Vor dem Abgrund - Michael Hirtzy - E-Book
SONDERANGEBOT

Vor dem Abgrund E-Book

Michael Hirtzy

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

SIE SIND EIN WERKZEUG. GESCHAFFEN, UM UNS ALLEN DAS LEBEN ZU ERLEICHTERN. ANPASSUNGSFÄHIG, FLEXIBEL UND GEFÄHRLICH. Fünf Studenten bekommen den Auftrag, eine revolutionäre Nanotechnologie zu prüfen. Die Studierenden wittern ihre große Chance. Bald müssen sie erkennen, dass sie und ihre Auftraggeber unterschiedliche Ziele haben. Sie gehen ihren eigenen Weg und der Erfolg gibt ihnen recht. Schnell müssen sich die fünf eingestehen, dass sie nicht alles so fest im Griff haben, wie sie es glauben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MICHAEL HIRTZY

Vor dem

abGRund

BILDER DER APOKALYPSE – TEIL 1

© 2020 Michael Hirtzy | Lorystraße 83/3/6 | 1110 Wien

1. Auflage Juli 2020

Covergestaltung und Buchsatz: Catherine Strefford | buchcover.catherine-strefford.de

Titelillustration © hxdyl / Adobe Stock und © kotkoa / Freepik

Lektorat: Marieke Kühne, textzucker e. U., Wien

Korrektorat: Magda Werderits

ISBN (eBook): 978-3-7394-9378-7

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder Ereignissen sind rein zufällig.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

JETZT

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Er starrt mit weit aufgerissenen Augen in die Kamera. Der Raum hinter ihm verschwimmt im Dunkeln. Nur schwache Umrisse sind sichtbar, Schränke, eine Tür, ein Tisch. Auf dem Display erkennt er den Schweiß auf seiner Stirn. Sein Blick rast hin und her, sein Atem geht stoßweise und die sonst gepflegten Haare stehen in alle Richtungen ab. Seine Hand zittert und mit ihr das Handy. Er bemerkt es und lehnt das Gerät an ein Glas auf dem Tisch. Dann setzt er sich ein wenig aufrechter hin und beginnt zu sprechen.

»Ich bekomme keine Verbindung. Festnetz, Mobilfunk und Internet funktionieren nicht. Das Rechenzentrum ist wie ferngesteuert. Es ist, als wären unsere Rechner neu aufgesetzt worden.«

Leise flucht er, ehe er sich besinnt und tief durchatmet. Er versucht, ruhig und gefasst zu wirken, doch seine Augen verraten ihn, zeigen die Panik.

»In den letzten fünf Minuten vor der Abschaltung ist der Datenverkehr nach außen explodiert. In jeder Sekunde wurden zig Terabyte an Daten ins Netz gejagt.«

Er überlegt einen Moment, ob er mehr sagen soll. Schließlich beendet er die Aufnahme. Er starrt immer noch Richtung Handy, doch sein Blick verliert sich in der Ferne. Er wird die Ereignisse weiterhin dokumentieren, wird alles daran setzen rauszukommen, zu überleben.

TEIL 1
ENTWICKLUNGEN

»Alle streben nach Wachstum. Der Hunger nach mehr ist grenzenlos und es ist offensichtlich, dass diese maßlose Gier, von der unsere Welt getrieben wird, viele für die Realität blind macht. Jedes Wachstum hat Grenzen, natürliche oder künstlich geschaffene. Dort, wo der Ausbreitung keine Grenzen gesetzt werden, spricht man nicht mehr von Wachstum, sondern von Krebs.«

MIRIAM MALESHA AUS EINER PRIVATEN NACHRICHT DATUM UNBEKANNT

1

STEPHANIE • 2031

»Frau Ruber, Ihre Diplomarbeit ist nicht in einer Sackgasse – sie ist tot.«

Die massive Holztür glitt ihr aus den Fingern und fiel hinter ihr ins Schloss, während der Satz in ihren Ohren widerhallte. Labners Worte trafen sie völlig unvorbereitet, obwohl ihm sein Ruf vorauseilte. Dr. Dr. Ing. Labner war ein Genie auf dem Gebiet der Robotik und Nanotechnologie. Darüber hinaus war er sozial eigenwillig, grüßte nie, vermied es, sein Gegenüber im Gespräch anzusehen, und ließ jeden, unabhängig von Alter oder Stellung, spüren, dass er ihn nicht respektierte.

