Meine Königin - Jean-Baptiste Andrea - E-Book

Meine Königin E-Book

Jean-Baptiste Andrea

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Beschreibung

Sommer in der Provence: Der zwölfjährige Shell lebt mit seinen Eltern auf deren Tankstelle. In die Schule geht er nicht mehr, stattdessen liebt er es, mit Streichhölzern zu zündeln, schicke Autos vollzutanken und die Zapfsäulen zu polieren. Shell ist anders als andere Kinder. Als seine Eltern ihn auf eine Sonderschule schicken wollen, beschließt er, fortzugehen. In den Krieg, den er im Fernsehen immer sieht. Er will seinen Eltern und überhaupt allen beweisen, dass er kein Kind mehr ist, sondern ein richtiger Mann. Im nahe gelegenen Hochplateau hinter der Tankstelle findet Shell zwar keinen Krieg, aber dafür einen scheuen Schäfer und Viviane – ein Mädchen, das ihn verzaubert. Mit ihr scheint plötzlich alles möglich. Das Plateau wird ihr Spielfeld, ihr eigenes Reich. Doch eines Tages taucht Viviane nicht mehr auf, und Shell begibt sich auf die gefährliche Suche nach seiner neuen Freundin – dem ersten Menschen, der ihn wirklich versteht.

Meine Königin ist eine Ode an die Freiheit, an die Phantasie und das Anderssein. Mit warmherzigem Humor erzählt Jean-Baptiste Andrea von der Freundschaft zwischen zwei Einzelgängern – und davon, wie fabelhaft die Welt sein kann, wenn man sie mit etwas anderen Augen betrachtet.

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Seitenzahl: 174

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Jean-Baptiste Andrea

Meine Königin

Roman

Aus dem Französischen von Thomas Brovot

Insel Verlag

Für Berenice

Ich fiel und fiel und hatte vergessen, warum. Als wäre ich schon immer gefallen. Sterne zogen über meinen Kopf hinweg, unter meinen Füßen her, sie waren überall. Ich ruderte, wollte mich an ihnen festhalten, aber ich griff nur ins Leere. Ich wirbelte in einem Strom feuchter Luft.

Der Wind heulte zwischen meinen Fingern, alles raste, ich fühlte mich zurückversetzt in die Zeit, als wir in der Schule die hundert Meter liefen und die anderen sich ausnahmsweise mal nicht über mich lustig machten. Mit meinen langen Beinen hatte ich sie alle geschlagen. Nur jetzt waren meine Beine zu nichts nutze, sie fielen genauso wie ich. Wie die letzten Deppen.

In der Ferne schrie jemand. Ich musste mich daran erinnern, wieso ich hier war, ja, das war wichtig. Man fällt nicht einfach so, ohne Grund. Ich schaute hinter mich, aber hinten, das hieß gar nichts mehr. Alles änderte sich andauernd, so schnell, dass ich am liebsten geweint hätte.

Bestimmt hatte ich eine Riesendummheit gemacht. Das würde Schimpfe geben oder Schlimmeres, dabei konnte ich mir gar nicht vorstellen, was schlimmer war, als ausgeschimpft zu werden. Ich rollte mich zusammen, so wie ich es immer machte, wenn Macret mich verprügelte, das war ein bekannter Trick, dann tat es nicht so weh. Jetzt musste ich nur noch warten. Ich würde schon irgendwo ankommen.

Das war im Sommer 1965, im tollsten aller Sommer, und mein Sturz nahm kein Ende.

So oft hatte ich zu hören bekommen, ich sei ja zum Glück bloß ein Kind, dass es kam, wie es kommen musste. Ich wollte ihnen beweisen, dass ich ein Mann war. Und Männer, klar, die führen Krieg, das sah ich immer im Fernsehen, wenn die Tankstelle geschlossen war und meine Eltern beim Abendessen vor dem alten bauchigen Kasten saßen.

