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Auf den Planeten des Supremats ist Loralys eine Göttin; auf dem Raumschiff 'Wahrhaftigkeit' nur eine Kriegsgefangene. Als die 'Wahrhaftigkeit' in den Orbit um Magellan einschwenkt, blickt Loralys auf eine Welt hinab, die mit Götzenbildern ihrer selbst übersät ist. Welches Ziel verfolgt die Kommandomission, die ihre Feinde in die antike Kultur der Kolonie einschleusen? Um dies herauszufinden, nutzt Loralys eine Sicherheitslücke in ihrer Überwachung. Doch mit zum Bodenteam gehört Fähnrich Skayle, dem sie verdankt, dass sie ihre Gefangenschaft bislang heil überstanden hat. Obwohl sie auf verschiedenen Seiten kämpfen, gibt sie nach und nach Informationen preis, um Skayle vor Schaden zu bewahren - und wird auf diesem Wege unfreiwillig zur Schutzgöttin für die ganze Mission ...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Für Per Danke für die Musik!
SAGITTARIUS-BANK (BESIEDLUNGSGESCHICHTE) – [...] Nach dem erfolgreichen Aufstand auf Quirinus begann das neu ausgerufene Supremat mit der Erschließung neuer Sonnensysteme. Nicht länger durch die Gebote der Heiligen Mutter Erde gebunden, expandierte es (unter grober Missachtung der lokalen Ökosphären) rapide über die gesamte Osthälfte der Sagittarius-Bank. Diese an habitablen Welten außergewöhnlich reiche Raumregion wurde zur wirtschaftlichen Basis für die interstellare Vormachtstellung, die das Supremat in der Folgezeit stetig ausbaute. [...]
Nachdem ein hinreichend großer Grundstock an Menschen verfügbar war, die nie mit Hochtechnologie in Berührung gekommen waren, fiel es dem Supremat leicht, bei der Erschließung neuer Welten von vornherein vortechnische Kulturen zu etablieren und ihre eigene Anbetung als Gottheiten zu sichern. Es entstand eine ejfiziente Exportwirtschaft auf der Basis von Opfergaben. Zu besonders ergiebigen wirtschaftlichen Zentren entwickelten sich die Welten Berlitz, New Columbus, Crowley, Evola, Magellan, [...]
- klerikale Enzyklopädie der Kurflotte
Teil I: Sondierung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Teil II: Einsatzgebiet
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Teil III: Mission
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Worterklärungen
Die Sonne von Magellan war eine gleißende Erbse, weit entfernt und winzig und doch ein wohltuender Halt für das Auge. Als Körnchen aus weißem, blauem, gelbem und orangenem Licht sprenkelten die Sterne das Schwarz des Alls, das von der diamantenen Schärpe der Milchstraße locker in zwei Halbkugeln geteilt wurde. Nach dem endlosen Flug durch die Leere labte sich Normands Seele am Farbenspiel des Himmels, vor allem aber an dem Wissen, dass all dies echt war und nicht Teil einer Simulation.
Wie so viele Male zuvor, betrübte ihn einmal mehr der Gedanke, diese erhabene Schönheit durch Gewalt besudeln zu müssen.
„Neue Sensordaten, Sir“, übertönte Lieutenant Fargo das gedämpfte Stimmengewirr auf der Brücke der Entschlossenheit. „Position vierzehn. Damit sind alle Partikelgranaten planmäßig detoniert, Sir.“
„Was ist mit den Scouts?“, fragte Normand zurück. Sofort ließ Fargo die dunklen Finger über die Konsole ihres Gyrosessels huschen.
„Staffel sechs wird ihre Position leicht korrigieren müssen“, erwiderte sie kurz darauf. „Alle anderen liegen wie vorgesehen in den Überlagerungszonen verborgen, Sir.“
Normand seufzte. „Sichtbarkeitsindex?“
„Unter zwei Prozent, Sir“, kam es sofort von der Offizierin. „Und Staffel sechs liegt weit draußen im freien Raum, minimales Entdeckungsrisiko.“
Nach kurzem Überlegen nickte Normand dem schwarz gelockten Hinterkopf der Offizierin zu. „Na schön“, brummte er. „Ändern lässt es sich ohnehin nicht mehr. Wie lange, bis die ersten Schockfronten auf die Planeten treffen?“
„Bis wir die ersten Bilder von Magellan bekommen, noch sieben Minuten.“ Fargo schien die Fragen des Commodore vorauszuahnen, so schnell kamen ihre Antworten. „Trastamara noch dreizehn Minuten. Die Lichtstrecke zwischen beiden Planeten beträgt aktuell acht Minuten sechsundzwanzig, also ist eine gegenseitige Warnung ausgeschlossen.“
„Haben wir aktuelle Nahaufnahmen von Magellan?“
„Ja, Sir, von Staffel drei.“
„Projektion“, kommandierte Normand und lehnte sich zurück. Augenblicklich erschien unter dem Scheitel der Kuppel das dreidimensionale Abbild eines Planeten.
Magellan war wunderschön, stellte ein seltsam losgelöster Teil von Normands Verstand fest, der sich gerade nicht mit dem taktischen Abwägen von Aufwand zu Effekt befasste. Die Aufnahmen von Staffel drei zeigten den Planeten in der Halbphase, eine riesige Murmel mit filigranen, weißen Wolkenwirbeln über pfirsichgolden glänzenden Ozeanen. Zur verwaschenen Tag-Nacht-Linie hin dünnten sich die Wolken aus und enthüllten einen fantastischen Ausblick auf das fein gemeißelte Relief eines Kontinents. Grün und braun, gelb und grau zeichneten sich Ebenen und Gebirgszüge ab, von Schluchten durchkreuzt und von Flussläufen geädert. Es war ein Anblick, der zum Träumen einlud und Normand hätte sich gewünscht, der Einladung folgen zu können.
Er scheuchte sein ästhetisches Empfinden dorthin zurück, wo es während eines Gefechts hingehörte, indem er sich unter den Rand des Baretts fasste und seine Glatze kratzte. „Immer noch keine Anzeichen von militärischer Aktivität?“
Fargo schüttelte den lockigen Kopf. „Negativ, Sir. Alle bislang georteten Ziele im Orbit um Magellan scheinen ziviler Natur. Und größtenteils inaktiv, Sir.“
„Was ist mit Trastamara?“
„Ebenfalls nichts, Sir. In dem Stützpunkt scheint man unsere Aktivitäten bislang nicht bemerkt zu haben.“
„Nun“, murmelte Normand grimmig, „das wird sich bald ändern.“
Festgeschnallt im Kommandantengyro betrachtete er die Projektion von Magellan, die sich vor seinen Augen gemächlich drehte. Während sich Staffel drei auf ihrem Orbit zur Nachtseite hinüber bewegte, wurde die sonnenbeschienene Hälfte des Planeten allmählich schmaler. Die Nachtseite aber zeigte sich in einer so vollkommenen Schwärze, dass Normand Mühe mit der Vorstellung hatte, es handele sich um eine besiedelte Welt. Laut den Informationen der Gefangenen wohnten über hundert Millionen Menschen auf diesem Planeten. Verzichtete diese vortechnische Kultur denn bei Nacht so vollkommen auf jede Beleuchtung? Bei Gelegenheit musste er Dr. Jannigan danach fragen.
„Meldung läuft ein, Sir“, kam es zu seiner Linken von Lieutenant Berts. „Staffel zwei. Partikelschatten mit deutlichen Entladungsmustern bei zweiundachtzig-neun-sechs, achtundsechzig-achtzig ...“
„Details auf mein Display“, fiel ihm Normand ins Wort und senkte den Blick auf die schematische Darstellung des magellanschen Sonnensystems, das über seiner Ringkonsole schwebte. Sie zeigte die Ebene der Planetenbahnen von schräg oben, überlagert mit den Explosionswellen der Partikelgranaten. Zu den blauen Symbolen für die Schiffe seines Geschwaders hatte sich ein rotes gesellt, ein gutes Stück oberhalb der Planetenbahnen, weit draußen im freien Raum. Beim Blick auf die daneben eingeblendeten Messdaten legte Normand nachdenklich die Finger an sein Kinn.
„Das kann höchstens eine Jägerstaffel sein“, sprach er seine Gedanken laut aus. „Wo ist das Mutterschiff?“
„Die Auswertung läuft noch, Sir“, meldete Berts. „Staffel zwei und sieben melden ebenfalls Ortungen, allerdings noch sehr unklar. Weitere Daten sind mit Eintreffen der nächsten Schockfronten zu erwarten, in ... achtzehn Minuten, Sir.“
Brütend starrte Normand auf die Darstellung des Magellan-Systems. „Das gefällt mir nicht“, murmelte er in seine Finger.
„Sir?“, kam es sofort von Lieutenant Berts und Normand deutete auf sein Display.
„Die Fronten der ersten Granaten durchlaufen das System seit fast einer Stunde“, sagte er. „Oberhalb und unterhalb der Ekliptik, vom Kuipergürtel bis fast zur Sonnenkorona. Und alles, was wir bislang aufgespürt haben, sind ein paar kleine Jagdflieger. Wo ist die interplanetare Verteidigung?“
„Es fehlen immer noch rund zwanzig Prozent des gescannten Volumens, Sir“, gab Berts zu bedenken. „Und falls wir großes Pech haben und die feindliche Hauptmacht in einer der Überlagerungszonen lag, orten wir sie mit der nächsten Salve.“
Normand wog diese Überlegungen immer noch gegen sein unbehagliches Bauchgefühl ab, als Lieutenant Fargo meldete: „Sir, in wenigen Sekunden können wir das Auftreffen der ersten Schockfront auf Magellan beobachten.“
Er richtete seine Aufmerksamkeit zurück zur Projektion des paradiesisch anmutenden Kolonieplaneten. Die Tag-Nacht-Linie hatte sich inzwischen ein gutes Stück in die helle Hälfte hineingedellt. Noch immer war die farbenfrohe Sichel der Tagseite sehr breit, doch mittlerweile dominierte eindeutig die Schwärze der Nachtseite.
Dann blitzten nahe der Polregion die ersten Lichtfunken auf.
