vielen Taschen seines Golfbags vertieft ist, auch hören kann. Ich will gerade ablehnen, da kommt Thomas mit einem breiten Grinsen auf uns zu gejoggt. Sein Seitenscheitel springt auf und ab.

Er schüttelt erst mir die Hand, dann lässt er seinen Arm auf Helens Schulter krachen und stupst sie mit seiner Hüfte von der Seite an. »Klar kommt Paula noch mit«, sagt Thomas und legt mit einem Blick auf mich nach: »Die erste Runde geht auf mich, dann fahren wir dich nach Hause.«

*

Als ich durch die Tür zum Clubrestaurant komme, laufe ich gegen eine Wand aus modrigem Ledergeruch. Ich versuche, unauffällig durch den Mund zu atmen, damit ich es nicht riechen muss. Der Raum erinnert mich mehr an eine alte Bibliothek als an ein Restaurant, in dem ein Golfer-Ei mit Speck und Weißbier serviert wird. Auf einem daumendicken Teppich stehen acht Tische aus türkischem Nussbaumholz. An jeder dieser Tafeln haben leicht zehn hungrige Golfer Platz. Das dunkelbraune Holz glänzt frisch poliert und wird von unregelmäßigen schwarzen Maserungen durchzogen. Um die Tische stehen klobige Holzstühle, die mit dunkelrotem Leder bezogen sind, so dunkelrot wie geronnenes Blut.

Helen, ich und Thomas setzen uns an einen Tisch an der hinteren Fensterfront mit Blick auf den Golfplatz. Durch die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen, brennt die Sonne herein. Eigentlich gibt es auch eine Terrasse, aber passend zu einem Sommer in Bayern wird sie gerade bebaut. Ich lasse mich also in einen der Stühle fallen und fixiere die Mini-Bagger, die herumliegenden Schaufeln und den schwarzen Teer, der in der Sonne glitzert. Bauarbeiter sind nirgendwo zu sehen.

»Hast du Helens dritten Schlag an Loch sieben gesehen? Aus 30 Metern direkt neben die Fahne! Da hat vom Winkel bis zu den Windverhältnissen alles gestimmt«, analysiert Thomas seit Minuten schon jeden einzelnen guten Schlag des Spiels. Früher habe ich ihn für sein präzises Gedächtnis bewundert und beneidet, heute taste ich seine Brust mit Blicken ab, in der Hoffnung den Abschaltknopf zu finden.

*

Magdalena und Kurt Holzerer betreten fünf Minuten nach uns den Raum und setzen sich ohne Aufforderung an unseren Tisch. Jetzt endlich stoppt Thomas seine Ausführungen und lacht das Rentnerpaar fröhlich an. »Kennt ihr schon den kürzesten Golfer-Witz?« Jetzt geht das wieder los.

Der Holzerer plumpst auf den Stuhl mir gegenüber, das Leder sinkt langsam mit einem zischenden Ton mehrere Zentimeter nach unten. Der Typ ist noch braun gebrannter als Thomas, durch die grauen Haare, die seinen Nacken hoch wachsen, kämpft sich ein feingliedriges Goldkettchen mit einem Kreuzanhänger.

»Na, erzählen Sie mal, Schuster«, sagt der Holzerer, um Thomas nicht die Pointe zu versauen.

»Ich kann’s«, löst Thomas die Scherzfrage auf und lacht so heftig, dass ich sein Gaumenzäpfchen im Rachen sehen kann.

Magdalena Holzerer lächelt alle am Tisch einmal stumm an, setzt sich schweigend neben ihren Mann und faltet die vor ihr auf dem Teller liegende Serviette auseinander. Ihre Haare schimmern hellgrau im Licht, obwohl sie noch nicht wirklich alt ist. Ende 60 vielleicht? Für ihr Alter sieht sie auf jeden Fall gut aus. Die schwarze Hose passt perfekt zur roten Bluse, die brav bis zum vorletzten Knopf zugeknöpft ist. Ihre Hände sehen weich aus, die Nägel sind sauber und gepflegt.

