Von Teufeln und Heiligen - Jean-Baptiste Andrea - E-Book
SONDERANGEBOT

Von Teufeln und Heiligen E-Book

Jean-Baptiste Andrea

0,0
9,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Prix Goncourt-Preisträger 2023! Ausgezeichnet als » Lieblingsbuch der französischen BuchhändlerInnen«.

»Der Roman strahlt eine unglaubliche Kraft aus. Erzählt über Liebe und Freundschaft. Und weiß um den Trost, den Musik bringen kann.« Christine Westermann

Was sucht ein alter Mann wie er dort? Auf Bahnhöfen, am Flughafen? Und spielt dort Klavier? Seine flinken Finger gleiten virtuos über die Tasten. Er spielt Beethoven, wartet auf jemanden, der vielleicht eines Tages aus einem Zug aussteigt. Wartet darauf, dass eine Hand sich auf seine Schulter legt. Es ist eine lange Geschichte. Alles begann vor fünfzig Jahren in einem Waisenhaus in den Pyrenäen. Dort gab es Teufel und Heilige. Und ein Mädchen namens Rose.

Voller Wärme und Menschlichkeit erzählt Jean-Baptiste Andrea eine berührende Lebensgeschichte, die vor fünfzig Jahren in einem Waisenhaus in den Pyrenäen beginnt und an einem Klavier in Paris endet. Ein Roman über Liebe und Freundschaft. Über die universelle Kraft der Musik. Über Hoffnung, die nicht stirbt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 302

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Voller Wärme und Menschlichkeit erzählt Jean-Baptiste Andrea eine berührende Lebensgeschichte, die vor fünfzig Jahren in einem Waisenhaus in den Pyrenäen beginnt und an einem Klavier in Paris endet. Ein Roman über Liebe und Freundschaft. Über die universelle Kraft der Musik. Über Hoffnung, die nicht stirbt.

Was sucht ein alter Mann wie er dort? Auf Bahnhöfen, am Flughafen? Und spielt dort Klavier? Seine flinken Finger gleiten virtuos über die Tasten. Er spielt Beethoven, wartet auf jemanden, der vielleicht eines Tages aus einem Zug aussteigt. Wartet darauf, dass eine Hand sich auf seine Schulter legt. Es ist eine lange Geschichte. Alles begann vor fünfzig Jahren in einem Waisenhaus in den Pyrenäen. Dort gab es Teufel und Heilige. Und ein Mädchen namens Rose.

»Ein überaus bewegendes Buch. Eine Reise zwischen Lachen und Weinen.« Le Figaro

Zum Autor

Jean-Baptiste Andrea, Jahrgang 1971, ist ein französischer Romanautor, Regisseur und Drehbuchautor. Er wuchs in Cannes auf, später zog er nach Paris und machte dort seinen Abschluss in Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Bereits sein Debüt »Meine Königin« (2017) hat zahlreiche Preise gewonnen. Sein jüngster Roman »Von Teufeln und Heiligen« wurde in Frankreich mit großer Begeisterung aufgenommen und als »livre magique« gefeiert. Es erhielt den Grand Prix RTL-Lire 2021 als »Lieblingsbuch der französischen Buchhändler*innen«.

JEAN-BAPTISTE ANDREA

VON TEUFELN UND HEILIGEN

Roman

Aus dem Französischenvon Thomas Brovot

Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Des diables et des saints« bei L’Iconoclaste, Paris.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Erstveröffentlichung Oktober 2022

Copyright © 2021 L’Iconoclaste, Paris

Copyright © der deutschen Ausgabe 2022 btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

nach einem nach einem Entwurf von Quintin Leeds unter Verwendung eines Motivs von © DEEPOL by plainpicture

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

Klü · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28298-1V002www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

SIE KENNEN MICH. Denken Sie ein wenig nach, Sie erinnern sich bestimmt. Der ältere Herr, der auf diesen öffentlichen Klavieren spielt, an allen Orten, wo Menschen kommen und gehen. Donnerstags bin ich am Flughafen Orly, freitags in Roissy. Den Rest der Woche klappere ich die Bahnhöfe ab, andere Flughäfen, egal wo, Hauptsache, dort steht ein Klavier. Oft findet man mich an der Gare de Lyon, ich wohne gleich in der Nähe. Sie haben mich mehr als einmal gehört.

Irgendwann kommen Sie auf mich zu. Wenn Sie ein Mann sind, sagen Sie nichts. Sie tun so, als würden Sie sich den Schnürsenkel binden, dann können Sie unauffällig ein wenig zuhören. Wenn Sie eine Frau sind, zucke ich zusammen. Ich warte nämlich auf eine. Nein, nicht auf Sie, ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Auf diese Frau warte ich seit fünfzig Jahren.

Sie haben tausend Gesichter. An jedes erinnere ich mich, ich vergesse nichts. Sie sind die junge Frau, die im grauen Morgen zwischen Stadt und Vorstadt pendelt. Sind der Mann im dunklen Anzug, bei dem ich dachte: »Wenn der Liebe macht, dann mit der Beflissenheit eines Beamten«, dabei geht mich das gar nichts an – Frauen sind ein schwieriges Thema, wer wüsste das besser als ich. Sie sind weiß, Sie sind blau, rot, grün, sind regenbogenbunt. Sie schleichen ratlos um meine Klaviere, weil ich nicht um Geld bitte. Also sprechen Sie mich an. Alle stellen dieselbe Frage:

»Was macht jemand wie Sie hier?«

Wie meinen Sie das, »jemand wie ich«? Und Sie antworten immer ungefähr so:

»Jemand wie Sie, der einen gepflegten Eindruck macht, auch wenn Sie vergessen haben, sich die linke Wange zu rasieren. Jemand, der sich so gut kleidet, auch wenn Ihre Krawatte ein wenig aus der Zeit gefallen ist. Anders gesagt, jemand, der so Klavier spielt wie Sie. Sie spielen wie ein Gott, spielen vielleicht gar für ihn? Ein solches Talent verschwendet man nicht auf Bahnhöfen oder Flughäfen. Sie spielen wie diese Pianisten, die in großen purpurnen Sälen die Menschen bezaubern. Hier dagegen bezaubern Sie nur feuchten Teer und klamme Filze.«

Richtig, meine Dame. Gut beobachtet, der Herr. Meine Bühnen riechen nach Gleisen, nach Kerosin. Meine Carnegie Hall und meine Scala heißen Montparnasse, Roissy-Charles de Gaulle, Union Station, John F. Kennedy Airport. Dafür gibt es einen guten Grund. Aber das ist eine lange Geschichte, ich will Sie nicht langweilen.

