Hundert Millionen Jahre und ein Tag - Jean-Baptiste Andrea - E-Book

Hundert Millionen Jahre und ein Tag E-Book

Jean-Baptiste Andrea

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Prix Goncourt-Preisträger 2023. »Jean-Baptiste Andrea gilt in Frankreich als einer der vielversprechendsten Autoren seiner Generation.« DER SPIEGEL

Jean-Baptiste Andrea erzählt eine unvergessliche Geschichte vom Lebenstraum eines Mannes, die in einem Dorf in den Pyrenäen beginnt und in die Bergwelt der französischen Seealpen führt. Ein zauberhaft schönes Buch über Freundschaft, Hoffnung und den Glauben an sich selbst.

Sommer 1954. Stan verfolgt eine unspektakuläre Karriere als Paläontologe an der Pariser Universität. Seit Kindertagen schon, als er vierzig Jahre zuvor in dem Dorf in den Pyrenäen ein Fossil fand, hofft er darauf, dass etwas Großes in seinem Leben geschieht. Nun hört er von einer Geschichte, die ihn nicht mehr loslässt: von einem »Drachen«, einem riesigen Dinosaurierskelett, das tief in einem Gletscher eingeschlossen sein soll. Was, wenn er endlich die Entdeckung seines Lebens macht? Und so fährt der Universitätsprofessor in die französischen Seealpen. Gemeinsam mit seinem Freund Umberto, dessen Assistenten sowie einem alten Bergführer bricht er an einem Sommertag auf. Aber Stan ist kein Bergsteiger. Und die Zeit drängt. Während Kälte, Höhe und Einsamkeit die Grenzen zwischen Entschlossenheit und Wahnsinn verschwimmen lassen, wird die gefährliche Suche nach den ausgelöschten Kreaturen der Erde immer mehr zu einer Reise in Stans eigene Vergangenheit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 203

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Sommer 1954. Stan verfolgt eine unspektakuläre Karriere als Paläontologe an der Pariser Universität. Seit Kindertagen schon, als er vierzig Jahre zuvor in dem Dorf in den Pyrenäen ein Fossil fand, hofft er darauf, dass etwas Großes in seinem Leben geschieht. Nun hört er von einer Geschichte, die ihn nicht mehr loslässt: von einem »Drachen«, einem riesigen Dinosaurierskelett, das tief in einem Gletscher eingeschlossen sein soll. Was, wenn er endlich die Entdeckung seines Lebens macht? Und so fährt der Universitätsprofessor in die französischen Seealpen. Gemeinsam mit seinem Freund Umberto, dessen Assistenten sowie einem alten Bergführer bricht er an einem Sommertag auf. Aber Stan ist kein Bergsteiger. Und die Zeit drängt. Während Kälte, Höhe und Einsamkeit die Grenzen zwischen Entschlossenheit und Wahnsinn verschwimmen lassen, wird die gefährliche Suche nach den ausgelöschten Kreaturen der Erde immer mehr zu einer Reise in Stans eigene Vergangenheit.

Autor

JEAN-BAPTISTEANDREA, Jahrgang 1971, ist ein französischer Romanautor und Filmemacher. Er wurde 2023 für den Roman Veiller sur elle mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und gilt »in Frankreich als einer der vielversprechendsten Autoren seiner Generation« (DERSPIEGEL). Andrea wuchs in Cannes auf, später zog er nach Paris und machte dort seinen Abschluss in Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Seine beiden Romane Meine Königin und Von Teufeln und Heiligen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

JEAN-BAPTISTE ANDREA

HUNDERT MILLIONEN JAHRE UND EIN TAG

Roman

Aus dem Französischen von Thomas Brovot

Die französische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Cent millions d’années et un jour bei L’Iconoclaste, Paris.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Jean-Baptiste Andrea dankt dem Istituto Culturale delle Comunità dei Ladini Storici delle Dolomiti Bellunesi – Istituto Ladin de la Dolomites, Borca di Cadore.