Wären da nicht die tiefen Furchen, die sich unter ihren Augen entlangziehen und sie ständig müde aussehen lassen.

Gut gelaunt lehnt der Holzerer sich in seinem Stuhl zurück. Dabei sitzt er mit so breiten Beinen da, wie ich es sonst nur aus Aerobicvideos kenne. Er tätschelt den Oberschenkel seiner Frau und strahlt mich an. »Na Paula, wie war dein Spiel? An Loch drei hast du ja ordentlich weit geschlagen.«

»Ich kann nicht klagen, ich kann nicht klagen«, antworte ich und imitiere seinen pseudo-professionellen Ton: Mit viel ausgeatmeter Luft und viel Kopfschütteln und Kopfnicken ziehe ich nach jedem Satz kurz die Augenbrauen zusammen.

»Ich habe allerdings große Schwierigkeiten beim Kurzspiel«, erkläre ich weiter und bestelle mir ein Helles. Der Holzerer stützt sich mit beiden Ellenbogen auf den Tisch und nickt in meine Richtung.

»Sag, Mädchen, wann stellst du uns eigentlich deinen Freund vor? Ein so hübsches Ding wie du kann sich doch bestimmt kaum retten vor liebestollen Kerlen.« Seine Dritten wirken einen Hauch zu breit, als sie hinter seinen schmalen Lippen hervorkommen.

»Ach Kurt«, sagt seine Frau seufzend. Grob wird sie von der erhobenen Hand ihres Mannes unterbrochen.

»Ach komm, Magdalena, in meinem Alter kann man das doch fragen«, motzt er lächelnd. Dann hebt er erwartungsvoll seine buschigen Augenbrauen.

Ein Secondhand-Sexlife, das will er jetzt von mir. Alle alten Männer wollen das von mir. Weil sie selber nichts mehr erleben im Bett – oder auch im Herzen –, zehren sie von den Erlebnissen der jungen Leute und stellen unentwegt intime Fragen. Ich sehe es schon kommen, dass der Holzerer mich nach meinem ersten Mal fragt. Ob ich ihm dann von Jo erzähle?

»Mensch, Herr Holzerer, wenn ich nur 20 Jahre älter wäre …«, scherze ich mit einem leichten Kopfschütteln und lächle ihn an. Neben ihm wirft mir die Holzerer einen erstaunten Blick zu und ich hebe meine Hände abwehrend in die Luft. »Tut mir leid«, sage ich schnell. »Ich meine, ich habe den Richtigen einfach noch nicht gefunden.« Ich schaue an Thomas vorbei zu Helen. Ihr zuliebe tue ich seit fast einem Jahr etwas, auf das ich nicht stolz bin: Ich spiele die Hete im Golfclub. Helen hat mich darum gebeten. Unsere Affäre würde so niemals auffliegen, meinte sie damals.

»Mensch, Paula, du musst den Jungens aber auch eine Chance geben«, poltert der Holzerer. Dabei schießt er das Wort »Chance« betont bayerisch heraus und presst das »ang« mit dem hinteren Teil seiner Zunge an den Gaumen.

»Früher, da waren die Madln nicht so wählerisch«, sagt er und schaut seine Frau immer noch nicht an. »Da wurde geheiratet, wenn die Zeit reif war.«

Ich sehe, wie die Holzerer in ihrem Stuhl die Wirbelsäule durchdrückt und mich entschuldigend anlächelt. Neben ihrem Mann wirkt sie so klein.

*

»Vielleicht solltest du mal einen netten Rock anziehen«, rät sie mir und flüstert dabei fast. Gleichzeitig schielt sie unter den Tisch nach den knielangen weißen Badeshorts, die ich heute trage.

Ich nicke erneut voller Zustimmung und sage: »Vielleicht haben Sie ja recht, Frau Holzerer. Aber ich mag Röcke nun mal lieber an anderen Frauen.«

Helen verschluckt sich an ihrem Salat.

