Waches Hören. Über Musik - Hans Zender - E-Book

Waches Hören. Über Musik E-Book

Hans Zender

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Beschreibung

Musikhören ist ein vielschichtiger Vorgang: Man will eine Komposition verstehen, darüber hinaus aber möchte man begreifen, was jenseits der Musik liegt und vielleicht nur durch sie ausgedrückt werden kann. Hans Zender ist einer der profiliertesten Komponisten der Gegenwart und gehört zu den wenigen, die regelmäßig über Musik schreiben. In diesem Buch geht es unter anderem um das Verhältnis von Musik und Sprache, um Anton Bruckner, Gedanken zur "Spirituellen Musik" und um engagierte Einmischungen in die aktuelle Kulturpolitik. Eine Leidenschaft durchzieht diese Beiträge: Kunst soll uns berühren, und wir sollen unsere Sinne schärfen auch für heute entstehende Kunst. Jedwede Musik muss man wach hören.

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Hanser E-Book

Hans Zender

Waches Hören

Über Musik

Herausgegeben von Jörn Peter Hiekel

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24689-8

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

nach einem Reihenentwurf von Klaus Detjen

Umschlagmotiv: Günter Fruhtrunk (1923–1982): Orgelpunkt (1965)

Städtische Kunstsammlung Karlsruhe

Günter Fruhtrunk, Sechs Serigrafien, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014

© 2014 Carl Hanser Verlag München

Satz im Verlag

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Wahrnehmung und Stille

Musik verstehen

Ausgehend von Hölderlin …

Logos-Fragmente

Zur Konstruktion der Zeit bei Anton Bruckner

Spirituelle Musik

Komponieren heute

Bernd Alois Zimmermann, die Alternative

Das Eigene und das Fremde

Kulturpolitik

Die große VerantwortungWozu brauchen wir Rundfunkorchester?

Canto ergo sum

Musik – Sprache – Logos

Zwei Briefe

Nachwort des Herausgebers

Nachweise

Wahrnehmung und Stille

Für Klaus Reichert

»Wie erkennt man, was man nicht kennt?«, fragt Morton Feldman. So kann nur fragen, wer sich auf die Wahrnehmung des Ohres konzentriert und entdeckt, dass die Sinne uns verschiedene Geschichten über die Welt erzählen. Denn die Wahrnehmung des Auges suggeriert uns eine feste räumliche Welt, die scheinbar offen vor uns liegt. Das Hören dagegen verweist uns auf das Medium der Zeit. Es erlebt immer eine sich verändernde Welt; diese fließt von der Vergangenheit in die Zukunft, die uns verborgen ist. Wir müssen das Hören verstehen, um besser zu verstehen, was Musik ist. Man kann auch umgekehrt sagen: Durch Musik verstehen wir die Wahrnehmungsform des Hörens besser.

Die aufprallende Wahrnehmung springt, als ein von uns oder unserer Umwelt produziertes aktuelles Ereignis, in unser Wachbewusstsein und hinterlässt gleichzeitig eine Spur im Gedächtnis. Da das Gedächtnis geneigt ist, diese Spur immer fortzusetzen und zu verlängern, bildet sich eine endlose Gedächtniskette, welche die sich in die offene Zukunft hinein ereignenden Geschehnisse wie ein Speicher des Vergangenen bewahrt. Wir müssen also den Zeitmodus der Zukunft dem unablässig sich ereignenden Lebensprozess zuordnen, und den Zeitmodus der Vergangenheit dem sich bildenden Gedächtnis. Stellen wir uns beide Prozesse räumlich vor, also eine nach rechts laufende Zeitachse für die Zukunft und eine nach links laufende für die Vergangenheit. Um sich der gegenläufigen Struktur der Zeit bewusst werden zu können, müsste die eine Achsenbewegung mit der andern in Kontakt sein, sich an ihr brechen. Wo ist aber der »Ort«, an dem das geschieht? Es müsste der Zeitmodus der Gegenwart sein, aber wie soll er zustande kommen? Beide Achsen fliehen ja unaufhaltsam auseinander, wie soll es möglich sein, auch nur einen einzigen festen Punkt mit ihrer Hilfe zu bestimmen? Mit anderen Worten: wo und wie bildet sich ein Gegenwarts-Bewusstsein, das uns ja erst befähigen würde, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden?

