Vorfahrt für Rentiere - Tilmann Bünz - E-Book

Vorfahrt für Rentiere E-Book

Tilmann Bünz

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Beschreibung

Die Nacht gehört den Polarlichtern - Eine Liebeserklärung an Kulturen, Menschen und die Weiten Lapplands.

Sápmi, so nennen es die Ureinwohner von Nord-Skandinavien, ist wild, einzigartig und so weitläufig, dass sogar die gigantischen Rentierherden klein wirken können.

Tilmann Bünz nimmt uns mit auf eine lange Reise mit dem Nachtzug von Stockholm bis an die Küste des Eismeeres. Wir sind dabei wenn die letzten freien Rentierherden den Weg ins Tal antreten, rasen durch den Winterwald mit der Hundenärrin Kitty, erfahren warum alle Welt so verrückt ist auf das Polarlicht und sind eingeladen bei Åsa Larsson zu Kaffee und Kuchen. Wortgewandt und einfühlsam zeigt uns Tilmann Bünz eine ebenso fremde wie wunderschöne Welt. Man möchte sofort die Taschen packen und mit eigenen Augen sehen, was er so eindrücklich beschreibt.

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Buch

Sápmi, so nennen es die Ureinwohner von Nord-Skandinavien, ist wild, einzigartig und so weitläufig, dass sogar die gigantischen Rentierherden klein wirken können.

Tilmann Bünz nimmt uns mit auf eine lange Reise mit dem Nachtzug von Stockholm bis an die Küste des Eismeeres. Wir sind dabei, wenn die letzten freien Rentierherden den Weg ins Tal antreten, rasen durch den Winterwald mit der Hundenärrin Kitty, erfahren warum alle Welt so verrückt ist auf das Polarlicht und sind eingeladen bei Åsa Larsson zu Kaffee und Kuchen. Wortgewandt und einfühlsam zeigt uns Tilmann Bünz eine ebenso fremde wie wunderschöne Welt. Man möchte sofort die Taschen packen und mit eigenen Augen sehen, was er so eindrücklich beschreibt.

Autor

TILMANN BÜNZ reist seit zwanzig Jahren als Reporter für die ARD durch die Welt. Er liebt den Norden und die Niederlande. Seine Stationen: Friedensdienst in Amsterdam, Evangelische Akademie Tutzing, Redakteur bei Tagesschau und Tagesthemen, Nordeuropa-Korrespondent der ARD, Auslandseinsätze in Tokyo, Bangkok, Washington, London. Autor von zwei Dutzend Fernseh-Features u.a. »Menschen am Rande der Welt: Lappland« (Arte) und »Hoffnung für die letzten Urwälder« (Phoenix/DW). Tilmann Bünz ist mit der Schriftstellerin Jutta Jacobi verheiratet. Sie haben zwei erwachsene Kinder und leben in Hamburg und am Rande der Stockholmer Schären.

Tilmann Bünz

Vorfahrt für Rentiere

Lappland für Anfänger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Aus Gründen der Lesbarkeit wurde auf das Gendern verzichtet. Die gewählten Formulierungen schließen alle Geschlechter ein.

Originalausgabe Februar 2024

Copyright © 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Getty Images/Dave Moorhouse

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JT · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-29588-2V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Victoria Harnesk, die mich lehrte, ihr Land zu verstehen

Bitte Tür geschlossen halten – die Orgel friert.

(Schild an der Kirchentür in Jokkmokk)

Im Winter graben sich die Rentiere so tief in den Schnee hinein, dass manchmal nur ihr Hinterteil herausragt.

(Probleme der Rentierhaltung in Finnisch Lappland)

Die Europäer wissen über die Indianer Bescheid.

Aber über die Urbevölkerung, die am Rande des eigenen Kontinents lebt, wissen sie nichts.

(Aslak Sarri, Rentierhirte aus Porjus)

Inhalt

Eine Art Liebeserklärung an Lappland

Winter: Mit dem Nachtzug in eine andere Welt

Spätwinter: Jokkmokk – Blaues Blut friert auch

Frühling: Lappland auf zwei Brettern

Frühsommer: Der große Treck

Sommer: Das Dorf, wo nur Sami wohnen

Spätsommer: Bei Bären wird gehupt

Herbst: Reisen im abnehmenden Licht

Frühwinter: Am Rande der bewohnten Welt

Glossar: Was Sie schon immer über Lappland wissen sollten

Literatur

Dank

Anmerkungen

Eine Art Liebeserklärung an Lappland

Wo sonst in Europa kann man Rentierherden in Freiheit erleben, mit der Hundenärrin Kitty durch den Winterwald rasen, das legendäre Nordlicht sehen und staunend die kalten Füße und den steifen Nacken komplett vergessen?

Wer das Weite sucht, ist hier richtig. Sápmi – so nennt die Urbevölkerung von Nord-Skandinavien ihr Land – ist einzigartig und so weitläufig, dass sogar die gigantischen Rentierherden darin mühelos verschwinden könnten.

Wer ein Buch über Europas Urvolk, die Sami, schreiben will, muss sich in ihre Welt begeben.

Nach Lappland kommt man am besten mit dem ratternden Nachtzug von Stockholm.

»Das mit der langen Dunkelheit ist nicht so schlimm«, hat Victoria uns auf den Weg mitgegeben: »Meine Großmutter hatte einen Trick. Du musst nur das elektrische Licht ausmachen, dann ist es gar nicht so dunkel.«

Die Großmutter hat recht. Wenn man den Schalter umdreht und den Augen etwas Zeit lässt, werden draußen die Umrisse von Bäumen und Hütten sichtbar.