Sie gehen Ihres Weges, die allermeisten von Ihnen. Manchmal insistieren Sie. Bieten mir eine größere Summe, damit ich auf Ihrem Geburtstag spiele. Bei einem abendlichen Diner, einer Bar Mizwa – Sie sehen mein Zögern. Sie bieten an, mich Ihrem Mann vorzustellen, der in der Philharmonie eine wichtige Position innehat. Oder Ihrem Onkel, dem Künstleragenten. Ich lehne jedes Mal ab, vielen Dank, wirklich liebenswürdig von Ihnen. Aber ich wäre ein lausiger Gast. Ich mag nur offene Räume, der Wind muss wehen, die Türen müssen schlagen.

Gestern haben Sie mich gefragt:

»Sind Sie morgen auch da?«

Morgen ist nicht Donnerstag oder Freitag, also ja, ich werde da sein.

Zwischen der Abfahrt des 19 Uhr 03 nach Annecy und der Ankunft des 19 Uhr 04 aus Béziers lasse ich ein Cis ausklingen, bitte zurücktreten von der Bahnsteigkante. Sieh an, Sie kommen noch einmal wieder? Dann darf ich mich vorstellen. Ich bin Joe. Joe für Joseph, aber so nennt mich schon lange niemand mehr. Joseph ist der Name eines großen Musikers oder des Vaters eines Messias.

Sie möchten, dass ich spiele, klar, um mich auf die Probe zu stellen. Um zu verstehen. Vielleicht steckt ja irgendwas dahinter. Heute wünschen Sie Alban Berg. Oder Brahms.

Tut mir leid, ich spiele nur Beethoven.

Ich gehe Ihnen schon auf die Nerven, das sehe ich. Bitte um Verzeihung. Eine fünfzig Jahre alte Gewohnheit lässt sich nicht einfach ablegen.

»Dann spielen Sie den ersten Satz der Mondscheinsonate«, sagen Sie. »Auch wenn das recht … klassisch ist.«

Fast hätten Sie gesagt: banal, und Sie sind nicht der Erste. Sie werfen einen Blick auf die Uhr – nur ungern würden Sie dieses Abendessen in der Stadt verpassen, Ihre Freunde oder Kollegen rechnen mit Ihnen, die Vorspeisen werden schon gereicht. Mit erhobenen Händen warte ich auf den Rhythmus. Der Triebwagen eines TGV strandet an Gleis L und schnauft aus allen Löchern. Ein Wal unter Strom, der mit dreihundert Stundenkilometern aus Nizza herbeischwimmt, in seinem Bauch schwer verdauliche kleine Fische, die er auf den Bahnsteig spuckt, wirbelnd in einem schweren Brei aus geschmolzenem Glas. Körper, die sich auseinanderfalten und dem Schlaf entgegenhasten, dem Alkohol, dem Herzanfall, der Langeweile, was weiß ich. Alles ist da, Hoffnung, Einsamkeit. Sie hören das nicht.

Meine Finger greifen in die Tasten. Das furiose Arpeggio, die Akkorde, presto agitato. Dritter Satz, nicht der, um den Sie gebeten haben, ich mag das Vorhersehbare nicht. Ihre Lippen werden schmal. Ihre Pupillen weiten sich, ein Drogensüchtiger, der nach einer Injektion Adrenalin wieder atmet. Am Ende stehen Sie stumm da, lange Zeit.

Ein Tornado ist Ihnen ins Gesicht gefegt. Wie tausend anderen vor Ihnen. Er hat Sie in die Höhe gerissen, herumgeschleudert, wieder an Ihren Platz gestellt. Sie können nicht fassen, dass Sie noch leben. Sie werden nie wieder »banal« sagen. Ich weiß, was Sie empfinden. Es lässt einen nicht kalt, wenn man hört, wie ein Genie taub wird.

Sie sagen:

»Ein Musiker Ihres Formats wird in die Ehrenlegion aufgenommen, vor dem gerät man ins Stottern. Und wir ignorieren Sie den ganzen Tag. Haben Sie nicht mal daran gedacht, aufzutreten?«

Auftreten? Ich tu doch nichts anderes.

Sie haben diesen ungeduldigen Zug um den Mund, das ist mir nicht entgangen, diese geschürzten Lippen.

»Nein, auf der Bühne auftreten. Sie wären nicht der Erste, der seine Karriere spät beginnt. Dabei sind Sie noch jung.«

Danke, Madame, Monsieur. Ich muss hierbleiben. Ich möchte nicht den letzten Zug verpassen. Das letzte Flugzeug. Sparen Sie sich Ihre Legionen, Ihre Medaillen, alles nur Zierrat, der ins Herz sticht und betäubt.

»Sie könnten gut verdienen, Joseph. Sich ein eigenes Klavier kaufen.«

Joe, nicht Joseph. Ich brauche kein Geld. Ich habe alle Klaviere, die ich will. Und mit neunundsechzig bin ich nicht mehr jung. Sie werden widersprechen, das sehe ich an Ihren Augen. Ich komme Ihnen zuvor, nein, mit Koketterie hat das nichts zu tun. Was ich sage, stimmt. Ich bin schon lange nicht mehr jung. Ich weiß sogar noch die Uhrzeit, als es passiert ist.