Hier sei ein Koan eingeschaltet, das in Ernst Schwarz’ Übersetzung des BI-YÄN-LU die Nummer 43 und den Titel »Dung-schans Ausweg aus Kälte und Hitze« trägt:

»Ein Mönch fragte Dung-schan: Wenn Hitze und Kälte kommen, wie kann man ihnen entgehen? Dung-schan erwiderte: Wie wäre es damit, einen Ort aufzusuchen, wo es weder Hitze noch Kälte gibt? Wo aber findet sich so ein Ort, fragte der Mönch. Dort, wo Du in der Kälte erfrierst und in der Hitze vor Hitze umkommst, sagte der Meister.«

Ordnen wir nun den Terminus »Hitze« dieses Koans dem in die Zukunft stürzenden Strom des heißen sich bildenden Lebens zu, und den Terminus »Kälte« der als Vergangenheit sich ablagernden erkaltenden Spur des Gedächtnisses, so gibt das Koan einen erstaunlichen Hinweis: der Ort, an dem man mit Hitze und Kälte auskömmlich leben kann, ist ein »Nicht-Ort«, ein Ort, an dem sowohl Zukunft wie Vergangenheit, sowohl sich neu bildendes wie sterbend sich ablagerndes Leben verschwinden. Hier ist der Ort des nichtgerichteten Bewusstseins, das das Zen erschließt; der Bereich des intentionslosen Hörens, das wir von John Cage lernen können; hier liegt der Raum mit dem Schaukelstuhl, den wir von Samuel Beckett kennen: der Schaukelstuhl pendelt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Zeitmodus der Gegenwart bildet sich unter den extremen Bedingungen eines mit Wille und Bewusstsein geschaffenen und mit Energie aufrecht erhaltenen »Zeitkreises« (unser Ausdruck »Konzentration« deutet auf einen solchen Kreis hin), innerhalb dessen sowohl die Gedächtnisschau auf das Gewordene wie der erwartende Blick des Bewusstseins auf das Kommende vollständig zum Stillstand gelangt sind; dass dieser Stillstand nicht nur metaphorisch, sondern auf nur durch die Erfahrung zu erkundende »existentielle« Weise etwas mit Sterben, Absterben zu tun hat, bringt der Wortlaut des Koans deutlich zum Ausdruck. Dieses »Sterben« erzeugt das reine Bewusstsein, das weder von der Erwartung des in die Zukunft treibenden Lebens noch von der Reflexion des bereits vergangenen gefärbt ist. Es verweilt in der Dauer des puren Gegenwärtigen und empfindet die Ruhe des »nunc stans« ohne ichbezogene Gefühle und Gedanken.

Das Bewusstsein der Gegenwart, als die Mitte unseres Geistes, bildet sich also unter paradoxen, gegenstrebigen Verhaltensweisen. Gegenwart ist keineswegs ein Nichts an Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern vielmehr eine begrenzte Dauer, die wir durch einen Gewaltakt der unaufhörlich besinnungslos dahinströmenden Lebenszeit und ihrem ebenso besinnungslos in die Tiefe stürzenden Gedächtnis abringen. Um ein Ereignis, einen Ton oder eine Gestalt zu identifizieren, in ihrer Individualität zu erfassen, müssen wir sie in der Zeit dieser begrenzten Dauer festhalten – bevor wir sie, diesmal bewusst, wieder in den Strudel von Leben und Absterben entlassen.

Voraussetzung dafür aber ist erst einmal, diesen Bereich der Dauer in uns zu bilden und zu stabilisieren. Wir verstehen plötzlich neu das Interesse aller Kulturen für Orte und Zeiten der Stille, der Abgeschiedenheit, der Sammlung. Hier wird die Grundlage dessen geschaffen, was für den Menschen »Wahrnehmung« und das Verhältnis zur eigenen Zeit bedeuten. Ein solcher geistiger Bezirk, in dem sich nicht die Individualität des Künstlers mit ihren Ideen und Gefühlen abdrückt, sondern die Zeit, der Raum, das Hier, das Jetzt, ist das Herzstück jeder Kunst. Die Kunst entstünde gerade dort, wo das Individuelle überwunden wird und das Anonyme beginnt, hat Fritz Wotruba formuliert. Etwas weniger rigoros gesagt: Erfassung und Darstellung der unendlich vielfältigen Differenzen der Phänomene sind überhaupt erst möglich auf Grund jenes scheinbaren »Nichts«, das im Zentrum des Bewusstseins festgehalten wird.