»Bei Vollmond gehen wir manchmal um Mitternacht spazieren.« Victoria hat diese Reise oft gemacht, wenn das Heimweh sie nach Hause treibt oder die Arbeit nach Stockholm.

Die Nachfahren der Nomaden sind immer noch auf Achse. Nicht alle und nicht alle zur gleichen Zeit. Die meisten Samen wohnen heutzutage in den Großstädten Oslo, Stockholm oder Helsinki, mit allem Komfort der Zivilisation – und oft mit einem Vorrat an Rentierfleisch in der Gefriertruhe.

Für Nachschub sorgen die Herden – großzügig geschätzt etwa eine Million Tiere im ganzen Norden – oder vielmehr deren Hirten.

Man könnte denken, dass die Hirten die Herden vor sich hertreiben. Doch die Rentiere kennen selbst den Weg und ziehen wie seit ewigen Zeiten vom Winterlager in Wäldern auf die Sommerweiden ins Hochland, und die Hirten ziehen dahin, wo sie gebraucht werden.

Folgender Dialog hat wirklich stattgefunden:

Matthias Pirrak von der Rentier-Kooperative Jåhkågaska

in Jokkmokk: »Wir können uns gerne treffen. Aber dafür musst du dich bewegen. Wir sind gerade im Fjäll.«

Ich: »Und wie kommen wir dahin, bitte?«

MP: »Fahrt 150 Kilometer, immer Richtung Westen. Kurz vor Kvikkjokk ist links eine Lichtung. Sagen wir um elf? Dort wartet dann der Hubschrauber.«

Wir waren pünktlich, der Hubschrauber war pünktlich, und nach kurzem Flug landeten wir bei Vater, Sohn und Onkel Pirrak. Die schweren Vorschlaghämmer hatten sie abgestellt, sie machten eine Pause am Feuer und schoben sich dicke Scheiben von Rentierschinken mit der Messerspitze in den Mund.

Das Gehege musste repariert werden, einige Zaunpfähle waren wohl morsch geworden. Noch einen Monat, dann würden hier die Hufe von fünftausend Rentieren über die Weide donnern, immer im Kreis herum, in der Mitte die Hirten und Hirtinnen mit ihren Lassos. Bis dahin musste das Gatter – groß wie drei Fußballfelder – wieder stehen.

Dieses Buch ist eine Verbeugung vor den Menschen, die es hier oben aushalten, obwohl sie in Zeiten der Globalisierung auch wegziehen könnten: Hirten und (immer mehr auch) Hirtinnen, Windmüller, Glaziologinnen und trockene Alkoholiker, stolze Sami-Frauen, Sinnsuchende, Solowanderinnen und Sturköpfe. Es erzählt von einer Welt, die eher eine Männerwelt ist. Noch nicht ganz zu Ende zivilisiert, im Guten wie im Schlechten. Wer in beiden Welten zu Hause ist, bekommt auch die Schattenseiten mit. Der »wilde Norden« hinkt der Postmoderne in Sachen Autofahren und Ernährung (sprich Diesel und Holzfällersteaks und kein Meter zu Fuß) um gut fünfundzwanzig Jahre hinterher. Die Gemeinden sind chronisch unterfinanziert, das nächste Krankenhaus oft Hunderte von Kilometern entfernt. Aber den Prozess in der Erzgrube von Kiruna steuert eine Frau, Elin Kivinemi. Dieses Buch zeigt sie und andere starke Frauen – und Männer – von ihren uns hier eher unbekannten Seiten. Wer hätte gedacht, dass Lapplands Männer eitel sein können, wenn es um den richtigen Schuh für arktische Kälte und hüfthohen Schnee geht?

Norrland – Lappland – Sápmi

Bei genauerem Hinsehen werden manche Dinge kompliziert. Man nehme nur die Wortkombination »Wildnis in Lappland« – ein Begriff wie ein Magnet und ein Fettnäpfchen erstens Ranges.

Schwierig, von Wildnis nicht zu schwärmen, wenn man in einer kleinen Hütte mit Bollerofen die Nacht unterm Nordlicht verbracht hat, die Sterne funkelten und nur die Schlittenhunde Wache hielten. Warum sonst fährt man in diese Gegend, wenn nicht für die unberührte Natur?

Wir hatten eine Nacht in einer der schönsten Wildernis-Lodges bei Jukkasjärvi im Wald von Lappland verbracht – in Erwartung des Polarlichts – und erwähnten das bei unserer nächsten Station, einer samischen Pferdefarm in Puoltsa, ohne viel darüber nachzudenken.

»Daran ist alles falsch«, sagt Kerstin Blind Nilsson, die Besitzerin.

»Niemand hier oben sagt Lappland. Nur die Touristen. Für die Schweden ist es Norrland oder Norrbotten, eine von einundzwanzig schwedischen Regionen. Für uns Urbevölkerung ist es Sápmi, also unser Land. Und Wildnis unterstellt, dass hier keiner war, bevor die Siedler kamen. Das hätten die wohl gerne.«

Die acht Jahreszeiten

Dieses Buch gliedert sich in acht Teile. Es folgt darin den acht samischen Jahreszeiten. Was für ein Luxus für eine, mit Verlaub, doch ziemlich karge Ecke. Kommen die Samen mit Sommer, Herbst, Winter und Frühjahr nicht aus, wo doch ohnehin alles ineinanderfließt und im Juni die letzten Skifahrer den ersten Wanderern im Gebirge begegnen?