Binnen eines Lidschlags erblühten Polarlichter von ungeheurer Helligkeit, breiteten sich züngelnd über die gemäßigten Breiten aus, ein Farbenspiel von überwältigender Pracht, das für wenige Sekunden den gesamten Globus einhüllte. Sogar auf der Tagseite hoben sie sich in Blau, Grün, Rot und Orange von der hell beschienenen Planetenoberfläche ab, ehe sie ebenso schnell, wie sie gekommen waren, wieder verglommen. Ein harmloses Schauspiel, so ging es Normand durch den Kopf, wenn man es aus der Magnetosphäre und der Atmosphäre eines Planeten wie Magellan heraus beobachtete. Jeder Raumfahrer allerdings, der sich in diesem Moment ohne XN-Schilde im Orbit um den Planeten befunden hätte, wäre gegrillt worden.
„Meldung läuft ein, Sir“, ertönte die Stimme von Lieutenant Berts. „Staffel drei. Deutliche Partikelschatten überall im Orbit um den Planeten, Sir.“
„Auf mein Display“, kommandierte Normand und widmete seine Aufmerksamkeit der Orbitalkarte von Magellan. Stirnrunzelnd begutachtete er die neu eingetragenen Daten.
„Das sieht mir nach einem gewöhnlichen Gitter von Abwehrsatelliten aus“, stellte er schließlich fest. „Aber wo ist High Cusco?“
„Sir?“, wandte sich Berts nach ihm um.
„Das Weltraumhabitat“, bekräftigte Normand. „High Cusco. Hat Staffel drei schon eine Spur davon gefunden?“
„Negativ, Sir“, erwiderte Berts nach einem schnellen Blick auf seine Konsole. „Laut den Angaben von Staffel drei befindet sich im gesamten stabilen Orbitalraum rund um Magellan kein künstliches Objekt, das größer wäre als fünfter Rang.“
Mit mahlenden Kiefern schaute Normand vom verdächtig leeren Diagramm der Umgebung von Magellan zum nicht weniger leeren Diagramm des ganzen Systems. „Wann erreicht die nächste Schockfront den Planeten?“
Mit einem schnellen Handgriff sah Fargo nach. „Wir bekommen die Bilder in acht Minuten, Sir. Einhundertvierzig Grad gedreht. Der Partikelschatten, den der Planet selbst in der letzten Front geworfen hat, wird diesmal vollständig ausgeleuchtet sein, Sir.“
„Gut“, gab Normand halblaut zurück, während er vor den Lippen die Fingerspitzen zu einem Zelt zusammenlegte und nachdachte. Dunkel und so geheimnisvoll wie dieses ganze Sonnensystem hing die Nachtseite von Magellan unter dem Scheitel der Kuppel. Sollte es wirklich so einfach sein?
„Sir“, riss ihn Lieutenant Fargo aus seinen Gedanken, „in wenigen Sekunden empfangen wir Bilder vom Auftreffen der Schockfront auf Trastamara.“
„Projektion“, kommandierte Normand und beugte sich vor.
Es war angenehm, dass sich hinter dem Fenster endlich etwas bewegte. Seit sie hier in der Luft hingen, hatte Skayle in der Scheibe vor allem sein eigenes Spiegelbild betrachtet – das magere Gesicht und den wirren Haarschopf des schüchternen, kleinen ITlers, der sich nie getraut hatte, die rothaarige Schönheit neben sich anzusprechen. Bis es zu spät gewesen war.
Entsprechend erleichtert hatte er sich gefühlt, als die Staffel in Sicht gekommen war und mit dem Andockmanöver begonnen hatte. Es hatte ihm und Jadie ein dienstliches Gesprächsthema verschafft und so das angespannte Schweigen zwischen ihnen gebrochen.
Nun galt seine Aufmerksamkeit dem letzten herandriftenden Raumfahrzeug der Staffel. Zusammengefaltet und eingeklappt, verliehen die Ausleger mit ihren knotigen Sensortrauben der unteren Hälfte des Scoutboots ein Aussehen, als habe ein Kind den Inhalt seines Elektronikbaukastens zu einem Knäuel zusammengeklebt. Von der tonnenförmigen Antriebseinheit griffen die Emitter der Schilde ins All hinaus wie kurze, krumme Spinnenbeine, an deren Enden rote Positionslichter blinkten. Sobald die Tonne mit dem Kopplungsstutzen voraus in die Achse der Wahrhaftigkeit stieß, fühlte Skayle den Anprall als leichte Vibration in den Fingerspitzen, die am Rand der Sichtluke auflagen.
„... und Nummer null-sechs“, brummte Jadie. „Willkommen zuhause, vierte Staffel.“
Zögernd streckte Skayle die Hand aus, um ihre Schulter zu tätscheln. „Wir werden schon noch wieder mit nach draußen fliegen.“
„Klar“, bemerkte Jadie säuerlich. „Aber bis wir unser Abenteuer auf Magellan hinter uns gebracht haben, packen sie uns beide in Watte!“
„Kannst du es ihnen verübeln?“, meinte Skayle mit einem Achselzucken. „Es hat ein Jahr Bordzeit gedauert, uns für die Mission zu trainieren. Und sie haben keine Ersatzleute ...“
„Erzähl mir doch mal was Neues!“, brauste Jadie auf und Skayles Hand zuckte zurück. Einige Momente lang schauten sie nur durch die Sichtluke nach draußen, an der Reihe der frisch angedockten Scoutboote entlang. Bei einem nach dem anderen erlosch das Blinken der Positionslichter und ging in den steten Schein der grünen Bereitschaftsleuchte über.
„Ich seh’s ja ein“, seufzte Jadie endlich. „Aber deshalb muss ich mich noch lange nicht darüber freuen, dass wir den ganzen Spaß verpassen! Und dass ich deswegen mit meiner Beförderung zurückgestellt wurde ...“
„He, he, die wirst du schon noch bekommen“, lachte Skayle. „Wahrscheinlich mit ’ner Auszeichnung oben drauf, wenn wir erst von unserer Mission zurück sind. Aber für den Moment können sie dich schlecht zum Staffelführer machen, wenn du die ersten Einsätze gar nicht mitfliegst, oder?“
„Skayle“, stöhnte Jadie und schloss kurz die Augen, „tu mir einen Gefallen und hör auf, mich aufzumuntern, ja?“
„Tut mir leid“, murmelte Skayle so leise, dass es im Surren unterging, mit dem die Luke zum Andockkorridor aufschwang.
Eine Traube von Gesichtern und blau uniformierten Leibern kam schwerelos herausgeschwebt. Jadie und Skayle klatschten Hände ab, klopften Schultern und rempelten Rippen, während die Nabenkammer von den üblichen rauen Begrüßungen nach einem Flugeinsatz schwirrte. „He, Nath“, rief Jadie durch die Luke, als dort die silberne Spike-Frisur und das schmale Albinogesicht ihrer bisherigen IT-Partnerin sichtbar wurden. „War dein Lieutenant auch brav?“
Ehe Nath hätte antworten können, mischte sich von weiter hinten eine lachende Stimme ein: „Ich geb’ dir gleich brav, du!“ Sekunden später wurde im Gedränge der rotblonde Kopf des langen Dorrit sichtbar, der sich freiwühlte und erst Jadie, dann Skayle die Hand zum Abklatschen hinhielt. An seinem Kragen prangte das Rangabzeichen des Lieutenant und am Ärmel das Emblem, das ihn als Staffelführer der vierten Scouts auswies.
Lachend und lärmend drängte sich die ganze Staffel in den Liftschacht zum Habitatring. Gewohnheitsmäßig hielt Skayle sich bei den üblichen Späßen und Kapriolen zurück, die es mit sich brachte, wenn ein Haufen Piloten den Schacht bei Schwerelosigkeit benutzte. Wie immer fiel es nicht auf. Als die vierten Scouts in die Messe auf dem Habitatring hineinplatzten, fand sich Skayle in der Mitte seiner üblichen Clique – Jadie, Dorrit und Royce, diesmal plus Nath und Tanner. Ein paar Schleiertechniker von der Wartungscrew, die gerade Kaffeepause gemacht hatten, schwebten hastig dem ausgelassenen Pulk aus dem Weg, der sich nun über die Bänke und Tische breit machte.
Jetzt erzählt doch endlich!“, forderte Jadie mit leuchtenden Augen. „Wie war’s? Was habt ihr gefunden?“
Dorrit nahm aufreizend langsam einen Schluck aus seiner Kaffeeblase, ehe er sie zurück auf den blau leuchtenden Schleiertisch hinabdrückte, wo sie haften blieb.
„Ganz ehrlich?“, fragte er schließlich zurück. „Das war der langweiligste Aufklärungsflug, den ich je erlebt habe.“
„Das ganze System ist leer, sage ich euch, leer!“, mischte sich nun Royce ein und betonte noch die beachtliche Breite seiner Schultern, indem er die Arme ausbreitete. „Ein paar Schwärme Roboterdrohnen, weiter nichts. Kein einziges ernstzunehmendes Kampfschiff. Nichts mit schweren Geschützen.“
Skayle schaute stirnrunzelnd zwischen den beiden Piloten hin und her. „Was macht euch so sicher, dass es Roboter sind?“
„Die Ortswechsel zwischen den Schockfronten“, warf Nath sofort mit ihrer Piepsstimme ein. „Bemannte Schiffe beschleunigen nicht mit zwanzig g.“
Eine von Jadies kupfernen Augenbrauen ging in die Höhe. „Zwanzig g? Bist du dir sicher?“
Aus himbeerroten Augen bedachte die blasse ITlerin ihre frühere Pilotin mit einem gekränkten Blick. „Ich weiß durchaus auch dann meinen Job zu machen, wenn zufällig nicht du am Steuer sitzt, Süße! Du kannst gern einen Blick auf die Rohdaten werfen.“ Sie klopfte auf die Schleiertasche an ihrer Hüfte.
