Vorliebe - Ulrike Draesner - E-Book

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Ulrike Draesner

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Beschreibung

Die Liebe ist eine Wissenschaft für sich

Ein Wiedersehen, das einschlägt wie ein Blitz: plötzlich steht die Astrophysikerin Harriet ihrer großen Liebe von einst gegenüber. Und allmählich, aber unaufhaltsam, gerät ihr bisheriges Leben aus seiner geordneten Umlaufbahn.

Harriet, halbindisch, mathematikbegeistert, macht in ihrem Beruf aus wissenschaftlichen Daten schöne kosmische Bilder, ein wenig Lüge darf dabei schon sein. Auch zuhause scheint alles gut eingerichtet mit Partner Ash und Ben, dessen Sohn aus einer früheren Beziehung. Doch dann fährt Ash mit dem Auto ausgerechnet die Frau von Harriets Jugendliebe an, und Peter, der Mann, den sie längst vergessen zu haben glaubte, tritt von neuem in ihr Leben. Ein vermeintlich harmloses Liebesgetändel beginnt: Man ist ja offen, Heimlichkeiten und Eifersucht sind antiquiert, man verhält sich den Klischees der Gefühlswelt gegenüber abgeklärt. Doch Ulrike Draesner schickt die Heldinnen und Helden ihres neuen Romans auf wunderbar verspielte Weise in ein irrlichterndes Labyrinth aus romantischen Verwicklungen, das eine der Figuren nicht lebend verlassen wird.

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Seitenzahl: 298

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Inhaltsverzeichnis
 
Titel
Inschrift
 
I
1
2
3
4
 
II
1
2
3
4
5
6
 
III
1
2
3
4
5
6
7
 
IV – Das Märchen
 
V
1
2
 
VI
1
2
3
4
 
VII
1
2
3
4
5
6
 
VIII
 
Copyright

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© 2010 Luchterhand Literaturverlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
ISBN 978-3-641-04255-4V002
 
www.luchterhand-literaturverlag.de

www.randomhouse.de

Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.
Novalis, Fragment 42
 
 
Restat iter caeli: caelo tantabimus ire. Übrig nur ist die Luft. Durch diese zu gehen versuchen wir.
Ovid, Ars Amatoria, II, 36
I
Weiß, die Lichtmischung aller Farben auf einer Wand, weiß, der Sturz in den Schnee auf der Nordseite des Kailash, eine Frühlingswiese weiß gesprenkelt, das Weiß eines menschlichen Auges, der hineingemalte verborgene Glanz, das Weiß der Albedo, der Erde Widerschein im All. Weiß die Sekunden in der Parabel, Flug um Flug, Sturz um Sturz, das Weiß der Rotation, als noch einmal etwas aus ihrem Schädel dringt, obwohl ihr Gehirn sich bereits außerhalb der Knochen befindet – von Neuem wölbt es sich aus, presst durch kleinste Ritzen nach unten und außen, Beschleunigung auf höchster Stufe, weiß, die Erinnerung an Peter, der Widerstrahl eines Horizonts, ein Lachen inmitten des Strudels jetzt, noch tieferes, sattes, saugendes Weiß.
Sieben Minuten. Sie lösten die Halterungen. An ihren Mitbewerbern hatte Harriet gesehen, wie grün ein Mensch werden kann.
Der Arzt sagte: »Machen Sie zuhause eine Flasche Sekt auf.«
Von Sekt wurde ihr übel, aber noch im Gang steckte sie sich eine Zigarette an. Ausgefeilte Tests, international besetzte Kommissionen. Wollte sie wirklich ins All, von dem gerade sie wissen musste, dass es nichts war als – Nichts?
Sie übte Sätze für die Auswahlverfahren. »Habe meine Männer als Triebwerke verwendet.« Schlecht. Außerdem stimmte es nicht.
»Ins All, um der Menschheit zu dienen.« Klischiert, nützlich.
»Weil ich mich für geeignet halte.« Auf den ersten Blick schlechter als auf den zweiten.
»Weil ich immer schon neugierig war.« »Weil ich den Kopf dafür habe.« »Weil ich das Ding fliegen kann.«
Und dann, fürs Ende, eine Überraschung. Tausend Mal im Geist durchgespielt, mit einem Psychologenteam beraten. Das sagte: »Rücken Sie mit der Wahrheit heraus!«
Der Wahrheit?
Die Psychologen, ein Pärchen, lächelten und zeigten das Schema-Bild einer Sojusrakete, die vordere Verkleidung fehlte, man sah Computer und Messinstrumente, die von Maschinen und Kabeln dargebotenen Sitze. Sich anschließen, einstöpseln, überlassen. Chips würden sie fliegen, Chips am Gehirn sitzen. Blutwerte, Hormone, neueste Fragestellungen, der Mensch als Versuchshäschen im All. Untergehen mit dem Labor, falls es explodierte oder verglühte. Die Kapseln eng, wie Hundekäfige klein.
Umso besser waren Harriets Messwerte. Auch nach der Rotation. Ihr wurde nicht schlecht. Mit dem Rauchen würde sie aufhören müssen. Im Übrigen suchte man durchaus ältere Kandidaten. Ovulation, IQ, Ruhepuls. Das jahrelange Rudern in Norwegen – jetzt nützte es. Jetzt fügte alles sich zusammen. Wie grotesk.
»Sie fliegen ja schon.«
Das feste Ende des Beschleunigers steckte auf einem mächtigen, sich in der Mitte des Raums aus dem Boden schiebenden Zapfen. Der Rest glich einem langen Löffel, in dessen Schöpfkelle der Proband kriechen musste. Da lag man wie in einem körpergeformten Sarg, tarngrau, kotzsicherer Anzug inklusive. Man wurde angeschnallt, alle verließen den Raum, die Klappe fuhr zu.
Wer Platzangst hatte, starb sofort.
Der Rest wurde von einer Kamera gefilmt.
Der Arzt sagte: »Kosmos! Jahrzehntelang wollte da niemand hin. Jetzt jeder. Wie die Lemminge, die Lemminge.«
»Das ist Walt Disney«, sagte Harriet.
Bei Walt Disney sahen Lemminge aus wie eine Kreuzung aus Meerschweinchen, Hase und Maus und stürzten sich in den Tod.
Spöttisch zog der Mann vom European Astronaut Center die Augenbrauen hoch. Er glich einem Piraten aus einem alten Entdeckerbuch. Hatte bestimmt schon viele Astronautenkandidaten scheitern sehen.
Erst in den letzten Sekunden, die Klappe schloss sich bereits, war es der Kamera gelungen, die Angst in Harriets Augen einzufangen.
Sie hatte keine Angst gehabt. Der Körper hatte die Angst, sie fühlte nichts. In drei Stunden fuhr sie zurück ins Institut für Extraterrestrische Physik. Fühllosigkeit hatte sie trainiert.
Nach dem Experiment zeigte man ihr den Film. Von außen glich die Maschine dem wahnsinnig gewordenen Zeiger einer Uhr. Harriet sah sich in sein verdicktes Ende kriechen. In den Schöpfer.
Die Beschleunigung begann. Es gab eine kritische Grenze, bei der die inneren Organe platzten. Man ging so nahe wie möglich heran. Berührungslos, etwa 15 Zentimeter über dem Boden, raste der Zeiger, in dessen Spitze sie lag, durch den weiß gestrichenen, kreisrunden Raum. Er wurde so schnell, dass er keinen Schatten mehr warf.
»Wollen Sie wirklich ins All?«