Solche Fragen kann nur einer aus dem Süden stellen, ist in Victoria Harnesks Miene zu lesen. Leises Kopfschütteln, milder Spott – und dann beginnt sie, die Wetterphilosophie der Sami zu erklären. Victoria ist unsere Gewährsfrau in der Welt der Sami. Sie ist Botschafterin ihres Volkes und Tochter eines Rentierhirten. Sie findet, dass man mit acht Jahreszeiten gerade so hinkommt. Auch die hundert Wörter für Schnee seien angemessen.

Winter: Mit dem Nachtzug in eine andere Welt

Stockholm Abfahrt 18.03 / Die allzu hart sind, brechen / Unterwegs mit Nils Holgersson / Vorfahrt für Rentiere

Winter – Dálvvie – Jahreszeit der Pflege

Im zentralen Lappland rund um Kiruna meldet sich die Sonne rund um den 11. Dezember gegen Mittag ab und kommt erst Anfang Januar wieder. Niemanden scheint das groß zu bekümmern. Ganz dunkel wird es trotzdem nicht: Es gibt einen dünnen Streifen, der es gerade über den Horizont schafft und lange Schatten wirft.

Manchmal irrt das Norrsken – das Polarlicht – über den Himmel. Tag und Nacht gleichen sich an. Die Menschen holen sich den Schlaf, auf den sie in den hellen Sommernächten verzichtet haben. Wem die Decke auf den Kopf fällt, der geht eisfischen. Zeit für Spaziergänge im Mondschein. Die Rene ruhen – sie sind im Gehege.

Stockholm Abfahrt 18:03

Erste Lektion in Lappland: nicht mit Puschen in den Speisewagen.

Zwischen den Waggons liegt der Schnee knöchelhoch.

»Ganz normal«, sagt die Köchin und wirft einen kurzen Blick auf unsere Hüttenschuhe, »ein bisschen Schnee kommt immer durch die Ritzen.«

Es ist acht Uhr abends kurz hinter Uppsala, und eine lange Fahrt liegt vor uns. Noch eintausendzweihundert Kilometer bis Kiruna.

Die Zeit könnte sich dehnen. Doch dann beginnt der junge, blonde Mann mit der kleinen Wampe, der schräg über den Gang sitzt, aus seinem Leben zu erzählen.

Es fühlt sich an wie in einem russischen Roman.

Pärvo war Koch hoch oben in einer Touristenstation, nahe am Nordlicht.

»Zwanzig Grad minus fühlen sich nach einer Weile wie zehn Grad plus an.« Pärvo ist, wie man an seinem rollenden R erkennen kann, ein Finnlandschwede – und laut Selbstauskunft trockener Alkoholiker. »Familientradition«, sagt er und grinst. Ob wir mal kurz auf sein Bier und sein Handy aufpassen könnten, er müsse austreten. Er sei gerade auf dem Weg zu einer Sauftour mit alten Kollegen, berichtet er, als er zurück ist. Und dass er eine Freundin hat, die ihn gerettet habe, als er ganz unten war, damals, als er mit siebzehn in einem Hotel in Kopenhagen strandete. Die – Krankenschwester sei sie von Beruf – möge es nicht, dass er trinke, aber ab und zu könne er eben nicht anders. Als er das sagt, sieht er nicht unzufrieden aus. Fröhlich zitiert er ein klassisches Sprichwort: »Warum sollte man seine alten Sünden bereuen, wenn man doch neue Sünden begehen könnte?« Von wem es stammt? »Ach – egal«, sagt er.

Eine junge Frau mit halbseitig geschorenem Schopf, die andere Hälfte voller blonder Locken, betritt die Bühne des Buffetwagens, hört den Monolog und sieht uns nicken. Sie mischt sich sofort ein: »Du machst mich ganz krank mit deiner Geschichte. Du bist so hübsch – du könnest fünf Kinder haben und eine schöne Frau.«

»Und was ist, wenn ich das nicht will«, sagt er.

So direkt geht es nicht immer in schwedischen Zügen zu. Doch der Nachtzug nach Kiruna macht da eine Ausnahme. Lappland war schon immer eine besondere Gegend.

Die allzu hart sind, brechen

Lappland ist etwas für Liebhaber. Das offenbart auch der Blick aus dem Zugfenster. Draußen fliegen die Fichten vorbei. Sie sind kleinwüchsig und knorrig. Die Bäume halten ihre Zweige dicht am Stamm, breiten sie nicht aus. So als ob sie frören.

Der Urwald der Arktis sieht vergleichsweise mickrig aus. Man muss ihn sich schöngucken. Keine Spur von mächtigen Kronen und breiten Stämmen oder dem, was man sich so vorstellt, wenn man an einen Urwald denkt. Einige dieser zähen Geschöpfe dort draußen am Bahndamm stemmten sich schon gegen die brausenden Winterstürme, als Mozart seine Nachtmusik komponierte.

In der Arktis wächst alles langsam, und ich muss an die Worte in Wolf Biermanns »Ermutigung« denken: »Die allzu hart sind, brechen, die allzu spitz sind, stechen.« Hier oben überlebt nur das, was sich klein machen kann und sich verkriecht wie die Bären, wenn der Winter kommt.

Aber sind das nicht auch Schreckgespinste, verbreitet von Leuten, die andere verknurren möchten, wie man in der Schweiz sagt?

»Als Kinder aus Mittelschweden dachten wir, dass es in Lappland immer kalt und dunkel ist,« erzählte uns Jessica. Auch Jessica gehört zu Lappland (und damit in dieses Buch). Sie ist keine Sami, sondern eine Zugezogene, eine aus dem Süden, die für den Job in den Norden kam und nicht mehr von dort wegwill. Nun will sie, dass wir ihre neue Welt kennenlernen.