Gehn wir zur Caféterrasse dort drüben, mit Blick auf die Gleise. Der Kaffee ist nicht gut, aber man sitzt bequem. Diesmal werde ich es Ihnen wohl erklären müssen.

Alles begann, als ich krank wurde. Eine unheilbare Krankheit. Nicht erschrecken, ich bin nicht ansteckend. Sie traf mich aus heiterem Himmel, es war der 2. Mai 1969. Ich konnte nichts dafür. Alle, die es erwischt hat, werden Ihnen dasselbe sagen.

Meine Behinderung steht in keinem medizinischen Lexikon.

Sollte sie aber.

ZWEI DINGE BRAUCHT DER MENSCH, sagte mein Vater immer, ohne die kann er nicht leben: eine gute Matratze und ein gutes Paar Schuhe. Er verkaufte beides. Natürlich nicht zusammen. Die Matratzenfabrik hatte er von seiner Mutter geerbt, einer Engländerin wie aus dem Bilderbuch, oder fast, denn bei einem Frankreichurlaub kurz vor dem Krieg war sie schwanger geworden und geblieben. Die Schuhe kamen später. Als mein Vater, eine elegante Erscheinung, vom drohenden Bankrott seines bevorzugten Schuhfabrikanten erfuhr, kaufte er ihm den Betrieb kurzerhand ab.

Mein Vater glänzte in allem. Musik. Gartenarbeit. Sport. Er hätte Arzt oder Architekt werden können. Oder Priester, Rabbi, nur glaubte er nicht an Gott, und Jude war er auch nicht. Zumindest nicht ganz: Seine Mutter war keine Jüdin, er damit ebenfalls nicht und ich noch weniger. Seiner Meinung nach umso besser. Seine Lieferanten, gute Katholiken, warfen ihm schon vor, zu unnachgiebig bei den Preisen zu sein. Er wollte nicht, dass man ihn obendrein beschuldigte, ihren Heiland gemetzelt zu haben, zumal vor dem Hintergrund einer anschwellenden Konkurrenz aus Amerika. Als meine Mutter meinte, es sei vielleicht an der Zeit, mich mit diesem Teil meiner Geschichte vertraut zu machen, dass ich nämlich zu einem Viertel Jude war, reagierte er wütend. Wir sprachen nie wieder davon.

Für meine Eltern war ich ein Projekt, sie erzogen mich mit diktatorischem Eifer. Ihre Liebe zu mir entsprach der Hingabe zu einem Fünfjahresplan. Aber sie liebten mich. Ich war ihr Fünfjahresplan. Nur meine unausstehliche Schwester entkam der Tyrannei, denn sie war erst vier. Von ihren stolzen übertausend Tagen herab dachte Inès, sie könne sich alles erlauben. Sie durchwühlte mein Zimmer, ging an meine Schallplatten. Wenn ich sie anbrüllte, heulte sie Rotz und Wasser, und ich war mal wieder schuld. Unausstehlich.

Ein paar Tage vor meiner Krankheit, diesem Leiden, das wir alle unbewusst in uns trugen, rief mein Vater mich in sein Arbeitszimmer.

»Ich hatte Rothenberg am Apparat. Er sagt, dass dein letzter Unterricht ein unerfreuliches Ende genommen hat. Dass du faul wirst. Dass du mit der Musik nicht weiterkommst. Er denkt, du lässt dein Talent verkümmern. Hast du eine Erklärung?«

Die hatte ich. Statt Tonleitern zu üben, hatte ich mit meinem besten Freund Henri hinter dem Anwesen seiner Eltern Waldreben geraucht.

»Nein. Das verstehe ich nicht. Ich übe doch so viel.«

»Offenbar nicht genug. Dann fliegen deine Mutter, deine Schwester und ich am Wochenende ohne dich nach Rom. Du kannst derweil darüber nachdenken, was du mit deinem Leben anfangen willst.«

Ich flehte meinen Vater an. Flehte meine Mutter an, aber die stellte sich taub. Sie brummte mir sogar noch Hausaufgaben in Geschichte auf, dafür war sie Lehrerin am Gymnasium. Heute denke ich voller Zärtlichkeit an sie zurück, wegen dem, was danach passiert ist. Jahre des schwarzen Regens, der mir das Mark in den Knochen gefrieren ließ. Aber an diesem Tag konnte von Zärtlichkeit keine Rede sein. Ich habe meine Eltern gehasst.

Wir wohnten im Großraum Paris. Ich wurde bald sechzehn, und mir fehlte es an nichts. Mein Leben roch nach Leder und Orchideen, nach Parfüm von Dior, es war ein behütetes Leben in den Grenzen der Backsteinmauern unseres Grundstücks. Wenn es Nacht wurde, stellte ich mir vor, ich würde davonlaufen und die Welt verändern. Würde, Baskenmütze auf dem Kopf und Zigarre im Mund, meinen treuen Guerilleros lauthals Befehle auf Spanisch erteilen. Natürlich müsste ich erst Spanisch lernen. Also später, irgendwann. Und so erstarben meine revolutionären Träume mit jedem Frühstück, das man mir ans Bett brachte. Anders gesagt, ich war ein ganz normaler Junge. Ein wohlerzogener Jugendlicher, ein liebenswürdiger Trottel.

Dennoch bin ich nicht der Meinung, dass ich meine Krankheit verdient habe.

»Der Rhythmus!«, schimpfte Rothenberg. »Der Rhythmus!« Der alte Rothenberg gab mir Klavierunterricht. Er war zerknittert wie Papier, das Gesicht, der Hals, die Hände. Eine Blindenschrift aus Falten, dass einem schwindlig wurde. Wann immer ich ihn sah, hätte ich ihn am liebsten gebügelt.