Erstveröffentlichung Mai 2024

Copyright © 2019 L’Iconoclaste, Paris

Copyright © der deutschen Ausgabe 2024 btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: buxdesign | München unter Verwendung

eines Motivs von © Ruth Botzenhardt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten.

Klü · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26040-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für meine Eltern

SOMMER

ICHWERDEVIELESVERGESSEN, das bleibt nicht aus, vielleicht sogar meinen eigenen Namen. Nie vergessen aber werde ich mein erstes Fossil. Es war ein Trilobit, ein kleiner mariner Gliederfüßer, der von niemandem etwas gewollt hatte, als ich eines Frühlingstages auf ihn krachte. Eine Sekunde später waren wir Freunde fürs Leben.

Seine Gefährten und er, erzählte er mir, als ich alt genug war, um es zu verstehen, hatten mehrere Massenaussterben überlebt. Lava und Säure, Sauerstoffmangel, einen herabstürzenden Himmel. Doch eines Tages mussten sie sich geschlagen geben, mussten anerkennen, dass ihre Zeit vorbei war, und sich zurückziehen, tief eingekuschelt in einen Stein. Sie hatten die Niederlage hingenommen und anderen den Platz überlassen.

So ein anderer war ich, ein Homo sapiens in zu großen Hosen, aufrecht im hohen Gras eines noch jungen Jahrhunderts. Auf der Gemeindeschule hatte die Lehrerin mich an diesem Morgen des Jahres 1908 nach Hause geschickt, weil ich sie verbessert hatte. Pépin war nicht der Name eines französischen Königs, wie sie behauptete. Das war der Name eines Hundes, meines Hundes, eines blauen Schäferhundes, den wir in der Scheune gefunden hatten. Er beschützte uns vor den bösen Geistern und den streunenden Katzen – oft waren das dieselben, das wussten alle.

Mademoiselle Thiers hatte mir die Abbildung eines kleinen bärtigen Mannes mit Krone vor die Nase gehalten, darüber stand P-É-P-I-N, und auch wenn ich gerade erst lesen lernte, schienen mir diese Buchstaben doch ein glaubwürdiger Beweis für meinen Irrtum zu sein. Als sie meinte: »Du hast den Unterricht gestört, hast du etwas zu sagen?«, antwortete ich: »Dann habe ich eben das nächste Mal recht.« Sie schrieb mit dem Füller unverschämt in mein Heft, zweimal unterstrichen, und das lässt du mir bitte von den Eltern unterschreiben.

Ich nahm den Weg durch die Büsche nach Hause, mit meiner Opferschnute und der doppelt unterstrichenen Unverschämtheit. Von allen Jungs in der Gegend war ich der einzige, der die Schule mochte, und ich war der Beste. Was konnte ich dafür, wenn dieser König einen Hundenamen hatte?

Als ich die zugeklappten Fensterläden sah, wusste ich, dass ich meine Mutter nicht stören durfte. Dann war sie im Schlafzimmer und musste es dunkel haben, vollkommen dunkel. Der Kommandant war nicht an seinem Platz am Horizont, dort, wo unsere Felder zum Dorf hin abfielen. Nur der gute Pépin war da, oben auf einer Anhöhe, seine wachsame Jugend in den Wind geschmiegt. Er stellte sein heiles Ohr auf und musterte mich, ein bisschen wie ein König, stimmt schon, und gleich schlief er wieder ein.

Ich schnappte mir einen Hammer, ein bewährtes Mittel für viele Probleme. Nur sollte ich ihn lieber nicht in der Nähe des Hauses schwingen, und so ging ich los, quer durch ein Dickicht von Salatköpfen, immer geradeaus, bis mich auf dem Nachbaracker ein Felsbrocken stoppte. Ich stellte mir das Gesicht von Mademoiselle Thiers vor und ließ, eins, zwei, drei, meinen Racheschlag niedersausen. Der Stein brach sofort auf, als hätte er nur vorgetäuscht, er wäre ganz. Und aus seinen Tiefen schaute mir mein Trilobit direkt in die Augen, genauso überrascht wie ich.