»Niemand hat uns erzählt, dass im Sommer die Sonne monatelang nicht untergeht und man in den Seen baden kann, wenn man nicht zimperlich ist.«

Jessica wohnt so ziemlich am Ende der Bahnstrecke, in Abisko, dort, wo man das Polarlicht am besten sehen kann – und sie hat uns eingeladen mit ihr in den Himmel zu gucken.

Nach Lappland kommt man mit dem Zug, so wie einst die neuen Siedler, die Männer und Frauen und Kinder von Kiruna und Gällivare, die Grubenarbeiter, Köchinnen, Krankenschwestern und Ingenieure. In jener Zeit der Pioniere um 1900 dauerte die Fahrt von Mittelschweden bis hierher noch sechsunddreißig Stunden. Nach zwei Nächten und einem Tag in der Holzklasse tat dann das Gesäß weh. Inzwischen ist die Reise komfortabler.

Unser Zug tuckert durch die Nacht. Meine Frau Jutta – zum ersten Mal in Lappland – sagt: »Ich könnte jetzt noch tagelang weiterfahren und mich verlieren.«

Draußen hat es aufgehört zu schneien, zwischen den Abteilen ist der Schnee festgetrampelt. Halbwegs trockenen Fußes gelangen wir zurück ins Abteil. Nächstes Mal bleiben wir besser in den Stiefeln, wenn wir in den Speisewagen gehen.

Unterwegs mit Nils Holgersson

Der Morgen graut, allmählich wird es hell. Tatsächlich ist es schon nach 10 Uhr – wir nähern uns Kiruna. Eintausenddreihundert Kilometer hat sich der Zug durch eine Landschaft zwischen Taiga und Tundra gebimmelt. Die Dämmerung lässt langsam Konturen von Häusern am Bahndamm erkennen, meist sind sie, auch das erkennt man nun, ochsenblutrot mit weißen Dachkanten. Wir sind zweifelsfrei noch in Schweden.

Hier oben liegt reichlich Schnee, so viel, dass es uns zwei Lapplandfahrenden die Augen blendet, als die Sonne aufgeht. Dies ist die Gegend, wo man die dem Wind ausgesetzte Hausseite komplett einschneien lässt, weil Schnee isoliert. Es dauert eine Weile, bis man diesen Satz in seiner Tragweite begreift. Der Schnee wärmt das Haus, so wie ein Iglu seine Bewohner schützt.

Der Zug passiert eine kleine Stadt und drosselt das Tempo.

Wir sehen im Vorbeifahren einen Mann mit seiner Haustür kämpfen. Man sieht vom Mann nur den Kopf mit der Zipfelmütze aus der Tür ragen. Der Schnee liegt mindestens einen Meter fünfzig hoch. Ob es ihm gelingt, sein Haus zu verlassen?

Es gibt Winter, da hört es gar nicht mehr auf zu schneien. Dann bleibt nur der Weg aus dem ersten Stock zum Aussteigen. 2020 war so ein Winter. Sechs Meter Schnee – das ist auch für Lappland eine Menge. Für viele Tiere war es ein Hungerwinter. Ein Ren schafft es zwar, mit seinen großen Hufen Flechten in zwei Meter Tiefe auszugraben. Aber sechs Meter sind zu viel.

Winter in Lappland ist für die einen eine Verheißung. Für viele eher ein Fluch. In meinem Reisegepäck steckt ein dickes Buch, ein Wälzer von einigen Hundert Seiten, der vor über einhundert Jahren genau auf dieser Bahnstrecke geschrieben wurde, jedenfalls zum Teil. Die schwedische Autorin (und erste Nobelpreisträgerin für Literatur) Selma Lagerlöf reiste 1904 mit der Eisenbahn nach Lappland. Sie recherchierte in allen Teilen Schwedens für ein Lehrbuch der Geografie. Sie verwebte darin Ortskunde mit schwedischen Sagen so meisterhaft, dass es nach den Schulkindern auch Erwachsene verschlungen haben. Die Rede ist vom Däumling Nils Holgersson und seinen Wildgänsen, die im Sommer nach Lappland fliegen und dann im Herbst fast fluchtartig den Rückweg antreten:

»Nils Holgersson dachte auch, es sei höchste Zeit für die Wildgänse, südwärts zu ziehen, denn es war schon sehr viel Schnee gefallen; so weit das Auge reichte war die Erde ganz weiß und es war auch in der letzten Zeit im Felsental tatsächlich recht unbehaglich gewesen.«[1]

Der Winter zwingt zudem die Rentiere hinab in die Täler. Auch darüber berichtet Selma Lagerlöf, die zusammen mit ihrer Begleiterin Sophie Elkan auf eine Reise nach Norrland gegangen war und in der neuen Herberge des Schwedischen Touristenvereins wohnte, die zuvor den Bahningenieuren in Abisko als Baracke gedient hatte.

Es wurde einsam oben im Norden. Nur wenige Tiere trauten sich den Winter in Lappland zu.

»Aber als die Bären die Wildgänse sahen, zeigten sie sie ihren Jungen und brummten: seht, seht! Diese dort fürchten sich vor ein bisschen Kälte; deshalb bleiben sie im Winter nicht daheim.

Aber die alten Wildgänse blieben den Bären die Antwort nicht schuldig, sondern riefen den Jungen zu: seht, seht! Diese verschlafen lieber das halbe Jahr, als dass sie sich die Mühe machen, südwärts zu reisen!«

Vorfahrt für Rentiere

Immer wieder schreckt uns der Lokomotivführer aus dem angenehmen Halbschlaf einer langen Zugreise. Die Tiere des Waldes nutzen gerne die Wege der Menschen, wenn sie im Schnee nicht mehr vorankommen. Dann hupt sie der Zugführer von den Gleisen, und im Vorbeifahren sehen wir eine kleine Ren-Herde in den Wald verschwinden.