„Ich glaub’s dir, ich glaub’s dir“, wiegelte Jadie ab. „Aber das ergibt keinen Sinn! Abgesehen davon, dass sie sich damit sofort als Drohnen verraten – Für den ersten Stellungswechsel nach einem Systemscan vergeudet man doch seinen Treibstoff nicht als Stützmasse für Hoch-g-Manöver! Gerade wenn sie ohne Mutterschiff da draußen rumdümpeln, sollte man doch meinen, dass sie sich jeden Tropfen für den Nahkampf aufsparen.“
„Erzähl das nicht uns“, meinte Dorrit achselzuckend. „Erzähl es den Suprematen. Sie werden deine Nachhilfe in Taktik sicher zu schätzen wissen.“
Angesichts der scharfen Antwort, die sich in Jadies blauen Augen zusammenzubrauen begann, ging Skayle hastig dazwischen: „Wie sieht es mit der orbitalen Verteidigung aus?“
Royce wandte ihm das gebräunte Gesicht zu. „Meinst du die bei Magellan selbst oder den Trastamara-Stützpunkt?“
„Beide.“
Die zwei Piloten tauschten einen Blick, während Nath in ihrer Piepsstimme schnatterte: Magellan ist mit Satelliten regelrecht zugepflastert. Nichts mit viel Feuerkraft, aber wir werden euer Team nicht dort absetzen können, ohne vorher den Weg freizuschießen. Trastamara ..."
Dorrit nutzte ihr Stocken, um zu übernehmen: „Trastamara ist das große Rätsel. Außerhalb des Strahlungsgürtels war wirklich gar nichts. Drinnen können theoretisch hundert getarnte Kreuzer auf uns warten – oder gähnende Leere. Was immer die Suprematen dort gebunkert haben“, schloss er mit einem verkniffenen, kleinen Lächeln, „es soll wohl eine Überraschung für uns sein.“
Um sie her schwirrte das fröhliche Geplauder der vierten Staffel. Kaffeegefüllte Blasen, Schleierboxen mit Kuchen und herumalbernde Kameraden schwebten vorüber. Skayle kannte die ausgelassene Atmosphäre vor einem Gefecht, wenn alle das Leben genießen wollten, gerade weil es in Kürze vorbei sein könnte. Diesmal kam es ihm anders vor, gleichzeitig zurückhaltender und übermütiger. Er selbst konnte nicht glauben, dass die Suprematen das Magellan-System ohne nennenswerte Verteidigung zurückgelassen hatten und er bezweifelte, dass auch nur ein einziger seiner Kameraden so naiv war. Die unerwartete Leere dieses Sonnensystems wirkte bedrohlicher als eine waffenstarrende Division.
„Klingt nach einem Job für ein paar richtig gute Scouts“, brach endlich Jadie mit einem Zwinkern das Schweigen.
„Mag sein“, erwiderte Dorrit und hob mahnend den Zeigefinger, ehe er grinsend hinzufügte: „Aber du und Skayle bleibt trotzdem brav hinten!“
Es tat gut, wieder im Gefecht zu sein, dachte Captain Caldore. Es tat gut, wieder tagelang die Schwerelosigkeit zu fühlen und diesen Hauch von Anspannung, jederzeit für eine Triebwerkszündung bereit sein zu müssen. Noch lagen sie weit draußen, noch waren keine plötzlichen Feindkontakte zu erwarten. Doch schon jetzt begann das alte Jagdfieber, ihr durch sämtliche Adern zu kribbeln.
Lächelnd schaute sie an der virtuellen Tafel entlang, an der Normand den Stab versammelt hatte. Durchscheinende Geisterbilder der ranghöchsten Offiziere des Geschwaders saßen um den langen Tisch, der deutlich über die Wände ihres Quartiers hinausragte. Und ob alte Piraten wie sie selbst oder „Verfassungskinder“ von den Akademien der Union: Es war gut, wieder mit Kämpfern an einem Tisch zu sitzen und nicht nur mit Eierköpfen wie Jannigan und Mandrin.
„Meine Damen, meine Herren“, eröffnete Normand die Versammlung, „Commander Pyre wird Ihnen nun die Erkenntnisse der Scouts zusammenfassen. Commander?“
Der jüngste Offizier des Stabs erhob sich, um in diesem virtuellen Besprechungsraum seinen Vortrag zu halten. Von der Verunsicherung, mit der er bei Drake 4 an dieser erlauchten Runde teilgenommen hatte, war ihm nichts mehr anzumerken. Die Selbstsicherheit des Veteranen unter Gleichrangigen zeichnete sein dunkles Gesicht, als er vor das Fußende der Tafel schwebte und ein großes Displayfenster öffnete.
„Wie Sie alle wissen“, begann er, „haben wir das Magellan-System mit zwei Salven Partikelgranaten ausgeleuchtet. Unsere Staffeln konnten ungehindert das ganze System im Radius einer Lichtstunde scannen. Wir haben also ein geradezu lehrbuchmäßig klares Bild der taktischen Ausgangslage.“
Seine Hand ging in einer kreisenden Bewegung über das Schaubild, das in der Draufsicht die Planetenbahnen des Magellan-Systems zeigte. „Wir wussten vorher schon“, erklärte er, „dass hier in diesem System, weit hinter den Frontlinien, nur schwache mobile Streitkräfte stationiert waren. Allem Anschein nach wurden auch diese Streitkräfte abgezogen. Sogar das Weltraumhabitat High Cusco wurde aus seiner Umlaufbahn um Magellan entfernt“ – Er deutete auf den kleinen, blauen Kreis, der den Terra-Typ-Planeten symbolisierte – „und in einen neuen Orbit gebracht, den wir allerdings nicht lokalisieren konnten. Wir können nur mit Sicherheit sagen, dass er sich nirgends innerhalb des Ein-Lichtstunden-Radius befindet.“
„Könnte das Habitat ganz aus dem System geschafft worden sein?“
Die Frage trug Captain Gellard rund um die Tafel Kopfschütteln und Augenrollen ein. Caldore selbst gab sich keine Mühe, ihr verächtliches Schnauben zurückzuhalten. Gellard war erstklassig in der Menschenführung, aber das ganze Geschwader war erleichtert, dass sie technische Fragen ihren Untergebenen zu überlassen pflegte.
Selbst der stets verständnisvolle Pyre konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er antwortete: „Wir reden hier nicht von einem Schiff, Ma’am.“
Gellard verengte die mandelförmigen Augen und drückte einen bleichen Finger auf das Display, das sie vor sich auf dem Tisch abgelegt hatte. „Laut Geheimdienstinformationen ist High Cusco nur zweiten Ranges ..."
„Das stimmt“, fiel Pyre ihr ins Wort und bewahrte sie so vor weiteren Peinlichkeiten, „aber ein Habitat zweiten Ranges. Nicht nur ein paar Module und Röhrenkorridore in Leichtbauweise, sondern eine kompakte Anballung von riesigen Hallen, Gärten und Anbauflächen. Sie werden darin sogar Steinmauern und marmorne Monumente finden. Das Habitat High Cusco hat vielleicht ähnliche Abmessungen wie die Entschlossenheit, aber mehr als das Hundertfache der Masse. Um es auf interstellare Reisegeschwindigkeiten zu beschleunigen, wäre eine ungeheure Triebwerksleistung erforderlich. Von dem Aufwand, ein Habitat mit einem G-Gerüst für die nötigen Schubkräfte auszustatten, will ich gar nicht erst reden.
Nein“, wandte sich Pyre wieder seinem Schaubild zu, „wahrscheinlieh wurde High Cusco nur innerhalb des Systems verschoben. Nachdem die Nachricht unseres Vorstoßes hier eingetroffen war, blieben den Verteidigern immer noch fast zwei Jahre, um sich vorzubereiten. Selbst wenn sie High Cusco nur mit Triebwerken für ein tausendstel g bestückt haben, hätte die Zeit locker ausgereicht, um das Habitat in den hiesigen Kuipergürtel zu hieven.“ Er wedelte mit der Hand über den Randbereich des Systems, den weiße Punktsymbole tupften wie ein Schneegestöber. „Und den halten wir in unserem Korps auch für das wahrscheinlichste Versteck.“
Der einäugige Captain Tendrall hob seine Hand. „Wie stehen die Chancen Ihrer Scouts, es dort draußen aufzuspüren?“
Pyre zeigte ein bedauerndes Kopfschütteln. „Wenn sie das Habitat nicht im vollen Betrieb belassen haben, quasi gleich Null, Sir. Dann müssen sie nicht einmal zur Tarnung die Schilde laufen lassen, sondern können sich damit zufriedengeben, als einer von zehntausenden unverdächtigen Brocken da draußen zu kreisen. Und wir gehen davon aus, dass sie den Betrieb allein schon heruntergefahren haben, um Ressourcen zu sparen. Das wahrscheinlichste Vorgehen wäre, dass sich die gesamte Bevölkerung momentan in Cryostasis befindet bis auf die üblichen wechselnden, kleinen Wachschichten.“
„Dann gehen den Suprematen ja alle ihre schönen Gärten ein“, lästerte Commander Groyer und schaute mit ihrem breiten, von einem Netz aus Tätowierungen überzogenes Gesicht in die Runde. Ihre Bemerkung entlockte einigen der anderen Offiziere ein lauwarmes Gelächter. Caldore lachte nicht mit und, wie sie sich mit einem raschen Seitenblick vergewisserte, Normand ebensowenig.
Auch Pyre wartete lediglich geduldig das Lachen ab, ehe er unverändert ernst fortfuhr: „Was ansonsten im Orbit von Magellan zurückgeblieben ist, stellt kein großes Hindernis für uns dar. Der Satellitengürtel wurde verstärkt, aber eins unserer Schlachtschiffe würde genügen, um ihn auseinanderzunehmen. Alles, was er uns kosten wird, ist ein bisschen Zeit.
Ähnlich verhält es sich mit der systemweiten Verteidigung“, schwenkte Pyre zum nächsten Thema über, während seine Hand erneut über das Schaubild schweifte. „Wir haben insgesamt drei Schwärme von Roboterdrohnen aufgespürt, die ich unter normalen Umständen als taktische Reserve des Feindes einordnen würde. Aber zum einen sind sie dafür viel zu schwach – ihre gesammelte Tonnage würde keine zwei unserer Schiffe aufwiegen. Und zum anderen verhalten sie sich, vorsichtig ausgedrückt, sehr merkwürdig.“
Auf eine Handbewegung des Commanders hin erschienen einige rote Schiffssymbole und Pfeile im Schaubild des Magellan-Systems. „Während jeder Salve“, so erläuterte Pyre, „vollzogen die Drohnen sofort einen Stellungswechsel mit Höchstbeschleunigung. Um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, hätten Ein-g-Manöver vollkommen ausgereicht. Aber unsere Scouts registrierten Bewegungen mit zwanzig bis dreißig g.“
„Vielleicht sollten sie sich beim ersten Anzeichen eines Angriffs an einem bestimmten Rendezvouspunkt sammeln?", mutmaßte Commander Avanorpe, erntete aber vom Oberbefehlshaber der Scouts sofort ein Kopfschütteln.