Er war dreihundert Millionen Jahre alt und ich sechs.

»WOHIN?«

Endstation, sage ich, denn der Ort, zu dem ich unterwegs bin, hat keinen Namen mehr. Ein kleiner Weiler, verloren am Ende eines Sommertags. Kaum hat der Mann mir meine Fahrkarte gegeben, ist er unter seinem Sonnenschirm wieder eingenickt.

Vor mir geht ein Nacken hin und her, bei jeder Kurve droht er auseinanderzubrechen. Eine alte Frau. Wir sind die einzigen Fahrgäste, sie, ich und diese Höllenhitze, die durch alle Ritzen dringt, durch bröcklige Dichtungen, wacklige Schrauben, klapprige Fenster. Meine Stirn, fest an die Scheibe gedrückt, sucht vergeblich nach einer Erinnerung an etwas Frisches.

Umberto ist zur Abfahrt in Nizza nicht erschienen. Dann warte ich eben oben auf ihn. Er wird einen anderen dieser Saisonbusse mit ihren ulkigen Reifen nehmen, die an den Seiten knallweiß leuchten. Und genauso zwei Stunden hinauffahren, immer wieder überzeugt, dass die Straße nicht mehr lange weitergehen kann – ein Irrtum. Seit einem Monat habe ich nicht mit ihm gesprochen, aber er wird kommen, ganz sicher, er wird kommen, denn er ist Umberto. Und ich werde die Geduld verlieren, werde fluchen, bis er endlich eintrifft, denn ich bin ich.

Der Nacken knackt wie Reisig, die alte Frau ist über ihrer Einkaufstasche eingeschlafen. Eben noch saß ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter auf der anderen Seite des Gangs, die Beine ausgestreckt auf dem roten Leder. Ich wollte ihr die Socca schenken, die ich am Hafen gekauft hatte, schon nach den ersten Kurven war mir der Appetit vergangen. Aber sie hat meinen Kichererbsenfladen verschmäht, hat mir die Zunge rausgestreckt und die Augen verdreht, die Mutter hat mit ihr geschimpft. Ist doch nicht schlimm, gab ich ihr zu verstehen, dabei habe ich gedacht, blöde Göre. Die Mutter und das Mädchen sind vor etwa zwei Stunden ausgestiegen, hinaus in ein anderes Leben. Nur die Straße ist noch da. Und wenn oftmals alles mit einer Straße beginnt, wüsste ich gern, wer meine so kurvig gemacht hat.

Es ist eine Gegend, in der die Streitigkeiten tausend Jahre währen. Das Tal gräbt sich hinein, verliert sich wie das Lächeln eines alten Mannes. Ganz am Ende, nicht weit von Italien, nagelt eine große Zypresse den Weiler ins Gebirge. Die Häuser bilden einen Kreis, drängeln sich vor und recken ihre glühenden Ziegel, um an den Baum heranzukommen. Die Gassen sind so eng, dass man sich beim Durchgehen die Schultern aufschrammt. Hier ist der Platz rar, der Fels krallt ihn sich. Den Menschen lässt er nur Krümel.

Das Dorf ähnelt dem Foto, das ich gesehen habe, verschwommen, aufgesogen vom schlechten Papier: die grüne Nadel der Zypresse und ringsum ein ockerbraunes Geflatter wie von einem sterbenden Schmetterling. Hinter zwei Dutzend Zigarillos starren mergelige Mienen neugierig zu mir herüber. Mitten unter ihnen steht, ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft, ein Esel und hebt seinen vorwitzigen Kopf. Der Bürgermeister kommt gleich auf mich zu, mit ausgestreckter Hand und lächelnden Zahnstümpfen.