Labner empfing sie in seinem Büro, das im vierzehnten Stock an der Spitze des University Towers thronte. Eine breite Glasfront hinter ihm gestattete einen atemberaubenden Blick über die Seestadt. An den Seitenwänden hingen acht Monitore, die wechselnde technische Diagramme zeigten. Ein gewaltiger Glasschreibtisch, der groß genug war, um darauf Tischtennis zu spielen, trennte die beiden.

Seine Stimme war weder aufgeregt noch verärgert, sondern ruhig und emotionslos. Er wollte Stephanie nicht verletzen – sie war ihm egal, genau wie alle anderen Studierenden. Wer zu seinem Prestige beitrug, war von Wert, alle anderen waren wertloser Ballast. Sein Gesicht zeigte nie ein Lächeln. Die kleinen Augen hinter einer schmalen, randlosen Brille waren stechend, als wollte er sie mit Blicken durchbohren.

Stephanie verharrte, unschlüssig, ob sie flüchten oder einen weiteren Schritt in seine Richtung wagen sollte.

»Planen Sie, wie Ihre Arbeit in Totenstarre zu verfallen?«

Ein weiterer verbaler Angriff, der sein Ziel nicht verfehlte und sie wie ein Messerstich traf. Er deutete widerwillig auf den Stuhl vor sich.

»Setzen Sie sich!«

Mit schnellen Schritten eilte Stephanie zum Schreibtisch und sank zitternd auf den Ledersessel, der so niedrig war, dass sie unweigerlich zu ihm aufschauen musste.

Labner fixierte sie wie ein Jäger sein Wild durch das Zielfernrohr. Wartete er auf eine Antwort? Eine Entschuldigung? Vielleicht eine Rechtfertigung? Sie bezweifelte es. Mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er neben Unfähigkeit und Faulheit vor allem Ausreden hasste.

Die Sekunden verrannen und fühlten sich wie Stunden an. Sie versuchte ihn direkt anzusehen, doch sein starrer, boshafter Blick brachte sie davon ab. Die Welt auf der anderen Seite der breiten Glasfront schien stillzustehen. Sie fühlte den Schweiß auf der Stirn und schon traf sie der nächste Satz wie ein Peitschenhieb.

»Gerade von Ihnen hätte ich mir anderes erwartet. Liegt es vielleicht daran, dass Sie zu viel Zeit mit ziellosen Bastelarbeiten verbringen, oder an Ihren langen Nächten im Campus-Café?«

Woher wusste er davon? Überwachte er seine Studierenden? Ein boshaftes Lächeln umspielte seine Lippen.

In diesen Sekunden, bevor Labner genüsslich das Ende ihrer Laufbahn verkünden würde, rasten die letzten Monate, die an diesen Punkt geführt hatten, vor Stephanies geistigem Auge vorbei.

2

STEVEN • 2029

Unter der brennenden Julisonne lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter. Er schob die verspiegelte Sonnenbrille von der Stirn und starrte verärgert nach oben, als könnte er die Sonne allein durch Willenskraft dazu bringen, sich hinter Wolken zu verstecken. Ein schweißnasses Shirt, das am Rücken klebte, war das Letzte, was er brauchte. Heute war sein Tag, heute konnte er zeigen, was er draufhatte. Die Brille glitt wieder vor seine Augen. Er würde sich den Tag nicht von der Sonne ruinieren lassen. Die letzten sechs Monate hatte er darauf hingearbeitet und jetzt würde er sein Werk präsentieren. Er richtete sich auf und verließ den Container, der als Garderobe, Aufenthaltsraum und Werkstatt jedem Team zur Verfügung gestellt worden war.

»Mensch Steven, hast du da drinnen gepennt, oder was?«, rief ihm jemand zu.

Er sah abrupt in die Richtung, aus der die Stimme kam, und im selben Moment verlor er die Konzentration. Der linke Fuß verpasste die tiefer liegende Metallstufe, rutschte ab und er kippte vorwärts. Mit wedelnden Armen versuchte er sich festzuhalten, verfehlte den Türgriff haarscharf, stolperte einen Schritt weiter und verlor endgültig den Halt. Er knallte auf den staubigen Boden und seine Sonnenbrille segelte in hohem Bogen davon.

»Scheiße!«, zischte er kaum hörbar. Halb lag, halb kniete er im Staub und fühlte sich wie ein Vollidiot, als er sich wieder aufrichtete.

»Cooler Auftritt«, hörte er und spürte eine schwere Hand, die ihm freundschaftlich auf den Rücken klopfte.