Im selben Moment kommen Frau und Herr Seidel an unseren Tisch.

»Ja, ihr Lieben, ihr habt noch einen Platz für uns«, stellt die Seidel fest und schon sitzt sie. Martin Seidel ist der Verwalter der Golfanlage, das wachende Auge über alle Dinge, die das Spiel anbelangen. Seine Frau Jutta befasst sich im Ausgleich mit den privaten Angelegenheiten der Spieler. Die Mittvierzigerin ist der Umschlagsplatz Nummer eins für jeglichen Klatsch und Tratsch. Letzte Woche habe ich neun Löcher mit ihr gespielt, von denen sie nur zwei beendet hat, weil sie vor lauter Ratschen nicht zum Schlagen gekommen ist. Die restliche Zeit bemitleidete sie die arme Frau Holzerer, die unter ihrem Proletenmann leiden muss, fragte mich nach einem Studentenjob für den Sohn von Frau Adam und enthüllte mir, dass Herr Möhring keine Kinder mehr zeugen kann. An Loch acht deutete die Seidel an, Thomas würde auf SM stehen – sie könne das an der Art, wie er mit Helen umgeht, erkennen. Sie und der Holzerer an einem Tisch sind die Neugier in Person.

»Haben Sie schon gehört, was mit dem Sohn der Bauers geschehen ist?« Die Seidel lehnt sich wichtig über den halben Tisch und spricht mit gedämpfter Stimme. Als würden die Bauers gleich hinter ihr stehen, dreht sie sich um und kontrolliert den Raum mit schnellen Blicken. Ausnahmslos alle rutschen auf ihren Stühlen ein Stück vor und recken die Hälse in ihre Richtung.

»Er hat erklärt, er sei schwul«, flüstert die Seidel jetzt. Dabei reißt sie die Augen so weit auf, dass sie aus den Höhlen quellen, und schüttelt langsam den Kopf.

Dann lässt sie sich in ihrem Stuhl zurückfallen und wedelt mit ihrer linken Hand über den Tisch, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. Sie trägt immer noch ihren Golfhandschuh.

»Also, bei uns in der Familie hätte es so was nicht gegeben«, stellt sie trocken fest. Ihre Stimme kommt wieder in diesem kratzenden Ton, der mir noch von gestern in den Ohren klingt, und schiebt sich langsam unter meine Haut. Ich gaffe die Seidel an. Ihre Haare hat sie in einem leichten Lilaton gefärbt und trägt sie kurz – bestimmt, weil das so praktisch ist. Die Warze auf ihrer rechten Wange sticht hervor, obwohl sie versucht, sie unter einer dicken Schicht Make-up plus Puder zu verstecken. Auf dem lachsfarbenen Hemd, das sie unter ihrer schwarzen Golferweste trägt, klebt ein winziger Grashalm zwischen den Brüsten. Mein Blick bleibt daran hängen. Ihre Worte hallen in meinem Kopf wie ein Bergecho wider.

Der Holzerer klopft mit der Faust drei Mal auf die Tischplatte. »Ich bin froh, dass das uns nicht passiert ist«, sagt er donnernd und spricht seine Frau zum ersten Mal direkt an. »Gell, Magdalena, das hätten wir bei unserem Michael nie geduldet.«

Die Holzerer schaut von ihrem Obstjoghurt auf und strafft die Schultern. »Hauptsache, die Kinder werden glücklich«, sagt sie so leise, als hätte sie nichts gesagt.

»Nein, zu meiner Zeit wäre das unmöglich gewesen. Aber heutzutage geht ja bekanntlich alles«, jammert die Seidel dazwischen und zieht ihren Golfhandschuh aus. Dann legt sie ihn sorgfältig zusammen, Finger auf Finger, und steckt ihn in ihre Westentasche.