Die kleine Menge nimmt mich mit, zieht mich, schubst mich, fasst mich an, um sich zu vergewissern, dass ich tatsächlich der Professore bin, der aus Paris, denn so einen hat man hier noch nie gesehen, also scusi, woher sollten sie wissen, wie so jemand aussieht. Man bringt mir einen Kaffee, wie nur die Italiener ihn zu machen verstehen, bitterer Teer, er erinnert mich an meine Kindheit, wenn ich hingefallen bin und mir das Knie aufgeschürft habe. Erst spürt man nichts, aber dann kommt dieser Schlag, der einem die Tränen in die Augen treibt, und der Taumel der Erleichterung, wenn der Schmerz vergeht.

Ich nenne sie »Italiener«, obwohl diese Leute seit 1860 Franzosen sind, der Bürgermeister hat es seit meiner Ankunft schon dreimal erwähnt, »echte Franzosen, Professore«, und dabei hüpfte ein patriotischer Finger über seine Trikoloreschärpe. Aber sie haben nichts aufgegeben von ihrer Heimat jenseits des Gebirgskamms. Alles an ihnen erinnert an Felsgestein. Ihre Haut, ihre Hände, der Staub in ihrem Haar. Der Fels bringt sie hervor und tötet sie. Bevor hier jemand zum Maurer, Tischler, Hahnrei wird, bevor er Räuber wird, reich oder arm, ist er Bergsteiger. Wen wundert’s? Sobald ein Kind in diesen Tälern seine ersten Schritte tut, stößt es an eine Wand. Also müssen die Kleinen lernen, sie zu erklettern, sonst schaffen sie es nirgendwohin.

Frankreich, Italien, egal. Das sind nur Wörter von Kindern, die Murmeln auf einer großen Karte verschieben und sich dabei zanken. Wir sind nirgendwo, sind im Bauch der Welt, und dieser Ort gehört niemandem, gehört allein der Wissenschaft, die mich heute hergeführt hat. Gegen Abend quartiere ich mich in dem auf meinen Namen reservierten Zimmer ein, in der einzigen locanda des Dorfs. Im Zimmer hängt ein Geruch von vorzeiten. Der Mangel an Komfort könnte nicht größer sein. Die Fensterläden, ein abblätterndes Blasslila, öffnen sich auf einen umgestürzten Horizont. Senkrecht.

Unter meinem Fenster strampelt sich ein junger Hund im Schatten der Hauswand ab und wirbelt seinem Schwanz hinterher. Er weiß noch nicht, dass er ihn nicht fangen wird, dass andere es vor ihm versucht und aufgegeben haben. Ich kenne diesen Hund, meine Lippen runden sich, wollen nach ihm rufen, aber nein, woher, es ist der 16. Juli 1954, und Pépin ist seit vierzig Jahren tot.

VOREINERWOCHE habe ich die Tür meiner Wohnung hinter mir geschlossen. Aus Gewohnheit sage ich »meiner« Wohnung, aber sie war nicht mehr meine. Ich bin noch bei Madame Mitzler im sechsten vorbeigegangen und habe ihr mitgeteilt, das wär’s, ich würde gehen. Wohin denn? Das spielt keine Rolle, Madame Mitzler, nur kann ich Ihnen jetzt freitags nicht mehr die Einkäufe hochtragen, bringe Ihnen nichts mehr zum Nähen, fange die Katze nicht mehr ein, wenn Sie das Fenster aufgelassen haben, sage Ihnen nicht mehr Bescheid, wenn das Spülbecken überläuft und der Kranz an meiner Küchendecke größer wird. Sie kommen zurück? Selbstverständlich komme ich zurück, Madame Mitzler, wo denken Sie hin, aber bestimmt nicht in dieses Viertel, sondern in ein vornehmeres Quartier, eine Wohnung mit Stuck vielleicht. In ihren glasigen Augen war eine Mischung aus Bedauern und Bewunderung. Madame Mitzler wusste es anzuerkennen, wenn ein Mensch sein Schicksal in die Hand nahm.