Aber wenn er spielte.

Wenn er spielte, machten sich Weise aus dem Morgenland auf den Weg. Exotische Prinzessinnen vergingen vor Sehnsucht in ihren Palästen aus Sand. Selbst Madame Rothenberg, ein verblasster Schatten mit dem Duft von Blütenblättern und Mottenkugeln, wurde wieder zu jener Königin des Südens, die er sechzig Jahre zuvor unter einem blühenden Nussbaum verführt hatte.

Rothenberg unterrichtete nur Beethoven. In einer fernen Vergangenheit, über die er selten sprach, hatte ihm der große Meister – den er ausschließlich beim Vornamen nannte – das Leben gerettet. Ohne Instrument hatte Rothenberg Tag für Tag seine zweiunddreißig Klaviersonaten gespielt. Die Finger in der Luft, die Füße in Polens Staub. Er hatte gespielt, um nicht verrückt zu werden.

Einmal fragte ich ihn, ob wir nicht etwas anderes lernen könnten, und sofort brauste er auf.

»Du lernst längst etwas anderes, Dummkopf. Bei Ludwig gibt es alles. Das Vorher und das Nachher. Da ist Bach, ist Schubert. Ist Gabrieli, Mozart, Bruckner, und fast wäre da auch Varèse. Was willst du mehr?«

In dieser Woche, der Woche, als ich krank wurde, der Woche, als er meinen Vater anrief, hatte ich ihn zur Verzweiflung gebracht. Ich malträtierte den Rhythmus, und Rothenberg rang mit der Welt, raufte sich die Haare. Jedenfalls die paar wenigen, die ihm in dem rot gefärbten Kranz um seine gefleckte Schädelhaut geblieben waren. Der Kopf erinnerte an einen Leoparden in Flammen.

»Im Andante der Nr. 15 kommt es auf den Rhythmus an. Siehst du, wie die Sonate heißt?«

Ich beugte mich über die Noten.

»Äh, ›Pastorale‹.«

»Und worum geht’s?«

»Wälder, Bäche …?«

»Schmegegge! Wälder, Bäche, papperlapapp! Hörst du das Pulsieren der linken Hand? Da steigt jemand hinweg über deine Wälder. Klettert Bach auf die Schulter, um über die Wipfel der Bäume zu sehen. Und du spielst das wie ein schmock, der im Gras liegt und schläft, nachdem er sich den Bauch vollgeschlagen hat. Wie ein Trunkenbold, der sich im Bois de Boulogne eine Frau sucht! Meine Güte, rutsch mal, ich zeig’s dir.«

»Beruhige dich, Alon«, rief Madame Rothenberg aus der Küche. »Was hat dir der Arzt gesagt?«

Er fiel über das Klavier her, ohne sich auch nur zu setzen. Und ich sah Dinge, die ich erst später verstand. Sah Riesen, die einen Tanz vollführten. Sah einen Adler herabstoßen und über dem Spiegel eines Sees einen blauen Saum weben. Als er fertig war, schrie ich, solche Angst hatte ich gehabt. Angst, ich würde zerquetscht. Angst, ich würde fortgerissen.

»Was bringt das? So werde ich nie spielen! Ich werde niemals so spielen wie Sie!«

Rothenberg schloss den Deckel des Klaviers. Und breitete ein Makramee-Deckchen darüber, drehte sich langsam zu mir um. Ich dachte, er würde mich ohrfeigen, aber seine papierne Hand legte sich sanft auf meine Wange.

»Nein, wie ich niemals, mein Junge. Aber wenn du so weitermachst, droht dir Schlimmeres. Du wirst niemals so spielen wie du.«

Ich ging hinaus, gepackt von einer Wut, wie sie der Jugend zufliegt, die Fäuste voller Blitze, geschleudert ohne Sinn und Verstand.

Dabei wusste ich nicht, dass ich Alon Rothenberg nie wiedersehen würde.

Wäre ich zu Hause geblieben, wäre nichts passiert. Kaum waren meine Eltern zu ihrem blöden Rom-Wochenende aufgebrochen, kaum war das Taxi am Ende der Allee verschwunden, flitzte ich zu Henri.

Henri Fournier war mein bester Freund – das hatten wir uns geschworen. Die Fourniers waren reich, noch reicher als wir. Auch er hatte eine unausstehliche Schwester, nur älter, was gewisse Vorteile bot, wenn sie sich duschte und vergessen hatte, die Tür abzuschließen. Der Vater hatte ein Vermögen mit Schrauben gemacht, Holzschrauben, Blechschrauben, Zugschrauben, Gewindeschrauben, Schrauben aller Art, die er aus Asien importierte. Henri und ich hörten oft Musik, unsere Eltern bezeichneten sie als »gestört«. An diesem Tag eine nagelneue LP, Henri hatte sie gerade erst aus Paris mitgebracht, von den Rolling Stones. Der Mann im Plattenladen hatte für ihre absolute Gestörtheit die Hand ins Feuer gelegt, und das stimmte. Wir hüpften und sprangen auf Henris Bett und schüttelten unsere imaginären Mähnen.

Platte umgedreht. Der Diamant senkte sich. Knatterlaute, Stammestrommeln, wild hervorgestoßene Schreie, Frauenlachen, Klavier! Please allow me to introduce myself. Ich hüpfte nicht länger. I’m a man of wealth and taste. Rothenberg hatte recht. Der Rhythmus. Diese Typen hatten ihn gefunden. Ein Rhythmus, der es schaffte, uns ans Ende der Welt mitzunehmen. Uns im Meer zu ertränken, eine ganze Generation, wenn ihnen danach zumute war. In der Diele brüllte jemand. Spring!, rief Henri. Höher! Ich war erstarrt. Woo-woo, diese Wilden riefen jetzt ihren Gott an, woo-woo! Und in der Diele immer noch Gebrüll.