Steven wandte sich um und sah seinen Freund und Unglücksbringer Ayaz, der für den Sturz verantwortlich war. Der fünfundzwanzigjährige, übergewichtige Türke hielt ihm mit einem breiten Grinsen im unrasierten Gesicht die Hand hin.

»Ein Salto vorwärts wäre schön gewesen.«

Steven ergriff die angebotene Hand und musste grinsen. Er stand auf und schlug Ayaz auf die Schulter.

»Das war der Plan, aber weil du mich abgelenkt hast, habe ich den Absprungpunkt nicht erwischt.«

In diesem Moment weiteten sich Ayaz’ Augen und er starrte mit heruntergeklappter Kinnlade an ihm vorbei. Steven sah ihn fragend an und wandte sich dann um. Zwei Schritte hinter ihm stand eine Frau mit seiner Sonnenbrille in der Hand. Sie war das genaue Gegenteil von Ayaz – mindestens einen Meter achtzig groß, lange rote Haare, schlank und drahtig mit sichtbaren weiblichen Kurven. Sie hielt ihm seine Brille hin und sah die beiden von oben bis unten an.

»Wettbewerbsteilnehmer?«, fragte sie lässig.

Steven und Ayaz nickten und starrten sie wortlos an.

»Und sehr gesprächig, wie ich merke.«

Erst jetzt bemerkte Steven, dass er noch immer nickte. Die Hitze, die ihm in den Kopf stieg, kam diesmal nicht von der Sonne. Begleitet von einer peinlich langen Pause brachte er endlich den nächsten Satz hervor: »Ganz genau, Team TCM.«

Sie blickte ihn fragend an. »Traditionelle chinesische Medizin?«

Mist, fuhr es ihm durch den Kopf. Sechs Monate Vorbereitung und nie war ihnen aufgefallen, dass ihr Kürzel missverständlich war. »Nein, nein«, sagte er hastig, »Texas Chainsaw Massacre.«

Ihre Augen funkelten und ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. »Ah, die Herren haben einen guten Filmgeschmack. Zumindest übertrifft er den Kleidungsstil.«

Erst jetzt registrierte Steven, dass sie ihm immer noch die verspiegelte Pilotenbrille entgegenhielt. Zögerlich nahm er sie an. Bevor er eine passende Antwort fand, drehte sie sich um und entfernte sich.

Im Gehen blickte sie über die Schulter und sagte: »Bin gespannt, was euer Roboter so draufhat.«

Ayaz fand seine Sprache wieder und rief: »Wie cool war das denn! Die kennt echt Texas Chainsaw Massacre?«

Die Antwort blieb Steven im Hals stecken, denn in diesem Moment dröhnte die Stimme des Moderators aus der Arena: »Der nächste Kampf beginnt in zehn Minuten – Team Krawallbruder gegen TCM!«

Jeder Gedanke an die Unbekannte war vergessen. Ihre Zeit war endlich gekommen. Seit sechs Monaten hatten sie sich auf den Roboterwettkampf vorbereitet. Bisher waren sie nur Zuschauer gewesen, doch dieses Jahr würden sie bei den Newcomern teilnehmen. Sie wollten nicht nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern gewinnen. Zwei Jahre waren in den Bau ihres Kampfroboters und in die Entwicklung der Software geflossen. Die Vorgabe war, einen Roboter zu bauen, der die Größe von einem Kubikmeter nicht überschritt, nicht von außen gesteuert wurde und gegen andere Roboter kämpfen konnte. Dem Gewinner winkten keine akademischen Ehren, sondern ein Preisgeld von zehntausend Euro.

Die meisten Teams setzten sich aus sechs bis acht Studierenden zusammen. Steve und Ayaz hatten sich allerdings in den Kopf gesetzt, es zu zweit zu schaffen. Sie hatten einen Roboter gebaut, der aussah wie ein Ei mit Kettenantrieb. Dazu hatten sie eine Software und die passende Sensorsteuerung entwickelt. Für diese Arbeit hatten sie das Studium für sechs Monate links liegen gelassen.

Minuten später schallte die Fanfare, die den Einmarsch der Teams ankündigte, über die Arena am Rande der Seestadt. Hunderte Studierende standen rund um das kreisrunde, fünfzig Meter durchmessende, eingezäunte Areal. Bei den Zuschauern brandete Gelächter auf, als Steven und Ayaz ihren Roboter an den Startpunkt brachten. Wie sollte ein Ei auf Ketten ohne sichtbare Waffe das Monstrum auf der anderen Seite besiegen?