„Die Stellungswechsel scheinen wahllos in alle möglichen Richtungen gegangen zu sein“, erklärte Pyre. „Der einzige Effekt, den wir beobachten konnten, besteht darin, dass wir schon zwei Tage nach dem Scan keine Ahnung mehr haben, wo sich diese Schwärme aufhalten. Während wir dieses Gespräch führen, sind wir über die Position der Drohnen wieder genauso im Unklaren wie vorher. Wir müssten eine weitere volle Salve Partikelgranaten abfeuern, um sie wieder aufzuspüren.“
„Vielleicht ist das gerade der Sinn der Sache“, meldete sich Caldore erstmals selbst zu Wort. „Möglicherweise will der Feind uns dazu verleiten, unseren gesamten Vorrat an Partikelgranaten aufzubrauchen, bevor er die ersten ernst zu nehmenden Kräfte in den Raum schickt.“
„Wenn es hier überhaupt ernst zu nehmende Kräfte gibt“, schnaubte Groyer.
Pyre zeigte ein vorsichtiges Nicken in Richtung Caldore, wirkte aber selbst nicht überzeugt. „Ihre Erklärung haben wir auch schon intern diskutiert, Ma’am“, sagte er vorsichtig. „Es kann durchaus sein, dass es in diesem System noch verborgene feindliche Reserven gibt, nämlich auf den Monden von Trastamara 12.“
Der Commander öffnete ein weiteres Display, das eine Nahaufnahme des Gasriesen zeigte. Vor dem Antlitz des Planeten mit seinen roten und beigefarbenen Wolkenbändern schwebte eine Reihe Murmeln in verschiedenen Größen und Farben.
„Hier im Vordergrund“, sprach er und deutete auf eine sandfarbene Murmel, „haben wir Enrique. Er kreist außerhalb des Strahlungsgürtels von Trastamara und beherbergt die größten Industrieanlagen des Magellan-Systems – oder besser gesagt: beherbergte. Wie die achte Staffel im Tiefflug feststellen konnte, wurden sie alle gesprengt. Das gleiche gilt für die Industrieanlagen auf Catalina und Fernando, die sich zum Zeitpunkt dieser Aufnahme auf der anderen Seite des Gasriesen befanden.
Das hier“ – mit diesen Worten wanderte sein deutender Finger zu einer roten Murmel – „ist Johanna, ein vulkanisch extrem aktiver Mond des Io-Typs. Der Strahlungsgürtel des Planeten wird in erster Linie von seinen Eruptionen gespeist. Einen militärischen Stützpunkt dort können wir ausschließen – er hätte zu viel mit Erdbeben und Vulkanausbrüchen zu kämpfen, um von Nutzen zu sein. Unser eigentliches Problem liegt hier.“
Mit einem Griff in das Bild vergrößerte Pyre die letzte Murmel heraus, bis ihre blaugraue Marmorierung in die harten Konturen von Kratern, Gebirgszügen und Ebenen zerfiel.
„Isabella“, verkündete Pyre. „Der größte Mond von Trastamara. Er kreist innerhalb des Strahlungsgürtels, also kann sich nichts und niemand unter Tarnschilden unbemerkt nähern. Auch schirmt ihn der Gürtel wirkungsvoll gegen jeglichen Annihilatorbeschuss von weiter draußen ab. Wir wissen, dass es dort einen Stützpunkt gibt, aber wir haben keinerlei Informationen darüber, wie stark ausgebaut er ist, ob er über autarke Industrieanlagen verfügt – oder ob er überhaupt noch bemannt ist und nicht aufgegeben wurde wie das restliche System. Isabella kann eine harmlose Ruine sein oder eine Bombe, die nur darauf wartet, dass wir unvorsichtig werden, um dann in unserem Rücken hochzugehen.“
Nachdenkliche, konzentrierte Blicke ruhten auf den Displays am Fuß der Tafel. Für einen Moment schloss Caldore die Augen, um ihre Gedanken frei treiben zu lassen und die taktische Analyse ihrem Bauchgefühl zu überlassen.
„Zuerst sollten wir uns um diese ominösen Drohnengeschwader kümmern“, brach Captain Braben als erster das Schweigen, „solange wir noch Anhaltspunkte haben, wo wir sie finden.“
„Wir haben mehr als genug Kräfte hier, um die Drohnengeschwader und Trastamara gleichzeitig anzugehen“, warf Tendrall ein, nur um sofort Widerspruch von Braben zu ernten: „Nach allen Regeln der Kriegskunst sollten wir das Geschwader nicht aufteilen, ehe wir nicht die Stärke der feindlichen Reserven auf dem Trastamara-Stützpunkt ab schätzen können.“
„Die Jagd auf diese Drohnen kann eine Weile dauern, Sir“, gab Pyre vom Fuß der Tafel her zu bedenken. „Falls sie mit zusätzlichen Treibstofftanks ausgestattet sind, können sie mit ihren Hoch-g-Manövern wochenlang mit uns Fangen spielen.“
„Wie hoch schätzen Sie das Risiko von verborgenen Streitkräften im Kuipergürtel?“, hörte Caldore Commander Avanorpe noch fragen, aber ihre Aufmerksamkeit driftete schon ab. Details der feindlichen Taktik trieben durch ihren Hinterkopf, hafteten aneinander und begannen, sich zu einem klaren Bild zusammenzufügen ...
Neben ihr ertönte Normands volle, tiefe Stimme: „Ich kann Captain Braben nur Recht geben. Gerade weil die Verteidigung auf den ersten Blick so unerwartet schwach erscheint, will mir der Gedanke nicht gefallen, das Geschwader aufzuteilen. Selbstverständlich sollten wir im Orbit um Trastamara eine Scoutstaffel postieren, um jede Feindbewegung durch den Strahlungsgürtel ...“
Caldore räusperte sich. „Sir?“
Fragend wandte Normand ihr die dunklen Augen zu. „Captain?“
„Ich möchte hiermit nachdrücklich widersprechen, Sir“, sagte sie. „Wir sollten das Geschwader aufteilen, Sir, um das System so schnell wie möglich zu sichern.“
Stirnrunzelnd fasste ihr alter Genosse sie ins Auge. „Was bringt Sie zu dieser Einschätzung, Captain?“
Scharf fixierte Caldore das Schaubild, neben dem Pyre aufmerksam in der Luft hing.
„Nun, Captain“, erklärte sie, „alle Maßnahmen des Feindes zur Verteidigung dieses Systems haben eine Gemeinsamkeit. Der Satellitengürtel rund um Magellan wurde verstärkt – nicht so, dass er uns ernsthaft schaden könnte, aber ihn zu durchdringen wird länger dauern. Ein paar Drohnenschwärme spielen Fangen mit uns – sie können uns nicht mehr als Nadelstiche zufügen, aber sie werden uns beschäftigt halten. Und der Stützpunkt bei Trastamara hält sich vollständig bedeckt und verschanzt sich hinter seinem Strahlungsgürtel.
Der Feind spielt auf Zeit, Sir“, schloss Caldore. „Und wenn die Zeit für ihn arbeitet, dann arbeitet sie gegen uns. Darum schließe ich mich Captain Tendrall an: Wir sollten uns aufteilen und zusehen, dass wir so schnell wie möglich mit unserer ... eigentlichen Operation auf Magellan beginnen, Sir.“
Groyer wandte ihr skeptisch die tätowierte Miene zu. „Ma’am, welchen Vorteil sollte der Feind davon haben, hier auf Zeit zu spielen? Die Funkmeldung von unserem Sieg über Drake 4 wird erst in anderthalb Jahren das feindliche Kontingent auf Crowley erreichen – und bis sie unseren Aufbruch nach Magellan registriert haben, werden noch einmal weitere Monate vergehen. Selbst wenn sie unverzüglich Entsatz in Marsch setzen, wird er frühestens in acht bis neun Jahren hier eintreffen.“
„Wissen wir das sicher?“, gab Caldore zurück. „Wissen wir sicher, dass erst die ganze Signalkette über Crowley und zurück durchlaufen werden muss, ehe wir hier Arger bekommen? Möglicherweise war zufällig ohnehin schon eine Division im Schattenflug nach Magellan unterwegs.“
„Warum?“, wandte nun auch Braben ein. „Magellan liegt weit abseits des Kampfgeschehens. Strategisch gesehen ist diese Stellung absolut unbedeutend.“
„Das ist mir klar“, erwiderte Caldore scharf. „Schließlich sind wir selbst im Grunde nur wegen eines taktischen Unfalls hier. Aber taktische Unfälle passieren auf beiden Seiten. Vielleicht ist der feindliche Entsatz für Magellan näher, als uns lieb sein kann.“
„Das wäre schon ein ziemlich großer Zufall.“ Groyer zeigte ein spöttisches Grinsen.
Caldore bedachte sie mit einem kühlen Blick. „Nennen Sie mir eine andere schlüssige Erklärung für das Verhalten der Defensivkräfte hier im System und ich lasse mich gern überzeugen.“
Die Antwort war Schweigen. Normands durchscheinendes Gespenst neben ihr ließ den Blick über die Reihe der übrigen durchscheinenden Gespenster wandern, während Pyre nachdenklich sein Schaubild des Systems begutachtete.