»Henri. In der Diele schreit jemand.«

Henri hob den Tonarm an. Sein Vater kam gleichzeitig mit uns zur Haustür gerannt. Auf der Schwelle erwehrte sich Madame Fournier unter einer Wolke von Speicheltröpfchen eines Mannes, der in einer zu großen Jacke versank, unterm Arm eine Zeichenmappe.

»Was soll der Quatsch?«, fragte Monsieur Fournier. »Kann man in diesem Haus nicht mal in Ruhe Zeitung lesen?«

»Ich komme vom Herz-Jesu-Heim«, trug der Besucher vor. »Wir helfen bei der Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener. Ich wollte Ihnen nur ein paar Bilder zeigen, na ja, zumindest eins, das letzte, das geblieben ist, dann ist mein Tag beendet. Geben Sie, was Sie möchten.«

»Wie sind Sie hier reingekommen?«

»Das habe ich ihn auch gefragt!«, rief Henris Mutter. »Er sagt, er hat das Tor aufgestoßen.«

»Das Tor ist abgeschlossen. Sie sind über die Mauer gestiegen, richtig?«

Der Mann zuckte die Achseln.

»Nein, das Tor war auf. Nur fünf Minuten, sehen Sie sich an, was wir machen, und geben Sie, was Sie möchten, oder auch nichts, wenn es Ihnen nicht gefällt. Ein paar Sous, um zu helfen.«

»Ach ja? Und wie ich Ihnen helfe, warten Sie.«

Fournier verschwand, und in weniger als dreißig Sekunden war er zurück, in der Hand ein Gewehr. Er besaß eine Waffensammlung, rührte sie aber niemals an. Henri und ich hatten einmal, als wir allein waren, eine Waffe geladen. Henri wollte die dicke rote Katze der Nachbarn abknallen, ich warf unsere Freundschaft in die Waagschale, die rote Katze oder ich, und am Ende knallten wir Flaschen ab. Ich mochte die Katze nicht besonders, aber es gab Grenzen.

Beim Anblick des Gewehrs wich der Mann zurück. Und nahm, als Fournier eine Patrone lud und einen Schuss in die Luft abgab, die Beine unter die Arme. Wir sahen, wie er in den Garten verschwand und über die Mauer sprang, das Tor war nämlich sehr wohl abgeschlossen. Henris Mutter bückte sich und griff nach der Mappe, die der Mann hatte fallen lassen. Darin war ein Gouache-Gemälde, nur das. Ein verzerrter Christus, Kopf auf der Schulter, ringsum ein Nebel aus Dornen. Alles war krumm und schief, der Mund, die Augen, die Schultern, das Kreuz, alles aus dem Lot bei dieser Kreuzigung, genau wie an dem Tag, als es geschehen war. Selbst die Buchstaben ECCEHOMO unter dem Bild waren entstellt.

»Hat das ein Vierjähriger gemalt?«, mokierte sich Fournier. »Ha, seht euch das an … Eine Homo-Geschichte oder was? Ist das ein Schwulenheim?«

Er brach in Gelächter aus. Seine Frau ebenfalls, dann Henri. Vor Freude kamen ihnen fast die Tränen. Ich sah mir den Verzerrten meinerseits an, und dann musste auch ich lachen, lauter noch als sie.

Wäre ich zu Hause geblieben, wäre nichts passiert. Die Krankheit wäre durch mich hindurchgegangen, ohne mir etwas anzuhaben. Sie hätte sich ein paar Straßen weiter einen anderen Trottel gesucht, an denen mangelte es in unserer Wohngegend nicht. Aber ich hatte rausgemusst. Hatte über irgendetwas lachen müssen. Wie Ahasver, dieser Schuhmacher, der nach der Legende Jesus auf seinem Kreuzweg verspottete. Ahasver war fortan zur ewigen Wanderschaft auf Erden verdammt.

Man lacht nicht ungestraft über das Elend eines Menschen.

Am nächsten Tag, es war der Tag der Rückkehr meiner Eltern, wachte ich mit einem merkwürdigen Gefühl auf. Ein vorzeitiges Symptom, unerklärlich. Ich schleppte mich nackt vor den Spiegel. Zunge normal. Wacher Blick. Keine körperlichen Anzeichen für mein Unwohlsein. Das Einzige, was nicht stimmte, war das Übliche: mein Schnurrbart, der partout nicht wachsen wollte, und, schlimmer noch, meine Hänflingsschultern. Dabei trainierte ich jeden Morgen nach einem Handbuch der Kalisthenie, das ich auf dem Postweg erworben hatte. Mit seinen zahlreichen Abbildungen versprach es, mich in weniger als neunzig Tagen – bei Nichtzufriedenheit Geld zurück – in einen Hünen zu verwandeln, der imstande sei, einem jeden Flegel, der am Strand eine Frau belästigte, mit lockerer Hand Manieren beizubringen. Die Frau auf dem letzten Bild sah sehr dankbar aus.

Im Anschluss an meine gymnastischen Übungen setzte ich mich ans Klavier. Ich suchte nach dem Rhythmus, den ich am Tag zuvor gehört hatte, dem Rhythmus der Stones. Alle waren der Meinung, ich spielte gut. Für die Abschlussfeiern in der Schule holte man mich gern auf die Bühne, die Mädchen warfen mir Blicke zu. Aber nicht alle hatten den alten Rothenberg gehört. Wenn er an den Tasten saß, erzählte er vom lieblichen Rhein an einem Frühlingsabend, von den Wiener und Heiligenstädter Nächten, vom Blau des Feuerwerks, vom Schwarz der Verzweiflung, von der herabfallenden Stille, von allem, was Ludwig ihm anvertraut hatte. Ich dagegen erzählte nur von meinem Mittelmaß.