Hier oben gibt es noch richtiges Wetter. Wo Naturkräfte wirken, darf man sich endlich mal angemessen klein fühlen. Lappland sperrt sich gegen alles, was zu geplant ist. Im Zweifel machen Rentiere sowieso allen Plänen einen Strich durch die Rechnung.

Ein paar Jahre zuvor, auf einer Drehreise für ARTE, trabten drei Rene auf der Europastraße Kiruna Richtung Narvik und knabberten dann auf den Gleisen der Erzbahn an den letzten Halmen zwischen den Schwellen. Im Gelände kamen sie nur mühsam voran. Man sah nur noch ihr Hinterteil aus dem Schnee ragen.

Wie sollte unter solchen Umständen der Nachtzug nach und von Stockholm pünktlich sein?

Verabredungen stehen hier immer unter Vorbehalt, besonders, wenn die Temperatur auf dem Thermometer ganz tief in den Keller geht. An diesem Tag sank sie auf minus 38 Grad. Eigentlich stand ein Interview mit einem jungen Rentierhirten in der Nähe von Kiruna an. Doch der hatte uns abgesagt. Der Grund: eine Mischung aus unerträglichen Zahnschmerzen und Renen in Not. Wir glaubten ihm, er klang am Telefon zum Erbarmen. Und seine Rene seien in den Schneebergen am Verhungern, er müsse sie auf den Lkw verfrachten, ins Gehege bringen und dort zufüttern. Ob und wann er wieder Zeit habe, dazu könne er nichts sagen. Da standen wir nun ratlos am Straßenrand bei minus 38 Grad – der Schnee war so kalt, dass er nicht mehr knirschte, die Augenbrauen vereist und der verschüttete Kaffee aus der Thermoskanne gefroren, bevor er auf dem Boden anlangte – und sahen zu, wie der seit Monaten fest eingeplante Termin sich in der arktischen Luft auflöste. Lappland liegt nun nicht gerade um die Ecke. Die Entfernung zwischen Hamburg und Kiruna beträgt etwa 2500 Kilometer. Doch wenn man lange genug oben im Norden unterwegs war, weiß man, dass es nicht lohnt, sich über solche Absagen aufzuregen. Ärger ist vergeudete Energie, vor allem an Tagen klirrender Kälte, da braucht man alle Kraft zum Staunen über diese Winterwunderlandschaft.

Später dann, als wir in einen Mietwagen umgestiegen waren, entstand ein Verkehrsstau wie aus dem Nichts. Eben noch war die Europastraße E 10 leer gewesen.

Mit der Nonchalance derer, die schon immer da waren, kreuzte eine Familie von Rentieren die Trasse und brachte im Hand- beziehungsweise Hufumdrehen eine ganze Lastwagenkolonne quietschend zum Halten.

Weil das öfter vorkommt, als es irgendjemand lieb sein könnte, und weil alle Versuche, Rentiere an die Straßenverkehrsordnung zu gewöhnen, fehlgeschlagen sind, gibt es markierte Wildwechsel. Man erkennt sie an schwarzen Plastikbändern links und rechts der Fahrbahn. So einen hatten wir offenbar gerade übersehen.

Die kleine Herde trottete noch eine Weile am Straßenrand und verschwand dann in der Tundra.

Spätwinter: Jokkmokk – Blaues Blut friert auch

Der Markt verlangt nach Bargeld /Aufbruch im Autodeck / Victoria nimmt uns an die Hand / Die Socken der Sami / Blaues Blut friert auch / Mit der Kirche kam der Stress / Dann seid ihr dran / Ein Elch im Vorgarten / Wer schützt uns vor unseren Freunden? / Die Herren wollten es so / Der Lappe soll ein Lappe bleiben/ Vier Stimmen aus Kiruna / Nicht ständig auf Koks / Åsa Larsson – der gute Geist von Kiruna / Stadt auf gepackten Koffern / Die heiklen Fragen / Åsa Larsson hat einen Traum / Elin hat das letzte Wort / Das Norrland-Paradox / Behandle deine Huskys gleich – dann kommst du in das Himmelsreich / Von der Kabine in den Schlitten / Bitte nicht helfen – es ist schon schwierig genug / Für die Hunde brauch ich kein Schwedisch/ Wie man den Winter rettet / Erleichterung im Galopp / Einmal Musher sein / Der große Treck zum Nordlicht / Das blaue Loch / Später Besuch / Der erste Pilger / Bauboom / Die Stunde der Wahrheit / Hinab voll Glück / Was Sie schon immer über das Polarlicht wissen wollten / Wo es sich zeigt / Richtige Kleidung / Wo es sich nicht zeigt / Gefahr für die Wale / Fluch oder Segen / Kann man es nur im Liegen sehen? / Vorsicht Irrlichter

Spätwinter – Gijrradálvvie – Jahreszeit des Erwachens

Die Tage im Spätwinter beeilen sich, länger zu werden, jeden Tag ein paar Minuten. Das Eis trägt – auf Stauseen ist aber Vorsicht geboten. Dort sind schon ganze Herden versunken, wenn der Wasserspiegel stark absinkt.

Aus allen Ecken und Enden des Nordens strömen Menschen zum Wintermarkt in Jokkmokk, der seit 1605 am ersten Wochenende im Februar begangen wird. Am 6. Februar ist der Samische Nationaltag, ins Leben gerufen von der norwegischen Samin Elsa Laula in Trondheim 1917. Damals fand erstmals eine länderübergreifende Konferenz der Samen der drei westlichen Staaten Norwegen, Schweden und Finnland statt.