Dieses Zentrum wird heute oft als »spirituell« bezeichnet – und mittels dieses Wortes schnell konventionell vereinnahmt oder schlichtweg verkitscht. Das darf nicht den Blick dafür trüben, dass es im Bereich der modernen Kunst von Anfang an, und heute wieder neu, ein besonderes Interesse für jenes Zentrum der Wahrnehmung gab und gibt, und für die seltsame Erfahrung, dass der Künstler gezwungen ist, seine Mittel zu reduzieren, wenn er sich diesem Zentrum nähern will. Treibt er diese Reduktion, unter den Bedingungen seiner eigenen unverwechselbaren Individualität, bis zu einem kritischen Punkt, so kann es passieren, dass er den Bereich dessen berührt, was das Wort »spirituell« in früheren Epochen meinte. Der Architekt Peter Zumthor schreibt: »Das Entscheidende ist schon, dass die ästhetische Erfahrung in der Nähe der spirituellen Erfahrung angesiedelt ist. Je mehr die Kirche als öffentlicher Ort an Bedeutung verloren hat, desto mehr hat das Museum an Bedeutung gewonnen. Das Museum ist heute einer der ganz wenigen Orte, an denen man noch spirituelle Erfahrungen machen kann.« Setzen wir an die Stelle des Wortes »Museum« das Wort »Konzertsaal« oder einen anderen künstlerischen Ort, so lässt sich Zumthors Bemerkung auf die gesamte moderne Kunst übertragen – wobei zu ergänzen ist, dass diese Gelegenheiten einer spirituellen Erfahrung angesichts der herrschenden Vorstellung von Kunst als ein intellektuelles Entertainment eher selten sind. Wie dem auch sei, der Künstler der Moderne kann mitten in seinem Metier jenes Zentrum des Geistes, wo die Gegenwart als Zeitmodus entspringt, neu entdecken, und seine daran orientierten Realisierungen können die Fundamente neuer künstlerischer Formen ausbilden, die eine sich immer mehr als »global« empfindende Menschheit ansprechen wollen.

Öffnen sich hier neue Wege des Denkens, so könnte man versuchen, analog zu den drei Modi der Zeit drei verschiedene Aspekte der Wahrnehmung zu beschreiben – was im Folgenden wenigstens skizzenhaft versucht sei.

Die erste Art des Wahrnehmens konzentriert sich auf die analytische Erfassung und Beschreibung aller strukturellen Eigenschaften eines definierten Feldes (bzw. eines ausgeformten Kunstwerks): Der Denkende steht dem von ihm ins Auge gefassten Phänomen wie ein Schmetterlingsforscher gegenüber, der das ehemals lebendige Wesen als Objekt seiner wissenschaftlichen Neugier aufspießt, katalogisiert und in seine sargartigen Aufbewahrungsorte ablegt. Die Wahrnehmung dieses Forschers wird auf die Erkennung charakteristischer Merkmale des gefangenen Exemplars, auf Farbe, Größe, Gestalt, auf die Bestimmung seiner Art, deren Platz in der Evolution usw. fokussiert sein.

Auf ganz andere Aspekte bezieht sich eine zweite Art der Wahrnehmung, die man im Gegensatz zur eben gezeigten wissenschaftlichen als »poetische« bezeichnen müsste. Poiein heißt ja »schaffen«; so handelt es sich hier um ein genuin schöpferisches Denken, das die begegnenden Phänomene – seien es Schmetterlinge, Sinfonien oder Wortgebilde – nicht als perfekte Objekte betrachtet, sondern als lebendige Prozesse, und diese in subjektiver Aneignung quasi mit hervorbringt und verändert. Dies geschieht, indem es in den gleichen dynamischen Lebensstrom eintritt, in welchem das jeweilige Phänomen erscheint. Erst durch dieses Miterleben, die Voraussetzung jeder lebendigen Interpretation, wird auch ein tieferes Verstehen möglich, das die strukturellen Vorgänge als in einen Lebensprozess eingebettet erkennt.

