Wächter des Morgen - Sergej Lukianenko - E-Book

Wächter des Morgen E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Nach den Bestsellern »Wächter der Nacht«, »Wächter des Tages«, »Wächter des Zwielichts« und »Wächter der Ewigkeit« nun der Höhepunkt in Sergej Lukianenkos einzigartiger Saga um die »Anderen« – Vampire, Hexen, Magier, Gestaltwandler –, die seit ewigen Zeiten unerkannt in unserer Mitte leben. Längst ist der Friede zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Dunkelheit zerbrochen, und auf Moskaus Straßen tobt eine unerbittliche Schlacht. Eine Schlacht, von der eine Prophezeiung sagt, dass nur ein junges Mädchen sie entscheiden kann ...

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Seitenzahl: 609

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Inhaltsverzeichnis

Erste Geschichte Wirre Ziele
PrologEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAcht
Zweite Geschichte Wirre Zeiten
PrologEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAcht
Dritte Geschichte Wirre Taten
PrologEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAcht
Copyright

Der vorliegende Text ist für die Sache des Lichts zweifelhaft.

Die Nachtwache

 

 

 

Der vorliegende Text ist für die Sache des Dunkels zweifelhaft.

Die Tagwache

Obersergeant Dima Pastuchow war ein guter Polizist. Sicher, es kam schon einmal vor, dass er einen allzu frechen Besoffenen mit Maßnahmen, die nicht in den Dienstvorschriften vorgesehen waren, zur Besinnung brachte, zum Beispiel mit ein paar kräftigen Kinnhaken oder Tritten. Jedoch immer nur, wenn der Saufbold ernsthaft Widerstand leistete oder sich strikt weigerte, sich in die Ausnüchterungszelle zu begeben. Auch bei ein paar Scheinchen, die ihm irgendein Ukraino oder Schlitzauge ohne Aufenthaltserlaubnis zusteckte, sagte er nicht Nein, schließlich war das Gehalt eines Polizisten derart niedrig, da konnte das Bußgeld dieser Burschen ruhig in seine Taschen wandern. Er hatte auch nichts dagegen, wenn er in einem Imbiss in seinem Revier ein Glas Wasser bestellte  – und einen Kognak bekam. Oder mit einem Hunderter bezahlte  – und einen Tausender Wechselgeld kriegte.

Arbeit war schließlich Arbeit. Dazu war sie zu anstrengend und gefährlich, auch wenn das auf den ersten Blick gar nicht so aussah. O ja, eine gewisse materielle Kompensation hatte er sich da schon ehrlich verdient.

Immerhin knüpfte Dima niemals Prostituierten und kleinen Zuhältern Geld ab. Prinzipiell nicht. Etwas in seiner Erziehung verbot ihm das. Auch Leute, die zwar angetrunken waren, aber noch einigermaßen klar denken konnten, verfrachtete er nicht in die Ausnüchterungszelle. Sobald er aber von einem echten Verbrechen hörte, jagte er vorbehaltlos jeden Dieb, ging jedem auch noch so kleinen Hinweis nach, nahm den Fall (falls die Opfer darauf bestanden) zu Protokoll, ja, er versuchte sogar, sich die Gesichter derjenigen einzuprägen, die zur Fahndung ausgeschrieben waren. Er konnte bereits mehrere Festnahmen verbuchen, darunter einen waschechten Mörder, der zunächst den Liebhaber seiner Frau erstochen hatte, was verzeihlich war, dann die Frau, was verständlich war, dann jedoch mit dem Messer auf den Nachbarn losgegangen war, der ihm von der Affäre seiner Frau berichtet hatte. Der Nachbar, empört über diese Undankbarkeit, hatte sich daraufhin in seiner Wohnung verschanzt und die Polizei gerufen. Pastuchow, der damals Dienst hatte, verhaftete den Mörder, der gerade mit den schwachen, wenn auch blutverschmierten Fäusten eines Intelligenzlers auf die Eisentür einhämmerte, und kämpfte tapfer gegen den Wunsch an, diesen Denunzianten von Nachbarn ins Treppenhaus hinauszuzerren und ihm ordentlich die Fresse zu polieren.

Alles in allem hielt Dima sich also für einen guten Polizisten  – und war damit gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Im Vergleich zu einigen Kollegen nahm er sich tatsächlich angenehm wie ein Bilderbuchmilizionär aus. Zum Beispiel wie Pfeifstengel aus dem alten Roman über Nimmerklug in Sonnenstadt.

Der einzige Fleck in Dimas Dienstbiografie datierte in den Januar des Jahres 1998, als er, damals ein frischgebackener und unerfahrener Polizist, zusammen mit Sergeant Kaminski an der Metrostation »Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft« Streife lief. Kaminski leitete ihn, den jungen Milizionär (ja, damals hießen sie noch so, damals gab es das modische Polizist und das beleidigende Polyp noch nicht) an und war sehr stolz auf diese Rolle. Seine Ratschläge und Tipps zielten jedoch ausschließlich auf die Möglichkeiten, sich problemlos das magere Gehalt aufzubessern. Deshalb stieß Kaminski prompt einen begeisterten Pfiff aus, als sie einen betrunkenen jungen Kerl sahen, der durch die Fußgängerunterführung an der Metro stürmte und dabei sogar noch eine angebrochene Viertelliterflasche billigen Wodkas umklammerte. Kurzerhand hielten die beiden ihn an, überzeugt, von dem Saufkopf gleich einen Fünfziger, wenn nicht gar einen Hunderter zugesteckt zu kriegen.

Nur lief dann irgendwas aus dem Ruder, es kam zu einer Teufelei, die sich einfach nicht erklären ließ. Dieser betrunkene Kerl sah sie mit einem überraschend nüchternen Blick an  – und selbst wenn der Blick nicht nüchtern gewesen war, etwas Schreckliches, etwas Wildes hatte auf alle Fälle in ihm gelegen, etwas, das an einen Hund denken ließ, der schon lange keinem einzigen Menschen mehr vertraute  – und forderte sie auf, sich ebenfalls zu betrinken.

Und sie beide hatten gehorcht. Sie gingen zu einem Kiosk  – denn obwohl bereits die letzten Jahre der chaotischen Jelzin-Ära angebrochen waren, verkaufte man Wodka nach wie vor an jeder Ecke  – und erstanden jeder eine Flasche, wobei sie die ganze Zeit wie wahnsinnig kicherten. Sie bekamen den gleichen billigen Fusel wie dieser Kerl, der ihnen den klugen Rat gegeben hatte. Anschließend kauften sie beide noch eine Flasche. Und danach noch eine.

Drei Stunden später, als sie schon extrem angeheitert waren und nur noch höchst scharfsinnige Bemerkungen von sich gaben, wurden sie von ein paar Kollegen aufgelesen, was letzten Endes ihre Rettung bedeutete: Sie mussten sich zwar eine Standpauke anhören, die sich gewaschen hatte, durften aber in der Miliz bleiben. Seit jenem Tag rührte Kaminski keinen Tropfen Alkohol mehr an und schwor bei allem, was ihm heilig war, der besoffene Kerl müsse ein Hypnotiseur oder Parapsychologe gewesen sein. Pastuchow dagegen verkniff sich jede Spekulation über den Unbekannten  – vergaß ihn jedoch nicht.

Denn auf keinen Fall wollte er ihm noch einmal auf den Leim gehen.

Es mochte an diesem irrsinnigen und peinlichen Besäufnis gelegen haben, vielleicht reiften danach auch ungeahnte Fähigkeiten in ihm heran, jedenfalls fielen ihm schon bald weitere Menschen mit diesen seltsamen Augen auf. Insgeheim unterschied er sie in Wölfe und Hunde.

Im Blick der Wölfe spiegelte sich die ruhige Gelassenheit des Raubtiers, in der nichts Böses lag, denn ein Wolf reißt ein Schaf ohne jede Bosheit, eher aus Liebe. Solche Leute mied Pastuchow, wobei er penibel darauf achtete, ihnen nicht aufzufallen.

In den Augen der Hunde, die sich gut mit besagtem jungem Säufer vergleichen ließen, las er mal ein Schuldgefühl, mal Sorge oder Trauer. Das Einzige, was Pastuchow an diesen Menschen beunruhigte, war die Tatsache, dass Hunde mit einem solchen Blick nicht ihren Herrn, sondern bestenfalls die Kinder ihres Herrn ansehen. Deshalb mied er auch sie.

Was ihm über lange Jahre auch gelang.

 

Wenn Kinder die Blumen des Lebens sind, dann war dieser Junge ein blühender Kaktus.

Kaum betrat er den Terminal D des Flughafens Scheremetjewo, fing er an, laut zu plärren. Seine Mutter, vor Wut und Scham bereits knallrot  – anscheinend gab ihr Sohnemann nicht das erste Heulkonzert an diesem Tag  –, zerrte ihn an der Hand hinter sich her, während der Junge bockte, sich mit beiden Beinen gegen den Boden stemmte und schrie: »Ich will nicht! Ich will nicht in dieses Flugzeug! Mama, bitte nicht! Mama, ich will nicht! Mama, das Flugzeug stürzt ab!«

Prompt ließ die Mutter ihn los, und der Junge fiel zu Boden, wo er einfach hocken blieb: ein dickes, verheultes, hässliches Kind von etwa zehn Jahren, das etwas leichter angezogen war, als es sich selbst im Juni in Moskau empfahl. Offenbar wollten die beiden in den Süden fliegen.