Der gegnerische Roboter trug denselben Namen wie das Team – Krawallbruder. Er war ein viereckiger Kasten auf Rädern, an dessen Außenseiten eine Axt, ein Schweißbrenner und ein hydraulischer Vorschlaghammer angebracht waren. Er nutzte die erlaubte Maximalgröße bis zum letzten Millimeter aus. Ihr fünfzig Zentimeter langes Kampf-Ei namens Jawbreaker wirkte dagegen wie ein Scherzartikel – genau wie sie es beabsichtigt hatten.

Ayaz prüfte ein letztes Mal die Antriebskette und den Motor, Steven startete die Software. Die Roboter mussten in der Arena selbstständig agieren. Der Wettkampf zielte also sowohl auf die Programmierkünste der Teams als auch auf deren Konstruktionsfähigkeit ab.

Ein weiterer Fanfarenstoß läutete den letzten Countdown ein. Mit lautem Getöse aus den Publikumsrängen wurden die letzten zehn Sekunden heruntergezählt. Der Countdown sprang auf null und im selben Moment hämmerte infernalische Metal-Musik aus den Lautsprechern. Die ersten Worte des Sängers begleiteten die beiden Roboter, die sich in Bewegung setzten.

Sekundenlang schienen die Maschinen unschlüssig, drehten sich hin und her, bis sie ihren Gegner wahrnahmen. Die Motoren heulten auf. Begleitet vom stampfenden Rhythmus und den Gitarrenriffs beschleunigten die beiden und rasten aufeinander zu.

Der Schweißbrenner von Krawallbruder flammte auf und ein Jubeln ging durch die Zuschauerränge. Zeitgleich grölte der Sänger aus den Boxen, wie um die Teams anzuspornen.

Krawallbruder setzte mit dem hydraulischen Hammer zum ersten Schlag an, als bei Jawbreaker eine Veränderung zu erkennen war. An der Vorderseite öffnete sich ein zwanzig Zentimeter langer und zehn Zentimeter breiter Spalt. Ein lautes Kreischen drang aus dem kleinen Ei und übertönte die Musik. Im selben Moment, in dem Krawallbruders Hammer zum ersten Mal an seine Flanke donnerte, glitt eine im Sonnenlicht gleißende Kreissäge hervor. Die Lautstärke der Musik erreichte ihren Höhepunkt und dröhnte in den Ohren.

Das Sägeblatt kam erstmals mit dem Metallgehäuse von Krawallbruder in Kontakt und Funken sprühten. Gleichzeitig erwachte der Schneidbrenner mit einem Flammenstoß zum Leben. Die Menge jubelte und verstummte plötzlich, denn die Kreissäge durchschnitt den Stahlmantel des Gegners und fraß sich weiter ins Innere von Krawallbruder. Metallfetzen flogen in alle Richtungen, Funken stoben aus dem Inneren und der hydraulische Arm mit dem Vorschlaghammer fiel krachend zu Boden. Plötzlich schoss eine Stichflamme aus Krawallbruders Mitte und signalisierte einen Volltreffer in der Gasleitung. Sekundenbruchteile später war es vorbei. Krawallbruder zerbrach in zwei Hälften.

Die Arena war erfüllt vom Kreischen der weiterlaufenden Kreissäge und vom Dröhnen der Musik. Wie eine Verabschiedung des gefallenen Kämpfers hallten die letzten Worte des Sängers über den Platz.

Schlagartig verstummte die Musik und das Publikum begann begeistert zu applaudieren. Der Jubel brandete über Steven und Ayaz hinweg, die über die Bande sprangen und die Arme in die Luft reckten – der erste Gegner war besiegt. Sie fielen sich in die Arme und blendeten die Welt um sich aus. Erst ein Aufschrei vom gegenüberliegenden Ende der Arena, gefolgt vom erneuten Kreischen der Kreissäge, riss sie in die Realität zurück.

Ayaz sah Steven erschrocken an: »Kann es sein, dass du vergessen hast …«

»… dass ich vergessen habe, Jawbreaker abzuschalten? Scheiße, ja!«, ergänzte Steven und suchte panisch das Tablet, mit dem sie den Roboter steuern konnten.