„Damit läuft es auf die Frage hinaus, welches Risiko wir eher eingehen wollen“, ergriff der Commodore endlich das Wort. „Halten wir das Geschwader zusammen und säubern der Reihe nach das System von Bedrohungen, auf die Gefahr hin, von einer Entsatzstreitmacht von außen kalt erwischt zu werden? Oder teilen wir uns auf, um das System möglichst schnell zu befrieden – auf die Gefahr hin, unerwartet starke Reserven vom Trastamara-Stützpunkt her im Rücken zu haben?“
Es vergingen einige angespannte Sekunden, ehe Caldore erwiderte: „So sieht es aus, Sir.“
Zehn Tage nach dem ersten Ausleuchten fing die Stille des Magellan-Systems an, den Kämpfern der Unionsflotte an den Nerven zu zehren. Dr. Mandrin als leitender Psychologe und Dr. Jannigan als oberste Bordhistorikerin hielten auf der Geschwaderfrequenz eigens einen Plenumsvortrag über die Notwendigkeit, nicht aus den Augen zu verlieren, dass es hier tatsächlich einen besiedelten Planeten gab, auch wenn er keinerlei Anstrengungen unternahm, mit ihnen in Funkkontakt zu treten. Speziell Mandrin nutzte die Gelegenheit, um das Geschwader weiter gegen das Supremat aufzupeitschen. Von Displays in jedem Schiffskorridor schaute sein sonst so gutmütig wirkendes, rundes Gesicht grimmig herab, und eindringlich verkündete er, dass solche Sonnensysteme mit Grabesstille auf allen Funkfrequenzen die Regel würden, sollte das Supremat weitere Kolonien unterwerfen und ihrer Technologie berauben. Und tatsächlich hatte Skayle den Eindruck, dass die Botschaft das Unbehagen seiner Kameraden größtenteils in Kampfgeist verwandelte.
Doch dass der Feind sich nicht stellte und praktisch unsichtbar blieb, ließ diesen Kampfgeist im leeren All verpuffen. Als die Anweisung des Commodore kam, das Geschwader zum Durchkämmen des Systems aufzuteilen, regte sich nicht einmal unter den vorsichtigsten Staffelkommandanten Widerstand. Scouts und Jägerpiloten strebten ungeduldig zu ihren Maschinen, froh über die Gelegenheit, dem zermürbenden Warten zu entkommen. Und angesichts ihrer auferlegten Schonung wurde Jadie noch unleidlicher und rastloser.
„Pyre hat ein fraktales Suchgitter ausstreuen lassen“, mampfte sie ihm zwei weitere Tage später beim Mittagessen vor. „Zwischen den fetten Brummern liegen praktisch alle unsere Drohnen über das ganze System verteilt, um jedem Partikelschatten sofort eine regelrechte Leuchtspur aus Kleinkalibergranaten in den Weg zu schießen. Diesmal schütteln sie uns nicht wieder ab.“
„Können wir uns das überhaupt leisten?“, fragte Skayle und spülte seinen Mundvoll Risotto mit einem Schluck Vitaminsaft herunter. „Im Moment haben wir keine Möglichkeit, Partikelgranaten nachzuproduzieren. Was weg ist, ist weg.“
„Ich hab’ bei der Logistik nachgefragt“, bemerkte Jadie mit einem Achselzucken. „Schlimmstenfalls geht ein Viertel unseres Vorrats an Granaten dabei drauf. Aber danach ist dieses System wenigstens sauber.“
Skayle sah sein Spiegelbild in der Panoramascheibe das Gesicht verziehen. Er und Jadie hatten die Mannschaftsmesse für sich allein und so war es kein Problem gewesen, einen Platz am Fenster mit Blick in Richtung Magellan zu ergattern. Immer nochklein, aber inzwischen sehr hell strahlte mitten im Band der Milchstraße die K-Typ-Sonne des Systems und überzog die Inneneinrichtung der Messe mit rötlicher Abendstimmung. Nicht weit davon entfernt zeigte sich Trastamara als große, rot-beige marmorierte Sichel.
„Ein Viertel unseres Granatenvorrats für drei mickrige Drohnenschwärme“, murmelte Skayle kopfschüttelnd vor sich hin. „Das fühlt sich einfach falsch an. Warum haben wir diese Schwärme nicht ignoriert? Nach allem, was Dorrit erzählt hat, hätten sie so gut wie keinen Schaden anrichten können.“
„Wärst du gern der ,so gut wie keiner' gewesen, den sie aus dem Hinterhalt erwischt hätten?“, fragte Jadie mit schiefem Grinsen zurück.
„Wir hätten einfach unter voller Tarnung nach Magellan fliegen können“, beharrte Skayle. „Wenn uns die Drohnen dorthin gefolgt wären, hätten wir sie im offenen Kampf ausschalten können. Und wenn nicht –“
„Da!“
Jadies angebissene Teigtasche rotierte schwerelos neben ihrem Ohr, als ihr Arm vorschoss und zum Fenster hinaus deutete. Skayle verdrehte den Hals und konnte knapp oberhalb von Trastamara gerade noch eine Funkenwolke verblassen sehen. Ehe er ganz verschwunden war, flammte eine zweite auf, dann eine dritte, nur um nach kurzem Auflodern wieder zu verglühen.
„Sie haben einen der Schwärme gestellt“, entwich es angespannt seiner Kehle.
Gemeinsam verfolgten sie das Feuerwerk. Farbenfrohe Entladungen, die aus der Ferne trügerisch hübsch aussahen, zeugten vom Einschlag von Annihilatorstrahlen in XN-Schilde. Gelegentlich blitzte ein Stern in reinem Weiß, wenn ein Strahl einen Schild völlig durchdrang und auf Materie traf – den Rumpf eines Schiffes, der binnen Sekundenbruchteilen zu Plasma und Gammastrahlung zerbarst.
Es dauerte mehrere Minuten, bis sich über die Bordlautsprecher eine fröhliche Stimme vernehmen ließ: „Liebe Crew der Wahrhaftigkeit, uns erreicht soeben die Meldung, dass der erste der feindlichen Drohnenschwärme ohne eigene Verluste neutralisiert wurde. Das Scharmützel fand in einer Entfernung von ungefähr sechs Lichtminuten statt, genau genommen bei den Koordinaten ...“
Skayle hörte nur mit halbem Ohr zu. Keine eigenen Verluste, dachte er, wartete aber vergeblich darauf, dass sich bei ihm Freude einstellte. Ein ungeheurer Aufwand an Material, nur um einen kaum nennenswerten Feind zu finden und einmal draufzutreten. Was auch immer im Namen aller Verlorenen Welten diese sinnlose, halbherzige Verteidigung bezwecken sollte, Skayle konnte das unbehagliche Gefühl nicht abschütteln, dass sie gerade dabei waren, das Spiel der Suprematen Zeile für Zeile nach deren Skript mitzuspielen.
„Meldung läuft ein, Sir“, meldete Lieutenant Fargo. „Auch der dritte Drohnenschwarm wurde gestellt und neutralisiert.“
„Das ging schnell“, kommentierte Normand. „Position?“
„Schon auf Ihrem Display, Sir.“
Normand warf einen flüchtigen Blick auf das neue Symbol in der Darstellung der Planetenbahnen und betätigte die Kontrollen, um die Orte der beiden anderen Scharmützel einzublenden. Sie bildeten ein lockeres Dreick um die aktuelle Position von Magellan, stellte er fest. Keine der drei Begegnungen hatte weiter von dem Kolonieplaneten entfernt stattgefunden als zwei Lichtminuten.
„Man könnte meinen, sie hätten es darauf angelegt, uns zur planetaren Verteidigung von Magellan hin zu locken“, stellte er halblaut fest. „Aber warum? Da ist nichts!“
„Vielleicht ein Ablenkungsmanöver, Sir?“, schlug Fargo vor, doch Normand winkte ab.
„Ablenkung wovon? In diesem ganzen System scheint es kein einziges militärisches Ziel zu geben – außer vielleicht diesem hier.“ Normands Hand schoss hinauf und deutete auf Trastamara, dessen rot und beige gebänderter Globus in voller Pracht über der Kuppel der Brücke hing. Mit einem unterdrückten Seufzen wandte er sich an Lieutenant Berts. „Wie weit sind wir mit der Einkesselung?“
„Beinahe fertig, Sir“, meldete Berts, ohne den Blick von seiner Konsole zu heben. „Die Besonnenheit und die Beharrlichkeit stehen kurz vor dem Erreichen ihrer endgültigen Orbits. Damit wären die letzten Lücken in der Sphäre um Trastamara geschlossen.“
„Und der Feind lässt uns einfach machen“, murmelte Normand mit argwöhnischem Blick auf den Gasriesen. „Er macht sich nicht einmal die Mühe, nachzusehen, wo wir stecken. Alle Partikelgranaten in diesem System seit unserer Ankunft stammten von uns selbst.“
Unruhig trommelten seine Finger auf die Lehne des Gyrosessels. Ein Display zu seiner Rechten zeigte die Belagerungssphäre um Trastamara, ein kaum entwirrbares Knäuel aus elliptischen Orbits, gespickt mit blauen Schiffssymbolen. Das Symbol des Gasriesen im Zentrum erinnerte Normand an eine Zielscheibe in Rot und Beige, provozierend ins All gehängt von den Suprematen.
Er gab sich einen Ruck. „Lieutenant Fargo, Funkkontakt zu Captain Tendrall herstellen.“
„Sir.“ Fargos schwarzer Lockenkopf bewegte sich knapp, ihre Finger huschten über ihre Konsole. Sekunden später erschien Tendralls feistes, einäugiges Gesicht als durchscheinendes Schleiergespenst vor Normand in der Luft. „Tendrall zur Stelle, Sir.“
„Captain“, fragte Normand ohne lange Vorreden, „wie lange brauchen Sie, um alle Marketenderschiffe zu einem Konvoi zu versammeln?“
Überrascht schaute der Offizier ihn an. „Das kommt drauf an, Sir. Wohin soll es gehen?“
„Nur bis zum Kuipergürtel, Captain“, erklärte Normand. „Ich möchte, dass Sie einen geeigneten Zwergplaneten aussuchen und anfangen, Eis zu schürfen.“
Das trug ihm aus dem verbliebenen Auge des Offiziers einen deutlich irritierten Blick ein. „Wollen wir schon so bald wieder abfliegen, Sir?"
„Nein, wir brauchen so viel Treibstoff.“ Normand holte tief Luft. „Ich will, dass Sie für das ganze Geschwader die Kapazitäten für einen vollen Schattenflug aufbauen. Beschleunigungs- und Bremsphase komplett ohne Einsatz des Bussardkollektors.“
Tendrall pfiff durch die Zähne. „Das könnte eine Weile dauern, Sir. Darf ich fragen, wohin die Reise gehen soll?“
Mit mahlenden Kiefern dachte Normand darüber nach, wieviel von seinen Überlegungen er offenbaren sollte.