1

Sekt, Rauch, Reste der Rotation: sie öffnete ein weißes Fenster und da war er wieder, drehte den Kopf nach rechts und bemühte sich, nicht zu streng zu schauen. Das Blau seiner Augen, sie nannte es donaublau, die Donau floss stark, nur anfangs versickerte sie fast, das Blau seiner Augen schien oft kühl, manche sagten »zu forschend«, und lachten über den Forscher Ash. Da war er und sah wie immer ein wenig nach Schachtel aus, der Körper eckig, aber weich, eine Schachtel Kelloggs, rotblonder Wusch Haar obenauf. Da war er an diesem Montagmorgen im Juni, roch zu stark nach Rasierwasser und fuhr quer durch die Stadt, weil Anka, die Mutter seines Sohns, in einem anderen Viertel lebte und Ben dort zur Schule ging. Der Vater sah ihn jedes zweite Wochenende; seit 25 Minuten waren sie unterwegs, zehn hatten sie einkalkuliert. Ben, ein langes Stück locker zusammengesetzter Glieder auf dem Beifahrersitz, stierer Blick geradeaus, rötliche Locke in der Stirn, rührte sich nicht.
So ähnlich muss es gewesen sein, Ashley hat es Harriet später mehrfach erzählt. Laster blockierten den rechten Fahrstreifen, man drängelte, fluchte, blieb eingekeilt.
»Mädchen schubsen«, sagte Ash. »In deinem Alter!«
Ben schwieg.
»Und nach dem Kung-Fu-Kurs!«
Als wäre das das Rätselhafteste daran.
Unter Bens Sitz schimmerte ein Plastikgriff hervor.
»Die gehört mir nich«, rief der Sohn, »die iss doch von dir!«
Er versuchte, die Tüte mit dem Fuß unter das Gestell zu stopfen. Er wurde rot. Laster blockierten den rechten Fahrstreifen, Gourmet-Lieferwagen mühten sich Restaurants entgegen. Der Citroën tuckerte ein Stück voran, eine Hand von rechts drehte am Radio, eine andere, von links, drehte es aus. Der Arm des Jungen war bald so dick wie der seines Vaters; die Uhr, die er trug, war größer.
An der Kirche, wo die Straße zur Schule abzweigte, sprang die Ampel auf Stop. Ashley wollte es noch einmal versuchen. Ben sah vor allem müde aus. Bestimmt hatte er wieder die halbe Nacht am Computer gespielt.
»Warum, Bennie, müssen wir das über die Mutter der Betroffenen erfahren?«
»W-I-R?« Mit höhnischem Unterton: »Meinst du damit meine Mutter und dich?«
Die linke Gesichtshälfte des Sohnes grinste, Ash sah es nur aus dem Augenwinkel, die Ampel zeigte Grün.
»Du musst dich bei dem Mädchen entschuldigen, das ist auch Ankas Meinung.«
Geraschel. Vermutlich suchte Ben den iPod. Ash fiel ein, dass er seinem Sohn nichts für die Pause mitgegeben hatte. Ben nahm Bounty oder Geld.
»Hast du das abgesprochen, mit ihr«, fragte das Kind. »Habt ihr miteinander …«
»Wir telefonieren jetzt öfter, ja.«
Ashley schaute vor dem Abbiegen wie vorgeschrieben nach rechts, blieb aber am Gesicht seines Sohns hängen, der ihn ansah, zum ersten Mal an diesem Morgen. Er erschrak: alles hätte er erwartet, nur dies nicht, das spatzengleiche Flattern von etwas wie Hoffnung in Bens Augen.
Lächerlich, dachte der Ingenieur noch.
 