Gegen fünf Uhr läutete Monsieur Albert. Der Sekretär meines Vaters hatte angeboten, meine Eltern in Le Bourget abzuholen, und mir vorgeschlagen, ihn zu begleiten. Wir kamen so rechtzeitig hin, dass wir uns unterm warmen Wind an den Rand der Landebahn stellen konnten, um dem Anflug der Sud Aviation Caravelle SE 210 zuzusehen. Wie alle Jugendlichen meines Alters hatte ich eine Leidenschaft für Flugzeuge. Ich schnurrte die technischen Daten herunter: »Triebwerk Rolls-Royce Avon, Verdichtungsverhältnis 7,45 zu 1, Massenstrom 68 Kilogramm pro Sekunde.« Monsieur Albert nickte, er verstand nichts davon. Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Das Flugzeug schwenkte herein.

Mich überkam ein Unwohlsein. Durch nichts zu erklären. Ich hörte den zweiten Satz aus der Klaviersonate Nr. 8, das schwöre ich. Hörte sie, als würde Ludwig sie spielen, mit Rhythmus, so schön war die Caravelle im Glanz der untergehenden Sonne, sanft versinkend in einem Traum aus stählernen Nieten, während die Musik mich übers Geländer beugte, ich war schweißnass. Und ebenso sanft touchierte die Caravelle den Boden, brach entzwei, einfach so, ohne Grund, riss vor unseren Augen auseinander, der vordere Teil hier, der hintere da, und verwandelte sich in einen gigantischen Feuerball. Vollkommen rund, so rund, dass ich es noch heute spüre, wenn ich aufwache und mit den Händen eine Schale forme, um diese Kugel zu fassen, sie zu halten, denn ich weiß, dass genau in dem Moment, tief in ihr drin, meine Eltern und meine unausstehliche Schwester noch leben und dass ich die Kugel auf keinen Fall loslassen darf.

MEINE JUGEND ENDETE am 2. Mai 1969 um 18 Uhr 14 in einer Polka aus Flammen und Wind. »Ein zu hoher Anstellwinkel bei zu niedriger Fluggeschwindigkeit und starkem Seitenwind hat zu einem Strömungsabriss geführt.« Die Schlussfolgerung lernte ich auswendig, ich musste sie nur mit ernster Miene aufsagen, und schon war Schluss mit der Fragerei. Das funktionierte jedes Mal, außer bei dem Psychologen, zu dem man mich dreimal schickte und den die Sache zu interessieren schien.

»Hier Fournier, ja bitte?«

Der Tod meiner Eltern lehrte mich eines: Ich hatte sonst niemanden auf der Welt. Meine Mutter war Einzelkind. Und wenn mein Vater Halbjude war, war seine Familie in den Augen der wackeren Vichy-Beamten allemal jüdisch genug gewesen. Er selbst hatte, da man in jenen Jahren Halbes nicht sonderlich mochte, nur überlebt, weil sich ein Nachbar – kein halber Kerl, sondern ein ganzer und über jeden Verdacht erhaben – bereit erklärt hatte, ihn zu verstecken.

»Madame Fournier? Joe am Apparat. Joseph.«

Schmerzlos. Das war das Erste, was die Experten und alle anderen sagten. Deine Eltern und deine Schwester haben nichts gespürt.

»Hallo, Madame Fournier? Sind Sie dran?«

»Ja. Guten Tag, Joseph. Tut mir leid, Henri ist nicht da.«

So wie die Experten auch sagten: Das ist nicht deine Schuld. Der Beweis, dass sie dummes Zeug redeten.

»Nicht da? Aber Sie hatten doch gesagt, ich soll heute anrufen. Wann kommt er wieder?«

»Das weiß ich nicht. Er kann ja zurückrufen.«

Henri. Mein bester Freund.

»Ich bin dauernd woanders. Außer in der ersten Woche, da war ich im selben Heim, aber er hat vergessen, mich anzurufen.«

Wir hatten es uns geschworen.

»Ja. Gut. Einverstanden. Dann also auf Wiedersehen, Joseph.«

Genau das war der Moment. Nicht, als das Flugzeug abstürzte. Nicht, als meine Eltern und Inès sich in Luft auflösten, Hand in Hand – ich hoffte, sie hatten sich an den Händen gehalten. Nicht, als ich zum ersten Mal bei fremden Leuten schlief. Erst als Madame Fournier einfach den Hörer auflegte, wurde es mir klar. Ich war krank. Von allen Flüchen der Propheten, von allen Seuchen, die über die Erde kommen, hatte ich erwischt, was das Schlimmste war. Ich war verwaist, so wie man aussätzig ist, schwindsüchtig, pestkrank. Unheilbar. Um die Gesunden vor meinen Ausdünstungen des Schmerzes zu schützen, musste man mich fernhalten. Rein prophylaktisch, falls die Sache ansteckend war.

Zwei Monate lang reichte man mich von Aufnahmeheim zu Aufnahmeheim, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie. Auf diese Weise wurde ich schnell mit der für gewöhnliche Sterbliche unsichtbaren Hierarchie der großen Schar der einsamen Seelen vertraut. Zuerst waren da die echten Waisen, die Engel, deren Eltern tot waren, kaputt, dead. Dann die unechten: Kinder von Drogensüchtigen, Gewalttätigen oder Alkoholikern, die Eltern waren zwar nicht tot, aber unfähig, sie aufzuziehen.

Aber auch im Kreis der Engel waren wir nicht alle gleich. An der Spitze stand die Aristokratie der Waisenkinder, die Crème de la Crème: die Polizeiwaisen. Sie hatten ihre eigenen Heime, davon sprach man mit Bewunderung, im Flüsterton war die Rede von Kickertischen und Viererzimmern. Eine Stufe darunter: die Waisenkinder der Reichen. Meine Eltern waren zwar wohlhabend, aber unter solchen Umständen kommt es auf die Art des Reichtums an. Was zählte, war einzig das Gold mit Patina, wie es von Generation zu Generation weitergegeben wird. Neuere Vermögen wurden geduldet, sofern die Eltern sich um das Wohl der Nation verdient gemacht hatten. Namen mit Adelsprädikat und Kinder von Waffenhändlern oder hohen Beamten erhielten nach den Kindern von Polizisten die besten Plätze.