Es regnete, eine graue getrommelte Klage, die einem unter den Kragen ging. Auf dem Weg zur Gare de Lyon kam ich an der Universität vorbei, die ich ein Vierteljahrhundert zuvor zum ersten Mal betreten hatte, damals als junger Professor für Paläontologie, voller Illusionen und fest davon überzeugt, einen Olymp zu erklimmen, aus dem alles Kleinkarierte verbannt wäre. Später musste ich erfahren, dass die Götter des Olymps kleinkarierter, grausamer und schäbiger waren als jedes Menschenwesen. Die Götter logen, klauten, täuschten, fraßen einander auf. Aber intelligent waren sie, das ja.

Das Einzige, was ich diesem Ort zu verdanken hatte, war Umberto. Eines Tages stand er unversehens in meinem Büro. Ich bekam den Schreck meines Lebens. Wie war dieser Karnevalsriese hereingekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte? Die Art, wie er sich bewegte, und sein linkisches Lächeln erinnerten an ein Kind auf Stelzen, das in einem Kostüm aus Pappmaschee unter aufwendiger Betätigung verborgener Hebel voranschreitet oder eine komische Miene zieht. Die Kurzsichtigenbrille unterstrich noch sein behäbiges Wesen. Er hatte diese Gravität der Großgewachsenen, die sich bewusst sind, dass sie mehr Platz einnehmen als jeder gewöhnliche Mensch auf unserem Planeten, der Verantwortung auch, die damit einhergeht. Man muss seine Bewegungen einschätzen können.

»Ich bin Ihr neuer Assistent, Professor.«

Umberto war zwanzig, ich fünf Jahre älter. Keiner hatte ihn mir angekündigt, außerdem hatte ich noch nie einen Assistenten gehabt und schon gar nicht einen beantragt. Niemand an der Universität wusste, was er dort machte. Man hatte seinen Namen auf einer Gehaltsliste gefunden, was genügte, um seine Anwesenheit zu rechtfertigen. Wenn man ihm Geld zahlte, musste er für irgendwas gut sein, oder? Später stellte sich heraus, dass er an einem Austauschprogramm zwischen der Universität Paris und der Universität Turin teilnahm. Nur konnten wir trotz eingehender Recherche nicht klären, wer uns in Turin abhandengekommen war.

Umberto hatte sich schnell unentbehrlich gemacht. Ich schätzte seine ruhige Anwesenheit, seine Hingabe, seine Art, wie er mich »Professor« nannte, ein Titel, den er umso mehr respektierte, als ich ihn in jungen Jahren erhalten hatte. Ganz im Gegensatz zu meinen Kollegen, die aus ebendiesem Grund die Gänsefüßchen laut hervorklingen ließen, wann immer sie ihn aussprachen. Umberto war nicht der akribischste unter den Wissenschaftlern, die ich kannte, auch nicht der intelligenteste. Aber er hatte goldene Hände. Wenn jemandem ein Ammonit unter den Fingern zerfiel, wenn der Stein sich weigerte, die Geisel in seinem Inneren freizugeben, rief man Umberto. Und sanft befreite er den Gegenstand, der uns interessierte, aus dem Griff der Zeit: ein Blatt, ein Weichtier, ein Stück Knochen, das alles mit unendlicher Langsamkeit, ohne Zweifel ein Relikt aus seiner Kindheit in den Bergen. Mehr als einmal traf ich ihn frühmorgens in seinem Büro genau so an, wie ich ihn am Abend vorher verlassen hatte. Meißel in der einen Hand, Pinsel in der anderen, erstarrt in einem Staub von Atomen. Er war nicht verheiratet, es war also egal, wo er seinen großen Kopf bettete und zuließ, dass der Schlaf ihm ein paar Stunden seines Lebens raubte.

Nach zwei Jahren sagte ich ihm, er dürfe mich bei meinem Vornamen nennen. Tausendmal versuchte ich ihn dazu zu bringen, dass er ihn Stan aussprach, das »n«, erklärte ich, müsse gegen eine Wand stoßen, aber er sagte immer Stanè, und kaum bemerkte er seinen Irrtum, hob er auf eine so ohnmächtige wie drollige Art die Hände. Schließlich lachte ich darüber.