Wenn Ash davon erzählte und ganz von vorn anfing, wusste Harriet, dass er wieder mit Sekunden haderte – eine Sekunde nur früher oder später, und nichts wäre passiert. Der Citroën stammte aus England, ein Geschenk seiner Mutter, die wegen ihres grünen Stars nicht mehr fahren konnte; natürlich war er perfekt auf den Rechtsverkehr umgebaut, natürlich ohne die amerikanische Warnung »objects in mirror are closer than they appear« auf dem Außenspiegel, auf der Insel kannte man solche Zurufe nicht, und auf der linken Seite war es auch egal, denn rechts traf die Wagenflanke auf einen Reifen, der wegglitt wie Marmite, sagte Ash, auf ein Schutzblech, das sich bog wie ein Lasso, und auf einen Kopf, der, ganz und gar nicht nachgebend, gegen den Kotflügel prallte, Stirn voran.
Auto gegen Fahrrad.
Beim Rechtsabbiegen.
Er schaute nach Ben, ihm galt seine erste Sorge, erst dann sprang er aus dem Wagen. Ben, mit einem wieder seltsam kindlichen, ganz und gar erstaunten Gesicht.
Am Küchentisch bei einem Kakao versuchte Harriet den Sohn auszufragen. Hatte Ash nicht eine Plastiktüte dabei? Ben sagte, schlagartig sei ihm da im Auto klar geworden, dass der Angefahrene unmittelbar vor ihm lag, fast neben seinen Füßen, nur durch ein dünnes Stück Blech von ihm getrennt. Und da frage sie nach einer Plastiktüte! Rasch sei er, Füße und Beine voran, zur Fahrertür hinausgeklettert. Den Fall des Radfahrers hätten weder sein Vater noch er gehört.
Selbst in der Zeit unmittelbar nach dem Unfall sprach Ash nicht oft von diesem Morgen; anfangs hörte Harriet nicht richtig zu, später zeigte er ihr immerhin das Polizeiprotokoll. Zeugen behaupteten, dass das Opfer keineswegs zu schnell fuhr, dass der Volvo blau war, nein grün, dass der Fahrer allein darin saß, dass er eine junge Frau dabei hatte, orangefarbenes Top, nein, dass es ein dunkelhaariger Junge war, der Junge hinten, die Frau vorn.
Der Radfahrer war schräg über den Lenker gestürzt, ohne Helm, Kopf voran.
Ash sagte: ich stieg aus, sah Maria da liegen, ich meine, damals diese fremde Frau, gemusterter Rock, halbhohe Schuhe. Der Körper reglos und – zu kurvig. Sie lag nah am Bordstein, das unter dem Fahrrad eingequetschte Bein unnatürlich angewinkelt, das zur Seite gedrehte Gesicht verborgen von den braunen halblangen Haaren.
Andere, offensichtlich wacher als er, hingen bereits an den Handys, jemand im Hintergrund schimpfte, die meisten standen im Kreis um die Verletzte. Vorsichtig sei er, Ash, durch diese Schweigenden hindurch nach vorn und vor der Radfahrerin in die Knie gegangen. Dachte »es muss nichts Ernstes sein«, dachte noch im selben Augenblick wütend, dann panisch »wach auf!«, suchte ihr Gesicht, sah nur das schwingende Muster des Radwegs, dessen gewellte Pflastersteine ineinandergriffen wie ein Zahnwerk. Er wusste nicht, was tun, sagte Ashley, habe gedacht »ihr Rücken«, gedacht »wenn das Opfer keine Luft bekommt, sich erbricht«, sie erbrach sich nicht, er war ihr dankbar dafür, hätte sie sich erbrochen, hätte man sie bewegen müssen, das konnte das Gefährlichste sein. Das unter den Haaren halb erkennbare Auge war geschlossen. Zuckte es nicht, bitte, ein bisschen?
Zwei Hände schoben der Verletzten flach einen Pullover unter den Kopf, Ash nahm kaum wahr, wer das tat, es war wohl ein Mann. Viel Zeit konnte nicht vergangen sein, das Rad lag noch immer halb über dem verdrehten Unterkörper, der hintere Reifen bewegte sich mit der Luft; das Pedal stand unnatürlich still.
Warten, nichts tun. Es überraschte Harriet nicht, dass Ash das nicht ausgehalten hatte. Der Stau war durch den Unfall schlimmer geworden, Ash setzte sich ans Steuer und fuhr den Citroën in die Seitenstraße. Egal, ob das verboten war. Der Wagen hatte nicht einmal eine Beule. Egal. Nachdem er ausgestiegen war, starrte er auf die Kirche an der Ecke, ein verwilderter Garten umgab den Backsteinbau. Gleich hinterm Zaun hatte man eine Skulptur aus bunt bemalten Hölzern aufgerichtet, die sich wie Mikadostäbe übereinanderschoben.
Seine Augen waren starr, sagte Ash, die Hölzer schwammen.
Da kam Ben auf ihn zu, weicher als ein Holz, Ben, der Harriet am Küchentisch erzählt, dass er immer wieder von dem in die Luft ragenden, leerdrehenden Fahrradreifen träumt, in dessen Speichen sich das Sonnenlicht fängt.
»Ich geh’ jetzt mal. Dad?«
»Ja, ja … unbedingt. Es ist …, es ist nichts so Schlimmes …, glaub ich.«
»Wird schon«, sagte das Kind. Ash fand, dass es flaumig aussah, geschrumpft.
Er spürte einen solidarischen Stups gegen den Arm.
Lange habe er Ben hinterhergeschaut. Die Schultasche baumelte an einem Riemen von seiner Schulter, es sollte wohl locker aussehen. »Starrte drauf, kam mir vor, als fehle was, aber das war überall so.«
Nach einer Weile, er habe am Zaun gelehnt, habe er ein Martinshorn gehört.
 