Dann kam der Rest. Ich. Mit unserem Wohlstand, der nach Schuhen und Matratzen roch, galt ich nicht viel, auch wenn sich mein Vater mehrmals gerühmt hatte, wie angetan irgendein Minister von seinen Fransen-Mokassins oder vom Härtegrad seiner Betten gewesen war. Ich gehörte zur breiten Masse. Zu den Waisen von Immobilienmaklern, den Waisen von Elektrikern, den Waisen mit dem herrgottsfrühen Weckerklingeln und der fehlenden Kreditwürdigkeit, den Waisen mit dem Geld, das schmutzig aussieht, weil es nicht die blaue Farbe des Blutes hat oder die Farbe der Kanonenrohre.

Wahrscheinlich hat man mich deshalb dort hingeschickt. Oder aus Versehen. Aus Trägheit. Ich habe es nie erfahren, aber was soll’s, am Ende läuft es auf das Gleiche hinaus. Ich kam an einen Ort, von dem Sie noch nie gehört haben, weil er sich nicht auf der Erde befindet. An einen Ort, von dem Sie niemals hören werden. Er ist schon lange geschlossen.

Das Waisenhaus Confinium. Ich sage geschlossen, aber bei manchen blutet es noch heute.

DIE UHRZEIT HAT IHRE BEDEUTUNG. Das Wetter ebenfalls. Wir hatten den Zug von Paris nach Toulouse genommen, begleitet von einem höheren Angestellten der Fürsorge, einem Mann mit Glatze, der nach Blumenkohl roch und die Schweißflecken unter seinen Achseln nicht verbarg. Weiter ging es mit dem Bus, er hatte unterwegs eine Panne und kam erst um Mitternacht in Tarbes an. Dort übergab Blumenkohl uns zwei Gendarmen mit dem Auftrag, uns zum Confinium zu bringen.

Mit mir reiste ein Junge, den ich nicht kannte. Etwas älter als ich, vielleicht sechzehn. Sehr groß – fast eins achtzig –, sehr dünn, Bürstenschnitt, dazu ein sich andeutender Schnurrbart, ein schönes schwarzes Versprechen, das Bewunderung abnötigte. Der Junge war nicht stumm, aber in seinem ganzen Leben habe ich nur zwei Wörter aus seinem Mund gehört, und auch das erst viel später. Die Polizisten machten das internationale Zeichen, ein sich drehender Zeigefinger an der Schläfe, plemplem. Er hatte einen Koffer aus Kunstleder dabei, den sie ihm nicht hatten abnehmen können, weil er sofort losjammerte. Der Koffer nahm den gesamten hinteren Platz im R4 ein. Obendrauf, festgebunden mit einer Kordel und mehrmals umwickelt, hockte ein alter Plüschesel. Das Tier hauchte mit einem filzigen Röcheln seine Seele aus, die rote Zunge hing ihm aus dem Maul, durch eine Wunde im Bauch quollen die fasrigen Eingeweide. Aber er klammerte sich ans Leben und Momo an ihn.

Momo war der Name meines Reisegefährten, jemand hatte ihn auf ein Schildchen am Koffergriff gekritzelt. Nur das, Momo. Auf der Rückseite stand »Hotel Intercontinental Oran«. Momo ähnelte aufs Haar einem Jungen, der am Ende unserer Straße wohnte, in der Gegend war das die einzige Familie von Pieds-noirs, Algerienfranzosen. Sie waren immer fröhlich, immer traurig, immer laut, so schlicht und geradeheraus, dass es etwas Verlockendes hatte. Madame Fournier warf diesen »Schwarzfüßen« vor, die Quadratmeterpreise zu drücken.

Die Polizisten waren sehr freundlich. Kurz vor Lourdes hielten sie an einem Restaurant für Fernfahrer, das Tag und Nacht aufhatte, und holten für uns Pommes frites. Noch heute muss ich nur einen Gendarmen sehen, und sofort bekomme ich Lust auf Pommes frites und will ihn umarmen. Als wir uns wieder auf den Weg machten, brach ein Gewitter wie beim Weltuntergang los. Ein biblischer Zorn, gerichtet vielleicht gegen mich. Wir fuhren im Schritttempo. Die Gendarmen diskutierten, umkehren oder weiter. »Weiter.« Über Funk ließ ihnen ihr Chef keine Wahl, er wollte keine zwei Jugendlichen an der Backe haben. Ich schwieg. Momo zeigte mir ein ausgebleichtes Schildchen an seinem Esel, nahe der Bauchwunde: Asinus, das war gerade noch zu erkennen. Das Kuscheltier stank. Ein Geruch nach niemals gewaschener Traurigkeit, nach Frachtraum, nach Samstagen, die das Meer nicht mehr sehen sollten.

»Das ist nur übergangsweise«, hatte mir kurz vor der Abfahrt ein bärtiger Mann in seinem orangefarbenen Büro gesagt. »Du bleibst so lange dort, bis wir eine Familie für dich gefunden haben. Das geht schnell, wirst sehen.«

Die Nacht brodelte. Schwappte über die Berge, floss talwärts. Ab und zu fixierte ein Blitz eine silberhelle Welt. Die schwarzporigen Wände einer Schlucht. Einen bewaldeten Hang. Weiter im Schritttempo. Momo lächelte immerzu, er sah etwas Lustiges, für unsere Augen noch unsichtbar. Manchmal begegneten sich unsere Blicke. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sagen: Warte, nur noch ein bisschen, nach der Steigung, nach der Aufregung, nach dem Gewitter, dann siehst du es, wirst es verstehen, das ist wirklich lustig. Ich bin jetzt neunundsechzig und warte immer noch, aber vielleicht bleiben mir ja noch ein paar Hänge hinauf.