Damals kamen nicht mehr viele Autos über die Straße, an der wir wohnten und die ins Asse-Tal hinunterführte, in einem vergessenen Winkel der Provence. Unsere Tankstelle war bloß ein klappriges Schutzdach mit zwei Zapfsäulen darunter. Früher hatte mein Vater die Zapfsäulen regelmäßig poliert, aber mit dem Alter und mangels Kundschaft hatte er es aufgegeben. Mir fehlte der Glanz der Zapfsäulen. Alleine durfte ich sie nicht mehr putzen, weil ich beim letzten Mal am Ende patschnass war. Meine Mutter hatte ein Donnerwetter losgelassen: als hätte sie nicht schon genug am Hals mit einem nichtsnutzigen Mann und einem minderbemittelten Sohn. Wenn meine Mutter ihre Zustände kriegte, hielten mein Vater und ich den Mund. Stimmte ja auch, sie hatte alle Hände voll zu tun mit uns, an den Waschtagen vor allem, mit den ölverschmierten Overalls aus der Werkstatt. Und genauso stimmte es, dass ich bloß den Eimer zu nehmen brauchte, schon spritzte das ganze Wasser. Ich konnte nichts dafür, so war es nun mal.

Meine Eltern redeten nicht viel. Wir wohnten in einem Haus gleich hinter der Tankstelle, einem rechteckigen Klotz aus Betonsteinen, die mein Vater nie zu Ende verputzt hatte. Die einzigen Geräusche kamen vom Fernseher, von den Lederpantoffeln auf dem Linoleum und vom Wind, der den Berg herabgefegt kam und sich zwischen der Felswand und der Wand meines Zimmers verfing. Nur wir sprachen kaum ein Wort, wir hatten uns schon alles gesagt.

Einmal im Jahr kam meine Schwester zu Besuch. Sie war fünfzehn Jahre älter als ich, war verheiratet und wohnte weit weg. Zumindest sah es weit weg aus, wenn sie es mir auf der Landkarte zeigte. Ihr Besuch endete jedes Mal mit einem Streit zwischen den Eltern und ihr. Sie meinte, eine Tankstelle an einem so abgelegenen Ort, das wäre nichts für mich. Ich verstand nicht recht, warum, die Tankstelle war doch ganz prima, abgesehen von den schmutzigen Zapfsäulen. Sobald sie wieder gefahren war, schaute ich auf die Karte, und jedes Mal fragte ich mich, was es dort, wo sie wohnte, Besseres gab.

Irgendwann stellte ich ihr die Frage direkt. Sie strich mir übers Haar und sagte, in ihrer Stadt hätte ich Freunde in meinem Alter, Leute, mit denen ich mich unterhalten könnte. Und wollte ich nicht vielleicht eines Tages eine Frau kennenlernen? Frauen kannte ich besser, als sie gedacht hätte, aber ich sagte nichts. Meine Schwester fragte weiter: Unsere Eltern waren alt, was würde aus mir, wenn sie nicht mehr da wären? Ich wusste, wenn es von jemandem hieß, er sei »nicht mehr da«, dann für immer, er kam nicht wieder. Ich antwortete, um die Tankstelle würde ich mich schon allein kümmern, und sie tat, als würde sie mir glauben, aber ich sah genau, dass sie log. Mir war das egal. Insgeheim freute ich mich darauf, eines Tages die Zapfsäulen auf Hochglanz zu polieren.

In einem hatte meine Schwester recht. Freunde hatte ich keine. Das nächste Dorf war zehn Kilometer entfernt. Die Jungs aus der Schule hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich nicht mehr hinging. Ich sah nur die Autofahrer, die bei uns anhielten und denen ich stolz den Tank füllte, in meiner schönen Shell-Jacke, die mein Vater mir gegeben hatte. Das war, bevor Shell mitkriegte, dass wir nicht genug Benzin verkauften, wir mussten dann zu einer italienischen Marke wechseln, denen war das egal. Aber die Jacke habe ich trotzdem weiter angezogen. Die Kunden sprachen mit mir und waren sehr freundlich, oft bekam ich ein Trinkgeld in die Hand gedrückt, und meine Eltern erlaubten mir, das selbst verdiente Geld zu behalten. Wir hatten sogar ein paar Stammkunden, Matti zum Beispiel. Aber keine Freunde.

Mich störte das nicht. Mir ging es gut dort.

Weggegangen bin ich wegen einer Zigarette.

Das Tal war gerade aus einem harten Winter erwacht und auf den Sommer geprallt, da hatte es den armen Frühling zerquetscht. Ein Kunde hatte das so gesagt, ich fand das lustig, das war wie der Wind zwischen meinem Zimmer und dem Berg.