Wer neu vorbeikam, blickte nur kurz zu der Frau auf dem Gehsteig und zu dem Sanitäter, der neben ihr kniete. Ash stand ein paar Schritte entfernt, um niemanden zu behindern. Sommerrock, gebräunte Unterschenkel. Man hatte das Fahrrad weggenommen; der Rock der Frau rührte ihn. Auch sie hatte sich ihren Tag ganz anders vorgestellt. Ein geflochtener Korb, offensichtlich vom Gepäckträger gefallen und von jemandem aufgehoben, stand aufrecht und seltsam unbeschädigt neben ihren Füßen.
Von Ash hielten alle Abstand, als rieche er schlecht.
Es wurde schon warm. Ash fror.
Die Frau wurde vorsichtig, sehr langsam, auf eine Trage gelegt. Etwas Blut auf dem Pflaster, Gottseidank schien es nur vom Arm zu kommen. Einer der Sanitäter versuchte, mit der Verletzten zu sprechen. Sie antwortete, da war Ash so froh, dass er hätte weinen mögen. Erleichtert und völlig zerknirscht schlug er das Gesicht in die Hände. Jemand nahm ihn am Arm und führte ihn weg.
Ein Polizist wartete neben dem Streifenwagen, der andere saß quer im Fahrersitz, der Meldezettel war vorbereitet, sie trugen seinen Namen ein. Ashley zeigte seine Dokumente; »rechts abgebogen«, wiederholte er, »mein Fehler, die Frau übersehen.«
»Was gibt es da zu grinsen?«
Er hatte nicht gegrinst.
Der Beamte, der weiterschrieb, ohne aufzublicken, ließ nach geraumer Zeit ein leises »schon gut« hören, Ash steckte seinen dunkelblauen Pass mit dem Goldwappen wieder ein. Noch nie hatte er sich so fremd gefühlt. Das Bußgeld wurde sofort verhängt, er zog die Kreditkarte durch ein futuristisch kleines, im Streifenwagen installiertes Gerät, selbst die PIN erinnerte er mühelos, alles funktionierte wie sonst. Da fiel ihm auf, er hatte übersetzt, »mein Fehler«, hier hieß das »ich bin schuld«.
Fast flüsternd wiederholte er den Satz: »Ich bin schuld.«
»Ganz was Neues«, sagte der Polizist neben dem Wagen.
Der andere sagte: »Das kommt dann noch.«
Als er an die Kreuzung zurückkehrte, stand der Rettungswagen blau blinkend, aber ohne Sirene, auf dem Gehweg. Ob man nicht abfuhr, weil die Verletzte bereits in seinem Inneren behandelt wurde? War es so dringend? Oder so harmlos? Ash sagte, er habe geglaubt, nichts mehr fühlen zu können. Doch noch eine Ader im Kopf geplatzt? Mehr musste es nicht sein. Man verstand nicht, wie banal das war. Wie schnell das ging.
Ash sagte, wie zum Ausgleich habe er übergenau gesehen: die Straße bog sich auf ihn zu, der graue Bürgersteig und die wellenförmigen, sehr roten Steine des Fahrradwegs. Alles sei still gewesen, obwohl Autos an die Ampel brausten, warteten und wieder anfuhren; ein gelb gekleideter Fahrradbote bremste scharf, wenigstens er trug einen Helm.
Ben zur Schule zu bringen war Routine, routines liefen durch seinen Kopf, »wird schon werden«, »jetzt ist sie versorgt«. Allmählich, wie er die Augen schloss, sich darüber strich, habe er sich besser gefühlt, und als er die Lider wieder hob, bog die Straße sich weniger stark und der Sanitätswagen fuhr, zwar immer noch ohne Horn, aber durchaus hörbar, endlich ab.
Ein Fahrer, eben aus dem LKW gesprungen, die Linke als Schattengeber an der Stirn, schaute sich suchend um, eine junge Frau mit Zwillingskinderwagen drängte an Ashley vorbei. Alles fiel ihm auf, er erinnerte sich daran, bemühte sich, genau zu sein: Spatzen stürzten in die Hecke am Kirchzaun, er sah, dass halb unter den Blättern verborgen ein längliches Alupäckchen lag, gelbe Krümel rieselten an einer Ecke aus.
Ashley winkte ein Taxi herbei und gab die Adresse des Krankenhauses an. »Notaufnahme«, sagte er, »nein, nicht besonders schnell.«
Die Rückbank stank nach kaltem Rauch. Seine Finger umklammerten den in Alufolie geschlagenen Kuchen. Er musste aus dem Korb gefallen sein. Als Ash bemerkte, wie stark er zugriff, legte er das zwar angepickte, im Übrigen unversehrte Paket erschrocken neben sich. Plötzlich regnete es, der Verkehr war noch immer dicht, stop and go, die Scheibenwischer schlugen auf Stufe drei. Der Ingenieur nestelte das Handy aus der Hemdtasche, sein Gehirn funktionierte wieder, die Finger kaum, doch im Labor ließ sich mit der Sekretärin schnell alles klären, sein Nachmittagsflug nach London wurde storniert. »Ruhen Sie sich aus«, sagte die Frau, gefolgt von »ich schicke Ihnen alles auf Ihre Box«. Zwischen den Sätzen lag keine Sekunde, nur ein immenser Widerspruch. Manchmal dachte er, sie sei bereits ein Automat.
Kam er im Erzählen an diese Stelle, sagte er gern »ein durchbluteter Automat, das neue Ideal«. Oder: »wenn du so weitermachst, bist du auch bald dabei.« Das hatte mit dem Unfall nichts zu tun; es ärgerte Harriet.
Ja, er hatte versucht, mit einem der Sanitäter zu sprechen, der Mann hatte gesagt »weg da«, »aus dem Weg«, und bei einem zweiten Blick: »Sie weiß ihren Namen nicht.« Ashley wählte erneut, drückte auf aus. Vor dem Taxifenster glänzten die Büsche des Seitenstreifens und der Asphalt, Fußgänger huschten unter Mauervorsprüngen und Balkonen entlang. Wenn es regnete, hatte jeder gleich ein Ziel.
Das war ein englischer Satz. Ash stammte aus Dorset, sein Heimatdorf lag am Kanal. Den Regenash mochte Harriet sehr: da saß er im Taxi, und die Zeit stand in dichten glitzernden Regenfäden vor den Fenstern still.
Endlich seien auf seinem Handydisplay die Infos über Schädel-Hirn-Traumata erschienen. Unter fünfzehn Minuten Bewusstlosigkeit, Stufe eins. Bis 30 Minuten Stufe zwei. Und wie lange lag die Frau da, wie lange?
Er wartete, wählte noch einmal, flüsterte: »Jet?«
»Jet, tut mir leid, wenn ich dich störe, es …«
Wasser spritzte von unten gegen den Wagen, er mochte dieses Geräusch. Nun habe er nur daran gedacht, wie glitschig die Straße war. Harriet fragte schon am Telefon, bist du denn schuld, er schwitzte, als sie es sagte, erneut hätte er fast weinen wollen. Das überraschte ihn. Reines Selbstmitleid, sagte er sich verächtlich. Es war aber nicht unangenehm, sich so zu fühlen. Etwas war weicher in ihm. Er sagte es ihr.
Sie lachte ein wenig.
Dann antwortete sie. Während er ihr zuhörte, starrte er auf den rötlich breiten Nacken des Fahrers zwischen Kopfstütze und Lehne. Der Ausschnitt tanzte ihm vor Augen. Er glich in Farbe und Form exakt einem der Pflastersteine vom Fahrradweg.