Zwanzig Meter von ihnen entfernt reckte sich an einem Tisch im Flughafencafé ein Mann auf seinem Stuhl etwas vor, wobei er beinahe ein noch nicht geleertes Glas Bier umgerissen hätte. Einen ausgedehnten Moment lang betrachtete er den Jungen und seine Mutter, die auf ihn einredete. Dann ließ er sich wieder gegen die Lehne zurücksacken. »Alles, nur das nicht!«, murmelte er. »Was für ein Albtraum!«

»Ganz Ihrer Meinung«, pflichtete ihm die junge Frau bei, die ihm gegenübersaß. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und bedachte das Kind mit einem angewiderten Blick. »Ich würde sogar sagen: regelrecht ekelhaft.«

»Ekelhaft, das trifft es wohl nicht ganz«, erwiderte der Mann sanft. »Aber es ist schrecklich … ohne jede Frage.«

»Ich persönlich …«, setzte die Frau an, verstummte dann aber, als sie bemerkte, dass der Mann ihr nicht zuhörte.

Der holte gerade sein Handy heraus und wählte. »Ich brauche eine Intervention ersten Grades«, verlangte er leise. »Notfalls auch zweiten. Nein, das ist kein Scherz. Dann lasst euch was einfallen!«

Er beendete das Gespräch und sah die Frau an. »Tut mir leid, das konnte nicht warten«, wandte er sich an sie. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich persönlich bevorzuge ja ein Childfree-Leben«, erklärte die Frau in provozierendem Ton.

»Sie haben keine Kinder? Weil Sie keine bekommen können?«

»Das ist ein weit verbreiteter Irrtum!«, entgegnete sie. »Nein, wir Childfree-Menschen sind gegen Kinder, weil sie einen unterjochen. Deshalb muss man sich entscheiden, ob man als freier und stolzer Mensch lebt oder sich damit begnügt, lediglich ein Rädchen im Reproduktionsmechanismus der Bevölkerung zu sein!«

»Mhm«, brummte der Mann. »Tut mir leid … ich hatte angenommen, es sei ein körperliches Problem. In dem Fall hätte ich Ihnen eine gute Ärztin empfehlen können. Aber Sex lassen Sie gelten?«

»Selbstverständlich!«, antwortete die Frau lächelnd. »Wir sind ja schließlich keine asexuellen Wesen, oder? Sex gehört zum Eheleben, er ist eine gute und normale Sache. Aber … sich mit diesen brüllenden Quälgeistern …«

»… mit diesen Dreckspatzen«, fiel ihr der Mann ins Wort. »Ständig machen sie alles schmutzig. Und am Anfang können sie sich noch nicht mal allein den Hintern abwischen.«

»Völlig richtig!«, bestätigte die Frau. »Dreckspatzen, das sind sie! Die besten Jahre gibt man dran, um diese unterentwickelten menschlichen Kreaturen zu bedienen … Ich hoffe, Sie haben nicht die Absicht, mir eine Moralpredigt zu halten und mich davon zu überzeugen, mir noch einmal alles durch den Kopf gehen zu lassen und mir einen Haufen Kinder zuzulegen?«

»Keine Sorge, ganz bestimmt nicht. Vor allem da ich wirklich fest überzeugt davon bin, dass Sie nie im Leben Kinder haben werden.«

In diesem Augenblick ging der Junge mit seiner Mutter an ihnen vorbei. Entweder hatte er sich ein wenig beruhigt oder aber damit abgefunden, dass er in diesen Flieger steigen musste. Seine Mutter redete noch immer mit gedämpfter Stimme auf ihn ein. Fetzen, in denen es um das warme Meer, ein schönes Hotel und den Stierkampf ging, drangen zu ihnen herüber.

»O Gott!«, rief die Frau entsetzt aus. »Die wollen nach Spanien. Garantiert sitzen wir in derselben Maschine. Dann darf ich mir geschlagene drei Stunden die hysterischen Schreie von diesem kleinen Fettkloß anhören!«

»Drei Stunden sicher nicht«, erwiderte der Mann. »Eher eine Stunde und zehn, vielleicht fünfzehn Minuten.«

Ein leicht abfälliger Ausdruck schlich sich in das Gesicht der Frau: Was redete dieser Mann für einen Unsinn? Dabei sah er doch eigentlich ganz vernünftig aus …

»Der Flug nach Barcelona dauert drei Stunden«, stellte sie klar.

»Drei Stunden und zwanzig Minuten. Vorausgesetzt …«

»Wohin wollen Sie überhaupt?«, fragte die Frau, die mit einem Mal jedes Interesse an ihm verloren hatte.

»Nirgendwohin. Ich habe einen Freund zum Flughafen gebracht und mir hier noch ein Bierchen spendiert.«

»Tamara«, stellte sich die Frau etwas verspätet vor. »Ich bin Tamara.«

»Und ich Anton.«

»Sie haben bestimmt auch keine Kinder, oder, Anton?«, kam Tamara auf ihr Lieblingsthema zurück.

»Doch, hab ich. Eine Tochter. Nadja. Sie ist so alt wie dieser … Fettkloß.«

»Sie hatten also etwas dagegen, dass Ihre Frau das Leben eines ausgeglichenen und eigenständigen Menschen führt?«, fragte Tamara grinsend. »Was macht sie denn so?«

»Meine Frau?«

»Ihre Tochter mit Sicherheit nicht.«

»Sie hat Medizin studiert. Und außerdem ist sie … eine Zauberin.«

»Wenn mich eins an euch Männern aufbringt, dann ist es dieses Gesülze«, sagte Tamara und stand auf. »Eine Zauberin! Und dann schaut ihr in aller Ruhe zu, wie sie den ganzen Tag am Herd steht, die Windeln wäscht, nachts nicht schläft …«

»Ich hab bestimmt keinen Grund zur Klage. Im Übrigen wäscht bei uns schon lange niemand mehr Windeln. Nicht, seit es Pampers gibt.«

Beim Wort Pampers verzog die Frau das Gesicht, als hätte jemand von ihr verlangt, eine Handvoll Kakerlaken zu essen. Sie schnappte sich kurzerhand ihre Tasche und ging zum Check-in, ohne sich zu verabschieden.

Achselzuckend griff der Mann erneut nach seinem Handy und hielt es ans Ohr. Prompt klingelte es.

»Gorodezki hier. Und? … Nein, dritten Grades, das bringt überhaupt nichts. Wir haben es mit einem ausgebuchten Charterflug nach Barcelona zu tun. Das wäre ein zweites …« Er verstummte kurz, um dann fortzufahren: »Hört mal, der Junge hat eine ausgeprägte Gabe der Vorhersehung, ersten oder zweiten Grades würde ich sagen. Vermutlich gehen die Dunklen also auf die Barrikaden … Gut, dann gebt mir eine Intervention fünften Grades, um das Schicksal eines Menschen und eines Anderen zu ändern … Ja, verbucht die auf meinem Konto.«

Er stand auf, ohne sein Glas ausgetrunken zu haben und begab sich zum Check-in. Die Mutter des Jungen wartete mit steinerner Miene in der Schlange, ihr Sohn trippelte nervös auf der Stelle herum.

Der Mann ging an sämtlichen Kontrollen vorbei (wobei ihn aus irgendeinem Grund niemand aufhielt), näherte sich der Frau und räusperte sich höflich. Sobald sie ihm den Blick zuwandte, nickte er. »Olga Jurjewna … Sie haben vergessen, das Bügeleisen auszuschalten, nachdem Sie heute Morgen Keschas Shorts gebügelt haben.«

Im Gesicht der Frau spiegelte sich sofort Panik wider.

»Sie können die Maschine heute Abend nehmen«, beruhigte der Mann sie. »Fahren Sie also besser noch einmal nach Hause.«

Die Frau stürzte zum Ausgang. Der Junge, den sie völlig vergessen zu haben schien, starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an.

»Du willst sicher wissen, wer ich bin und warum deine Mama mir glaubt?«, fragte der Mann.

Da verschleierten sich die Augen des Jungen, fast als schaue er in sich hinein oder aber in weite Ferne, zu einem Punkt, an den ein wohlerzogenes Kind besser nicht blickte (genauso wenig wie im Übrigen ein wohlerzogener Erwachsener).

»Sie sind Anton Gorodezki, ein Hoher Lichter«, sagte der Junge. »Sie sind der Vater von Nadka. Und … Sie werden uns alle …«

»Ja?«, hakte der Mann nach. »Was werde ich?«

»Kescha!«, schrie die Mutter, der ihr Sohn offenbar gerade wieder eingefallen war. Der Junge zuckte zusammen, der Nebel in seinen Augen lichtete sich. »Was das alles zu bedeuten hat, weiß ich auch nicht«, sagte er. »Aber danke.«

»Ich werde euch alle …«, murmelte der Mann vor sich hin, während er beobachtete, wie die Frau mit dem Jungen an der Glaswand vorbeilief und auf den Taxistand zuhielt. »Ich werde euch alle … ins Herz schließen. Umbringen. In den Wahnsinn treiben. Ich werde euch alle … und wie ich euch alle …«

Er drehte sich um und schlenderte zum Schalter für Passagiere, die nichts zu verzollen hatten, blieb dort stehen und musterte die Schlange für den Flug nach Barcelona.

Sie war lang und laut. Die Menschen wollten zum Urlaub ans Meer fliegen. In der Schlange standen viele Kinder, viele Frauen, viele Männer und sogar eine Childfree-Frau.