Der Holzerer haut Thomas mit einem lauten Patscher auf die Schulter. »Früher, da hat der Staat noch dafür gesorgt, dass sich niemand von solchen Leuten belästigt fühlen musste«, sagt er. Mit seinen grauen Augen, die sicher einmal blau gewesen sind, zwinkert er Thomas verschwörerisch zu. Mir wird heiß und meine Gedanken rasen. Ich kann mich nicht entscheiden, was ich zuerst brüllen soll.

»Solange keiner von meinen Söhnen schwul wird, ist es mir egal, was andere machen«, seufzt Thomas, nimmt sein Weizenbier in die Hand und prostet dem Holzerer zu.

Ich spüre Helens Blick auf mir, aber ich schaue sie nicht an. Stattdessen lehne ich mich ein Stück vor, näher an die Männer heran, und sage mit belegter Stimme: »Ich glaube nicht, dass man solche Menschen verurteilen sollte. Jede Form von Liebe hat etwas Romantisches, etwas Schönes. Wie heißt es so schön? Würde eine Rose einen anderen Namen tragen, würde sie immer noch duften.« Es kostet mich viel Überwindung, nicht auszuflippen.

Die Seidel taxiert mich mit einem drängenden Blick. »Schon in der Bibel steht, dass ein Mann nicht bei einem Manne liegen soll«, sagt sie. Die anderen Alten nicken zustimmend.

»Selbst wenn«, sage ich schnippisch und nehme den Salzstreuer in die Hand, um nicht mit der Faust auf den Tisch schlagen zu müssen. Ich bin so sauer, dass mir kein klares Gegenargument einfällt.

»Mann und Frau gehören nun mal zusammen. So war das und so wird das immer sein«, wirft der Seidel besänftigend ein. Ich bin überrascht, dass er sich überhaupt einmischt. Bis jetzt hatte ich gedacht, dass er nicht weiter denken kann, als sein Golfball fliegt – und das war mir auch lieber.

Ich ziehe meine Augenbrauen so weit es geht zusammen und zwinge mich, ruhig zu sagen: »Aber manchmal passen Mann und Mann eben besser zusammen als Mann und Frau.« Dann schaue ich zu Helen. »Oder Frau und Frau«, sage ich leise. Helen sitzt aufrecht am Tisch, hat ihre Hände glatt auf die Tischdecke gelegt und tut so, als ginge sie das alles nichts an. Scheinbar konzentriert schaut sie auf ihre Fingernägel, als müsste sie sichergehen, dass der Lack noch unversehrt ist. Aber an ihren verkrampften Schultern kann ich sehen, dass sie am liebsten aufspringen und mir den Mund verbieten würde. Als hätte sie meinen Blick auf sich gespürt, hebt sie den Kopf und schaut mich an. In ihren Augen liegen ein stummes Flehen und ein Hauch von Angst. Kaum merklich beißt sie sich auf die Unterlippe.

»Frau und Frau kann ich ehrlich gesagt auch besser verstehen«, sagt Thomas und grinst schief. »Das ist viel ästhetischer.« Er boxt mir mit seinem Ellenbogen sanft gegen den Oberarm und zwinkert mir aufmunternd zu.

Ich mustere Thomas stumm. In dieser Sekunde tut er mir unendlich leid. Wenn er wüsste, dass ich seine Frau seit fast zwei Jahren jeden Mittwoch in der Umkleidekabine vögle, würde er mit Sicherheit anders über »Frau und Frau« denken.

Thomas bemerkt meinen Blick »Was ist?«, fragt er und zieht die Augenbrauen hoch.

»Nichts«, sage ich hastig und starre auf den Tisch vor mir, während ich nach einer Ausrede suche. »Ich finde es nur scheiße, zwischen weiblicher und männlicher Homosexualität zu unterscheiden. Entweder, man akzeptiert, dass manche Menschen einen anderen Weg gehen, oder nicht. Aber zwei Frauen zu akzeptieren, nur weil vier Brüste geiler aussehen als zwei Schwänze, ist doch der Ober-Abfuck.«