„Das weiß ich selbst noch nicht, Captain“, gab er schließlich zu. „Aber in diesem Sonnensystem stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Wenn nötig, müssen wir in der Lage sein, schnell von hier zu verschwinden – und zwar, ohne dass der Feind auf interstellare Distanz unsere Magnetfelder orten kann.“
Nach einer kurzen Denkpause zeigte Tendrall ein langsames Nicken. „Den schnellen Aufbruch sehe ich ein, Sir, aber warum dann auch die Kapazitäten für die Bremsphase? Planen Sie einen Überraschungsangriff gegen ein weiteres System, Sir?“
„Ich plane gar nichts“, erwiderte Normand. „Aber ich will für jede Eventualität gewappnet sein. Wir haben hier nichts von dem vorgefunden, was wir erwartet haben. Also müssen umgekehrt wir bereit sein, mit unserem nächsten Zug den Feind kalt zu erwischen.“
„Verstanden, Sir.“ Unbehagen malte sich auf Tendralls feister Miene. „Es wird unseren Leuten nicht gefallen, wenn das Unterhaltungsangebot der Marketenderschiffe ausfällt. Und selbst wenn sie alle mitarbeiten, dauert das Schürfen eine Weile.“
„Ziehen Sie die Beobachterschiffe von der Kurflotte hinzu“, gebot Normand. „Es sollte ihre Neutralität nicht verletzen, uns bei einem“ – er lächelte schief – „kleinen logistischen Problem auszuhelfen. Und es ist sicher auch in ihrem eigenen Interesse.“
„Ich kann sie zumindest fragen, Sir“, nickte Tendrall. „Nur für den Fall, dass im Kuipergürtel böse Überraschungen warten, wieviel Rückendeckung kann ich anfordern?“
„Nehmen Sie zwei Schiffe dritten Ranges und eine Scoutstaffel mit. Zusammen mit Ihrer eigenen Feuerkraft sollte das reichen, um sich gegen alles zu verteidigen, was nach unseren Geheimdienstinformationen in diesem System hätte sein sollen.“
„Alles klar, Sir.“ Der Captain salutierte. „Ich melde mich, sobald ich einen Zeitplan für die Operation aufgestellt habe, Sir.“
Der Commodore zeigte ein knappes Nicken. „Normand, Ende.“
Einige Sekunden schaute er noch auf die Stelle, an der Tendralls Funkphantom erloschen war, ehe er sich wieder seiner Brückencrew zuwandte. „Lieutenant Fargo?“
„Ja, Sir?“
„Kontaktieren Sie die Wahrhaftigkeit“, befahl Normand. „Freigabe an Captain Caldore. Marschbefehl nach Magellan erteilt.“
Magellan.
Endlich sah sie den Planeten vor sich – nicht länger als fernen Lichtpunkt oder als projiziertes Abbild, sondern mit bloßem Auge durch die Sichtluke, als pfirsichfarben und weiß gemaserte Murmel. Das Angriffsziel nahm Gestalt an.
Die fleckigen Hände zu beiden Seiten auf den Fensterrahmen gestützt, stand sie vorgebeugt da und schaute senkrecht durch das schräge „Erkerfenster“ hinab: die Sichtluke in der mickrigen Kammer, die im Untergeschoss des Besan-Steuerbord-Rads zwischen Triebwerksrohr und Außenwand eingezwängt lag. Caldore mochte es, sich im Endanflug hier aufzuhalten und das Ziel ihrer Reise zu betrachten, wenn das Schiff mit dem Heck voran den Endspurt zurücklegte. Die Wahrhaftigkeit konnte sich die Muße leisten, sanft mit einem g abzubremsen, während ihre drei Begleitschiffe vorweg geflogen waren. Caldore hatte ausdrücklichen Befehl von Normand, den Raumkampf anderen zu überlassen und ihr kostbares Missionsteam weit hinter der Linie zu halten, bis eine sichere Landung möglich war. Nun, sagte sie sich, diesen lästigen Satellitengürtel aus dem All zu blasen, war ohnehin nur eine langweilige Fleißarbeit, aber kein echter Kampf – vorausgesetzt, der Feind hatte nicht noch eine Überraschung in der Hinterhand, auf die wirklich niemand im ganzen Geschwader gekommen war.
„Alle Schwarmleiter Achtung“, tönte ihr etwas verrauscht Captain Brabens Stimme in den Ohren. „Magnetopause voraus, Eintauchen in sechzig Sekunden. Schilde klar zur Dehnung.“
„Harpyie null, verstanden“, kam gleich darauf die Antwort einer deutlich jüngeren Stimme, gefolgt von weiteren Rückmeldungen: „Pegasus null, verstanden.“ – „Roch null, verstanden.“ – „Wyvern null, verstanden.“ ... und so weiter.
Caldore lächelte versonnen. Sie hatte darauf verzichtet, sich ein taktisches Display zu erzeugen, und lediglich einen Kanal geöffnet, um den Sprechfunk zu verfolgen. Die atemlose Stimmung unter den Piloten erinnerte sie daran, wie sie selbst sich als junge Jagdpilotin in der Crew der Vergeltung hochgedient hatte. Damals war ihr ehrgeizigstes Ziel gewesen, eines Tages Staffelführerin zu werden.
„Fünfzehn Sekunden“, verkündete Braben. „Schilddehnung erhöhen auf Faktor zehn. Plasmabeschuss vorbereiten.“
Sofort Faktor zehn, dachte Caldore mit belustigtem Schnauben. Das sah dem übervorsichtigen Braben ähnlich. Innerlich zählte sie die fünfzehn Sekunden nach Gefühl rückwärts. Langsam, gerade eben für das bloße Auge erkennbar, wuchs die Pfirsichmurmel von Magellan hinter der Luke an.
Fast sofort flackerte an mehreren Stellen abseits des Planeten der vertraute, farbenfrohe Tanz der Annihilatorpulse auf den Schilden der angreifenden Drohnen auf.
„Der Feind eröffnet das Feuer“, meldete augenblicklich eine junge Frauenstimme. Nach einer kurzen Pause fügte sie mit verhaltener Verwunderung hinzu: „Volles Durchdringungsfeuer, Sir.“
Kaum eine Sekunde später begannen einmal mehr Polarlichter, über die Scheibe von Magellan zu züngeln. „Plasma erreicht feindliche Stellungen“, verkündete eine eifrige, männliche Stimme. „Deutliche Partikelschatten erkennbar.“
„Großes Trauma, welche Schilddehnung haben die eingestellt?!“
„Roch null, wahren Sie Funk disziplin!“, kam es scharf von Braben. „Feuer eröffnen! Kitzelbeschuss.“
„Aber Sir“, protestierte Roch null, „der Feind geht jetzt schon auf volles ..."
„... Durchdringungsfeuer, ja. Ich habe es mitbekommen, Fähnrich. Kitzelbeschuss! Das ist ein Befehl!“
Ja, Sir“, beeilte sich der junge Schwarmleiter zu erwidern. Überall im niedrigen Orbit rund um Magellan sah Caldore nun Nester aus bunten Funken aufblühen.
Als sie im nächsten Moment erneut Brabens Stimme hörte, verdrehte Caldore die Augen. Anstatt einfach Gehorsam zu erwarten, fing er wieder einmal an, seine Befehle zu erklären: „Roch null, das sofortige Durchdringungsfeuer ist eine Verzweiflungstat. Angesichts unserer Überzahl hat der Feind keine andere Chance, als von Anfang an mit voller Kraft loszulegen und auf Zufallstreffer zu hoffen ...“
Wie zur Bekräftigung seiner Worte loderte draußen in einem der Schwärme der Union eine weiße Explosion auf. „Harpyie vierzehn zerstört“, meldete die Schwarmführerin.
„Verstanden, Harpyie null“, gab Braben ruhig zurück. „An alle: Ruhe bewahren. Stören Sie weiter die feindlichen Schilde mit Kitzelbeschuss, bis Sie ein klares Ziel haben.“
Angespannte Minuten vergingen. Entladungen funkelten im niedrigen Orbit und blitzten weit draußen im All. Obwohl der Schlagabtausch bislang nur zwischen unbemannten Drohnen und Satelliten stattfand, spürte Caldore die Erregung des Kampfes von ihrem Nacken bis in die Fingerspitzen prickeln.
„Pegasus neun zerstört.“
„Roch zwanzig beschädigt ... manövrierunfähig.“
„In Ordnung, Roch null“, erwiderte Braben ruhig. „Abschießen.“
„Sir?!“
„Roch zwanzig abschießen! Es ist nur eine Drohne, Fähnrich. Aber Sie wollen bestimmt nicht, dass sie steuerlos durch Ihren restlichen Schwarm trudelt. Abschießen!“
Jawohl, Sir!“ Über den nervösen Tonfall des Schwarmleiters verzog Caldore verächtlich das Gesicht. Sie an Brabens Stelle würde den Jungspund im Anschluss an das Gefecht ordentlich grillen.
Wenigstens spurte er, fügte sie in Gedanken hinzu, als eine weitere grellweiße Explosion das Flackern der Streifschüsse an der Position des Roch-Geschwaders überstrahlte. Unbeeindruckt flirrten die Einschläge des Kitzelfeuers im niedrigen Orbit weiter, ein Strauß aus farbenfroh funkelnden Blütendolden.
Dann zerrissen in rascher Folge drei grellweiße Explosionen die Dunkelheit über der Nachtseite des Planeten. Caldore konnte den Widerschein auf den Wolken sehen. „Target sechs, elf und fünfzehn neutralisiert“, meldete die nüchterne Stimme eines der Scouts und Caldore nickte zufrieden. Ein ordentlicher Anfang. Es würde noch eine Weile dauern, bis der ganze Satellitengürtel abgeräumt war, aber zumindest hatten sie ihm den ersten Riss verpasst. Von den ersten drei feindlichen Abwehrsatelliten waren nur noch Splitter übrig, die mit etwas Glück noch eine Weile kreisen und die Tarnung weiterer Verteidiger beeinträchtigen würden, ehe sie in Magellans Atmosphäre verglühten.