»Möge Gott euch retten«, brummte der Mann. »Ich kann es nämlich nicht.«

 

Dima Pastuchow holte gerade das Feuerzeug heraus, damit sein Kollege Bissat Iskenderow sich eine Zigarette anzünden konnte. Der hatte zwar auch selbst ein Feuerzeug, aber zwischen ihnen hatte sich dieses kleine Ritual herausgebildet: Wenn Dima nach einer Kippe langte, gab Bissat ihm Feuer, wenn der Aserbaidschaner rauchen wollte, war es umgekehrt. Würde Pastuchow sich zu hochtrabenden Überlegungen versteigen, dann würde er vermutlich behaupten, auf diese Weise bezeugten sie sich gegenseitig Respekt, auch wenn sie in etlichen Dingen unterschiedlicher Meinung waren, angefangen von nationalen Problemen bis hin zu der Frage, welches Auto mehr unter der Haube habe, ein Mercedes ML oder ein BMW X3.

Nur verstieg sich Dima nie zu Überlegungen dieser Art, außerdem fuhren Bissat und er beide einen Ford, tranken lieber deutsches Bier als russischen Wodka oder aserbaidschanischen Kognak und kamen im Grunde recht gut miteinander aus. Deshalb drückte Dima einfach auf den Knopf, der dem Ding eine winzige Flammenzunge entlockte, schielte dabei aus den Augenwinkeln zum Ausgang des Flughafengebäudes hinüber  – und ließ prompt das Feuerzeug, das schon auf dem Weg zu Bissats Zigarette war, fallen.

Aus dem Terminal für die Abflüge kam ein »Hund« heraus. Ein gebildet wirkender Mann in mittleren Jahren, den er eigentlich nicht zu fürchten brauchte. Solche Typen kannte Pastuchow. Nur war das da nicht irgendein Hund, sondern der Hund. Der von der Metro »Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft«. Der von jenem weit zurückliegenden Tag … Diesmal sah er allerdings nicht betrunken, sondern eher leicht verkatert aus.

Pastuchow wandte sich rasch ab, bückte sich und tastete wie benommen nach dem Feuerzeug. Der Mann mit den Augen eines Wachhunds ging an ihm vorbei, ohne auch nur auf ihn zu achten.

»Hast du gestern ein Gläschen zu viel getrunken?«, fragte Bissat voller Mitgefühl.

»Wie?«, brummte Pastuchow. »Äh … nein, mir ist nur das Feuerzeug runtergefallen.«

»Aber deine Hände zittern, und du bist kreidebleich«, sagte Bissat.

Während Pastuchow aus den Augenwinkeln verfolgte, wie der Mann zum Parkplatz ging, gab er seinem Kollegen Feuer, holte seine Zigaretten heraus und zündete sich selbst eine an  – ohne darauf zu warten, dass Bissat ihm sein Feuerzeug hinhielt.

»Trotzdem«, beharrte Bissat. »Irgendwas stimmt mit dir heute nicht.«

»Hast schon recht, ich hab gestern was getrunken«, sagte Pastuchow, der erneut zum Terminal hinübersah.

Gerade kam ein Wolf heraus. Mit dem sicheren Blick und dem festen Gang eines Raubtiers. Pastuchow drehte sich sofort weg.

»Da hättest du heute Morgen Khash essen sollen«, bemerkte Bissat. »Richtigen, meine ich, den von uns. Die Plörre von den Armeniern ist ja das pure Gift.«

»Ist am Ende doch alles der gleiche Fraß«, gab Pastuchow seine Standardantwort.

Bissat spuckte aus und erklärte energisch: »O nein, das sieht nur so aus. Aber es kommt drauf an, was drin ist, und da liegen Welten zwischen!«

»Sollen sich die Zutaten von mir aus unterscheiden, am Ende schmeckt es doch gleich«, erwiderte Pastuchow, der nun den Wolf im Auge behielt, der ebenfalls zum Parkplatz ging.

Bissat schwieg beleidigt.

Pastuchow rauchte die Zigarette in wenigen Zügen runter und sah wieder zum Terminal hinüber.

Echt, feiern die da drin irgend ’ne Party?, fragte er sich genervt.

Bis ihn Panik befiel.

Denn der Mann, der eben herausgekommen war und jetzt stehen blieb, um nachdenklich in die Gegend zu spähen, war kein Hund und auch kein Wolf. Das war jemand, der einer neuen Kategorie angehörte. Einer dritten.

Dieser Kerl verschmauste einen Wolf zum Frühstück und einen Hund zum Mittag  – um sich sämtliche Leckerbissen für den Abend aufzuheben.

Ein Tiger, klassifizierte ihn Pastuchow in Gedanken.

»Ich muss mal zum Klo …«, teilte er Bissat mit. »Bei mir im Magen rumort’s.«

»Geh nur, ich rauch noch eine«, knurrte der, noch immer eingeschnappt.

Natürlich konnte er Bissat nicht bitten, ihn zur Toilette zu begleiten. Wie hätte das denn ausgesehen? Zeit, die ganze Geschichte zu erklären oder sich irgendeine Ausrede auszudenken, blieb auch nicht. Deshalb drehte Pastuchow sich einfach um und eilte davon, sodass Iskenderow dem Tiger allein gegenüberstehen würde. Wird schon nichts passieren, redete sich Dima ein. Der geht bestimmt an Bissat vorbei.

Erst am Eingang zum Terminal wagte es Pastuchow, sich umzudrehen.

Gerade rechtzeitig, um mitzuerleben, wie Bissat locker salutierte und den Tiger anhielt. Eigentlich konnte er diese Typen gar nicht unterscheiden, ja, er nahm sie nicht einmal wahr, schließlich war er in der Vergangenheit von einem entsprechenden Erlebnis verschont geblieben. Doch bei dem Kerl merkte selbst Bissat etwas, sein Milizionärsinstinkt meldete sich, der es ihnen allen erlaubte, zuweilen aus einer Menge einen Menschen herauszufischen, der äußerlich durch nichts auffiel, aber in einem Halfter unter der Jacke eine Pistole oder in der Tasche ein Messer trug.

»Gorodezki wird uns jetzt einen Bericht über den Vorfall an diesem Morgen geben«, erklärte Geser, ohne den Blick von seinen Papieren zu heben.

Ich stand auf. Ehe ich begann, fing ich noch den mitfühlenden Blick Semjons auf. »Vor zwei Stunden habe ich Mister Warnes zum Flughafen gebracht. Nach dem Check-in hat unser Gast im Duty-free-Shop Wodka gekauft …«

»Was soll das heißen?«, unterbrach mich Geser, den Blick noch immer auf seine Unterlagen gerichtet. »Bist du etwa mit ihm durch die Passkontrolle gegangen?«

»Ja, schon.«

»Warum?«

»Um sicher zu sein, dass er wirklich keine Probleme bekommt«, antwortete ich, räusperte mich und schob nach. »Und um … selbst etwas im Duty-free-Shop zu kaufen.«

»Und was bitte schön?«

»Ein paar Flaschen Whisky.«

»Welchen?« Jetzt hob Geser doch den Blick und sah mich an.

»Schottischen. Single Malt. Einen zwölfjährigen Glenlivet und einen achtzehnjährigen Glenmorangie. Den will ich verschenken. Ich persönlich finde es ja viel zu versnobt, achtzehn Jahre alten Whisky zu …«

»Erspar mir diesen Unsinn!«, fiel mir Geser ins Wort. »Seit wann kannst du es dir nicht mehr leisten, in einem normalen Geschäft einzukaufen?!«

»Ganz einfach, Boris Ignatjewitsch«, entgegnete ich. »Mister Warnes säuft wie ein Pferd. Nur dass er sich leider nicht mit White Horse begnügt, sondern einen guten Single Malt vorzieht. In meiner Bar herrscht nach seinem Besuch gähnende Leere. Morgen erwarten wir jedoch einen weiteren Gast, um den ich mich auf Ihren Befehl hin kümmern soll. Und bei meinem Gehalt kann ich es mir nun mal nicht leisten, Alkoholika in normalen Spirituosenläden zu kaufen.«

»Weiter!«, verlangte Geser in eisigem Ton.

»Danach hab ich mir erst mal ein Bierchen spendiert.«

»Seit wann trinkst du schon am frühen Morgen, Gorodezki?«

»Seit vier Tagen. Seit Warnes hier eingetroffen ist.«

Semjon kicherte. Geser stand auf und ließ den Blick über alle schweifen, die am Tisch saßen, zehn Andere, alle mindestens dritten Grades oder, wie die Alten es ausdrückten, Ranges.

»Über die Details, die es bei der Bewirtung eines Gastes zu berücksichtigen gilt, unterhalten wir uns später. Also … du hast unter Nachdurst gelitten und dir ein Bier gegönnt. Was geschah dann?«

»Dann ist mir eine Frau mit ihrem Kind aufgefallen, ein pummeliger Junge von etwa zehn Jahren, der die ganze Zeit geheult hat. Er hat seine Mutter angefleht, nicht in diese Maschine zu steigen, weil sie, wie er behauptet hat, abstürzen würde. Daraufhin habe ich selbstverständlich seine Aura gescannt. Bei dem Jungen handelte es sich um einen nicht initiierten Anderen mindestens ersten oder zweiten Grades. Allem Anschein nach um einen Wahrsager, möglicherweise sogar um einen Propheten.«

Daraufhin fingen alle an zu tuscheln.

»Wie kommst du auf diese kühne Schlussfolgerung?«, fragte Geser.