Zu den Aufgaben, die ich anvertraut bekam, gehörte auch, dafür zu sorgen, dass immer Toilettenpapier in dem Kabuff mit dem C an der Tür war – das W war abgefallen, und wir hatten es nicht wieder drangemacht, als wir herausfanden, dass es sich hervorragend als Untersetzer eignete. Toilettenpapier, na ja, das ist ein großes Wort für eine in viereckige Stücke geschnittene Zeitung, aber genau das mochte ich so gern, die Vierecke schneiden. Dabei musste ich aufpassen, dass ich nicht eine Zeitung zerschnitt, die mein Vater noch nicht ausgelesen hatte. Einmal habe ich mir dafür eine Ohrfeige eingefangen, und ich sollte die Sportseite wieder zusammenkleben. Aber dann stellte sich heraus, dass ein Kunde ausgerechnet das Blatt mit den Ergebnissen benutzt hatte. Ich bekam eine zweite Ohrfeige.

Es war zwei Uhr an dem Tag, an dem ich wegging, und bisher hatte nur ein Auto gehalten, ein blauer R4. An den R4 erinnere ich mich natürlich noch gut. Die Felswand hinter der Tankstelle glühte wie ein Stahlblech. Eine Stunde lang hatte ich Papier geschnitten und war ins C gegangen, wie wir das Klo nannten, um es reinzulegen. Ich hielt immer die Luft an in dem Kabuff, schon als kleines Kind konnte ich Gestank nicht ausstehen. Und selbst wenn tagelang niemand das C aufgesucht hatte, roch es dort unangenehm nach muffiger Erde, ein Geruch, den ich mit dem Tod in Verbindung brachte, mit dem Kompost, in dem es von allem Möglichen wimmelte und den meine Mutter um die Geranie streute, die einzige Blume auf der Tankstelle. Die Pflanze ging regelmäßig ein, aber meine Mutter ersetzte sie jedes Mal. Mein Vater konnte ihr noch so laut sagen, der Kompost würde ihre Geranie umbringen, sie hörte nicht auf ihn.

Ich wollte das Kabuff gerade verlassen, als ich eine Zigarettenschachtel bemerkte, die unters Waschbecken gefallen war. Es waren noch zwei Zigaretten drin. Ich hatte noch nie geraucht, mein Vater erzählte immer, dass er im Krieg gesehen hatte, wie ein Mann, der beim Tanken rauchte, in Flammen aufgegangen war. Eine ganze Zisterne hatte man gebraucht, um ihn zu löschen, denn kaum dachten die Feuerwehrleute, sie hätten es geschafft, stand er wieder in Flammen. Ich nehme an, mein Vater hat übertrieben, damit wir es auch wirklich kapierten. Bei uns hing ein riesiges Schild mit einer durchgestrichenen Zigarette über den Zapfsäulen.

Aber ich war weit weg von den Zapfsäulen, weit weg vom Haus, und zur Sicherheit setzte ich mich auf den kleinen Felsvorsprung hinterm Klo. Streichhölzer hatte ich dabei, die waren immer nützlich, um ein Insekt zu verbrennen. Einmal hatte ein Kunde das mitgekriegt und mich ein »grausames Arschloch« genannt, aber in der Schule, fiel mir ein, hatten wir mal lebende Frösche aufgeschnitten, einen großen Unterschied konnte ich nicht erkennen. »Selber grausames Arschloch«, hatte ich ihm geantwortet und war weinend gegangen. Da konnte er nur noch glotzen. Meine Mutter ging dann hin zu diesem grausamen Arschloch, von weitem sah ich die beiden wie wild herumfuchteln, na ja, vor allem sie. Er sagte nicht mehr viel. Am Ende blieb es dabei, der Typ fuhr wieder, und als ich sicher war, dass er mich nicht mehr sehen konnte, zeigte ich ihm meinen Po.

Ich zündete die Zigarette an wie im Western, und nach zwei Probezügen atmete ich den Rauch ein, so fest ich konnte. Das war schlimmer als an dem Tag, als ich fast ertrunken wäre, da war ich acht Jahre alt gewesen, in den letzten Ferien, an die ich mich erinnerte, wir waren zum See hochgefahren. Damals hatte eine Frau mich aus dem Wasser gezogen, aber jetzt brannte es einfach weiter in der Kehle.