Im Schein seiner Öllampe saß Urias in seinem Gemach und studierte die zweiten Chroniken der Gefallenen, als er Schritte vor der offenen Tür vernahm. „Erleuchteter Vater?“
Gemessen drehte Urias sich nach der hellen, jugendlichen Stimme um. Gegen die Schwärze des Korridors zeichneten sich der geschorene Schädel und das schmale, blasse Gesicht des jungen Mohorai ab. Viel zu weit schlotterte dem Knaben die weiße Robe des Novizen um die knochigen Arme, das rote Quadrat vor der Brust legte sich locker in Falten, anstatt sich über den Muskeln des erwachsenen Mannes zu straffen. Und auch wenn er sich um Würde und Beherrschung mühte, wie sie seinem Stand als Mitglied der Amauta angemessen waren, spiegelten seine Züge doch allzu deutlich Angst und Sorge.
Urias lächelte ihn sanft an. „Tritt ein, mein Sohn. Was kann ich für dich tun?“
Der Novize befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge und holte tief Luft, um endlich hervorzustoßen: „Das dritte Vorzeichen steht am Himmel, Vater.“
Für die Dauer einiger Herzschläge sah Urias dem Jungen nur ins Gesicht, ehe er die Schriftrolle raschelnd auf den Tisch sinken ließ und seine Leibesfülle vom Schemel in die Höhe stemmte. In einem aus lebenslanger Gewohnheit geborenen Griff beschwerte er das Pergament mit einem Tonbecher, während er sich bereits abwandte, um ans Fenster zu treten. Hinter ihm ertönte hastig das Geklapper von Sandalen auf dem Steinboden, als Mohorai an seine Seite eilte, um ihm beim Öffnen der Vorhänge zur Hand zu gehen.
Sie zerrten den schweren Stoff beiseite und stellten sich der grausamen Wahrheit. Natürlich hatte der Junge wahr gesprochen, stellte Urias mit einem Anflug von Resignation fest, sobald er in den Nachthimmel emporschaute. Die ersten beiden Vorzeichen waren eingetreten, wie die Götter es geweissagt hatten. Warum also hätte das dritte ausbleiben sollen?
Silbern gesäumt vom Schein der beiden Monde, waren schon die ersten, schweren Wolken aufgezogen und kündeten vom baldigen Nachtregen. Unverändert funkelten die Sterne in ihren vertrauten Mustern aus dem Samt der Nacht. Die Aussicht über die tiefschwarze Silhouette der Stadt hinweg mit ihren vereinzelt erhellten Fenstern hätte ein friedliches Bild sein können, wenn nicht ...
Neben sich hörte er den jungen Mohorai mit angespannter Stimme sprechen: „Es ist genau, was die Götter uns verkündet haben, erleuchteter Vater. Das erste Vorzeichen waren die Geisterflammen, vor neun Tagen. Als zweites sollten drei Mal neue Sterne erscheinen und sogleich wieder verglühen. Und nun das dritte, die Sternschnuppen.“
Urias hörte den Novizen schwer schlucken, während er selbst schicksalsergeben den Himmel betrachtete. In dieser Nacht, so stellte er fest, waren alle drei Vorzeichen zusammengekommen. Erneut züngelten hinter den Wolken die kalten Geisterflammen, unermesslich gewaltige Bänder aus Licht in Purpur, Blau und Grün. Auch flammten wieder neue Sterne auf, um sogleich wieder zu vergehen, heller und zahlreicher als bei jedem der drei Male zuvor. Vor allem aber erfasste sein Auge in diesem einen Augenblick mehr Sternschnuppen, als er in seinem ganzen, langen Leben insgesamt gesehen hatte.
„Es besteht kein Zweifel“, sprach der alte Priester ruhig die Bedeutung der Vorzeichen aus, sonderbar erleichtert, dass die Zeit des bangen Wartens ein Ende hatte:
„Die Dämonen sind da.“
Aus der Luke im Boden des Habitatrings streckten sich ein peroxidblonder Bürstenhaarschnitt und ein breites Gesicht hervor. „Private Reon von der Wachsamkeit meldet sich zum Dienst, Ma’am.“
„Willkommen auf der Wahrhaftigkeit, Private“, erwiderte Dr. Jannigan die Meldung. „Rühren.“
Sekunden später hatte Reon Skayle zur Begrüßung in eine freundschaftliche Umarmung an seine weibliche Brust gezerrt. „Skayle“, lachte der Transmann herzlich. „Schön, dich wiederzusehen!“
„Schön, dich hierzuhaben“, grinste Skayle, ehe er seinen Freund losließ. „Wie sieht’s aus, willst du erst in dein Quartier?“
Reon winkte ab. „Die sehen doch eh alle gleich aus. Lass uns sofort zu den anderen gehen. Häuslich einrichten kann ich mich später auch noch.“
„Dann dort entlang, Private Reon“, sprach Jannigan und deutete mit einer schlanken, bleichen Albinohand an ihm vorbei, den Korridor entlang. „Raum 240.“
Während Reons Raumsack in einer Schleierblase in entgegengesetzter Richtung davonschwebte, folgten sie zu dritt dem Habitatring, in dem momentan eher mäßiger Betrieb herrschte. Hinter der Panoramascheibe umrundeten das bestirnte Weltall und das farbenfrohe Juwel von Magellan gemächlich die Schiffsachse. Beständig flackerten rund um den Planeten kleine Lichtblitze.
„He, du bist doch von der Logistik“, sprach Skayle Reon an, und indem er mit dem Daumen auf den Planeten deutete, fragte er: „Weißt du, wie lange deine Kollegen noch brauchen werden?“
Reon hob die breiten Schultern und ließ sie herabfallen. „Schwer zu sagen. Du weißt ja, wie es ist: Nach der Schlacht die Trümmer aus dem Orbit zu pflücken, dauert zehnmal länger als die Schlacht selbst.“
„Tja, das haben wir über Drake 4 gemerkt“, pflichtete Skayle ihm bei. „Aber habt ihr irgendeine Schätzung, bis wann wenigstens ein sicheres Landefenster freigeräumt ist?“
Mit einer vagen Geste antwortete Reon: „Zwei, drei Wochen vielleicht. Der Abwehrgürtel von Magellan war richtig dick und es kam ein Haufen ziviler Satelliten dazu, die lange vor Ende der Schlacht allesamt mit pulverisiert wurden – erstaunlich viele, wenn man bedenkt, dass die Kolonisten am Boden überhaupt nicht über Technik verfügen. Ist das da vorn schon der Raum?“
„Da, von wo du Yuran hörst?“, schmunzelte Skayle. „Rate mal.“
Wenig später hing der kleine Junge Reon am Hals, während Jadie ihren Kameraden mit Schulterklopfern willkommen hieß und die alte Captain Blance breit grinsend, mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte. Aus dem Raum tönte ein Schimpfen von Geara, dass nicht immer alle quer durch ihr Display latschen sollten, gefolgt von einer gemurmelten Entschuldigung von Mee. Es dauerte einige Minuten, bis sich der Trubel gelegt hatte und sich alle einigermaßen zivilisiert in den kleinen Konferenzraum gezwängt hatten. Zu Skayles heimlicher Freude kam er selbst neben Jadie zu sitzen, ihr Geliebter Toranor hingegen als Mitglied des Missionskontrollteams auf der anderen Seite des Tischs.
„Es freut mich zu sehen“, eröffnete Dr. Jannigan die Besprechung, „dass Sie alle sich nach dem gemeinsamen Training so herzlich verstehen. Das wird zwingend nötig sein – nicht nur für den Zusammenhalt der Kommandomission vor Ort, sondern auch für die Kooperation mit der Missionskontrolle hier oben an Bord.“
Die Historikerin ließ eine bleiche Hand deutend über die Displays an den Wänden fahren, während sie fortfuhr: „Von diesem Raum aus werden wir Ihre Fortschritte unten auf Magellan verfolgen und Sie, falls nötig, mit Informationen versorgen. Private Geara war so freundlich, hier die benötigte Hardware und Software einzurichten. Momentan koppeln die Schnittstellen natürlich an den Schleier der Simulationshalle im Fock-Steuerbord-Rad, aber sobald wir in der Lage sind, Beobachtungssatelliten im Orbit um Magellan zu postieren, werden wir von hier aus den Verlauf Ihrer Mission beobachten.“
Automatisch ging Skayles Auge wieder zum Fenster. Unverändert funkelten über dem Planeten die Explosionen, wo die Räumungsteams des Geschwaders damit beschäftigt waren, den Schrott der Schlacht aus dem Orbit zu strahlen.
„Was ist mit Aufzeichnungsgeräten für die Beobachtung direkt am Boden?“, fragte Reon. Skayle wandte sich rechtzeitig wieder dem Konferenztisch zu, um Jannigans Kopfschütteln zu sehen.
„Solange wir die Verhältnisse auf dem Planeten nur aus dem persönlichen Log der Gefangenen kennen“, erklärte sie, „ist es unmöglich, eine überzeugende Tarnung für Beobachtungsroboter auszuarbeiten. Sicher zusagen kann ich Ihnen bis jetzt nur gut versteckte Bodycams in der Kleidung der Missionsteilnehmer. Und die Qualität der Datenübertragung vom Boden in den Orbit wird davon abhängen“, wandte sie sich an Skayle und Jadie, „wie nah Sie bei Ihrem Funkrelais bleiben.“
„Gibt es inzwischen einen Plan, wie wir das Ding transportieren sollen?“, fragte Jadie.
Jannigan nickte. „Ja. Sie werden einen Karren verwenden.“
„Ach, Doktorchen“, kam es daraufhin von Blance. „Das Thema hatten wir doch schon.“ Als die Historikerin sich ihr mit hochgezogener Augenbraue zuwandte, fuhr die alte Marketenderin fort: „Sie können dem Team keinen Karren aus Ihrem Materiekonverter mitgeben. Er mag dann zwar aussehen wie in den Aufzeichnungen Ihrer Tiefkühlprinzessin, aber sobald ein Einheimischer ihn anfasst, wird er auffliegen. Er wird sich nicht anfühlen wie echtes Holz von Magellan, er wird nicht so riechen ...“
„Oh, Captain Blance“, gab Jannigan mit hintergründigem Schmunzeln zurück, „wir reden nicht von einem Karren aus dem Konverter. Sie werden einen echten einheimischen Karren verwenden, von Hand gefertigt aus echtem magellanischem Holz.“
Stirnrunzelnd fasste Blance die Historikerin ins Auge. „Und wo wollen Sie den hernehmen, bevor Sie uns da unten einkaufen schicken können?“
Freundlich lächelte Jannigan sie an. „Captain Blance, Sie wissen doch von den Vorauskommandos, die wir hinuntersenden werden für ... die medizinische Vorbereitung Ihrer Mission?“ Während des kurzen Zögerns warf sie einen Seitenblick auf Mutter Hensley. Die Ärztin und Priesterin von der Kurflotte verfolgte das Meeting wortkarg wie immer, mit verschlossener Miene und ohne jeden Ausdruck in den leicht geschlitzten Augen.