Dann war da die Geschichte mit dem Grappa. Ich kam ins Labor, um eine Probe abzuholen. Umberto studierte Fotos von Ausgrabungen an einer Fundstätte in der Ardèche. Neben ihm eine offene Flasche. Der Alkoholgeruch knallte mir in die Nase. Lächelnd bot er mir einen Schluck an, sein Onkel, sagte er, brenne diesen Schnaps in sehr kleinen Mengen und habe ihm die Flasche geschickt, damit er sich an die Heimat erinnere, wo das Getränk sehr beliebt sei. Ich fuhr ihn an. Wie auch immer man es in Turin halte, in Frankreich und besonders in Paris und ganz besonders in diesem ehrwürdigen Institut trinke ein Forscher nicht am Arbeitsplatz. Im Handumdrehen hatte ich die Flasche des geknickten Hünen konfisziert und dann in einem Schrank vergessen.

Eines Abends fand ich sie durch Zufall wieder. Ich war noch geblieben, um einen Förderantrag auszufüllen. Die Flasche war angebrochen, wer würde es schon merken? Beim ersten Schluck erfasste mich ein Windstoß aus den Bergen, eine Arie von Hängen und Wiesenblumen, sie trieb mir die Tränen in die Augen. Ich arbeitete bis Mitternacht.

Als ich den Antrag fertig hatte, wollte ich meine Sachen packen und stand auf. Ich kippte um wie ein Sack, kopfüber ins Edelweiß, riss den Stuhl mit und ein paar der säuberlich auf meinem Schreibtisch gestapelten Unterlagen. Alarmiert von dem Lärm, kam Umberto sofort herbeigerannt. Während er die leere Flasche aufhob, prustete ich los und entschuldigte mich, denn so leid es mir tat, dieses göttliche Getränk gab mir das Gefühl, ich würde den Frühling schlürfen, ja, wirklich leid, Umberto, ich habe es dir nie gesagt, aber du bist mein bester Freund, das kannst du mir glauben, mein bester Freund, komm, lass dich umarmen, bald erhalten wir eine weitere Förderung, und das dank deinem großartigen Grappa, du hast nicht zufällig noch eine Flasche, was wollte ich sagen, ach ja, nur dank deinem großartigen Grappa, Mann, ist das schwer auszusprechen, dank deinem groß-ar-ti-gen-Grappa, egal, dank dem Grappa habe ich den Antrag fertiggekriegt.

»Den Antrag hier?«

Er schwenkte die rosa Blätter vor meinen Augen. Nur die erste Seite des Formulars war ausgefüllt. Der Rest verschwand unter Dinosauriern, Fossilien, Landschaftsskizzen. Sogar ein kleines Gedicht stand dort. Danach erinnere ich mich an nichts mehr.

Als ich aufwachte, war ich in einer Kammer, in die nie jemand hineinging, am Ende des Gebäudes, und kauerte unter einer Abdeckplane. In einer Lache neben mir schwamm mein Essen vom Vorabend. Siebenundzwanzig Jahre, ein bitterer Geschmack, die Seele wund, mein erster Kater. Nicht der letzte.

Umberto saß noch in meinem Büro, im ewigen Morgengrau der Untergeschosse, und hatte mit dem Kopf auf dem neu erstellten Antrag geschlafen. Er wollte gerade gehen, streckte seine langen Arme aus, so lang, dass sie bis an die Wände reichten, und unterbrach meine Entschuldigungen mit einem lässigen va bene. Enttäuscht über das geringe Bußmaß – der Unterricht des guten Paters Lavernhe brachte sich in Erinnerung –, erklärte ich: »An deiner Stelle wäre ich trotzdem sauer.«

»In meiner Heimat versuchen alle, unserem zio das Geheimnis seines Grappas zu entlocken. Und da kommen Sie, probieren ihn ein einziges Mal und haben alles verstanden. Mein Onkel fügt dem Traubentrester Blüten hinzu, bevor er ihn destilliert. Sie haben einen feinen Gaumen, und Sie haben Geschmack. Also nein, ich bin nicht sauer.«

Umberto ließ mich allein mit meinen Kopfschmerzen. Danach brachte er mir jedes Mal, wenn er eine neue Sendung erhielt, einen Schluck Grappa vorbei, und ich tat so, als würde ich nicht merken, dass er weiter in seinem Büro trank.