Der Markt verlangt nach Bargeld

Es ist samischer Nationaltag, und wir sind in Jokkmokk (auf Samisch »Jåhkåmåhkke«), einem Holzhausidyll am Polarkreis. Vor dem einzigen Geldautomaten bildet sich wie jedes Jahr eine lange Schlange. Der Wintermarkt verlangt nach Bargeld. Solide verpackte Fußgänger stoßen kleine Wölkchen aus, der Himmel ist so blau wie das Blau der Fahne der Samen, die an jedem zweiten Haus hängt.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Jokkmokk ist mit seinen 3500 Einwohnern zwar die Hochburg der schwedischen Samen. Aber in Zelten wohnt hier keiner mehr, jedenfalls nicht im Winter.

Jokkmokk – das war einmal ein Winterlager am Talvatis-See, mit Tausenden von Rentieren und Pferden und Dutzenden von Zelten, aus deren offenen Spitzen der Rauch quoll. Zwei Monate im Jahr gönnten sich die Nomaden des Nordens eine Ruhepause hier und in fünf weiteren Orten Lapplands. Der Rest des Landes war nicht besiedelt. Irgendwann nach der letzten Eiszeit landeten sie hier und lebten für sich und mit ihren Tieren – und wie man annehmen kann, recht einfach.

In seinem Werk Germania erzählt Tacitus, der römische Geschichtsschreiber, im Jahr 98 nach Christus von den »Fenni«, den Sami und der Romantik des einfachen Lebens:

»Sie sind arm und wild wie Tiere. Sie haben keine Waffen, keine Pferde, kein Haus. Ihre Nahrung sind Kräuter, ihre Kleidung Felle, ihr Bett ist der Erdboden. Glücklich sind sie, denn sie schwitzen nicht bei harter Ackerarbeit und mühen sich nicht ab mit Häuserbau. Sie leben nicht in Furcht um eigenes und fremdes Gut. Sie haben das Schwerste erreicht: wunschlos und zufrieden sein.«[2]

Später dann tauschten sie Felle und Fleisch gegen Silber, Salz und Kaffee bei reisenden Händlern.

Bis dann die Schweden unter Daniel Hjorth kamen, dem Gesandten des Königs, mit ihren Grenzpfählen, Kreuzen und Münzen. Das war im Jahr 1605, und seitdem gibt es alljährlich am ersten Wochenende im Februar den Wintermarkt, einen der ältesten Märkte der Welt.

Für die Sami ist es das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Winters. Jokkmokks Wintermarkt ist wohl einer der wenigen Orte, an denen die Sami in der Mehrheit sind und ihre Sprache auch heute noch pflegen. In den Straßen sieht man geparkte Autos mit Anhängern aus Inari in Finnland und Kautokeino in Norwegen oder noch weiter nördlich und östlich bis hin zur Eismeerküste hinter Murmansk.

Aus einem der Busse ist Victoria Harnesk geklettert, eine zierliche Frau mit schulterlangen dunklen Haaren und braunen Augen, Schnabelschuhen an den Füßen und dem klassischen Kolt – der traditionellen Tracht – unter der Daunenjacke. Wer allerdings mit besonders festen Vorstellungen anreist, wie echte Sami aussehen sollten, dürfte enttäuscht werden. Victoria könnte – obwohl sie niemals dort war – für eine Italienerin durchgehen.

Der Linienbus 44 aus Porjus kommt reichlich zu spät, was Victoria aber nicht sonderlich zu beschäftigen scheint. Zum Reisen gehöre auch das Warten, sagt sie. Die Sami des Nordens sind überwiegend sesshaft und dennoch ständig unterwegs. Victoria muss nicht lange überlegen, als die unvermeidliche Frage kommt.

»Warum zieht ihr immer noch so viel herum?«

»Wir sind ein kleines Volk, verstreut über eine Riesenfläche. Wir reisen wirklich viel. Sich zu treffen und zusammenzukommen, das ist ein Grundbedürfnis.«

Wer mit Victoria auf den Wintermarkt geht, muss damit rechnen, dass sie für hundert Meter Strecke durch die Gassen etwa zwei Stunden braucht, weil sie überall Bekannte trifft.

»Für uns ist es ungeheuer spannend, denn das kennen wir sonst nicht: Hier sind wir nicht die kleine Minderheit – und jedes Gesicht kommt einem vertraut vor.«

Ganz unter sich sind sie allerdings nicht. Es gibt eingeschworene Lapplandfans, darunter viele deutsche Landsleute, die den Sami Gesellschaft leisten wollen und dafür den weiten Weg mit ihren Wohnmobilen nicht scheuen – und vermutlich ist da auch der Mann aus Oberbayern mit seinen Huskys dabei.

Aufbruch im Autodeck

Am Tag zuvor auf der Fähre. Noch ist der Moment nicht gekommen, in dem sie losspurten wie bei der Formel eins. So wie sie rennen können, so können sie auch ruhen.

Auf Deck fünf schauen fünf eisblaue Augenpaare aus einem Anhänger. Auf dessen Boden liegt ein bisschen Stroh auf blankem Stahl. Fünf Huskys auf dem Weg nach Lappland, nach Arjeplog, ein weltweites Zentrum für Testfahrer. Weite Seen, solide zugefroren, ein Landkreis groß wie Dänemark. Es ist dort so einsam, dass man schon zwei Tage vorher die Paparazzi sehen kann, die herkommen, um einen Blick auf die neuen Modelle zu werfen, die Erlkönige.