Ich ließ die Zigarette los, sie fiel auf einen Haufen Kiefernnadeln. Ich wollte die Kippe austreten, aber sie sprang weg, und die Nadeln fingen an zu brennen, einfach so, mit einem sprühenden Lachen, ein einziges Rot und Gelb, das nach meinem Schuh griff. Ich schrie, meine Mutter kam herausgelaufen, mein Vater auch, er hatte sofort verstanden, was los war. Bei einem Brand hörte in der Gegend der Spaß auf. Er kam mit einem Feuerlöscher, ich hatte ihn noch nie so schnell rennen sehen, auch wenn er nicht mehr der Jüngste war. Am Ende blieb ein Fleckchen verbrannte Erde auf dem Felsvorsprung. Keine große Sache, aber es war nicht weit von den Zapfsäulen entfernt passiert. So sagte es zumindest mein Vater. »Nicht weit entfernt.« Meine Mutter fiel wie eine Furie über mich her. Ich nehme an, mein Vater hätte mich am liebsten verdroschen, aber er traute sich nicht mehr so richtig, weil ich schon groß war.

Ich schrie, ich sei kein Kind mehr, meine Mutter sagte, doch, genau das, ein Kind, und solange ich unter ihrem Dach wohnte, hätte ich zu tun, was sie sagte, wieso mir das nicht in meinen zwölfjährigen Schädel ging.

Am Abend riefen sie meine Schwester an. Ich konnte alles durch die Tür hören. Sie dachten, sie würden leise sprechen, aber da sie beide etwas schwerhörig waren, war leise fast schon laut. Sie benutzten das große Telefon aus Bakelit im Haus, das Einzige, was ich putzen durfte, weil ich es nicht kaputt machen konnte und kein Wasser dafür nötig war. Ich rieb es mehrmals am Tag mit einem Tuch ab, es glänzte wie frischer Teer, allein sein Anblick tat mir gut. Und weil ich dieses Telefon so mochte, hatte ich das Gefühl, dass sie mich doppelt hintergingen.

Sie sagten meiner Schwester, sie hätte ja recht, sie wären zu alt, um sich um ein Kind zu kümmern, ob sie nicht jemanden schicken könnte. Und dann erzählten sie ihr, ich hätte schon wieder beinahe Feuer gelegt, dabei konnte ich mich gar nicht erinnern, dass das schon mal passiert war. Darauf war es lange still, während meine Schwester etwas sagte, und ich begriff, dass man mich abholen würde. Ich wusste nicht, wann, ob morgen, in einem Monat oder in einem Jahr, aber das machte keinen großen Unterschied. Jemand würde kommen, das allein zählte.

An diesem Tag beschloss ich, in den Krieg zu ziehen.

Ich hatte einen Plan. Im Krieg würde ich kämpfen, man würde mir Medaillen geben, und wenn ich dann zurückkäme, bliebe den Leuten nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass ich ein Erwachsener war, oder zumindest fast. Im Krieg konnte man rauchen, das war im Fernsehen zu sehen, und das Beste war, dass man nicht riskierte, Feuer zu legen, weil dort schon alles in Flammen stand. Das Einzige, was mich störte, war, dass die Soldaten ein bisschen schmutzig aussahen, ich war mir nicht sicher, ob mir das gefallen würde. Wie auch immer, wenn es nicht in Tränen enden sollte, brauchte ich ein Gewehr und jeden Tag saubere Strümpfe.

Nach meiner Rückkehr würde niemand mehr davon sprechen, mich fortzubringen. Vielleicht bekam ich dann ja sogar das große Zimmer, das mit dem Blick auf die Zapfsäulen, das Zimmer für Helden. Meine Mutter brauchte es nicht, sie war kleiner als ich, und sie konnte genauso gut mein Zimmer nehmen.

Das Problem war, dass ich nicht wusste, wo es Krieg gab. Ich wusste nur, dass es weit weg war, ich hatte nämlich mal meine Mutter gefragt, und sie hatte es exakt so gesagt: weit weg.