Jawbreaker schob sich durch die Trümmer von Krawallbruder. Mit ausgefahrener Kreissäge rollte er auf das nächste Hindernis zu – die Bande, die Arena und Zuschauerränge trennte. Das angebrachte Werbebanner lag bereits in Fetzen am Boden. Die Holzplatten der Bande boten der Kreissäge kein Hindernis und hüllten den Roboter in Sekunden in eine Wolke aus Staub und Spänen. Das Publikum schrie und stürmte in alle Richtungen davon. In der Mitte des Aufruhrs erkannte Steven die Rothaarige, die seine Sonnenbrille aufgehoben hatte. Sie stand seelenruhig da und schien von den ganzen Ereignissen unberührt.

Vom Schock erstarrt musste Steven zusehen, wie Jawbreaker die Barriere durchbrach. Von jedem Widerstand befreit kreischte die Säge erneut auf und der Roboter setzte seine Zerstörungsfahrt auf einer kerzengeraden Linie fort. Unverändert stand die Rothaarige da und beäugte den Kampfroboter, der zielgerichtet auf sie zurollte, interessiert. Ein Meter Sandboden und eine altersschwache Holzbank trennten sie voneinander. Die Säge senkte sich langsam auf die Höhe der Sitzfläche und fraß sich durch das Holz wie durch Butter. Wie vom Blitz getroffen hielt Jawbreaker von einem Moment auf den anderen inne und die Säge kam zur Ruhe. Völlige Stille fiel über die Arena. Der Staub senkte sich und mit lautem Knacken brach die Bank, keine zwanzig Zentimeter vor der Rothaarigen, auseinander.

Steven sah sich hektisch um. Dort stand Ayaz, der das verloren geglaubte Tablet in der Hand hielt und hektisch atmete wie ein Marathonläufer, der gerade die Ziellinie überschritten hatte.

Mit gemächlichen Schritten kam die Rothaarige auf sie zu und lächelte. »Nettes Spielzeug, das ihr da habt. Die Software allerdings scheint mir noch unausgereift.«

3

STEPHANIE • 2031

»Liegt es vielleicht daran, dass Sie zu viel Zeit mit ziellosen Bastelarbeiten verbringen, oder an Ihren langen Nächten im Campus-Café?«

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Lag Labner mit seiner Frage richtig? Sekunden verstrichen, die er sichtbar genoss. Sein boshafter Gesichtsausdruck verstärkte die nächsten Worte.

»Ich sehe, dass ich wohl richtig liege.« Hämisch grinsend lehnte er sich zurück, um den finalen Dolchstoß vorzubereiten.

Stephanie blieb weiterhin stumm und wartete darauf, wie er ihren Rauswurf formulieren würde. Tausend Gedanken kreisten ihr im Kopf und untergruben ihren verzweifelten Versuch, sich passende Worte zurechtzulegen.

Labner erhob sich. »Haben Sie angenommen, dass ich keine Ansprüche an meine Studierenden habe? Ich kenne Ihre Vergangenheit und war mir sicher, Ihre Zukunft zu kennen. Ich betreue keine Verlierer. Ich vergebe einmalige Chancen an die, bei denen ich Potenzial sehe. Trotz Ihrer Vergangenheit haben Sie die Aufnahmeprüfung als Drittbeste Ihres Jahrganges absolviert. Im Gegensatz zu anderen haben Sie Ihre Zeit nicht mit dem mehrmaligen Wechsel der Fachrichtung verschwendet, Sie haben an der Robotik festgehalten. Ich habe Sie aus dem Sumpf gezogen und Ihnen eine Chance geboten, die Sie mir mit einer Abschlussarbeit danken, die an Aussagekraft kaum zu unterbieten ist.«

Er wandte ihr den Rücken zu und blickte durch das Fenster auf den Universitätscampus und die anliegenden Bürobauten. »Ich habe Ihnen die Tore zu einer neuen Welt geöffnet. Frau Ruber, ich habe Sie aufgenommen, da ich große Stücke auf Sie gesetzt habe – ein Mädchen vom Land, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen und mit einer konfliktreichen Kindheit.«

4

STEPHANIE • 2031

Woher kannte Labner ihre Vergangenheit? Fischte er im Trüben und erwischte sie zufällig am falschen Fuß oder hatte er sie bis ins letzte Detail durchleuchten lassen?