Vor der fahrenden Hundehütte steht ein Allrad mit deutschem Nummernschild. Ein Mann mit Undercut und kleinem Zopf, Ring im Ohr, beugt sich hinunter und spricht leise ein paar Worte; die Hundeohren zucken.

»Doa kennans ordentlich rennen, doa san Schnee und Eis garantiert«, sagt der Hundebesitzer in sanftem Oberbayerisch, als ich mich nach dem Ziel seiner Reise erkundige.

Eine Frage muss ich ihm dann doch noch stellen. Nimmt er die Hunde mit aufs Hundeklo auf Deck sieben? Das Autodeck ist zwischen Abfahrt und Ankunft eigentlich geschlossen.

Er zuckt die Achseln. »Ich war in der Nacht zwoamal unten, Gassi gehn.«

Aber wo? Kein Baum, kein Strauch weit und breit, nur Stahl auf Deck fünf.

Er schüttelt den Kopf. »Was macht das schon aus, wenn hier ein paar Hunde pieseln?«

Auf Schwedisch sagt man: »Det ordnar sig.« Zu Deutsch: Das regelt sich von selbst. Und gerade das scheint verlockend zu sein. Die Augen des Hundebesitzers strahlen, wenn er von seinen Abenteuern erzählt, von den Möglichkeiten. Wenn er »Lappland« sagt, könnte er auch »Freiheit« sagen. Seine Hunde, einmal vor den Schlitten gespannt, wollen rennen, nicht mehr und nicht weniger. Und das Herrchen darf sich dann über die Eisseen ziehen lassen. Für diese archaischen Freuden fährt er durch halb Europa – von Oberbayern, wo er die Tiere züchtet, bis an den Polarkreis, wo es dann endlich kalt genug ist für sie. Ihr Komfortbereich liegt bei fünfzehn Grad – minus.

Victoria nimmt uns an die Hand

Es ist überraschend, wem man hier alles begegnet, und gleichzeitig auch nicht. Der Wintermarkt ist genau der Ort, wo man in dem Mann mit der Bärenmütze seinen alten Mathematiklehrer wiedererkennt und von dessen stiller Liebe zu Lappland erfährt.

Und diese Liebe teilen viele. Victoria ist die Tochter eines Rentierhirten und einer Künstlerin – und versteht sich als Kulturbotschafterin ihres Volkes. Sie gibt inzwischen Samefolk heraus, eine sehr liebevoll gemachte farbige Zweimonatszeitschrift mit Porträts und Tipps und harter Politik – das Sprachrohr der Minderheit seit fast einhundert Jahren.

Als junge Frau landete Victoria in Tracht und mit prächtigem Silberschmuck auf dem Titelbild einer Stockholmer Straßenzeitung – mit einem Zitat auf der ersten Seite. »Es ist leichter, in Stockholm Tracht zu tragen, als in den Bergwerkstädten meiner Heimat.« Victoria fiel auf, ob in der Parteizentrale der Sozialdemokraten, wo sie eine Zeit lang arbeitete, oder auf dem Stockholmer Wochenmarkt, wo sie mit klingendem Silber um den Hals und Schnabelschuhen einkaufen ging. Nur an der Fleischtheke sah man sie dort selten.

»Immer, wenn ich Heimweh hatte, holte ich mir aus dem Kühlschrank Rentierfleisch aus der Herde meines Vaters.«

Stockholm liegt etwa 1000 Kilometer entfernt – da braucht man schon einen großen Kühlschrank. Zumindest, wenn das Heimweh groß ist.

Victoria hatte es im Alter von dreißig Jahren nach Lidingö verschlagen, die erste Insel vor Stockholm, bevor es in den Schärengarten geht. Ihr erster Mann Mats war hier geboren worden. Kennengelernt hatten die beiden sich oben in Lappland, als Mats dort im Urlaub mit dem Snowscooter durch die Weite sauste.

Unser erstes Treffen war 2003. Ein paar Telefongespräche und vor allem viele Kannen Kaffee später schlossen wir einen losen Bund, der aber seit zwanzig Jahre hält. Victoria ließ sich in ihrem Alltag begleiten – eine Art Familienalbum in Szenen und Bildern. Damals war ich für fünf Jahre nach Stockholm entsandt, um für die ARD über ganz Nordeuropa zu berichten. Eine samische Perspektive würde das Bild komplettieren, dachte ich damals. Vielleicht hätte sich Victoria einem schwedischen Kamerateam gegenüber nicht so offen gegeben. Unsere Nähe hatte vermutlich auch mit dem gemeinsamen Außenseiterstatus zu tun. Wir konnten gemeinsam über die schwedische Mehrheitsgesellschaft staunen. Ich als Auswanderer auf Zeit und Victoria als Nachfahrin der Urbevölkerung.

Bald kamen in unregelmäßiger Folge Berichte über Victoria und ihre Familie ins deutsche Fernsehen. Interesse für solche Insiderberichte – neugierig, aber ohne Gier – gab es mehr als genug.

Wer ist schon jemals mit drei zahmen Rentieren als Tragtiere durch Lappland gewandert? Eine Tradition aus der Zeit, als Samen noch als Nomaden herumzogen und den Rentieren den Hausrat und die Zeltstäbe aufsattelten.

Nur ein Kalkül ging nicht auf. Rentiere sind keine Lasttiere. Und da gab es diese scharfen Kanten an unseren Transportkisten, an denen sich die Tiere hätten verletzen können. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch wenn es kein Ruhmesblatt ist: Die Kisten flogen im Hubschrauber, wir wanderten.