Weit weg fing für mich auf dem Plateau an, oben auf dem Berg, der genau bis zu meinem Fenster abfiel. Um dort hinzukommen, musste man weiter talaufwärts gehen, aber es gab eine Abkürzung, einen alten Steig, den nicht mal die Jäger sich hochtrauten, weil er zu gefährlich war. Ich war ihn schon mal hinaufgestiegen, heimlich, und hatte den Blick über den Rand schweifen lassen. Ich hatte die Wiesen gesehen, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte, es sah aus wie das Meer, da konnte einem richtig schwindlig werden. An Gewitterabenden stellte ich mir danach jedes Mal vor, wie sich das Plateau dort oben in den Wolken mit Wasser bedeckte, irgendwann würde es überschwappen und uns alle mitreißen, und wenn wir dann aufwachten, säßen wir mit dem Hintern in der Asse.

Da es sowieso alle wissen, kann ich es auch gleich sagen: Bis zum Krieg bin ich nicht gekommen. Hätte ich das gewusst, wäre ich zu Hause geblieben und hätte weiter jeden Abend auf den Mistral gelauscht, der durch die Steine der Wand zu mir sprach. Eine Fortsetzung hätte es dann nicht gegeben. Aber auch keine Viviane, die Königin mit den heftigen Augen, die sprach wie alle Winde auf allen Plateaus aller Länder. Und das war besser als mein Wind auf der Tankstelle, der mir immer dieselben Geschichten erzählte. Aber dazu komme ich später, denn in dem Moment war ich Viviane ja noch nicht begegnet.

Beim Abendessen verkündete ich meinen Eltern:

»Ich gehe fort.«

Mein Vater antwortete nicht, weil seine Fernsehserie gerade angefangen hatte. Meine Mutter sagte, ich solle meine Linsen aufessen und nicht mit vollem Mund sprechen. Im Grunde war es besser so, denn wenn sie mir gesagt hätten, ich solle bleiben, hätte ich einen Rückzieher gemacht.

Trotzdem machte es mich ein wenig traurig, die Tankstelle zu verlassen. Mein ganzes Leben hatte ich dort verbracht, ich kannte nichts anderes, und es ging mir gut auf der Tankstelle. Mein Vater sagte immer, woanders sei es genauso wie hier, mal ein bisschen mehr so, mal ein bisschen mehr so, aber im Grunde gleich. Ich war aufgewachsen mit dem Geruch von Benzin und Schmieröl aus der kleinen Werkstatt, wo manchmal der Schneepflug der Gemeinde repariert wurde, und genau diese Gerüche mochte ich so sehr. Jetzt fehlen sie mir.

Früher, wenn ich aus der Schule kam, zog ich mir einen alten Overall an, den meine Mutter an den Armen und Beinen gekürzt hatte, und tat so, als würde ich meinem Vater helfen. Manchmal durfte ich ihm ein Werkzeug reichen, aber nur, weil er mir eine Freude machen wollte, denn ich gab ihm immer das falsche.

Als ich dann mit der Schule aufhören musste, blieb ihm nichts anderes übrig, als mir irgendeine Aufgabe zu geben, und so bekam ich die Erlaubnis, in meiner Shell-Jacke die Autos vollzutanken. Mama sagte, die Kunden sähen das gern, so eine Jacke, das hätte was Exklusives. Ich wusste zwar nicht, was das hieß, spürte aber, dass es etwas Tolles war, exklusiv zu sein.

Ich sagte, dass ich die Frauen ein wenig kannte, auch wenn man das nicht meinen sollte. Ich muss es einfach erzählen, es war nämlich auch auf der Tankstelle passiert, und in der Nacht, als ich fortging, musste ich an all das denken. Einmal hatte ich auf dem Felsvorsprung hinterm C gesessen und nichts weiter gemacht, mich nur mit mir selbst beschäftigt. Eine schöne Limousine war gekommen und hatte getankt, und während der Mann bezahlte, ging seine Frau zum C, aber von meinem Platz aus konnte ich durch das kleine Belüftungsfenster hineinschauen. Als sie ihren Rock anhob, erstarrte ich, und im selben Moment sah sie mich.

In meinem Kopf machte ich mich gleich aus dem Staub. In Wirklichkeit blieb ich sitzen und glotzte zu ihr hin. Ich dachte schon, sie würde schreien, aber sie lächelte, und dann schob sie die Hand zwischen ihre Beine, dorthin, wo meine Mutter sagt, dass es schmutzig ist und man nicht hinfassen darf, aber sie fasste lange dorthin und schaute weiter zu mir, und dabei sah sie aus, als würde es ihr ein bisschen wehtun. Ich weiß nicht mehr, wie lange das so ging, ich glaube, ich bin ohnmächtig geworden. Als ich die Augen wieder aufschlug, war sie jedenfalls verschwunden, und ich war ganz nass.