Die dritte Art der bewussten Wahrnehmung wird eins mit dem Phänomen, so wie ein guter Schauspieler eins mit seiner Rolle wird und wie ein konzentrierter musikalischer Interpret seinem Bewusstsein nicht erlaubt, auch nur um Haaresbreite abzuschweifen vom aktuell ablaufenden musikalischen Prozess. Es geht ihm weder darum, eine Form des Wissens und Könnens zu zeigen, noch darum, etwa die Originalität des eigenen Ich einzubringen. Das Phänomen selber ereignet sich durch ihn auf einer geistigen Ebene neu, der Schmetterlingsfreund wird selber zum Schmetterling, in einer der eigenen Lebendigkeit entsprungenen Sympathiebewegung. Und – um beim Beispiel der Musik zu bleiben – was für den Interpreten gilt, gilt in noch höherem Maße für den Komponisten. Er wird im Idealfall weder an technische oder formale Strategien denken, noch an irgendeine Weise der Selbstdarstellung; er wird sich ganz konzentrieren auf jenes Organ, das Robert Schumann das »innere Ohr« genannt hat. Er wird einfach den Ansprüchen folgen, die das entstehende Stück an ihn stellt.

Die beschriebenen drei Modi der Wahrnehmung verlangen die systematische Entwicklung verschiedener Formen des Denkens und Sprechens; diese verschiedenen Dimensionen des Wahrnehmens sollte man nebeneinander ausbauen, statt sie gegeneinander auszuspielen. Wir sollten uns ­darin üben, diese divergierenden Wege abwechselnd zu ­beschreiten. Vielleicht gibt es gar keinen Widerspruch zwischen wissenschaftlichem, künstlerischem und philosophischem Denken, sondern nur sich verhärtende Einseitigkeiten – sozusagen »einstimmige Denkformen«, die nur darauf warten, zu einer komplexen Polyphonie zusammengefügt zu werden.

Musik verstehen

Eine Szene meiner Kindheit hat sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingegraben: Ich sehe mich als Neun- oder Zehnjährigen im Wohnzimmer der Verwandten, die wir besuchen, dem Radio gegenüberstehend. Während die Familie zum Essen gegangen ist, höre ich die Übertragung einer der ersten Aufführungen von Strawinskys »Le Sacre du printemps« in Deutschland nach dem Krieg. Ich höre das Werk zum ersten Mal und bin vollkommen sprachlos. Es beginnt die »Danse sacrale«, und die Stelle mit dem Vogelruf tritt ein. Ich bin so überrascht, dass ich in eine Art von Betäubung falle, die noch nach dem Ende des Stückes eine Zeitlang anhält. Das blitzartige Erscheinen dieses Motivs hatte innerhalb seiner weniger als zwei Sekunden Dauer meine gesamte bisherige Vorstellung von Musik zerstört, die geprägt war von der großen Kirchenmusik von der Gregorianik bis Johann Sebastian Bach auf der einen und der Musik des bürgerlichen Individualismus, der Klassik und Romantik auf der anderen Seite. Das bürgerliche Wohnzimmer, in dem ich mich befand, schien zerborsten und ebenso in Trümmern zu liegen wie die realen Städte und Dörfer ringsum: die Kirchen meiner Imagination schienen wie die wirklichen ihre Mauern und Fenster eingebüßt und sich einer in sie eindringenden, wild wuchernden Natur geöffnet zu haben.

Natürlich wäre ich damals nicht imstande gewesen, diese zusammengedrängte Erfahrung auch nur rudimentär zu formulieren oder gar zu begründen – dazu brauchte es viele Jahrzehnte. Aber ich möchte betonen, dass die Erfahrung selber komplett und völlig präzise war, und mein späteres Schicksal als Künstler bestimmte. Es war das zunächst nicht zum Bewusstsein vordringende zweifelsfreie Verstehen einer komplexen geistigen Situation, ein unbewusstes Verstehen, wie wir sagen müssten – entsprechend etwa der im Taoismus geläufigen Unterscheidung zwischen »wahrem Wissen« und »bewusstem Wissen«. Ich hatte eingesehen, dass es Musik gab, die gänzlich anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchte als diejenige, in der ich bisher gelebt hatte; gleichzeitig spürte ich, dass diese »alte« Musik durch den überwältigenden Eindruck der neuen weder außer Kraft gesetzt noch verschwunden war, sondern neben der neuen weiter­existierte. Ich hatte also plötzlich gelernt, dass wir heute gezwungen sind, in mehreren Welten gleichzeitig zu leben, in Welten, deren Lebensgesetze sich widersprechen. Um diese Art von Erfahrungswissen zu verstehen, müsste man versuchen, das Verstehen selbst zu verstehen.