2

Es war halb zehn, als Harriet aus der U-Bahn stieg; die Luft roch überraschend frisch, die auf Marschbreite preußischer Regimenter angelegten Straßen sogen den Vormittagsverkehr mühelos auf. Mit zwei Tastengriffen hatte sie eine Bin-gleichwieder-da-SMS abgesetzt, die noch in derselben Sekunde auf ihrem Türschild, einem TFT-Bildschirm, in drei Sprachen neben dem Schriftzug Dr. H. Saramandipur erschienen war. Natürlich machte sie sich Sorgen um Ash. Dunkel verästelt wie die Aufnahme eines Zweigs trocknete der Ölspritzer auf ihrem T-Shirt. Sie hatte am Morgen versucht, das Drehgelenk ihres Bürostuhls zu ölen. Hochergonomisch, das Möbelstück. Setzte man sich hinein, quietschte es wie eine überdimensionierte Versuchsmaus, die böse Experimentatoren soeben in eine Rakete schnallen.
Erst um zwölf Uhr würden die Junghähne (Seminar: Challenge the Future) ins Institut für Extraterrestrische Physik stolzieren und mit den clearasilpolierten Eierköpfen wackeln (und in ein paar Jahren sagen: »Für dieses Geld können wir 1000 Kindergärten bauen« oder: »Ja, Ihr Satellitenprogramm unterstützen wir gern«); jetzt war sie frei. Sie kaufte eine Brezel und kam gut gelaunt, viel zu fröhlich, in der Klinik an. Der Unfall schmerzte sie für Ash, sie erlebte es mit und würde doch, sie gab es sich zu, dabei auch beobachten, wie ihr Mann sich verhielt, denn das tat sie immer: Bilder sehen. Beobachtung war der kleine Spalt, der sie schützte vor der Welt.
Er saß vor der Schleuse zu den Magnetresonanz-Räumen, bleich und mit so angespannten Zügen um den Mund, als werde ununterbrochen ein Passfoto von ihm gemacht. Einen krümeligen Sandkuchen, die Folie angerissen, hielt er zart wie ein Baby auf dem Schoß. »Tut mir so leid«, sagte Harriet und streckte die Arme aus; Ashley fühlte sich an wie Papier, farblos, blutlos, da setzte sie sich, zögernd und selbst ohne Rat, neben ihn auf die Wartebank.
Zwei durchschnittlich hässliche Grünpflanzen standen am geriffelten Fenster. Harriet starrte darauf: atmete so etwas wirklich Sauerstoff aus? Zweiter Stock, Stickigkeit. Man konnte nicht hinaussehen; vor der Mauer schien ein Innenhof zu liegen, vielleicht sogar ein Garten, Schritte über Kies waren zu hören.
Harriet hatte nach Ashleys Hand gegriffen, sie gedrückt, wieder losgelassen. Sie warteten lange, sahen, wie der Flur geputzt wurde, er war mit hellem Linoleum ausgeschlagen, im Übrigen lang und gerade fast wie in Harriets Brandenburger Institut, nur dass es alle 30 Meter eine Barriere aus metallischen Schwingtüren gab, in deren obersten Dritteln milchige Scheiben saßen.
War es ein Schatten im Glas?
Die überraschte Drehung eines Kopfs?
Ihr inneres Warnsystem sprang auf Rot, Alarm schrillte, Elektronen verließen ihre Bahnen, machten simultan einen Sprung, einige sprangen zurück, andere fort.
Im Fallen hörte Harriet eine Frauenstimme und spürte, wie Ashley nach ihr griff, Ash, wer sonst, sie kannte doch seine Hand.
Sie spürte nicht, dass sie unten ankam, kam nie unten an. Jet fiel.
Es war, als falle sie nicht selbst, etwas drehte und nahm sie mit, und sie dachte an den Doppelspaltversuch, die alte Lichtfalle, wie grotesk. Man jagte Licht durch zwei Schlitze, und es teilte sich und teilte sich nicht, war Welle und Teilchen zugleich. Sie hatte es lange gewusst, fiel und begriff, die Zeit wurde weich, Reihenfolge umkehrbar. Eins war zwei, sie lachte ein wenig, sehr still, und die alte Ordnung quietschte ein wenig und krümmte sich.
So der eine Spalt. Schrill? Harmonisch? Holzig? Süß? Egal. Harriet rutschte hinein.
Spalt zwei, jener mit Vernunft: nachdem Ashley eines Junimorgens einen Unfall verursacht hatte, weil er sich über den Sohn aus seiner ersten Ehe ärgerte, rief er Harriet an. Sie ließ sich, trotz der Arbeit, die auf sie wartete, dazu überreden, zu ihrem Mann ins Spital zu kommen. Nach einigem Hin und Her stand man endlich erleichtert mit dem behandelnden Arzt auf dem Flur vor dem Zimmer, in dem die von Ashley angefahrene Frau untersucht worden war. Sie hatte es im Rettungswagen geschafft, sich an ihren Namen zu erinnern, war nun ausführlich geröntgt und in den Tomographen geschoben worden, schwere Gehirnerschütterung, Riss im Schläfenbein, doch man musste nicht operieren. Der Mann in Weiß, ungewöhnlich gesprächig, beruhigte. »Hätte schlimmer kommen können«, »Massel gehabt«, »Scheißabbiegerei – Entschuldigung«, »zu 98% wieder gesund«. Jet griff eben erleichtert nach Ashleys Arm, der Arzt wiederholte »Spätfolgen?«, zuckte die Schultern, »Wetterfühligkeit, Kopfschmerzen, Nervenschmerz vielleicht, das psych…« – da ging die Schwingtür auf, die den Flur unterteilte.
Olvaeus steht da.
Schwarzbraune Locken, hohe Gestalt, Grübchenkinn. Harriets Haare werden an den Schläfen schon grau, seine nicht. Rabenblick, kleine, silbern gefasste Brille. Das fleischige Ohrläppchen.
Harriet war, als falle sie in eine riesige Reisetasche.
Sie rutschte durch changierenden Stoff, der sich, kaum berührte sie ihn, um sie schloss wie ein Kleid. Luftigleicht rieb helles Rot über ihre ausgestreckten Hände, kleine Perlen zitterten an Ärmeln, die ihre Gelenke liebkosten, sie bewunderte die Flora und Fauna feinster Seidenstickereien, das Fliederviolett einer Boafeder, die dunkelglänzende Mikrofaser, die ihre Beine umschmeichelte, berührte ein knisterndes Bustier mit sterngliedrigen Haken.
Danach trieb sie in einem dämmrigen Raum. Über ihm wölbten sich fünf dünne metallische Krallen zu einer funkelnden Verschlussspange. Harriet fühlte das Beben ihres Solarplexus unterm BH und gab endgültig, mit einem halb wohligen, halb ängstlichen Seufzen nach.
Erneut fiel sie, schnell und empfindungslos. Da lag sie am Boden der Tasche. Er piekste und duftete nach Heu. Neben sich fand sie ein Heftpflaster, das sie sogleich erkannte, ein Raketenmodell und einen von silbernen Kristallen überzogenen Zweig. Ihn hatte sie noch nie gesehen, doch gerade er wollte ihr auf wenig besänftigende Weise vertraut erscheinen.
 