Der praktische Nutzen der vierbeinigen Begleiter hielt sich in Grenzen. Sie stoppten alle zehn Minuten und knabberten an den Birken. Sie scheuten über Brücken. Es war wunderschön, sie dabeizuhaben – keine Frage. Nur fehlten uns Wanderern die Kräfte von Victorias Großmutter, die vor etwa hundert Jahren hier oben am Fluss mit ihrem Mann in der Einöde lebte. Der Legende nach war sie so stark, dass sie zur Not auch ein Rentier tragen konnte.

Victoria verspürte von klein auf das Bedürfnis, jene Fragen zu beantworten, die Nicht-Samen unbedingt loswerden wollen, wenn sie leibhaftige Samen vor sich sehen. Klassiker sind: Wie viele Rentiere habt ihr? Oder: Zahlt ihr Steuern für eure Rentiere?

Ihre Lehrzeit als Kulturbotschafterin begann im Nationalpark Laponia am Fuße des Berges Akka, wo nur Samen wohnen dürfen.

Dort hat sie in den Ferien Wanderern auf dem Weg zum Gipfel erklärt, was samische Kultur ist, und selbst gebackenes Brot vom heißen Stein und geräucherten Fisch verkauft. Die Besucher kamen aus aller Welt und ruhten sich am Feuer von Großvaters Torfhütte aus – und einige blieben Freunde fürs Leben.

Kulturbotschafter sind eine praktische Sache, für beide Seiten. Die Nicht-Samen finden ein offenes Ohr für alle ihre Fragen. Die Samen können steuern, was von ihrer Kultur allgemein bekannt wird – und was sie lieber für sich behalten. Minderheiten, auch im toleranten Schweden, haben Grund zum Misstrauen.

»Man muss sich auch vor seinen Bewunderern schützen«, sagt Victoria mit ernstem Gesicht, und ihre sanfte Ironie ist für einen Moment verflogen, »vor denen, die in uns die edlen Wilden sehen. Sonst landen wir noch im Reservat. Und müssen in Koten schlafen.« Letzteres hat es ja tatsächlich einmal gegeben, zu den Zeiten der Großmutter, aber das ist eine lange Geschichte, eher geeignet fürs Kaminfeuer und nicht für den Trubel des Wintermarktes, in den Victoria jetzt wieder eintaucht.

Für Besuch von auswärts ist der Markt auch eine gute Gelegenheit, sich nach einem Quartier für das nächste Jahr umzuschauen. Zimmer sind am besten ein Jahr im Voraus zu buchen. Und es lohnt sich, denn der Wintermarkt ist alles zugleich – Markenschau und Heiratsmarkt, Theater unter freiem Himmel, Handelsplatz für selbst gemachte Fellmützen und Handschuhe – und für das neuste Männerspielzeug, Snowscooter mit 200 PS und bis zu 200 Kilometer pro Stunde in der Spitze. Da wird auch Lappland überschaubar. Die Motorschlitten sind enorm praktisch, aber zugleich der Schrecken der Tierwelt: Die motorisierten Jäger sind selbst im tiefen Schnee wendig, und die Tiere haben Mühe zu entkommen.

Wenigstens ziehen die neueren Modelle – nach der Umstellung von Zwei- auf Viertaktmotoren mit Katalysator – keine blauen Abgasfahnen hinter sich her. Früher roch man die Scooter noch Stunden später in der klaren Bergluft Lapplands. Die gesammelten Motorschlitten des Nordens stoßen jedoch große Mengen an CO2 aus. Angeblich mehr als der gesamte Inlandsflugverkehr, und wenn man die PS-Pakete so anschaut, kommt einem das ganz plausibel vor.

Der Inlandsflugverkehr wiederum ist stark rückläufig, was der Schwedin Greta Thunberg zu verdanken ist und ihrer Wortschöpfung der »Flugscham«. Die Scooter erfreuen sich hingegen steigender Beliebtheit. Wenn man mit Victorias inzwischen verstorbenem Vater Per Gunnar über diese Problematik sprach, hielt er immer dagegen, dass die Rentierhirten die Scooter als Arbeitspferde benützten – und keinesfalls zum Vergnügen durch die Gegend rasten.

Es ist eine Frage des Respekts, ihm seine Wahrheit zu lassen. Aber merkwürdig ist es schon, dass ausgerechnet diese Krachmacher mit ihren beheizten Gashebelgriffen die Herden in den Weiten Lapplands antreiben. Es ist ein bisschen so, als ob Winnetou beschlossen hätte, mit dem Hubschrauber zu kommen.

Die Socken der Sami

Lange bevor das Wort Ökologie in aller Munde war und Menschen begannen, sich für ihren ökologischen Fußabdruck zu interessieren, versuchten die Sami, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen: Etwas salopp könnte man sagen, dass sie mit leichtem Gepäck reisten. Sie bauten keine Kathedralen, sprengten keine Schneisen durch die Berge und setzten keine Mühlräder an die Flüsse. Ein Großteil ihrer Energie floss in die Handwerkskunst – auf Samisch: »Duodji«.

Sie schufen filigrane Einlegearbeiten in Trinkgefäßen und Messergriffen, kunstvoll geschnitzte Holzschalen, feinste Fäden aus Rentierleder, Knöpfe, an denen der Personenstand ablesbar ist: rund für ledig, viereckig für verheiratet.

»Wir tragen unsere Geschichte am eigenen Leib«, sagt Victoria.

Victoria ist in Stiefeln in Übergröße gekommen, gefertigt aus – dreimal darf man raten – Rentierfell. Innen sind sie mit Gras ausgelegt, eine Technik, die schon den Urvater der Botanik, Carl von Linné, auf seiner Lapplandreise 1732 begeisterte und die von den Neuankömmlingen – den Siedlern aus dem Süden – schnell übernommen wurde.