»Wegen der Farbe, der Intensität und des Flackerns seiner Aura«, antwortete ich und sandte das Bild in den Raum, das ich am Flughafen wahrgenommen hatte. Meine Kollegen betrachteten einen leeren Punkt über dem Tisch. Natürlich hatte ich kein wirkliches Bild aufgehängt  – aber das Bewusstsein sucht ja stets nach einer Art Nagel in der Luft.

»Trotzdem müsste ein Prophet …«, setzte Geser zum Widerspruch an.

»Ein Wahrsager sieht in der Regel nicht die eigene Zukunft voraus«, mischte sich Olga mit leiser Stimme ein. »Dieser Junge aber hatte Angst vor seinem eigenen Tod. Das spricht eindeutig für einen Propheten.«

Geser nickte zögernd.

»Daraufhin habe ich mich erkundigt, ob wir das Recht auf eine Intervention ersten oder zweiten Grades haben. In dem Fall hätten wir das ganze Flugzeug retten können. Leider war das jedoch nicht der Fall. Deshalb habe ich eine Intervention fünften Grades in Anspruch genommen, um die Mutter und den Jungen kurzerhand aus der Passagierliste zu streichen.«

»Eine kluge Entscheidung«, murmelte Geser, der sich anscheinend wieder beruhigt hatte. »Ist der Junge inzwischen unter unserer Kontrolle?«

Auf die Frage konnte ich nicht antworten. Semjon hüstelte aber leise und erhob sich. »Daran arbeiten wir gerade, Boris Ignatjewitsch«, teilte er dem Chef mit.

Geser nickte und sah mich wieder an. »Was noch?«

Ich zögerte kurz, ehe ich fortfuhr: »Er hat noch eine Voraussage gemacht. Die mich persönlich betraf.«

»Er hat einem Hohen etwas vorausgesagt?«, hakte Geser nach.

»Das ist ein Prophet!«, hielt Olga in fast amüsiertem Ton fest. »Ohne jeden Zweifel!«

Ich nickte.

»Wie lautete diese Voraussage?«, fragte mich Geser.

»Sie sind Anton Gorodezki, ein Hoher Lichter. Sie sind der Vater von Nadka. Und … Sie werden uns alle …«

»Und weiter?«

»An dieser Stelle ist er verstummt.«

Geser murmelte etwas und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Ich wartete. Der Rest von uns ebenfalls.

»Ich will wirklich nicht unfreundlich erscheinen, Anton, aber bist du sicher, dass du dieses Bier … auf eigenen Wunsch getrunken hast?«

Die Frage zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich nahm sie Geser nicht einmal übel  – aber sie haute mich um. Einen Anderen zu fragen, ob er manipuliert worden sei, das war, als ob man von jemandem wissen wolle, wie sich sein Sexleben so gestalte. Unter guten Freunden geht das natürlich. Aber in der Konstellation Chef und Untergebener? Noch dazu in Anwesenheit Dritter … Außerdem: Es mochte ja noch angehen, einen unerfahrenen Anderen zu fragen: Hast du aus freien Stücken gehandelt?, nachdem er Mist gebaut hatte, doch selbst dann wäre diese Frage wohl rein rhetorisch. Aber sie einem Hohen zu stellen …

»Boris Ignatjewitsch«, sagte ich und baute verärgert sämtliche Schichten meiner mentalen Verteidigung ab, »wahrscheinlich haben Sie Grund zu dieser Frage, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht weiß, welchen. Ja, meiner Ansicht nach habe ich dieses Bier auf eigenen Wunsch getrunken. Aber wenn Sie daran zweifeln, dann scannen Sie mich ruhig.«

Natürlich war diese Aufforderung ebenso rhetorisch gemeint. Etwa so, wie ein Mensch, der mit der dämlichen Anklage konfrontiert wird, Silberlöffel vom Tisch seiner Gastgeber geklaut zu haben, vorschlägt, man solle ruhig seine Taschen inspizieren.

»Das werde ich gern«, sagte Geser und stand auf.

Noch im selben Moment fiel ich in Ohnmacht.

Um irgendwann wieder die Augen aufzuschlagen.

Etwa fünf bis zehn Minuten später  – an die ich mich überhaupt nicht erinnerte. Ich lag auf einem kleinen Sofa, das in Gesers Büro stand und von allen nur ironisch »Exerzierplatz für den Gehirnsturm« genannt wurde. Olga hielt meinen Kopf, und sie war extrem wütend. Geser saß auf einem Stuhl, und er war extrem verlegen. Sonst war niemand mehr im Raum.

»Und?«, fragte ich. »Wie lautet das Urteil? Schuldig oder nicht schuldig?«

»Anton, ich muss mich untertänigst bei dir entschuldigen«, brachte Geser heraus.

»Gegenüber deinen Kollegen hat er das schon getan«, fügte Olga hinzu. »Also, Anton, verzeih diesem alten Narren.«

Ich setzte mich auf und massierte mir die Schläfen. Mein Kopf schmerzte zwar nicht, kam mir aber absolut leer vor und brummte etwas.

»Wer bin ich?«, nuschelte ich. »Wo bin ich? Und wer sind Sie eigentlich?«

»Anton, komm schon, nimm meine Entschuldigung an«, bat Geser.

»Wieso sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, jemand hätte mich manipuliert, Chef?«, fragte ich.

»Findest du es nicht komisch, dass du dir wie aus heiterem Himmel in diesem ranzigen und teuren Café ein Bier spendierst, nachdem du dich von Herrn Warnes verabschiedet hast? Noch dazu, wo du wusstest, dass du noch fahren musst?«

»Schon. Aber der Tag ging schon so komisch los.«

»Und dass ausgerechnet in dem Moment, als du dein Bierchen trinkst, ein kleiner Wahrsager einen hysterischen Anfall kriegt?«

»Das Leben besteht aus seltsamen Zufällen«, antwortete ich philosophisch.

»Und was sagst du dann zu dem Zufall, dass dieses Flugzeug wohlbehalten in Barcelona gelandet ist?«

Damit hatte er mich schachmatt gesetzt.

»Wie das?«

»Wie wohl? Indem es mit den Motoren gelärmt und den Flügeln gewackelt hat. Es ist gelandet, die Menschen sind ausgestiegen, und vor einer Stunde ist es wieder nach Moskau gestartet.«

»Boris Ignatjewitsch«, hielt ich dagegen, »ich bin natürlich kein Wahrsager. Aber ich habe mir die Möglichkeit eines Absturzes angesehen. Nachdem der Junge von einer Katastrophe gesprochen hat, habe ich mir auch seine Aura angesehen. Er ist ein nicht initiierter Anderer, der am Flughafen einen spontanen Ausbruch von Kraft erlebt hat. Die Realitätslinien deuteten auf das Unglück, mit einer Wahrscheinlichkeit von achtundneunzig Prozent. Aber gut, hundertprozentige Sicherheit gibt es ja nie … Waren am Ende also doch die zwei Prozent entscheidend?«

»Gehen wir einmal davon aus. Welche Möglichkeit hättest du sonst, dieses Ereignis zu interpretieren?«

»Dass es eine Provokation ist«, räumte ich zögernd ein. »Der Junge wurde mit Kraft vollgepumpt, ihm wurde eine falsche Aura angehängt. Das wäre kein Problem, das brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären … Dann hat er einen hysterischen Anfall gekriegt, ich habe seine Schreie gehört, mir die Wahrscheinlichkeitslinien angesehen, die ebenfalls gefälscht sein konnten …«

»Mit welchem Ziel?«, fragte Geser.

»Mit dem Ziel, uns dazu zu bringen, eine Intervention ersten Grades zu vergeuden. Das Flugzeug wäre nie im Leben abgestürzt, der Junge ist für uns überhaupt nicht von Interesse, aber trotz allem fallen wir auf die Show rein und verplempern unsere Ressourcen.«

Geser nickte mir zufrieden wie ein Oberlehrer zu.

»Bloß dass wir gar kein Recht auf eine solche Intervention hatten!«

»Doch, das hatten wir schon«, gestand Geser. »Wir haben es sogar immer noch. Allerdings ist es nur mir persönlich eingeräumt. Hättest du mich angerufen … hätte ich die Intervention gestattet.«

»Oh«, entfuhr es mir. »Dann … dann könnte dieses Szenario also zutreffen. Was ist mit dem Jungen?«

»Er ist wirklich ein Prophet«, gab Geser zu. »Und verfügt über enorme Kraft. Du zeigst auch tatsächlich keine Spuren, dass jemand dich manipuliert hätte. Insofern muss ich dir deine Geschichte glauben.«

»Nur ist das Flugzeug nicht abgestürzt«, gab Olga leise zu bedenken.

Darauf sagte niemand ein Wort.

»Propheten irren sich nicht. Der Junge ist aber ein Prophet, das steht fest, denn er hat eine Voraussage zu seinem eigenen Schicksal sowie zum Schicksal eines Hohen Magiers gemacht«, fasste Geser noch einmal zusammen. »Trotzdem ist das Flugzeug nicht abgestürzt. Und zwar ohne dass du dabei deine Finger im Spiel hattest …«

So war das also! »Sie haben gar nicht wissen wollen, ob ich manipuliert worden bin oder nicht«, sagte ich. »Sie hat nur interessiert, ob ich das Flugzeug ohne Erlaubnis gerettet habe.«

»Nur ganz nebenbei«, räumte Geser ein. »Aber das brauchten deine Kollegen ja nicht zu erfahren.«

»Vielen Dank auch«, knurrte ich und stand abrupt auf, um den Raum zu verlassen.