Das war mir schon mal passiert, als ich so eine Zeitschrift gefunden hatte, die hatten die Jäger im Wald liegen lassen, die Seiten waren vom Regen ganz gewellt. Sie war voller nackter Frauen, und da war ich auch explodiert. Ich vergrub die Zeitschrift unter einer Kiefer und ging immer wieder hin, um sie mir anzuschauen. Aber die Geschichte mit der Limousine war für mich das erste Mal mit einer richtigen Frau. Natürlich weiß ich, dass das nicht wirklich »mit« einer Frau war, aber so gut wie. Irgendwas sagte mir, dass das kein Kinderkram war, noch ein Beweis dafür, dass ich zum Mann wurde.

Und genau daran dachte ich an diesem Abend, während ich den Rucksack mit meinen Kriegssachen packte. Anziehsachen hatte ich einen ganzen Schrank voll, so viele, dass ich gar nicht wusste, welche ich nehmen sollte. Jedes Jahr kam ein großer Karton bei uns an, mit meinem Namen drauf, und er war voller Hemden, Jacken und Hosen, getragen von Cousins, die ich nie gesehen hatte. Meine Mutter änderte sie um, aber es half alles nichts, ich schwamm immer noch darin. Ich hasste diese Sachen. Sie rochen nach fremden Waschmitteln, nach weiten chemischen Landschaften, die ich nicht mochte, sie mussten zehnmal gewaschen werden, bevor ich bereit war, sie anzuziehen. Aber eine Wahl hatte ich sowieso nicht. Entweder das, oder nackt rumlaufen. Ich stopfte so viel in den Rucksack, wie ich hineinbekam.

Fehlte nur noch eins in meinem Marschgepäck, das Wichtigste: eine Waffe. Die Eltern schliefen – mein Vater schnarchte auf der Bettcouch im Wohnzimmer, meine Mutter im Schlafzimmer. Ich ging an der Couch vorbei zu dem schönen Resopalschrank, um Papas 22er herauszunehmen, mit dem er die Kaninchen schoss, und die paar Patronen, die noch in der Schachtel lagen. Ich steckte sie ein. Patronen sollte man mir besser noch welche geben für den Krieg, denn mit den paar wenigen würde ich kaum viele Feinde töten können. Und man sollte mir zeigen, wie man mit dem Gewehr umgeht. Zu Hause war mir verboten, es auch nur anzufassen, und ich wusste, wenn ich es nahm, wäre nichts mehr so wie vorher.

In dem Moment richtete mein Vater sich auf und sah mich direkt an. Ich dachte, ich würde sterben. Aber dann sackte er wieder zurück, drehte sich um und schnarchte weiter. Ich schaute auf den Boden, unter meinen Füßen war eine große Pfütze.

Ich musste mich noch mal umziehen. Dabei ging natürlich wahnsinnig viel Zeit verloren, aber schließlich öffnete ich in meinem Zimmer das Fenster. Ich brauchte mich nur hinauszulehnen und konnte den Fels berühren, und so machte ich es auch. Er war ganz kalt, die Sonne kam niemals bis dorthin. Die großen Ziffern meines Weckers hatten sich gedreht und zeigten eine Uhrzeit an, die ich nicht verstand. Ich zog mir meine Shell-Jacke über und knipste die Nachttischlampe dreimal an und wieder aus, denn wenn ich das nicht machte, bevor ich abends schlafen ging, hatte ich Angst, in der Nacht zu sterben.

Dann stieg ich über die Fensterbank. Draußen schaute ich mich ein letztes Mal um. Ich wollte mich noch einmal sattsehen an der Tankstelle, bevor ich im Kiefernwald hinter der Werkstatt verschwand.

Danach habe ich sie nur noch einmal wiedergesehen.

Ein Teufelskerl. Ein Genie. Ein helles Köpfchen. All das war ich nicht, das bekam ich immer wieder zu hören. Ich muss es jetzt einfach mal sagen: Ich bin ein wenig seltsam. Ich selber finde das nicht, aber die anderen.