Labner lag völlig richtig. Sie war ein Kind vom Land, aufgewachsen im geografischen und wirtschaftlichen Niemandsland – Unterstinkenbrunn, eine Stunde Autofahrt von Wien, dafür nur wenige Minuten Fußweg von der tschechischen Grenze entfernt. Für Erholungssuchende war es das Paradies im Grünen, doch für Stephanie, eine Heranwachsende, deren Freundeskreis großteils in den nahe gelegenen Städten wohnte, war es die Hölle auf Erden. Der Ort hat siebenhundert Einwohner, ein Gemeindeamt, eine Kirche, eine Dreckslacke, die sich Freibad nennt, und unzählige Sport-, Trachten- und Schützenvereine, deren Versammlungen hauptsächlich als Ausrede dienen, sich am Wochenende besinnungslos zu besaufen.

Stephanie musste sich zwingen, nicht in Tränen auszubrechen, wenn sie an ihr Zuhause dachte – an den Ort, der ihr Schutz und Geborgenheit hätte bieten sollen, für sie aber die Hölle gewesen war. Sie war in einem Vier-Generationen-Haus aufgewachsen. Ihre Urgroßeltern, erzkonservative Bauern, wohnten im Erdgeschoß. Darüber lebten ihre Großeltern, die das Haus mit dem Geld ihrer Eltern erbaut hatten. Im zweiten Stock lebten ihre Eltern – ihr Vater, ein mittelmäßig erfolgreicher Schlosser, der einen eigenen Betrieb mit zwei Mitarbeitern führte, und ihre Mutter, die halbtags in der Gemeinde arbeitete und die Einzige mit stabilem Einkommen war. Ihr hatte die Bank den Kredit gewährt, der notwendig gewesen war, um anzubauen und damit Platz für die dritte Generation zu schaffen.

Stephanie und ihre um vier Jahre ältere Schwester Lena waren in einem Umfeld aufgewachsen, in dem offen ausgetragener Streit zur Tagesordnung gehört hatte. Das hatte sie zusammengeschweißt. Sie waren durch dick und dünn gegangen und hatten sich gegenseitig Halt gegeben – bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem Lena ihren ersten Freund nach Hause gebracht hatte.

Es war ein Abend wie so viele zuvor und alle Familienmitglieder saßen gemeinsam beim Abendessen im Esszimmer. Was nach Heimatroman-Idylle klingt, war für Stephanie der alltägliche Horror. Die Stimmung war schlimmer als üblich, denn Lena war nicht pünktlich zum Abendessen erschienen und Mutter wollte warten.

Polternd schrie Stephanies Urgroßvater: »Es ist achtzehn Uhr! Um achtzehn Uhr wird Abendbrot gegessen. Das ist seit achtzig Jahren so und wird wegen dem Balg, das du nicht unter Kontrolle hast, nicht geändert!«

»Lena, sie heißt Lena und wir können wohl fünf Minuten warten! Sie hat versprochen heute dabei zu sein, um uns Armin vorzustellen«, erwiderte Stephanies Mutter.

»Armin, was ist Armin für ein Name? Klingt wie ein Vollidiot. Muss er ja sein, wenn er sich auf ein nutzloses Gör wie deine Tochter einlässt«, setzte Urgroßvater nach.

Keine Minute später war der allabendliche Streit wieder in vollem Gange. Einzig Stephanies Vater saß stumm am Tisch und kaute auf seinem Essen herum, als müsste er einen Stein zermahlen.

Genau in diesem Moment machte Lena auf sich aufmerksam. Wie lange sie und Armin schon im Raum gestanden hatten, wusste Stephanie nicht, doch Lenas Gesichtsausdruck machte klar, dass es schon eine ganze Weile gewesen sein musste. Tränen standen in ihren Augen und ihre Finger umklammerten seine. Stephanie bewunderte Armin für seine Reaktion. Er blieb vollkommen ruhig, die Beschimpfungen schienen ihn nicht zu berühren. Lena schaffte das nicht.

»Ich hasse euch!«, schrie sie und ließ die Gespräche verstummen. »Ihr seid alt und verbittert und ich wünschte, ihr würdet euch gegenseitig umbringen! Dann hätte diese ständige Streiterei endlich ein Ende. Ihr könnt mich alle mal! Ich ziehe zu Armin, das wollte ich euch heute sagen.«

Damals hatten diese Worte Stephanie eiskalt erwischt. Lena, ihr einziger Halt im Chaos der Familie, wandte sich von ihr ab.

Ihr Vater sprang auf und hämmerte mit der Faust auf den Tisch. »Wann du ausziehst, entscheide immer noch ich!«

Lenas Gesicht verlor alle Farbe, Armins Augen weiteten sich. Die sonst so ruhige und besonnene Lena zeigte plötzlich eine völlig andere Seite.