»Wohin?«

Kaum war ich an der Gare de Lyon, hatte es aufgehört zu regnen. Für mich ein Zeichen.

»Wohin?«, fragte der Mann am Schalter noch einmal.

»Nizza«, antwortete ich. Der Mann am Schalter gab mir die Fahrkarte und rief: »Der Nächste.«

VIERTAGE. Und immer noch kein Umberto. Ich gehe nicht länger zur Bushaltestelle, um auf ihn zu warten. Ich habe ihn verflucht, habe mir geschworen, noch einen Tag, einen letzten, danach gehe ich ohne ihn los, auch wenn ich genau weiß, dass das falsch ist. Alle wissen es, die Vögel, die Steine, die Heuschrecke, die auf meinem Oberschenkel sitzt und fiedelt. Ohne Umberto bin ich aufgeschmissen.

Am Morgen war das Dorf fast menschenleer, die Bewohner aufgesaugt von anderen Tälern, offeneren, florierenderen, sei es für einen Tag Arbeit, sei es für eine Woche. Manche kommen nicht wieder. Der Berühmteste von allen, die nicht wiedergekommen sind, erzählt der Bürgermeister jedem, der es hören will, ist sein Cousin aus der Familie der Capolungos, der Cousin, der nach Amerika gegangen ist und Erfolg gehabt hat in »Olly Wutt«. Zumindest schreibt das der Cousin in den langen Briefen, die er ins Dorf schickt. Und was soll’s, wenn es nicht stimmt, was soll’s, wenn er es ausschmückt und von Boulevards spricht, die so breit sind, dass man sich beim Überqueren verläuft, oder von Frauen, die niemals älter werden. Was soll’s, wenn er auf einer Baustelle fast verhungert, wenn er Steine stapelt wie alle Jungs in der Gegend. Wegzugehen ist an sich schon ein Erfolg.

Amerika kenne ich gut. Ich vermisse dieses Land. Hier ist alles nur Hitze und hingetupfter Schatten. Das Tal ist eine Wunde im Gebirge, ewige Vendetta zwischen Fels und Wasser. Es riecht nach Kirche, ein Duft von Wind in den Glockentürmen, von angelaufener Bronze, von Kreuzen im Gras. Man erwartet Stille, aber ein ewiges Tosen ermüdet das Ohr: der Wildbach, der sich am Ende hinabstürzt, umgeben von einem Minzgrün, in das moosgedämpfte Stufen führen. Man müsste verrückt sein, sich dort hinaufzuwagen.

Kinder habe ich keine gesehen. Entweder sie gehen in fernen Internaten zur Schule, oder sie werden alt geboren. Wäre ich von hier, würde ich am liebsten auch so lange wie möglich im Bauch meiner Mutter bleiben. Ich käme erst heraus, wenn kein Platz mehr für mich wäre, in zerknittertem Anzug und froh darüber, mir zwanzig oder dreißig schwindlige Jährchen unter diesen grauen Felswänden erspart zu haben. Und dann würde ich gehen, genau wie der Cousin Capolungo.

Um zehn Uhr brütet die Sonne. Eine große Platane zerlegt das Licht. Ich bin allein in der geschlossenen Faust der Berge und lehne an einem Brunnen, die Finger im Wasser. Alles um mich herum macht einen ärmlichen Eindruck, die Luft, die Erde, alles. Aber das täuscht. Durch die Jahrhunderte spricht eine Stimme zu uns, säuselt in den Spalten und im Gespinst des Windes. Es gäbe einen Schatz … Aber Schatzgeschichten gibt es viele. Also hört keiner mehr hin. Niemand glaubt daran. Niemand außer mir.