Der Wagen hielt an – ein Steinschlag, die Straße war blockiert. Einer der Gendarmen stieg aus und räumte schimpfend den Weg frei. Der andere schaltete das Radio ein.

21. Juli 1969. Später erfuhr ich, so wie die ganze Welt, dass es 2 Uhr 56 Universalzeit war. Ein Nebel von Interferenzen. Dann eine Stimme auf Englisch, die verstand ich, weil mein Vater fließend Englisch sprach. Die Stimme von Neil Armstrong.

»Offenbar ist die Oberfläche sehr feinkörnig, fast wie Pulver«, übersetzte ein französischer Kommentator.

Apollo 11. Die Live-Übertragung auf dem ganzen Planeten. Ich hatte den Flugplan studiert, sogar Rothenberg davon erzählt. Mein Vater hatte mir versprochen, dass ich an dem Abend aufbleiben dürfte, die ganze Nacht. In dieser Nacht, in der wir unter Einsatz von Schubdüsen und Nachbrennern die Grenze der Finsternis hinausschieben würden.

»Monsieur, könnten Sie den Ton lauter stellen?«

»Sergent«, korrigierte mich der Polizist.

Aber er kam meiner Bitte nach, es interessierte ihn genauso wie mich. Sein Kollege war wieder zurück, mit einer Hundelaune. Er saß über das Lenkrad gebeugt und versuchte, uns nicht in den Graben zu befördern. Auf der Windschutzscheibe der strömende Regen, Fluten in Erwartung eines Moses. Der Mond war ihm schnuppe.

»I’m going to step off the LM now.« Ich hielt mich an der englischen Stimme fest. Ich verlasse jetzt die Landefähre. Stille, Knistern. Dann der Satz, der mir sagte, dass ich nicht allein war. »That’s one small step for a man«, Pause, Neil dachte nach, oder er tat vielmehr so, da er seinen Spruch vorbereitet hatte, »one giant leap for mankind.« Ein kleiner Schritt für einen Menschen …

Der Fahrer schaltete das Radio aus.

»Nein!«

Ich hatte laut protestiert, alle sahen mich merkwürdig an. Selbst Momo, der kurz eingenickt war.

»Wir sind da«, verkündete der Fahrer. »Alle aussteigen.«

Wir waren sofort klatschnass. Weit vor uns ein Tor im Regen. Ohne irgendein Gebäude, ein blasses Rechteck in einem gewaltigen Wasserspektakel. Momo rannte los, schützte seinen Esel. Die Polizisten merkten, dass ich nicht hinter ihnen war. Der Sergent machte kehrt, triefend, wütend, bis zu den Knöcheln im Schlamm.

»Beweg dich, verdammt noch mal! Was stehst du im Regen rum wie der letzte Depp?«

Ich konnte ihm nicht sagen, wieso ich im Regen rumstand wie der letzte Depp. Konnte ihm nicht erklären, dass ich mich zurückhalten musste, um nicht zum Himmel zu schreien, über das Gewitter hinaus, aus Leibeskräften zu schreien und Armstrong zu fragen, ob er nicht zufällig am Rand eines Kraters meinen Eltern und meiner unausstehlichen Schwester begegnet war.

Ein grobschlächtiger Mann um die fünfzig, ohne Hals und mit weit auseinanderstehenden Augen, führte uns in die Tiefen des Hauses. Im Inneren roch es nach Lernen, nach Gebeten, an die Wände geklatscht und dort getrocknet und nie erhört. Vor mir, auf Momos Koffer, hüpfte Asinus. Sein ranziger Geruch stieg mir in die Kehle und vermischte sich mit dem Mief von Schweiß und Tabak unseres Führers. Alles drehte sich, beinahe hätte ich die Fritten auf den Gang gekotzt. Der Typ machte Licht mit einer Art Schlüsselanhänger, einem lächerlichen Spielzeug, das irgendwie von selbst leuchtete – die Sicherungen waren durchgebrannt.

Er brachte uns zu einem großen Schlafsaal, der Raum ähnelte einer Krypta und war in der Mitte geteilt von einem Vorhang aus Samt. Dutzende von Betten reihten sich wie Gräber aneinander, obenauf jeweils eine Grabfigur. Die Figuren schnarchten.

»Du hierhin«, sagte er zu Momo. »Und du dahin. Ich will keinen Ton hören.«

Momo legte sich aufs Bett, ohne seine Schuhe auszuziehen. Seine Füße ragten heraus.

»Worauf wartest du?«, brummte der Typ mich an. »Auf die Sintflut? Die ist schon da. Also ab ins Bett, sonst werden wir keine Freunde.«

Das Leuchtding verlosch, die Schritte entfernten sich. Ich erinnere mich noch gut an diese Nacht, an meine Ankunft im Confinium. Erinnere mich an das Geräusch, das fast ein Jahr lang den Rhythmus meines Lebens bestimmen sollte. Eine ferne, dumpfe Erschütterung, ein seltsames Bum, Überschallknall, alle dreißig Minuten grub es sich mir in die Brust, und mir war, als bekäme ich keine Luft mehr. Als hätte etwas die Atmosphäre zerrissen, die Luft aus der Welt gelassen wie aus einem Ballon. Man musste den Atem anhalten, und alles wurde wieder normal.

Ich schaute zu dem Bett neben mir. Es war leer. Zumindest lag niemand darauf. Eine Sekunde später sah ich, dass jemand darunter lag, fast verschluckt von der Dunkelheit, ein rothaariger Junge in meinem Alter mit einem länglichen Gesicht wie eine Amphore. Er legte den Finger an die Lippen, pst, und schlief wieder ein.

One giant leap for mankind.