Ich habe der Beschreibung meines eigenen Hörerlebnisses nicht nur deswegen so viel Raum gegeben, weil die heikelsten Fragen vielleicht nur durch die Evidenz persönlicher Erfahrung beantwortet werden können, sondern auch, um ein Modell zu haben, anhand dessen die Erfahrung des Hörens von Musik beschrieben werden kann. Ein konzen­trierter Musikhörer ist gar nicht so weit entfernt von dem Zustand des kleinen Jungen vor dem Radioapparat. Der Vorgang des Hörens geschieht in real time, er ist ein Stück besonders intensiv genutzter Lebenszeit des Hörers. Da jeder Moment eines erklingenden Musikstücks zu seiner Aussage gehört und so der gesammelten Aufmerksamkeit bedarf, um unmittelbar verstanden zu werden, bleibt kein ­Augenblick für die Reflexion des Gehörten übrig. Viele Menschen glauben ja, dass man Musik überhaupt erst durch eine reflektierende Anstrengung verstehen könne. Diese bleibt aber der Zeit nach dem Hören als Erinnerungszeit vorbehalten, bzw. einem erneuten, diesmal vielleicht selektiven, analytischen oder auf einen bestimmten Aspekt ausgerichteten Hören. Der Vorgang des direkten gesammelten Hörens allein aber vermittelt den tiefsten Eindruck der Musik und wird im Gedächtnis abgelagert, um vielleicht erst viel später gründlich reflektiert zu werden; der Körper und das Unbewusste sind am primären Verstehen von Musik stark beteiligt. Die Musik kann einem in die Glieder fahren, wie man es oft bei Kindern und manchmal auch bei sehr intensiv erlebenden Erwachsenen beobachten kann. Insbesondere werden die Kontraste der Musik, als Überraschungen, erfahren. Es gibt Musikkulturen, welche die Überraschung als grundlegenden ersten Affekt bezeichnen; man darf aber nicht übersehen, dass etwas nur als »Überraschung« empfunden werden kann auf Grund einer zunächst herrschenden gleichbleibenden Kontinuität – insofern könnte man auch jenen altindischen »Affekttonleitern« zustimmen, welche den Affekt der »Ruhe« als Auslöser aller anderen in den Mittelpunkt stellen. Ruhe und Überraschung jedenfalls bilden die Basis aller Affekte, die beim Hören erfahren werden. Natürlich verändert eine häufige Übung des Hörens im Sinne einer immer zunehmenden Differenzierung das Hören selber – es lässt sich kaum vermeiden, dass Vergleiche mit anderen Hörerfahrungen gezogen werden, dass die Wiedererkennung des Gebrauchs bestimmter künstlerischer Mittel, Stilmerkmale usw. sich ins frisch aufnehmende Bewusstsein eindrängen. Es bleibt aber wahr, dass nur ein Hören, das sich dem individuellen Stück mit Haut und Haaren ausliefert und es nicht nur ohne Vorurteile, sondern ohne Erwartungen einer bestimmten Form von Sinn aufnimmt, zur Tiefendimension der sich ereignenden Musik vordringt – ja vielleicht »ist« diese Tiefendimension das »Sich-Ereignen«!