- Oh, was ist denn das?
Eine Tasche, die laufen kann?
Schwarz, schäbig, riesengroß – ein glatter Mädchenarm, der vergebens versucht, sie zu umgreifen, zwei straff gespannte Riemen, die eine Schulter nach unten ziehen, ein rotes Gesicht.
Harriet S., mit der Riesentasche und dem Haar wie Heu. In Wirbeln steht es vom Kopf, als wäre es schlampig gebundenes Gras auf einer Stadtwiese, über die Wolkenschatten jagen, Mücken, giftige Gase, Jets, und weit über allem, dafür alle paar Minuten, manchmal aufglitzernd, immer schattenlos, einer der tausendundeinen erdumkreisenden Satelliten, der dieses Bild zurückwirft für dotcomearth. Bis es sich dreht.
Bis sie an der Haltestelle steht.
JETZT.
Jetzt ist Mai.
Kirschbäume bilden rosige Klumpen, ein frühreifer Kuckuck schreit, und Harriet S., Haare wirbelnd wie der sehnsüchtige Traum eines Punk, steigt in die Bahn. Aufrecht und entschieden, wenn auch schwitzend: Stiefel, Jeans, T-Shirt, darüber ein hellgelbes Trägerkleid, grüne Strickjacke, Anorak um die Hüften. Handschuhe und ein bunter Schal baumeln an der Gigantentasche, hier scheint jemand zum Nordpol zu fahren.
Die ganze Nacht hatte Harriet kaum geschlafen, fertig gepackt stand die Tasche unter ihrem Bett, beflissen schien das die Erde umkreiselnde Meteoritennärrchen darauf. Sie kannte all seine Flecken, lag oft genug wach auf dem Kissen, unruhig und nervös, ihre Mutter führte einen Lebensmittelladen, ihr Vater war fort. Saß sie über Matheaufgaben, ging es ihr gut, sie spürte Räume in große Höhe oder Tiefe, in sanften mathematischen Kurven ragten sie, gebogen wie Hörner, weit über die Erde hinaus, bis sich die unwahrscheinlichen Linien schnitten, und von dort, einem uneinholbaren, aber in den Gleichungen gefangenen Punkt, stiegen in ihren Träumen ihre Gedanken und Gefühle als kleine Blasen hervor. Harriet war, man sagte es ihr oft genug, ernst (zu ernst) und eigenwillig (komisch).
Die Straßenbahn bremste, Leute tuschelten: was wollte das Mädchen mit dem gewaltigen Sack? Leiser: eigenwillig! Komisch! Und: stach da nicht zur Seite eine Messerklinge heraus, silbern und spitz?
Harriet hörte das Gerede, verstand die Worte nicht, bewachte den Reisesack. An seinem Grund befand sich ein verborgenes Fach, das ihren Ausweis und ihr gesamtes Geld enthielt, 222,22 zahlenharmonische D-Mark. Zudem rechnete Harriet. Es war ihre Art, Abschied zu nehmen. Sie kam auf 3120.
3120 Blicke aus der Bahn auf den Fernsehturm. 15 Jahre lang. Ein ganzes Leben.
Logische Schlussfolgerung: Höchste Zeit für eine Veränderung. Also machte sie jetzt Ferien, allein, länger, weiter weg. Da würde keiner »Heu« zu ihr sagen, nur weil ihre blonden Haare kreuz und quer vom Kopf standen, und niemals wieder würde jemand »muh-muh« machen hinter ihrem Rücken, in der Pause, auf dem Schulfest.
Presslufthämmer tackerten den Gehweg auf, bei Onkel Orhan schrie’s »billig Spargel«, von der Fassade des höchsten Hauses am Platz baumelten zwei Fensterputzer. Kastanien trieben Blüten aus, größer als Erdbeeren. Da stand es auch über der Bahnhofstür: Frühling heißt, seine Grenzen testen. Links im Bild: ein Mann, der nieste. Rechts: der gleiche Mann, faltenlos lächelnd, drückte sich eine weiße Sprayflasche an die Nase. Zu seinen Füßen lag eine erdbraune Tasche, fast so dick wie Harriets.
Sie wollte sich in der Zughalle eine Cola kaufen, doch aus einer Laune heraus ging sie auf die kleine Wiese nebenan. Pollen? 20 Minuten Zeit. Um die graue Restaurantkugel des Fernsehturms, den sie deutlich und sehr nahe stehen sah, ballten sich fischgrün leuchtende Wolken, bald würde es regnen, da wäre sie schon fort. Sorgfältig hatte Harriet über das Ziel ihrer Reise nachgedacht. Paris? London? Schließlich entschied sie sich für eine Stadt mit Atomium und Pralinengeschäften. Sie legte den Kopf in den Nacken, sah in den Himmel, spürte dem Ausreißgefühl nach – stolz, wehmütig, aufgeregt, da rief eine Stimme schräg hinter ihr: »He Kind!«