Geser schwieg, bis ich die Tür öffnete. Erst da richtete er noch einmal das Wort an mich: »Ich will gar nicht verhehlen, dass ich mich sehr für dich freue, Anton. Mich freue und auch stolz auf dich bin.«

»Worauf genau?«

»Darauf, dass du dich nicht zu einer unerlaubten Intervention hast hinreißen lassen. Und darauf, dass du dich nicht einer dieser Ideen bedient hast, wie sie für Menschen typisch sind. Indem du zum Beispiel beim Flughafen angerufen und etwas von einer Bombe erzählt hättest.«

Ich verließ das Büro und schloss die Tür hinter mir.

Am liebsten hätte ich laut losgeschrien und mit der Faust gegen die Wand gehämmert.

Aber ich beherrschte mich. Gab mich kalt und abgebrüht.

O nein, ich hatte mich nicht einer dieser Ideen bedient, die typisch für Menschen sind! Nicht einmal im Traum hatte ich daran gedacht. Denn ich war ja der felsenfesten Überzeugung, es gäbe keine legale Möglichkeit, diese zweihundert Menschen zu retten. Deshalb hatte ich nur einen Anderen und seine Mutter gerettet …

Und meine Lektion gelernt: Inzwischen verhielt ich mich wie ein Hoher Magier. Punkt.

In meinem Innern verkrampfte sich alles.

»Anton!«

Ich drehte mich um und sah Semjon, der mir nacheilte. Er wirkte etwas verlegen, ein alter Freund eben, der unfreiwillig zum Zeugen einer peinlichen und hässlichen Szene geworden war. Aber immerhin kannten wir uns schon relativ lange und waren so eng befreundet, dass er nicht vorgeben musste, er sei noch rein zufällig in der Wache.

»Ich hatte eigentlich gedacht, ich müsste noch länger warten«, sagte er. »Was hat sich unser Chef dabei nun schon wieder gedacht …?«

»Er hat völlig richtig gehandelt«, gab ich widerwillig zu. »Die ganze Geschichte ist wirklich merkwürdig.«

»Ich soll jetzt übrigens mit dem Jungen reden, ihn initiieren, seiner Mutter klarmachen, dass er zu uns in die Schule muss … Das Übliche halt. Willst du mitkommen?«

»Habt ihr den Jungen etwa schon gefunden?«, fragte ich. »Ich hab doch bloß die Namen der beiden in Erfahrung gebracht, mehr nicht.«

»Du stellst Fragen! Wir leben im 21. Jahrhundert, Antocha! Da brauchst du nur einmal in unserer Informationsabteilung anzurufen und zu fragen, wer den Flug nach Barcelona verpasst hat  – und schon kann dir Tolik die Namen und die Adressen durchgeben. Innokenti Grigorjewitsch Tolkow, zehneinhalb Jahre. Seine Mutter ist alleinerziehend. Ich nehme an, du weißt, dass in Familien, in denen ein Elternteil fehlt, statistisch gesehen, häufiger Andere vorkommen.«

»Die soziale Deprivation trägt dazu bei, dass …«, murmelte ich.

»Ich habe übrigens mal gehört, die Väter würden unterbewusst spüren, dass ihr Kind ein Anderer ist und deshalb die Familie verlassen«, fiel mir Semjon ins Wort. »Sie haben Angst vor ihrem eigenen Nachwuchs. Die Tolkows leben ganz in der Nähe, bei der Metrostation Wodny Stadion. Was ist nun, kommst du mit?«

»Nein, Semjon, fahr ohne mich«, antwortete ich. »Ich wär dir dabei eh keine Hilfe.«

Er sah mich forschend an.

»He, mit mir ist wirklich alles okay!«, versicherte ich. »Ich kriege jetzt weder einen hysterischen Anfall, noch habe ich die Absicht, mich sinnlos zu besaufen oder die Wache ein für alle Mal zu verlassen. Ich will einfach noch mal zum Flughafen und mich da ein bisschen umsehen. Irgendwas stimmt hier nicht. Findest du nicht auch? Da spuckt dieser kleine Prophet ein paar nebulöse Prophezeiungen aus, das Flugzeug, das abstürzen soll, zerschellt nicht … Das passt doch vorn und hinten nicht zusammen!«

»Geser hat schon jemanden nach Scheremetjewo geschickt«, teilte mir Semjon mit.

Allerdings geschah dies in vielsagendem Ton.

»Wen?«

»Lass.«

»Verstehe«, sagte ich, während ich den Knopf für den Fahrstuhl drückte. »Das heißt, Geser glaubt nicht, dass dort noch Hinweise zu finden sind.«

Lass war ein untypischer Anderer. Das ging schon damit los, dass er von Natur aus gar keine Anlagen zum Anderen gezeigt hatte und eigentlich auch nie hätte zeigen dürfen. Doch vor ein paar Jahren widerfuhr ihm das Unglück, vom Zauber des alten magischen Buches namens Fuaran getroffen zu werden. Damit hatte der Vampir Kostja, der früher mal mein Nachbar und sogar mein Freund gewesen war, am Beispiel von Lass bewiesen, dass mit diesem Buch jeder Mensch in einen Anderen verwandelt werden konnte.

Was mich dabei am meisten überraschte, war weniger die Tatsache, dass Lass wirklich zu einem Anderen geworden war, als vielmehr dass er zu einem Lichten geworden war. Sicher, er war kein Dreckskerl  – aber er besaß einen ausgesprochen spezifischen Sinn für Humor. Auch seine Ansichten vom Leben entsprachen eher denen eines Dunklen. Selbst die Arbeit in der Nachtwache, die er eher als eine Art Witz auffasste, hatte ihn in dieser Hinsicht kaum verändert.

Als Anderer zeigte er insgesamt kein großes Potenzial. Momentan war er nur ein Wächter siebten Grades, also unterstes Anfängerniveau, mit nur vagen Aussichten, den fünften oder sechsten Grad zu erreichen, worauf er aber anscheinend gar nicht erpicht war.

»So darfst du das nicht sehen«, widersprach Semjon. »Gut, in magischer Hinsicht erwartet Geser tatsächlich keine neuen Hinweise, schließlich hast du nichts entdeckt, und das, obwohl du ein Hoher bist.«

Ich schnitt eine Grimasse.

»Zieh nicht so ein Gesicht«, sagte Semjon. »Zugegeben, du hast noch wenig Erfahrung, aber deine Fähigkeiten kannst selbst du nicht leugnen. Nein, es würde gar nichts bringen, nach magischen Spuren zu suchen. Deshalb hat der Chef Lass geschickt, denn der hat seine eigene Sicht auf die Dinge. Er betrachtet seine Umwelt immer noch fast wie ein Mensch. Außerdem hat er eine ziemlich unorthodoxe Denkweise. Wer weiß, vielleicht entdeckt er tatsächlich etwas.«

»Dann sollten wir erst recht zu zweit sein«, sagte ich. »Du fahr nur los und initiiere derweil deinen Propheten.«

»Tja, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt …« Semjon betrat als Erster den Fahrstuhl und seufzte. »Weißt du, ich mag diese Propheten und Wahrsager nicht! Die knallen dir irgendwas an den Kopf, und danach stapfst du durch die Gegend wie der letzte Idiot und fragst dich die ganze Zeit, was er damit gemeint hat. Du malst dir weiß Gott was aus, was dir passiert, dabei ist das eigentlich alles nur blanker Unsinn, um den du dich überhaupt nicht scheren solltest!«

»Ich weiß deine Worte zu schätzen«, sagte ich. »Aber um mich brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ich sehe das völlig gelassen. Wir wissen doch alle, was von Propheten zu halten ist!«

»Völlig richtig. In Petrograd gab es mal einen Wahrsager«, griff Semjon das Thema auf, »den haben wir im Jahr 1916 zu Silvester gefragt, was die Zukunft bringt. Und er hat uns doch glatt gesagt …«

 

Ich erwischte Lass noch im Hof, wo er gerade in seinen frisch gewaschenen Mazda stieg. Mein Kommen freute ihn offenbar.

»Sag mal, Anton, hast du gerade was vor?«

»Also …«

»Fährst du mit mir nach Scheremetjewo? Boris Ignatjewitsch hat mir den Auftrag erteilt, auf deinen Spuren zu wandeln. Ich soll mal sehen, ob mir was auffällt. Was ist, kommst du mit?«

»Wer kann dir schon was abschlagen«, sagte ich, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Ja, ich komme mit. Aber dafür schuldest du mir was.«

»Geht in Ordnung«, erwiderte Lass und fuhr an. »Eigentlich passt mir dieser Abstecher ja überhaupt nicht in den Kram. Seinetwegen musste ich meine ganzen Pläne über den Haufen werfen.«

»Was für Pläne?«, fragte ich, während wir vom Parkplatz runterfuhren.

»Also …« Lass wurde etwas verlegen. »Ich wollte mich heute taufen lassen.«

»Bitte?« Ich meinte, mich verhört zu haben.

»Ich wollte mich taufen lassen«, wiederholte Lass, den Blick auf die Straße gerichtet. »Das geht doch, oder? Ich meine, wir können uns doch taufen lassen?«

»Wer wir?«, hakte ich vorsichtshalber nach.