21. Juli 1954.

Das einzige Telefon im Dorf hat geklingelt, im Büro des Bürgermeisters. Der Bürgermeister, der gerade seine Hühner fütterte, ist gleich hochgerannt. Er hat sich seine Schärpe wieder umgelegt und mir die Neuigkeit persönlich überbracht. Jemand kommt mit dem heutigen Bus.

Umberto, endlich.

Mit einem hydraulischen Schnaufen setzt der Bus ihn ab, ehe es wieder hinuntergeht, auf ein Meer zu, das ich mir nach einigen Nächten hier nur ausgedacht haben kann. Mein Freund hat sich nicht verändert: derselbe Kordanzug und dieselben Wanderschuhe, über die wir vor zwanzig Jahren schon lachen mussten, es war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Niemand ähnelt so sehr einer Landschaft wie er – seinen heimatlichen Dolomiten. Umberto ist eine über die Welt geneigte Felswand, eine Anhäufung geologischer Schichten, die sich mit der Langsamkeit eines Kontinents bewegen. Ein Lächeln bricht durch die senkrechten Klüfte in seinem Gesicht. Seine riesige Hand umfasst die meine erstaunlich sanft, fast unterwürfig, obwohl auch er heute in Turin auf den hochtrabenden Titel Professore hört.

Als er zur Seite tritt und das Tal hinter seinen Schultern wieder zum Vorschein kommt, sehe ich, dass er nicht allein ist. Ein lächelnder junger Mann steht dort. Der Bus setzt langsam zurück, die große Windschutzscheibe geblendet vom Licht, und dieser goldene Hintergrund verleiht dem Jungen das dümmliche Aussehen einer aus einem Fresko gefallenen Figur. Peter, stellt Umberto ihn vor: sein Assistent an der Universität Turin.

Ich habe alles getan, um mir meine Wut nicht anmerken zu lassen. Ja, das war Wut, einer dieser guten alten, dornenreichen Wutanfälle, für die man mich kennt. Natürlich hatte ich Umberto nicht ausdrücklich gebeten, allein zu kommen, wieso auch. Ich dachte, er hätte verstanden, dass es um etwas Wichtiges geht. Eine vielleicht kindische Verschwörung, aber eben doch eine Verschwörung, und zu der nimmt man nicht den Nachbarsjungen mit, bloß weil er da ist und ein Gesicht macht, als würde er sich auf seiner Schaukel langweilen.

Ich bin auf Peter zugetreten, mit ausgestreckter Hand.

»Freut mich.«

Meine ersten Worte zu diesem Burschen waren eine Lüge.

UMBERTOHATBLAUEFINGERNÄGEL. Peter hat blaue Fingernägel, ich natürlich auch. Wir haben unsere Kindheit auf Kalkplateaus verbracht, auf allen vieren, haben Berge durchgesiebt und uns die Finger zerquetscht, wenn der Fäustel mal ausgerutscht ist. Unser heimlicher Gruß, unser Erkennungszeichen sind die fehlenden Nägel, die blau geschlagenen Spitzen, ein Blau, das mit seinen sämtlichen Tönen, Preußischblau, Kobaltblau, Stahlblau, unsere Hände in die unterirdischen Nächte eines fossilen Kontinents getaucht hat.

In der kühlen Aura des Brunnens sitzt Umberto auf einem Stuhl und hält den Henkel einer Kaffeetasse in seinem Zangengriff. Er schweigt, wartet. Ich habe ihn erst vor ein paar Wochen angerufen. Ob er mich zwei Monate begleiten könnte? Er hat nur eine einzige Frage gestellt, dieselbe wie alle Welt in letzter Zeit: »Wohin?«

Ich habe ihm von dem Felsenkessel in den Bergen erzählt. Und ihm geraten, alles so diskret wie möglich zu organisieren. Er wollte gar nicht wissen, warum, machte nur klar, dass er Mitte September zurück sein müsse, für einen harmlosen Eingriff. Ansonsten könne ich auf ihn zählen. So war er, mein Umberto.