Sie reagierte nicht.
»He du, das Messer!«
Nun drehte sie sich um, ein Kind mit Messer wollte sie sehen.
Ein paar Meter hinter ihr stand ein schlanker, braunhaariger Mann, quer über den Trampelpfad ging er auf sie zu.
Harriet fühlte, dass ihre Augen es den Haarwirbeln auf ihrem Kopf gleichtaten, sie drehten schnell und schneller, ganz wie in einem Comic, dennoch sah sie scharf, scharf war kein Ausdruck, überklar sah sie ihn, der ihr entgegenkam, und sie wurde rot, und er sagte, als sei sie blöde: »Messer!«, und sprach lauter, als sei sie taub.
Er hielt vor ihrem Reisesack und schüttelte den Kopf. Harriet folgte seinem Blick. Sie hatte Vyomeshs altes Taschenmesser eingepackt, ja. Doch zugeklappt!
Da ging sie schon auf die Knie.
Vor ihm.
Innerhalb der ersten drei Sekunden. Eine reife Leistung, was das Gegenüber nicht wirklich bemerkte. Mühsam zog Harriet den schwarzweißen Reißverschluss auf.
Ihre Hand glitt zwischen die Taschenfalten, sie spürte Fridos Füße durch den Stoff, zart und fest, fühlte für einen Augenblick den warmen Körper beben, den sie so gut kannte. Manchmal, wenn sie ihn beim Hausaufgabenmachen frei herumlaufen ließ, kuschelte er sich in ihre Schenkelbeuge und schlief dort ein.
Sie fand den Messergriff, zog daran – und wusste nicht, wie es passierte. Frido flitzte. Direkt über die Schuhe des Messerfinders, was diesen keineswegs erschreckte, sondern zum Lachen brachte, so dass er, als Harriets Gesicht rot wieder auftauchte und eine zitternde Hand ihm ein aufgeklapptes Taschenmesser hinhielt, mitten hinein in dieses Gesicht sagte: »Da ist ein kleiner weißer Blitz aus deiner Tasche gesaust.«
Frido! Fort der weiche weiße Trost.
Möglichst beiläufig sagte sie, was sie nicht vor jedem zugegeben hätte: »Das war meine Hausaufgabenmaus.«
Sie ergriff die Hand, die sich ihr entgegenstreckte, dem Augenblitz schoss ein zweiter Blitz hinterher. Er lief Harriets Arm hinauf, als wäre der Arm eine Blitzableiterschnur, wirbelte in Schulter und Brust.
Der Besitzer der Hand schüttelte die braunen Locken: »Ist dir nicht gut, Mädchen?« (Immerhin, »Kind« ließ er sein, nachdem er nun ihre Vorderseite sah.)
Sie schnappte nach Luft: »doch, doch«, sagte sie, »extrem«. Er war hochgewachsen, trug Jeans und ein türkisgrünes Baumwollhemd. Seine Locken fielen weich über die Ohren. Als er ihr das Messer zurückgab, spitzte ein fleischiges Ohrläppchen hervor. Solche Einzelheiten waren Harriet noch an keinem Mann aufgefallen.
»Wo willst du denn mit dieser Riesentasche hin?«
Sie mochte sogar seine Silberbrille. Große bernsteinfarbene Augen. Verlegen schaute sie zur Seite.
»Hmm«, sagte er. »Oder …, oder: warum war da eine Maus drin?«
Er war gegen Tierhaltung. Mäuse solle man freilassen. Keine Kreatur dürfe man einsperren.
»Ich heiße Harriet Heu«, krächzte Harriet Richtung Wiese. Sie war verwirrt. Sagte freiwillig »Heu«. Blond, heublond, strohdumm.
Er lachte: »Verstehe. Passt zu deinen Haaren. Die sehen wie eine kleine Krone aus.«
Das hatte noch keiner gesagt. Dann überraschte er sie erneut.
Ohne zu fragen, hob er ihren Reisesack auf. Was er selbst dabeihatte, trug er nach Männerart in den engen Hosentaschen. Anstelle einer Uhr wand sich ein grünes Baumwolltuch um sein linkes Handgelenk, seine Finger umfassten mühelos die alten Trageriemen.
Harriet versuchte, etwas zu zählen, um sich zu beruhigen. Sie fand nichts. Sie versuchte, an den Crab-Nebel zu denken, dort konnte man Spiralen zählen, bis man alt wurde. Einzig um die Astro-AG hatte es ihr beim Ausreißen leidgetan. Notfalls hätte sie jetzt sogar Sternchen gezählt. Warum man am Nachthimmel überhaupt welche sah, hatte Lehrer Kowalski zuletzt gefragt. Blöde Frage: warum es nachts dunkel wurde. Warum man nicht in Sternenlicht schwamm, mit Sternlichtaugen. Das sollte ihr mal jemand erklären.
Aber später! Heiter ging sie dem Unbekannten mit ihrer Tasche hinterher. Es war nur vernünftig, den Mann nicht verloren gehen zu lassen.