Nun gibt es nicht nur ein Hören des Hörers, das sich ausschließlich mit dieser konkret sich ereignenden Gegenwart beschäftigt, sondern auch ein Hören des Komponisten – ein inneres, imaginatives Hören, das sich eine zukünftige Musik erst ausdenkt. Und drittens gibt es ein Hören des Interpreten, das zurückblickt auf die Musik der Vergangenheit, um sie wieder neu lebendig zu machen. Die Dreiteilung unserer Musikkultur in Komponieren, Interpretieren und Hören verdanken wir einem geschichtlichen Schritt, der zuerst – und zunächst ausschließlich – in Europa gemacht worden ist: der Erfindung der schriftlichen Notation von Musik. Diese Notation war von Anfang an konstruktiv und spekulativ ausgerichtet und brachte sehr bald die Grundlagen unserer heutigen Vorstellung von Musik hervor: die Quantifizierung der musikalischen Zeit in der Mensuralnotation sowie die Mehrstimmigkeit. Die Mehrstimmigkeit wiederum ist (wie im Kapitel Musik – Sprache – Logos breiter ausgeführt) Quelle der Harmonik, die sich zur eigenen Wahrnehmungsebene entwickelt, aber zugleich auch der Polyphonie als der simultanen Wahrnehmung individueller Linien. Man muss sich einmal klarmachen, welches Maß an Konzentration schon dem Hörer einer mittelalterlichen Motette abverlangt wurde: anstelle eines einstimmigen, also eindeutigen Signals – wie etwa dem gregorianischen Choral oder der volkstümlichen Musik – soll er nun ein vielfältiges Beziehungsgeflecht aus drei oder mehr gleichzeitig sich ereignenden autonomen Ereignissen wahrnehmen, also sowohl die Gesetzmäßigkeit der durch die aufeinandertreffenden Stimmen sich ergebenden Harmonik wie auch die Autonomie der Stimmen in ihrer individuellen rhythmischen und melodischen Struktur, in ihren verschiedenartigen – durch oft mehrsprachige Texte noch unterstrichenen – Affekten. Schließlich soll er die – manchmal in symbolischen Zahlenbeziehungen gedachten – Proportionen der Gesamtform als eigene Sinn­ebene verstehen und hinter allem einen bestimmten Autor mit unverwechselbaren Eigenschaften erkennen. Das Verstehen von Musik ist also schon im 13./14. Jahrhundert zu einem mehrdimensionalen, vielschichtigen Vorgang geworden, der nicht mehr auf eine Formel zu bringen ist. Schon damalige Musik verlockt über das spontane Hören hinaus auch dazu, die Kenntnis gewisser musikalischer Grundregeln oder Vorverabredungen zu erwerben, überdies auch zur vielfachen Wiederholung des Hörvorgangs, zum Studium der verwendeten Elemente und ihrer Herkunft – mit dem Ziel, diese Musik in ihrer Komplexität zu verstehen. Ohne Notenschrift wäre eine solche Veränderung des Hörens gar nicht möglich gewesen; die Schrift hat das musikalische Kunstwerk im europäischen Sinn erst hervorgebracht.

Haben wir uns eben mit dem Hören des Hörers befasst, so wenden wir uns jetzt dem Hören und Verstehen des Interpreten zu. Der Interpret hört auf das Echo der verklungenen Musik und ist damit beschäftigt, dasjenige in der Gegenwart erlebbar zu machen, was als Dokument der Vergangenheit vor ihm liegt – gleichgültig übrigens, ob das vor ihm liegende Werk vor vielen Jahrhunderten oder vor einigen Monaten entstanden ist. Dabei ergibt sich sofort eine Zweiteilung seiner Funktion. Auf der einen Seite muss er sich möglichst nah am Original orientieren – für ein richtiges Verstehen der Schriftzeichen wie auch dessen, was nicht aufgezeichnet ist, also für ihre Bedeutung im funktionalen, technischen, expressiven, symbolischen Sinn. Auf der anderen Seite aber muss er alles daran setzen, das Stück aus seiner »toten« Vergangenheit in die lebendige Gegenwart zu bringen. Das kann nur geschehen, wenn er es in das Stadium einer klingenden Aufführung versetzt, in einem Akt, in dem seine eigene Vitalität und Kreativität mit der des Autors des Stückes verschmilzt. Er braucht dazu nicht nur jene Form des Verstehens, die zu einer möglichst exakten Kopie führt, sondern vor allem ein Verstehen der Spannungsverhältnisse und individuellen Eigenschaften des Werkes durch einen Vorgang der Identifikation mit dem Stück, ohne die seine Intuition nicht geweckt wird.