„Naja, sicher“, brummte Blance achselzuckend. „Lässt sich nicht umgehen. Sobald Sie endlich eine Lücke im Trümmergürtel offen haben, werden ein paar Ihrer Leute in irgendeiner abgelegenen Gegend runtergehen und ... oh.“
Langsam nickte Jannigan. „Ganz recht, Captain Blance. Einige geeignete Versuchspersonen haben wir bereits vom Orbit herab ausgemacht. Und eine davon wird auch gleich unser Problem mit dem authentisch magellanischen Karren lösen.“
Das wiederholte Quietschen der Achse erinnerte Marudaq daran, dass nicht allein die Steigung seinen alten Knien so sehr zusetzte. Zum dritten Mal, seit er den Hügelpfad angetreten hatte, der sich in Serpentinen durch das hüfthohe Flaumkraut hinaufschlängelte, blieb er stehen und ruckelte den Karren hinter sich an den Handgriffen in eine Position, aus der er nicht von selbst wieder ins Rollen geriete. Erst, nachdem die Riemen des Zuggeschirrs an seinen Schultern erschlafft waren, hob er die Griffe an, bis sich der Bremszahn in den Boden drückte und zog das Tuch vor Mund und Nase auf das Kinn herab, um sich einen Schluck Wasser aus der Feldflasche am Gürtel zu gönnen.
Er hatte sich noch nicht die Tropfen aus dem Bart gewischt, als Loyro schon heran war, ihm vor den Beinen herumsprang und kläffend seinen Anteil verlangte. Seufzend löste Marudaq die hölzerne Schale vom Gürtel und stellte sie in einer Kuhle des steinigen, trockenen Pfades ab, um eine Handvoll Wasser hineinzuschütten. Sofort stürzte sich sein Hund darauf, um begierig das kostbare Nass in sich hineinzuschlabbern.
Gedankenverloren kraulte der Hausierer sein Tier zwischen den spitzen Ohren, ehe er die Flasche verkorkte und zurück an seinen Gürtel hängte. Als er sich zum Schutz vor dem Staub das Tuch wieder vors Gesicht zog, ging sein Blick nach oben. Die Sonne hatte bereits den Scheitel ihrer Bahn überschritten und schmolz mit ihren sengenden Strahlen die letzten Wolken vom Gold des Himmels. Es wurde höchste Zeit, dass Marudaq für sich und Loyro einen schattigen Rastplatz aufsuchte.
Doch nicht das allein war es, das den alten Mann stirnrunzelnd den Blick in der Höhe verweilen ließ. Am hellen Tag fielen sie kaum auf, doch wenn man genau hinsah, konnte man auch jetzt noch das Funkeln der kleinen Lichtblitze sehen, die wie Wellen oder flüchtige Wolken über den Himmel waberten. Ein Zeichen der Dämonen, hatte die Priesterin in der kleinen Dorfkapelle neulich verkündet, gefolgt von einer Tirade, mit welchen Sünden die Menschen die Ankunft der Unheiligen auf ihre Häupter herabbeschworen hatten. Nun, so hoffte Marudaq, vielleicht hatte ja seine kleine Spende an die Armenkasse des Tempels einen Beitrag dazu geleistet, die Götter gnädig zu stimmen und zur Rückkehr zu bewegen.
Vorerst hatte er andere Sorgen, sagte er sich und ignorierte die großen Hundeaugen und das leise Fiepen, mit dem Loyro um mehr Wasser bettelte. „Du hattest genug, mein Freund“, ächzte er, indem er sich niederbeugte und die ausgeleckte hölzerne Schale vom Boden aufhob. Während er den Haken an seinem Gürtel wieder durch das Loch am Rand des Gefäßes fädelte, fügte er, halb an sich selbst gewandt, hinzu: „Von jetzt an marschieren wir tapfer durch bis zur Dürre stunde.“
Als er die Griffe des Handkarrens wieder herabdrückte, erinnerte ihn ein erneutes Quietschen daran, dass er vergessen hatte, die Achse zu ölen. Für die Dauer eines Atemzugs verharrte er unentschlossen. Loyro umkreiste ihn mit erwartungsvoll treuherzigen Augen.
„Ach, hol’s der Chikchij!“, murmelte er grimmig. Sobald er sich entschlossen in die Schulterriemen legte, stellte sein Hund das fruchtlose Betteln ein und begann, wieder neben ihm her den Hügel hinauf zu trotten. Das letzte Stück bis zum Unterstand würde er die schwergängige Achse auch noch ziehen können, sagte sich Marudaq und setzte stoisch erneut einen Schritt vor den anderen.
Der Unterstand hatte zweifellos ein paar Ausbesserungen nötig. Doch das Strohdach spendete Schatten und bot immer noch eine ausreichend große Fläche ohne Löcher, um ihn selbst, Loyro und den Karren gegen den Nachtregen zu beschirmen. Es war eine Schande, dachte Marudaq, dass sich anscheinend nie ein Reisender bemüßigt fühlte, sich im Sinne aller an der Instandhaltung dieser Stätten zu beteiligen. Er selbst hatte dazu ja bedauerlicherweise nie die Zeit.
Ächzend ließ er sich auf dem Balken nieder, der als Sitzgelegenheit gleich neben der Feuerstelle diente, während Loyro loszog, um schnuppernd den Unterstand zu umrunden. Sobald sich der alte Krämer das Tuch vom Gesicht zog, stürmten die süßlichen Düfte von Holz, Erde und Pollen auf seine Nase ein. Mittlerweile flirrten die gelbgrünen Hügel ringsumher vor Hitze und überall schwebten im warmen Aufwind die hauchfeinen Samenfäden des Flaumkrauts in die Höhe. Die Luft wimmelte von Kammschwärmern, die mit schwirrenden Schwanzflügeln und weit ausgebreiteten Fangflügeln Ernte hielten. Marudaq ließ die Augen für einen Moment auf diesem friedlichen Schauspiel verweilen, ehe er sich zur Seite beugte, um den Karren aufzuklappen und sein eigenes Mahl daraus hervorzukramen.
Er hatte gerade eine Ecke aus seinem Fladenbrot geschnitten und angefangen, sie auszuhöhlen, als ein unerwartetes Geräusch im Wind ihn innehalten ließ. Nesselwespen?, dachte er zunächst. Aber nein, Nesselwespen klangen höher und schriller. Hornfliegen vielleicht?
Bewegungslos lauschte er angestrengt, aber das Summen war schon wieder im Flüstern des Windes im allgegenwärtigen Flaumkraut untergegangen. Achselzuckend vollendete Marudaq die Höhlung in seiner Brotschnitte und legte das Messer beiseite, um in seinem Karren in den Tüchern zu wühlen, zwischen denen er gut gepolstert die Tontöpfe mit den Brotbelägen aufbewahrte.
„Loyro?“, rief er, während er dabei war, seine Schnitte mit Oliven und getrockneten Suaralla-Scheiben auszustopfen. Der Beutel mit dem Futter für den Hund lag neben ihm auf dem Balken bereit. Einige Kammschwärmer jagten so niedrig draußen vor dem Unterstand vorüber, dass ihre Gestalten in der flimmernden Luft dicht über dem Flaumkraut verschwammen. Marudaq war froh, im Schatten zu sitzen.
Gegen den Tragbalken in seinem Rücken gelehnt, genoss der alte Hausierer sein Rastmahl und schaute hinaus. Kleine Tiere raschelten durch das Flaumkraut, gut verborgen, nur hier und da ein Geräusch und eine hastige Bewegung in den wolligen Zweigen. Vielleicht hatten sie vor seinem Hund Reißaus genommen, dachte sich der Händler und spülte sein Brot mit einem tiefen Zug aus der Wasserflasche herunter. „Loyro!“, rief er noch einmal und öffnete den Futtersack, um sein Tier mit dem Duft der Fleischbrocken anzulocken. „Komm in den Schatten, mein Junge!“
Wie zur Antwort hörte er Loyro kläffen, doch der Klang machte ihn stutzig. Er kam von weit weg – viel weiter, als sich Loyro bei so einer Hitze vom nächsten Schatten zu entfernen pflegte. Und er hörte sich ... aggressiv an? Beunruhigt? „Loyro?“, wiederholte Marudaq noch einmal.
Dann hörte er wieder dieses Summen, lauter diesmal. Immer weniger konnte sich Marudaq einen Reim darauf machen – es tönte so gleichförmig, so regelmäßig, ganz anders als schwirrende Insekten. Und andererseits doch wieder vertraut, aber woher ...?
Unvermittelt verstummte der Klang. Von neuem wisperte nur mehr der Wind durch das Gestrüpp. Draußen in der prallen Sonne jagten die Kammschwärmer als lockerer Schwarm davon. Tiere raschelten hektisch unter dem Flaumkraut umher. Am wolkenlosen Gold des Himmels funkelten die dämonischen Lichter ...
„Hargit, Khon und Erall, behütet mich!“, entrang es sich heiser der Kehle des alten Mannes, als er begriff.
Mit zwei schnellen Griffen hatte er die Axt aus ihrer Aufhängung an der Seite des Karrens gelöst. Natürlich kannte er dieses Summen, ging es ihm fieberhaft durch den Hinterkopf. Er hatte es in seinem langen Leben nur wenige Male gehört, aber in Augenblicken, die man nicht vergaß – in den Heiligtümern der großen Städte, wann immer eine Himmelsbarke der Götter sich auf den Tempelplatz niedergesenkt hatte.
Den breitkrempigen Hut hastig wieder auf den Kopf gestülpt, die Axt in der zitternden Faust erhoben, trat Marudaq in die glühende Sonne hinaus. Nun aber, so dachte er, da die Lichter der Götter verschwunden waren ... da allein das dämonische Funkeln den Himmel befleckte ...