3

Da stand er und sagte: »Harriet!«
Und Ashley sagte: »Jet!«
Wie aus einem Mund. Sie schauten sich an.
»Oh«, sagte Olvaeus, »das muss eine Verwechslung sein.«
Die 21 Jahre in Rosendornenöl konservierte Prinzessin weinte, der Küchenjunge bekam die angedrohte Ohrfeige und der alten Rosenwand, dem endlosen Warten, entströmte ein Duft, der selbst die besten der königlichen Legehennen, hochgezüchtete Powerfrauen, um den Verstand brachte.
Ihre Augenlider klebten aneinander und das Wort O-h-n-m-a-c-h-t bewegte sich in ihren Gedanken wie ein Wind, der, jählings durch eine unüberwindliche Hecke gedrungen, hinter den Büschen ein fertig gebautes Schloss findet und sich staunend darin verfängt. Wachte Dornröschen auf, als der Prinz nach hundert Jahren kam, oder schlief es ein?
Harriet riss die Lider hoch. Durch die Ritzen der Fensterjalousie stieß die Junisonne dünne Streifen, die sich an den Kanten der Möbel brachen. Auf dem als Nachttisch benutzten alten Radio krabbelte eine Fliege. Harriet sah scharf.
Sie drehte den Kopf zur Tür, in der Küche klapperte Ash mit Geschirr. Sie lächelte: wachte, als der Prinz kam, das eine Dornröschen auf, das andere hingegen, jenes, das 100 Jahre alt war, schlief ein?
War das der Clou der ganzen Geschichte: es waren zwei?
Die Locken fielen ihm über die Ohren, er lächelte, seine großen Zähne waren weißer als früher.
»Jet!«
»Harriet!«
Er sagte es leise, beugte sich zu ihr und fasste in Sportlermanier nach ihrem Puls.
Sportlermanier! 21 Jahre nach dem schändlichen Ende. Jahre sah sie als Strecken, Abstände als Kreise. 21 empörend lange, empörend kurze Jahre. Mehrfach Mars und zurück. Harriet währenddessen als Nomadin, als brillante Forscherin (nun ja), Harriet geknickt in Norwegen, schlaflos im Himalaja, Harriet einsam, dann glanzvoll, eine ihrer wertvollsten Taschen am Arm (eine frühe Gucci mit Doppel-G, aus der Phase des eBay-Taschenersteigerungsspleens), Harriet als Erwachsene (seit wann nun das?).
Das Pfeifen des Wassertopfs, den Ash so unglaublich europäisch fand, dass er das 80er-Jahre-Stück mit dem Vogel ständig aus dem Müll rettete, riss sie aus ihren Gedanken. Die Wohnung hatte auch einen englischen Tick: ständig zweigte sie nach links ab, der Schall sauste um die Ecken. Gleich hinter dem Eingang führte eine niedrige Tür ins Bad, eine zweite, höhere ins Wohnzimmer. Erster Knick nach links, Tür zur Wohnküche, dann Bens Höhle, schließlich Jets: ein Schreibtisch mit sternentauglichem Flachbildschirm. Hinter einer Schiebetür bog der Raum überraschenderweise noch einmal links ab. Im Schaft dieses L, ganz am Ende, fand sich das Bett, auf dem Jet nun lag.
Hoffentlich braute Ash nicht wieder ein englisches »Bringt-Tote-ins-Leben-zurück«.
Ashs Leben, nach 14 Jahren Beziehung, ging so: »Ich, meine Arbeit, Ben.« Dann sie, Jet. Der Tee war eine Bagatelle. Sie hatte nachgelesen: die einen stritten über Socken, die in der Waschmaschine verschwanden, die anderen über Tee. Freundinnen konnte sie nicht fragen, sie hatte keine, sechs Jahre Nomadentum zwischen den verschiedensten, naturgemäß weltweit verstreuten astrophysikalischen Forschungsinstituten hatte Kontakte entstehen und vergehen lassen wie Wasserpflänzchen: treibt auf, reißt ab. Übermüdet war Forscherin Jet immer, mit Kaffee, Koffeinpastillen und Tee arbeitete sie dagegen an, aber Ashs torfbrauner Aufguss war zu viel. Sie musste einen halben Liter Milch nachschütten, um ihn überhaupt schlucken zu können. Ben nahm aus Prinzip nichts mehr davon. Jet hingegen hätte gern etwas Gutes getrunken mit ihrem Lebensmann.
Natürlich hatte sie ihm das gesagt. Er hielt sich dreieinhalb Mal daran, danach dachte er beim Kochen wieder an Strömungsauswertungen, effizientere Luftansaugungen durch den Fan, reduzierten Triebwerkradius auch für Hochleistungsflugzeuge.
Liebevoll, eingeübt, korrekt.
Und da erschien, mit Tusch und Knall, Lichteffekt und »muss ein Versehen sein« wie in einer Zirkusnummer ein ausgestorbener Olvaeus! Sie fühlte sich in ihrem alten Bett unter dem Rauschen der Straßenbäume seltsam leicht. Die Ohmacht hatte ihr Gehirn wohl übermäßig mit Luftbläschen versorgt. Über den abblätternden Boden des Balkons trieben Pappelsamen ins Zimmer; eine Melodie folgte ihnen. Nur einige Töne, tausend Mal im Hintergrund abgespielt, nicht Mamma Mia oder Fernando, einen Titel hätte Harriet nicht gewusst, nur unverkennbar diese Gruppe, das Schwedenquartett Agnetha, Anni-Frid, Benny und Björn. Den letzten Namen hatte Peter geradezu ausgespuckt. Sie kannte ihn seit vielleicht zehn Minuten, eben erst hatte er sie am Fernsehturm angesprochen, und nun fuhr sie den Weg, den sie vor einer halben Stunde gekommen war, mit ihm zurück. Wo sie doch hatte ausreißen wollen! Ihr ahnungsloses Gegenüber, das sich in der schwankenden Bahn mit einer Hand an einer Gummischlaufe einhielt, schimpfte laut: Olvaeus heiße er! Von den Älteren werde er ständig gefragt, was für eine Art von Dinosaurier das sei. Schlimmer verhielten sich nur die Jüngeren: verwechselten ihn, einen echten, lateinischen Olvaeus, mit Ulvaeus. Mit einem dahergelaufenen Schweden! Schlimmer als die Musik seien bei Björn Ulvaeus & Co nur die Erfolge. Unterirdisch die Musik, sagte er, unterirdischer die Erfolge, am unterirdischsten die Namen.