Beide Aspekte des Interpretierens stehen in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft seit langem nebeneinander: Dient die Beschäftigung des praktischen Musikers der Vermittlung des ganzheitlichen Erlebens von Musik, so geht es in der theoretischen Beschäftigung um die vielen Schichten von Sinn und Zusammenhang, die ein Kunstwerk konstituieren. Wer sich theoretisch mit Musik auseinandersetzt, versteht diese erstens als schriftliches Dokument im Zusammenhang seiner Schriftzeichen, deren Konstanz oder Bedeutungswandel man durch die historischen Zeiten verfolgt; zweitens als Ausdruck einer Epoche und zugleich als Ausdruck eines Individuums; drittens als proportionales Gefüge, und das nicht nur im Sinne der Großform des Ganzen, sondern bis hin zum kleinsten Detail des Werkes. Denn jedes Stück Musik ist restlos in Zahlen beschreibbar – nicht nur die rhythmischen Vorgänge sind in Zeitdauerverhältnissen zu erfassen, sondern auch die Lautstärkenverhältnisse und die Tonhöhen: jedes Intervall ist als Zahlenproportion von Schwingungsverhältnissen der Einzeltöne bestimmbar. Hier darf der Musikologe der Notenschrift allerdings nicht auf den Leim ­gehen: diese ist räumlich, d.h. quantifizierend; die Musik selber ist beides nicht, sondern zeitlich und in Empfindungsqualitäten denkend. Viertens ist das Kunstwerk aber auch als ein affektiver Zusammenhang zu verstehen, der uns die feinsten seelischen Schwingungen und Entwicklungen wie in einem Spiegel zeigt; und fünftens in seinen gesellschaftlichen Funktionen, in seiner Einbindung in religiöse Riten, politische Repräsentation, Bildungsinstitutionen, Medien; sechstens schließlich in seiner Nähe und Ferne zur Wortsprache, womit eines der Grundthemen einer allgemeinen Anthropologie berührt ist. Denn die Wortsprache befähigt den Menschen, Dinge der Außenwelt zu benennen, und schafft so erst den Unterschied von Außen und Innen, von Objekt und Subjekt. Die Musik dagegen hat weder irgendein Vorbild in der äußeren Natur und Dingwelt noch einen symbolischen Bezug dazu.

Ist ein Stück Musik als ein Objekt zu begreifen? Die Musik wird zweifellos intersubjektiv verstanden, aber was ist das für ein Verstehen? Man wird hier – wenn man nicht auf alte meta­physische Modelle zurückgreifen will – gezwungen, die Musik zu beschreiben als eine vom Menschen errichtete Konstruktion in der Zeit. Sie ist gebaut aus unserer eigenen Lebenszeit, sie wird durch unsere Konzentrationskraft in unser Bewusstsein projiziert. Aber woher dann der starke Eindruck, den sie gerade auf das Unbewusste und Halbbewusste macht? Woher ihre oft erschütternde und ergreifende Wirkung? Ist sie vielleicht eine alternative Sprache zur Sprache der Worte, ist sie beheimatet in einer seelischen Schicht, die noch vor der Trennung von Innen und Außen liegt?

So sehr alles darauf hindeutet, dass sich Musik und Sprache in der biologischen Evolution in enger Nachbarschaft gebildet haben, erscheinen sie doch im heutigen ausdifferenzierten Zustand als nicht kompatibel. Die Zeichen der Wortsprache – also die Worte – haben eine Bedeutung, während die Klänge der Musik nur sich selber bedeuten. Die Worte sind zwar, insofern sie Klänge sind, der Musik ganz nahe und beide Welten haben innerhalb der geschichtlichen Epochen eine reiche und unterschiedliche Wechselbeziehung. Aber gleichzeitig sind sie abstrakte Begriffe und so der Musik ex­trem entgegengesetzt. Man wird also vorsichtig sein müssen, wenn man die Musik in ihrem Zusammenhang mit sprachlich dominierten Strukturen, wie es die gesellschaftlichen sind, untersucht; ja man muss sich dessen bewusst sein, dass man bei der Reflexion über Musik selber etwas sehr Problematisches tut: man versucht, mit der diskursiven Sprache eine gänzlich andere Art von Sprache – nämlich eine, die nur sich selbst repräsentiert – zu beschreiben.

Doch die Dinge liegen sogar noch komplizierter. Im Lauf der europäischen Musikgeschichte scheint die Musik seit dem Beginn der schriftlichen Notation von der Wortsprache »gelernt« zu haben, so etwas wie identifizierbare – wenn auch nach wie vor bedeutungsfreie – Gebilde hervorzubringen, die immer mehr beweglichen kleinen Klangobjekten gleichen. Immer wiederkehrende Tonfolgen, gleichbleibende Metren, später Motive, Themen, ganze Formabschnitte, die mehrmals erscheinen, bilden formale Analogien zu der Struktur der Wortsprache; auch musikalische Formverläufe, die deutlich als Analogien von sprachlicher Syntax und Grammatik erscheinen, bilden sich immer mehr heraus. All das trägt zu einer Art von Objektivierung der späteuropä­ischen Musik bei, welche eine andere Objektivierung ist als die viel fundamentalere der Wortsprache. Trotzdem ist der sich stellenden Frage nicht zu entkommen: kann man ein Stück Musik als Objekt bezeichnen? Erst die Betrachtung der Musik der Moderne wird uns vielleicht dazu verhelfen, diese Frage zu beantworten.