»Wir Anderen!«

»Klar«, antwortete ich. »Das ist schließlich eine … eine rein persönliche Frage. Die Magie ist eine Sache, der Glaube …«

»Aber weißt du«, unterbrach mich Lass, »ich hab mich gefragt, wie die in der Kirche dazu stehen, dass ich mich mit Magie beschäftige … Früher war ich ja Agnostiker, genauer gesagt Breitbandökumenist. Aber dann hab ich mir überlegt … besser, ich lass mich taufen. Als Garantie.«

»Bei den Simpsons gab es auch mal eine Figur«, witzelte ich, »die ist sonntags in die Kirche gegangen, hat aber auch noch das Freitagsgebet vollzogen.«

»Das ist Gotteslästerung«, wies mich Lass streng zurecht. »Aber ich meine es völlig ernst. Ich habe mir sogar extra eine Kirche bei Moskau gesucht. In Moskau selbst sollen ja alle Popen korrupt sein. In der Provinz findest du dagegen noch echte Gottesfurcht. Gestern habe ich da angerufen und alles abgesprochen. Bekannte von mir haben mir die Kirche empfohlen. Heute sollte ich dann eigentlich getauft werden, doch da musste Geser mir diese Sache aufhalsen …«

»Du hast es ja ziemlich eilig«, bemerkte ich skeptisch. »Bist du innerlich überhaupt schon bereit für das Sakrament der Taufe?«

»Selbstverständlich«, antwortete Lass grinsend. »Ich habe mir ein Kreuz gekauft, für alle Fälle auch noch die Bibel, ein paar Ikonen …«

»Schon mal nicht schlecht«, unterbrach ich ihn. Wir bogen gerade in die Leningrader Chaussee ein, die uns zum Flughafen brachte. Lass hatte wie üblich den Eskorte-Zauber gewirkt, sodass wir überall gut durchkamen. Keine Ahnung, was die Leute in unserem Mazda zu sehen meinten, einen Notarzt, die Polizei mit heulender Sirene oder einen Regierungskonvoi, der mit Sirenen bestückt ist wie ein Blödmann mit Handys  – jedenfalls machten sie uns alle die Bahn frei. »Aber hast du auch das Glaubensbekenntnis gelernt?«

»Welches Glaubensbekenntnis?«

»Das Nicaeno-Konstantinopolitanum.«

»Muss ich das?«, fragte Lass nervös.

»Wahrscheinlich kann der Priester es dir vorsagen«, sagte ich. »Hast du dir ein Taufhemd gekauft?«

»Wozu das?«

»Wenn du aus dem Taufbecken herauskommst …«

»Ins Taufbecken werden nur Babys gesteckt! Ich werde also auch nirgends rauskriechen! Erwachsene bespritzt man nur mit Wasser!«

»Da liegst du leider falsch«, sagte ich voller Anteilnahme. »Es gibt spezielle Becken für Erwachsene. Die heißen Baptisterium.«

»Aber das haben nur die Baptisten, oder?«

»Nein, das haben alle.«

Das musste sich Lass erst mal durch den Kopf gehen lassen. Nur gut, dass ihm die Straße dank des Eskorte-Zaubers nicht viel Aufmerksamkeit abverlangte.

»Was, wenn Weiber da sind?«

»Das sind dann keine Weiber, sondern deine Schwestern in Christo!«

»Echt, Anton!«, brummte Lass. »Du tischst mir hier doch ein Märchen nach dem anderen auf.«

Daraufhin holte ich das Handy raus, dachte kurz nach und fragte dann: »Wem von unsern Leuten vertraust du?«

»Bei religiösen Fragen?«, hakte Lass nach. »Semjon, würde ich sagen …«

»Bestens«, erwiderte ich, wählte seine Nummer und drückte die Freisprechtaste.

»Anton«, meldete sich Semjon, »was gibt’s?«

»Du bist doch getauft, oder?«

»Wie könnte ein Mensch in meinem Alter nicht getauft sein?«, fragte er zurück. »Schließlich bin ich noch unter dem Zaren geboren …«

»Bist du noch immer mit dem orthodoxen Glauben vertraut?«

»Mhm«, nuschelte er verlegen. »Ich geh hin und wieder mal in die Kirche.«

»Wie werden Erwachsene getauft?«

»Wenn es eine anständige Taufe sein soll, dann genau wie die Kinder. Sie müssen sich ausziehen und werden dreimal unter Wasser getaucht.«

»Danke«, sagte ich und beendete das Gespräch. »Hast du das gehört, du ungläubiger Thomas?«

»Was erwartet mich noch?«

»Du musst dich mit dem Gesicht nach Westen stellen, dreimal ausspucken und verkünden: ›Ich widersage dem Satan!‹«

»Komm schon, Anton, jetzt übertreibst du wirklich!«, bemerkte Lass unter schallendem Gelächter. »Ich geb ja zu, bei der Sache mit dem Taufbecken hab ich mich geirrt. Ist ja eigentlich auch klar, dass ein anständiger, unbestechlicher Pope nicht mit Wasser knapst. Aber dass ich mit dem Gesicht nach Westen dastehen und ausspucken soll … also echt!«

Ich wählte noch einmal Semjons Nummer.

»Ja?«, meldete er sich und Neugier schwang in seiner Stimme mit.

»Ich habe noch eine Frage. Wie wird die Widersagung vom Satan bei der Taufe vollzogen?«

»Du stellst dich mit dem Gesicht nach Westen, dann fragt der Priester dich, ob du dem Satan und seinen Taten widersagst. Du musst die Antwort dreimal laut wiederholen, nach Westen ausspucken und …«

»Vielen Dank«, sagte ich und beendete auch dieses Gespräch.

Lass schwieg, umklammerte das Lenkrad und starrte vor sich hin. Inzwischen hatten wir die Ringautobahn bereits hinter uns gelassen. »Was erwarten mich sonst noch für Überraschungen?«, fragte er fast kleinlaut.

»Du wirst untergetaucht, du widersagst«, fing ich an aufzuzählen, »und als Drittes … Du musst wissen, in der Kirche besteht alles aus drei Schritten, denn Gott ist dreieinig. Als Drittes musst du, nachdem du aus dem Taufbecken kommst, dreimal um die Kirche rennen, und zwar entgegen dem Sonnenlauf.«

»Aber doch wohl nicht nackt?«, fragte Lass entsetzt. »Ich meine, ohne Hosen?«

»Selbstverständlich nackt. Genau wie auch der alttestamentarische Adam nackt war, damals, als er noch nicht vom Baum der Erkenntnis gekostet hatte und ohne Sünde war!«

Diese Erklärung hatte ich mir eben erst ausgedacht, aber meiner Ansicht nach klang sie unglaublich überzeugend.

»Na gut«, brachte Lass leise heraus. »Wenn’s denn sein muss«, sagte Lass leise.

»Du solltest vorher mal in eine Kirche gehen«, riet ich ihm. »Von mir aus sogar in eine korrupte. Und dir ein Buch mit Erläuterungen kaufen.«

»Ich will aber nicht in eine Kirche gehen«, gab Lass zu. »Denn erstens bin ich nicht getauft, und zweitens bin ich ein Zauberer! Verdammte Scheiße aber auch! Was meinst du, sollte ich mir das mit der Taufe noch mal überlegen? Wenn ich da nackt um die Kirche rennen muss … Vielleicht wäre es dann nicht schlecht, erst mal ins Fitnessstudio zu gehen, um Muskeln aufzubauen …«

Am Flughafen trennten Lass und ich uns. Er sollte mit den Menschen reden, reichten seine Fähigkeiten doch aus, damit sie ihm alles haarklein erzählten. Vor allem sollte er sich die Techniker vornehmen, die die unglückselige  – oder sollte es besser heißen: die glückliche?  – Boeing zum Start vorbereitet hatten, dann aber auch die Lotsen und, falls das gelang, die Crew. Ich wollte derweil mit den Anderen reden, die hier am Flughafen Dienst schoben.

Vorschriftsgemäß waren es zwei, ein Dunkler und ein Lichter. Unseren Mann kannte ich, Andrej, ein junger Typ, ein Anderer fünften Grades, der nur selten in der Wache aufkreuzte, dafür aber ständig am Flughafen arbeitete. Auch den Dunklen hatte ich schon öfter gesehen, wenn ich selbst irgendwohin geflogen oder nach Moskau zurückgekehrt war.

Natürlich hatten sie bereits gehört, was geschehen war. Andrej und der etwas ältere Dunkle namens Arkadi gingen zwar gern noch mal mit mir die ganze Geschichte mit dem Flugzeug durch, konnten mir aber letzten Endes keinen relevanten Hinweis geben. Der Junge, der nicht geflogen ist  – so hatten die Dunklen Innokenti getauft, und dieser ironische Titel war im Grunde alles, was ich erfuhr. Nebenbei fiel mir noch auf, dass sich Andrej und Arkadi ziemlich gut verstanden. Deshalb nahm ich mir vor, dringend vorzuschlagen, Andrej mal woanders einzusetzen. Freundschaften zwischen Lichten und Dunklen waren selbstverständlich nicht verboten und gab es immer wieder. Ich selbst war einmal mit einer Vampirfamilie befreundet gewesen, und in Petersburg lebten sogar ein Lichter Magier und eine Dunkle Weissagerin zusammen, wobei die beiden aber nicht in den Wachen von Piter arbeiteten. Aber im Falle eines jungen Lichten und eines erfahrenen Dunklen bestand nun mal das Risiko unerwünschter Beeinflussung.

Da sollten wir lieber auf Nummer sicher gehen.

Mit diesem Gedanken schlenderte ich noch eine Weile durch den Flughafen und überprüfte aus lauter Langeweile sogar das Registrierungssiegel eines Vampirs, der mir am Check-in auffiel. Es war alles in Ordnung. Am liebsten hätte ich mir noch ein Bierchen gegönnt, aber das wäre vermutlich zu viel des Guten gewesen. Obwohl: Ich musste ja heute nicht mehr fahren … Ich erwischte mich dabei, wie ich zielsicher auf das Café zusteuerte.