Ihr Körper straffte sich und mit bestimmter Stimme sagte sie: »Es ist mir scheißegal, was du sagst! Ich bin volljährig und mache, was ich will. Ich packe meine Sachen und gehe – jetzt, sofort!«

Ohne auf seine Antwort zu warten packte sie Armin an der Hand und zog ihn zu ihrem Zimmer. Ihr Vater schrie ihr hinterher, ihre Mutter heulte und ihr Großvater knurrte: »Dumme Frauen. Wissen nicht, wo ihr Platz ist. Das habt ihr davon, dass ihr keine Burschen bekommen habt.«

Stephanie sprang auf und folgte Lena in ihr Zimmer. Mit Tränen in den Augen schleuderte ihre Schwester alles, was sie zu greifen bekam, in Taschen, Koffer und Einkaufstüten. Stephanie stand in der Zimmertür und starrte sie ungläubig an – sie würde wirklich aus ihrem Leben verschwinden. Armin schnappte die ersten beiden Koffer und machte sich dazu auf, das Kriegsgebiet Wohnzimmer zu durchqueren, während sich Lena ihr mit feuchten Augen zuwandte.

»Es tut mir leid, Häschen. Ich kann nicht mehr. Was ich da draußen gesagt habe, damit habe ich nicht dich gemeint.« Sie schloss Stephanie in die Arme. »Ich muss hier raus, bevor ich wahnsinnig werde. Sobald ich bei Armin eingezogen bin, kannst du uns jederzeit besuchen kommen.«

Sie glaubte ihrer Schwester, dass sie ihr Angebot ernst meinte, doch beide wussten, dass ihre Eltern Stephanie nie mit dem Auto zu Lena bringen würden – und anders waren die dreißig Kilometer nicht zu bewältigen.

Zwei Stunden später war sie weg. Ab da entlud sich der Ärger nur mehr über Stephanie und das führte dazu, dass ihre beruflichen und schulischen Ambitionen wie im Sturm verflogen. Sie wollte einfach weg, egal, auf welchem Weg. Ihr einziger Halt in dieser Zeit war die Familie ihrer besten Freundin.

Andreas Familie war das genaue Gegenteil von Stephanies. Ihre Eltern waren aufs Land gezogen, um dem Stress der Stadt zu entgehen. Sie blickten auf berufliche Erfolge zurück, hatten drei Unternehmen aufgebaut, um diese nach der Geburt ihrer Tochter wieder zu verkaufen und ein ruhiges Familienleben zu führen. Wann immer es ging, verbrachte Stephanie ihre Zeit bei Andrea und fand bei ihr eine Zweitfamilie. Sie und ihre Eltern gaben ihr Rat, wenn sie nicht weiterwusste, und Kraft, wenn sie aufgeben wollte. Ein Gespräch blieb ihr besonders in Erinnerung.

Es war der erste warme Abend des Jahres und Stephanie feierte den sechzehnten Geburtstag bei Andrea. Am Vortag hatte Lena bei einem ihrer seltenen Besuche eröffnet, dass sie im fünften Monat schwanger war. Ihr Vater hatte sie angeschrien, ihre Mutter hatte geheult. Großvater hatte ihren Eltern erklärt, dass sie unfähig seien, Kinder zu erziehen, und schuld daran seien, dass seine Eltern im letzten Jahr gestorben sind.

Stephanie saß in der Dämmerung mit Andrea und ihren Eltern auf deren Terrasse und formulierte zum ersten Mal jene Frage, die ihr seit langem am Herzen lag.

»Was soll ich aus mir machen?«

Alle drei sahen sie lange an, dann beugte sich Andreas Mutter vor und legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Stephanie, wichtig ist, dass du Dinge machst, an denen du Freude hast. Es bringt dir nichts, jahrelang bis zum Umfallen zu arbeiten und am Ende zu erkennen, dass du nie deinen Weg gegangen bist. Du bist intelligent, mutig und offen. Mach etwas, für das du dich begeistern kannst. Schau auf dich und frage nicht, was andere für richtig halten.«

Andreas Vater fügte dem, mit einem Seitenblick auf seine eigene Tochter, zwei Sätze hinzu: »Wozu du dich auch entscheidest, denke dabei an eines: Es geht nicht darum, dass andere stolz auf dich sind, du machst es für dich.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und sei dir sicher, egal was du machst, du kannst uns jederzeit um Hilfe bitten.«

Andrea lachte und sprang auf. »Das hilft ihr nicht weiter. Komm, ich zeige dir, wie ich das mache. Wir schreiben Pro-und-Kontra-Listen!«

Trotz aller Listen blieb Stephanie mangels anderer Ideen erst einmal in der Schule. Nach der mit Bauchschmerzen und viel Glück bestandenen Matura stellte sie fest, dass die mit sechzehn angefangene Liste der Dinge, die sie nicht wollte, immer länger geworden war.