Kommen wir jetzt zur Frage nach dem Hören und Verstehen des Komponisten. Er muss die größten Spannungen und Widersprüche aushalten. Er ist, wenn man das künftige Werk als Objekt betrachtet, damit beschäftigt, das Objekt der Partitur zu erstellen, das ein anderes noch nicht existierendes »Objekt« – nämlich die Handlung einer künftigen Aufführung eines Werkes – beschreibt. Nun ist eine Partitur aber nur zum Teil eine Beschreibung: sie ist in weit höherem Maß eine Aktionsanweisung an künftige Interpreten, bei der man nicht genau vorhersagen kann, inwieweit und wie sie befolgt werden wird, denn sie sieht im gewissen Maße frei handelnde Subjekte als Ausführende vor. Betrachtet man wiederum den Vorgang des kompositorischen Handelns von innen, so muss man ihn beschreiben als einen subjektiven Akt in Prozessform. Der Geist des Komponisten ist bis zum Platzen angefüllt mit einer bestimmten musikalischen Vorstellung, die noch keine Form gewonnen hat. Seine erste Arbeit wird also sein, diese Vorstellung durch die ihm vertrauten Schriftzeichen, Formtypen, Instrumente, Tonsysteme und Rhythmen auszudrücken. Wo ihm das konventionelle Material hier nicht zu reichen scheint, erfindet er neues dazu. Im Zeitlupentempo muss er nun Schritt für Schritt sein Stück entdecken – ich sage entdecken, weil jeder dieser Schritte ein Balanceakt ist zwischen seiner inneren Vorstellung und der durch die Notation sich schaffenden konkreten Realisierung. Je nach Können und Erfahrung wird er die von ihm gewählten Mittel beherrschen oder von ihnen beherrscht werden. Je nach der Kraft seiner inneren Vorstellung wird er die Mittel mehr konventionell nutzen – oder aber auf eine Weise, in der sie neu gedeutet werden. Seine innere Vorstellung wiederum ist nicht eine idée fixe, sondern eine in einem langen Prozess tiefer Konzentration sich entwickelnde lebendige Form, die aus unbewusst tastenden Anfängen sich langsam zu der Bewusstheit jedes kleinsten Details entwickelt – denn dieses muss ja in Zeichen übersetzt und dann hingeschrieben werden.

Am schwierigsten ist die Abstraktionsarbeit in der Bewältigung der lächerlich großen Differenz zwischen der realen Zeit, in der das künftige Werk im Geist des Komponisten erscheint, und der Zeit der schneckenartig langsamen Aufzeichnung, die einen Komponisten nötigt, vielleicht monatelang an einem Stück von wenigen Minuten Dauer zu arbeiten. Das zweite Grundproblem des schriftlichen Komponierens ist, dass eben die Schrift den Komponisten zwingt, seine inneren, qualitativ bestimmten Vorstellungen andauernd zu quantifizieren. Immer wieder muss deswegen der Komponist, um den Faden seines Gewebes nicht zu verlieren, von der gestreckten Zeit des Schreibens ganz bewusst in seiner Vorstellung zur dramatischen Spannung einer live auf dem Podium sich ereignenden Aufführung zurückkehren. Der Komponist muss so in einem langen Prozess sein Stück aus der Zukunft in die Gegenwart ziehen. Er »glaubt« so lange an sein Stück, bis es fertig vor ihm steht als ein in der Partitur tatsächlich objektiviertes Werk – das allerdings nicht identisch ist mit der Musik seiner inneren Vorstellung, es ist ihr nur ähnlich. Ein Komponist wie Giacinto Scelsi hat uns das nachdrücklich zu Bewusstsein gebracht, indem er sich weigerte, seine Partituren selber zu schreiben, und Kollegen dafür bezahlte, sie nach von ihm bereitgestellten Tonbändern zu erstellen; auf diesen Tonbändern befanden sich seine von ihm selber in real time instrumental wiederge­gebenen Musikstücke. So enthüllt sich die Niederschrift eines Stückes schon als ein Interpretationsvorgang. Die Partitur selber ist nicht das Original des Werkes – nicht nur bei Scelsi.