Zum Glück tauchte da Lass auf, offenbar in bester Laune. Erleichtert wandte ich mich von dem Café ab und winkte Lass zu.

»Vierundneunzig Prozent!«, teilte er mir begeistert mit.

Ich zog fragend eine Braue in die Höhe  – na gut, ich versuchte, diese Geste zu vollführen.

»Ich habe mich schon oft gefragt, wie viele Menschen sich eigentlich mit dem Finger in der Nase bohren, wenn sie sicher sind, dass sie niemand beobachtet. Deshalb habe ich hundert Leute befragt, und von denen haben es vierundneunzig zugegeben.«

Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, Lass sei verrückt geworden.

»Und das hast du die Leute gefragt, statt aus ihnen herauszukriegen, ob ihnen etwas Merkwürdiges aufgefallen ist?«

»Was heißt hier statt?«, maulte Lass. »Das war das Extra bei der Befragung! Wie bringst du denn die Leute mit minimalem magischen Aufwand dazu, dir erst offen Auskunft zu geben und das Gespräch dann zu vergessen? Eben! Ich habe mich als Soziologe ausgegeben, der in offiziellem Auftrag eine Umfrage durchführt. Als Erstes habe ich sie gefragt, ob sie irgendwas Merkwürdiges beobachtet und wie sie den heutigen Morgen verbracht hatten. Na, eben alles, was wir wissen wollen. Dabei habe ich den Platon-Zauber eingesetzt. Zum Schluss habe ich dann die Frage zum Popeln gestellt. Denn wer  – und sei es nur im Rahmen einer anonymen Umfrage  – zugibt, mit dem Finger in der Nase zu bohren, wenn er sich unbeobachtet fühlt, der hat ein starkes Interesse daran, diese Geschichte so schnell wie möglich zu vergessen, das steht fest. Deshalb habe ich mit dieser Frage zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.«

»Wozu willst du überhaupt wissen, wie viele Menschen heimlich in der Nase popeln?«, fragte ich. »Wenn sich jemand unbeobachtet fühlt, macht er schließlich häufig Sachen, die, sagen wir mal, nicht so schön sind. Mit dem Finger in der Nase zu bohren, ist da noch das Geringste.«

»Eben«, bestätigte Lass. »Aber genau das ist so faszinierend! Die meisten Menschen würden lieber sterben, als das zu gestehen. Sie haben kein Problem zuzugeben, dass sie minderjährige Mädchen begaffen, Steuern unterschlagen oder Kollegen mobben. Aber diese Banalität, die niemandem schadet, etwas derart Komisches wie das Popeln  – das leugnen sie! Wenn du mich fragst, sagt das eine Menge über die Menschen aus.«

»Dann solltest du das nächste Mal unbedingt fragen, ob sie auch noch woanders mit dem Finger bohren«, brummte ich. »Was hast du im Zusammenhang mit dieser Geschichte in Erfahrung gebracht?«

»Das Flugzeug war in Ordnung«, berichtete Lass. »Es wurde vorschriftsgemäß gecheckt, dabei wurde nichts beanstandet. Weißt du eigentlich, dass manche Flugzeuge auch starten, obwohl ein Teil der Apparaturen nicht funktioniert? Bei diesem gab es aber wie gesagt nichts zu mäkeln. Die Maschine war neu, erst drei Jahre alt, und kein Schrott, den wir von den Chinesen übernommen haben.«

»Das heißt, der Flieger hätte also gar nicht abstürzen dürfen?«, hakte ich nach.

»Es liegt alles in Gottes Hand«, erwiderte Lass und glänzte mit seiner Bibelkenntnis. »Auch die Vögel fallen schließlich nicht vom Himmel, es sei denn, der Herr will es! Von einem Flugzeug also ganz zu schweigen. Außerdem ist es ja tatsächlich nicht abgestürzt.«

»Aber der Junge hat prophezeit …«, setzte ich an. »Und die Wahrscheinlichkeitslinien haben auf eine unvermeidliche Katastrophe gedeutet. Halten wir noch mal fest: Das Flugzeug war in einem Topzustand, die Crew erfahren. Gab es sonst irgendwelche Auffälligkeiten?«

»Meinst du in Bezug auf das Flugzeug?«, wollte Lass wissen. »Oder generell?«

»Generell.«

»Ein Polyp hat sich heute Morgen vollgeschissen.«

»Bitte?!«

»Er hat’s nicht mehr bis zum Klo geschafft. Da ist alles in die Hose gegangen. Im Personalraum hat er dann eine frische Uniform gekriegt, sich geduscht …«

»Woher kommt bei dir bloß dieses Faible fürs Vulgäre?«, fiel ich ihm ins Wort. »Wenn ein Mitarbeiter des Innenministeriums unter Durchfall leidet, ist das kein Grund zur Diskussion  – und schon gar nicht für Ironie! Du bist ein Lichter! Ein Lichter Anderer!«

»Deshalb hab ich ja auch Mitleid mit den beiden Polypen«, erklärte Lass völlig ruhig.

»Mit beiden?«, fragte ich ziemlich alarmiert. »Haben die hier im Café Fleischpiroggen gegessen?«

»Nein, natürlich nicht. Überhaupt hatte der zweite gar keine Verdauungsprobleme«, beruhigte mich Lass. »Der ist lediglich verrückt geworden.«

Ich verkniff mir jede Nachfrage, auch wenn Lass darauf lauerte, um mir die Informationen schön häppchenweise zu servieren und auf diese Weise den dramatischen Effekt zu steigern.

»Interessiert dich das denn gar nicht?«, kapitulierte er schließlich.

»Jetzt rück schon raus mit der Sprache.«

»Eigentlich ist es nichts Besonderes«, fing Lass an und kratzte sich im Nacken. »Aber es fällt irgendwie aus dem täglichen Einerlei raus. Heute Morgen, etwa zu der Zeit, als du den Flughafen verlassen hast, ist nämlich beiden Polypen, die hier auf Patrouille sind, etwas Merkwürdiges passiert. Der eine, Dmitri Pastuchow, rannte zum Klo, schaffte es dann aber nicht mehr rechtzeitig. Und sein Kollege … der ist kurz darauf im Personalraum aufgekreuzt, hat seinen Halfter, die Papiere und sein Funkgerät auf den Tisch gelegt und gesagt, er habe jedes Interesse an einer Arbeit bei den Sicherheitsorganen verloren. Daraufhin ist er einfach weggegangen. Bisher hat man davon noch nicht mal Meldung gemacht, denn alle hoffen, er überlegt es sich noch mal und nimmt die Arbeit wieder auf.«

»Fahren wir«, sagte ich.

»Zu wem zuerst?«

»Zu dem, der es nicht mehr zum Klo geschafft hat.«

»Zu dem brauchen wir nicht zu fahren. Ich habe doch gesagt, er hat geduscht, sich umgezogen und seinen Dienst wiederaufgenommen.«

 

Auf den ersten Blick war dem Polizisten Dmitri Pastuchow nicht anzumerken, dass er heute Morgen in eine derart delikate und  – warum die Sache nicht beim Namen nennen?  – regelrecht beschissene Situation geraten war. Erst wenn man genauer hinsah, bemerkte man, dass ihm die Uniformhose etwas zu groß war und sich farblich ganz leicht von der Jacke abhob.

Er selbst machte jedoch einen völlig aufgeräumten Eindruck. Ja, einen direkt beseelten Eindruck. Fast, als habe er gerade einen Banditen auf frischer Tat geschnappt und dafür aus den Händen eines Generals eine Armbanduhr mit der Inschrift Für Kühnheit bei der Ausübung der Dienstpflicht erhalten. Oder wie ein Testpilot, der seine Maschine doch noch bis zum Flugplatz gebracht hat, obwohl der Motor abgesoffen war, und der dann spürte, wie die Räder sanft auf der Erde aufsetzten. Vielleicht auch wie ein Fußgänger, hinter dem ein gigantischer Eiszapfen abgegangen war und der jetzt mit dümmlichem Lächeln nach seinen Zigaretten kramte.

Kurz und gut, Dmitri Pastuchow sah aus wie ein Mann, der in tödlicher Gefahr geschwebt, diese jedoch überlebt hatte  – aber noch nicht begriff, warum eigentlich.

Er schlenderte vor dem Eingang zum Terminal auf und ab, die Hände vorschriftswidrig auf den Rücken gelegt und blickte äußerst gutmütig und freundlich drein.

Doch je näher Lass und ich ihm kamen, desto stärker entglitten ihm die Gesichtszüge.

Desto deutlicher blickte er drein wie ein Milizionär, dem ein lächelnder General sagt: »Alle Achtung, mein Junge! Und du hast nicht eine Sekunde gezögert, den Mann zu verhaften, obwohl du ganz genau wusstest, wessen Neffe er ist?!«

Oder wie ein Pilot, dessen Flugzeug schon auf der Landebahn aufsetzt und dem dann der Treibstofftank in einer wütenden Flamme aufgeht.

Vielleicht auch wie ein Fußgänger, der seine Zigarette austritt, den Blick fest auf den zertrümmerten Eiszapfen hinter sich gerichtet und mit einem Mal von oben hört: »Achtung!«

Er hatte Angst vor mir.