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass auf der No-Go-Seite nur Sachen stehen, die nichts mit Technik zu tun haben?«, fragte Andrea sie eines Abends.

Sie lag völlig richtig. Genau betrachtet waren Computer, Elektronik und Technik die einzigen Themen, bei denen es Stephanie nicht kalt den Rücken hinunterlief. In Mathematik hatte sie maturiert, weil ihr beim Gedanken daran nicht das Grausen kam. Interesse für eine bestimmte Materie zeigte sich bei ihr nicht in Begeisterung, sondern im Fehlen von Abneigung dagegen.

5

STEPHANIE • 2031

»Frau Ruber, ich habe Sie aufgenommen, da ich große Stücke auf Sie gesetzt habe – ein Mädchen vom Land, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen und mit einer konfliktreichen Kindheit.« Nach einer kurzen Pause setzte er fort. »Ich habe nicht damit gerechnet, so bitter enttäuscht zu werden.«

Er stand immer noch mit dem Rücken zu ihr und sah aus dem Fenster, seine Worte trafen sie dadurch jedoch nicht weniger. Sie zitterte vor Wut und zwang sich, die Vergangenheit beiseitezuschieben. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihr Puls raste. Für ihn war sie nichts weiter als ein kleiner, sich windender Wurm. Stephanie setzte zu einer Erwiderung an, doch wieder kam er ihr zuvor.

»Liegt Ihre mangelnde Einsatzbereitschaft und Leistung vielleicht daran, dass Sie Ihre Zeit damit verschwenden, mit Männern beim Fahrradbasteln zu flirten? Nehmen Sie sich Ihre Kommilitonin Frau Malesha als Vorbild. Sie bringt ihr Studium und einen Partner ohne unnötige Ablenkungen unter einen Hut.«

Stephanies Herzschlag beschleunigte sich und kurz glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Er schien alles über ihr Privatleben zu wissen, dabei hatte sie Ralph erst vor vier Monaten kennengelernt. Mit dem Verweis auf Miriam wurde aber klar, dass sie nicht die Einzige war, die er im Visier hatte.

In diesem Moment ließ er seine Arme sinken und drehte sich wieder zu ihr. Er beugte sich vor, stützte seine Hände auf die gläserne Tischplatte und sein Gesicht nahm einen diabolischen Ausdruck an.

»Sie bringen mich in eine unangenehme Lage. Ich müsste Sie umgehend aus dem Betreuungsprogramm entlassen. Das würde das Ende Ihrer Laufbahn an der Technischen Universität und wohl an jeder anderen respektablen universitären Einrichtung bedeuten. Nichts liegt mir ferner, als Ihre akademische Laufbahn zu beenden …«

Sie hätte fast aufgelacht und biss sich, um Zurückhaltung ringend, auf die Unterlippe. Nichts lag ihm ferner? Was für ein Hohn. Das Einzige, was er verhindern wollte, war die Blamage, dass ihm, dem Allwissenden und Unfehlbaren, ein Fehler unterlaufen war.

»… daher habe ich entschieden, Ihnen eine zweite Chance zu geben. Ihre bisherigen Ergebnisse lassen darauf schließen, dass Sie keine Theoretikerin sind. Das ist bei einer Frau nicht weiter verwunderlich.«

Wut kochte in Stephanie hoch. Wollte er damit sagen, dass Frauen sich nicht für den akademischen Betrieb eigneten? Hielt er alle Frauen für unterbelichtet? Bevor sie eine Entgegnung formulieren konnte, fuhr er fort.

»Sie verfügen über umfangreiches Wissen und die Bereitschaft, ständig Neues zu lernen. Das macht Sie interessant. Doch es scheint, dass Sie zur Theorie die Praxis brauchen, um Höchstleistungen zu erreichen. Daher habe ich ein Angebot für Sie.«

6

RALPH • 2030

Von dezentem Klingeln begleitet öffneten sich die Schiebetüren und Ralph schob sein Fahrrad in den Bikeshop, der im kleinen Geschäftsgebiet zwischen dem Universitätscampus und dem Wohngebiet der Seestadt lag.

---ENDE DER LESEPROBE---