Er wusste, wer ich war. Okay, vielleicht wusste er es nicht genau, auf alle Fälle aber durfte ich darauf verzichten, mich ihm als Kontrolloffizier, Journalist oder Mitarbeiter der Hygieneaufsicht vorzustellen.

Denn er wusste, dass ich kein Mensch war.

»Warte hier«, bat ich Lass deshalb. »Es ist besser, ich mach das allein.«

Pastuchow blieb, wo er war, versuchte weder abzuhauen noch so zu tun, als bemerkte er mein Kommen nicht. Er griff auch nicht nach seiner Waffe, was mich ungeheuer erleichterte, denn damit brauchte ich unser Gespräch nicht mit irgendwelchen drastischen Maßnahmen einzuleiten. Als ich zwei Schritte vor ihm stehen blieb, seufzte er schwer, lächelte unbeholfen und fragte: »Darf ich mir eine anzünden?«

»Bitte?«, fragte ich begriffsstutzig zurück. »Äh, ja, natürlich.«

Pastuchow holte seine Zigaretten raus und nahm gierig ein paar Züge. »Ich habe eine große Bitte an Sie«, sagte er dann. »Zwingen Sie mich nicht wieder, mich zu besaufen. Dann werde ich gefeuert! Bei uns läuft gerade eine neue Kampagne, da wird man bereits rausgeschmissen, wenn man auch nur verkatert zur Arbeit kommt.«

Ich blickte ihn ein paar Sekunden irritiert an, bis es endlich klick in meinem Kopf machte und ich wieder jenen grauen Moskauer Winter mit dem dreckigen Schnee vor mir hatte, in dem ich an der Metrostation »Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft« zwei Milizionäre auf mich zukommen sah, der eine älter, sein Kollege noch ganz jung.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hoffe, es war nicht allzu schlimm.«

Der Polizist zuckte bloß vage mit den Schultern. »Sie haben sich überhaupt nicht verändert«, stellte er fest. »Dreizehn Jahre sind seitdem vergangen, aber Sie scheinen keinen Tag gealtert.«

»Wir altern nur sehr langsam.«

»Verstehe«, erwiderte er und warf seine Zigarette weg. »Gut, ich weiß, was jetzt kommt, schließlich bin ich kein Blödmann. Also sagen Sie einfach frei heraus, was Sie wollen. Oder tun Sie, was Sie tun müssen.«

Er hatte wirklich Angst vor mir. Aber wer würde einen Menschen auch nicht fürchten, der mit einem einzigen Blick dafür sorgt, dass du alles machst, was er will?

Ich sah zu Boden, fixierte meinen Schatten, trat in ihn hinein  – und fand mich im Zwielicht wieder. Im Grunde war das nicht nötig, doch im Zwielicht ließ sich eine Aura nun einmal besser scannen.

Der Polizist war ein Mensch. Es gab nicht den geringsten Hinweis, dass es sich bei ihm um einen Anderen handelte. Nein, er war ohne Frage ein Mensch, und sogar ein recht guter.

»Erzählen Sie mir, was heute Morgen geschehen ist«, bat ich ihn, nachdem ich das Zwielicht wieder verlassen hatte. Pastuchow zwinkerte kurz, vermutlich weil er den Zwielicht-Atem wahrnahm. Dass ich für den Bruchteil einer Sekunde nicht in der realen Welt gewesen war, hatte er dagegen nicht bemerkt.

»Bissat und ich standen hier«, holte er aus, »und haben über Gott und die Welt gequatscht. Der Tag war schön …« Das sagte er in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er das inzwischen nicht mehr so sah. »Dann sind Sie aus dem Flughafen gekommen …«

»Haben Sie mich erkannt, Dmitri?«, fragte ich. Ich brauchte nicht mal einen Wahrheitszauber auf ihn anzuwenden, er antwortete auch so offen und ehrlich.

»Zunächst nicht. Da habe ich nur bemerkt, dass Sie einer von denen sind.« Er machte eine vage Geste mit der Hand. »Bei genauerem Hinsehen habe ich Sie aber erkannt.«

»Und wie merken Sie, dass jemand zu denen gehört?«

»Das erkenne ich immer auf Anhieb.«

»Aber wie?«

Erst da begriff er, was hinter meiner Frage steckte.

»Ist das so selten?«, fragte er, während es in seinem Kopf arbeitete.

»Oh, das ist durchaus nicht so selten«, antwortete ich, entschlossen, nicht mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten. »Nur können das normalerweise eben nur Andere wie wir. Indem wir die Aura wahrnehmen.«

»Eine Aura, das ist so eine Art Leuchten um den Kopf herum, oder?«, wollte er wissen. »Ich habe immer gedacht, so was würden nur irgendwelche Psychos sehen. Oder Scharlatane.«

»Die Aura gibt es nicht nur um den Kopf herum. Und nicht nur Psychos und Scharlatane sind imstande, sie wahrzunehmen. Was genau sehen Sie?«

»Jedenfalls keine Aura«, stieß Pastuchow aus. »Ich erkenne solche wie Sie an den Augen! Seitdem wir uns das erste Mal begegnet sind. Sie selbst haben Augen wie ein … Wachhund.«

Wenn ich seine Aura nicht gerade gescannt hätte, dann wäre ich mir sicher gewesen, einen schwachen Anderen vor mir zu haben, der fremde Auren auf eine sehr spezifische Art und Weise wahrnahm. Schließlich leuchtet die Aura um den Kopf herum wirklich am stärksten, und im Gesicht selbst vor allem in den Augen. Ob er also tatsächlich Andere erkennen konnte?

Obwohl er ein Mensch war?

»Mhm, interessant«, gab ich zu. »Ich habe also Augen wie ein Hund?«

»Das ist nicht böse gemeint«, versicherte er. Allmählich gewann er die Kontrolle über sich zurück.

»Käme ich auch nicht drauf. Ich mag Hunde.«

»Dann gibt es noch welche, die haben Augen wie ein Wolf«, fuhr Pastuchow fort.

Ich nickte. Klar. Die Dunklen.

»Aber zurück zum heutigen Morgen«, bat ich.

»Wie gesagt, da sind Sie an mir vorbeigegangen«, nahm Pastuchow den Faden wieder auf. »Ich habe gleich mit dem Schlimmsten gerechnet. Aus irgendeinem Grund habe ich alter Idiot nämlich gedacht, Sie würden sich genauso an mich erinnern wie ich mich an Sie. Aber wieso hätten Sie das tun sollen? Wahrscheinlich ziehen Sie jeden Tag mit ein paar Leuten so eine Show ab.«

»Nein«, widersprach ich. »Das darf ich gar nicht. Damals war die Situation aber sehr kritisch. Hinzu kam, dass ich noch jung und unerfahren war. Gedacht, getan, so lief das in jenen Jahren bei mir. Aber erzählen Sie doch bitte weiter.«

Pastuchow wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nach Ihnen ist ein Wolf herausgekommen«, berichtete er. »Aber das ist normal. Hier am Flughafen sehe ich jeden Tag solche wie Sie. Aber dann kam ein Typ … der hat mir echt Angst eingejagt.«

»War das auch ein Wolf?«

»Nein«, brachte Pastuchow heraus und fing an, nervös auf der Stelle zu trippeln. »Einer wie der ist mir noch nie begegnet. Ich habe ihn als Tiger abgespeichert. Er hatte einen Blick … als könnte er dich kurzerhand verschlingen. Und ich … ich habe irgendwie geglaubt, dass er mich zu seinem Opfer auserkoren hat. Weil er wusste, dass ich ihn sehe. Und dass er mich deswegen umbringen würde. Aber was heißt ich habe das geglaubt? Das glaube ich immer noch. Der hätte mich umgebracht. Ohne zu zögern. Deshalb bin ich abgehauen. Ich habe Bissat gesagt, in meinem Bauch würd’s rumoren und ich müsste mal zum Klo. Meinem Kollegen würde dieser Kerl schon nichts antun, dachte ich, schließlich erkennt er Leute wie Sie ja gar nicht! Aber bevor ich in den Terminal rein bin, habe ich mich noch mal umgedreht und gesehen, dass Bissat diesen … diesen Tiger anspricht!«

»Können Sie ihn beschreiben? Diesen Tiger, meine ich.«

»Ich habe ihn nur von Weitem gesehen«, erwiderte Dmitri. »Ein Mann in mittleren Jahren, durchschnittlich groß, dunkles Haar …«

»Ach ja, wie ich Menschen mit diesen besonderen Kennzeichen doch liebe«, murmelte ich. »Wie konnten Sie denn auf diese Entfernung die Augen erkennen?«

»Die Augen erkenne ich auf jede Entfernung«, antwortete er. »Ich weiß auch nicht, warum.«

»Was ist mit der Nationalität?«

»Ich glaube, es war jemand aus dem europäischen Teil Russlands«, sagte er nach kurzem Nachdenken.

»Also kein Kaukasier, kein Asiat …«

»Und auch kein Schwarzer.«

»Sonst noch was?«

Pastuchow schloss die Augen und legte die Stirn in Falten. Er gab sich alle Mühe, sich auch noch an die kleinste Einzelheit zu erinnern. »Er hatte kein Gepäck. Das ist mir aufgefallen, als er neben Bissat stand. Dass er nichts in Händen hielt, meine ich. So wird er doch wohl nicht aus dem Flugzeug gestiegen sein, oder?«

»Das ist in der Tat merkwürdig«, sagte ich, obwohl das Gepäck auch gut hätte unsichtbar sein können. Ich selbst war mal mit einem unsichtbaren Koffer gereist, um nicht für Übergepäck zu bezahlen.