Quazi - Sergej Lukianenko - E-Book

Quazi E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2027, und seit einer mysteriösen Katastrophe vor zehn Jahren, ist Dunkelheit über die Welt hereingebrochen: Auferstandene, sogenannte Quazis, leben nun Seite an Seite mit den Menschen. Eine Tatsache, die dem Moskauer Polizisten Denis Simonow überhaupt nicht gefällt, schließlich wurden seine Frau und sein wenige Monate alter Sohn einst von den Auferstandenen getötet. Als ihm dann auch noch der Quazi Michail Bedrenez als Partner zugeteilt wird, hat Simonow zunächst die Nase voll. Doch dann kommen er und Bedrenez einer Verschwörung auf die Spur, die das Leben von Menschen und Quazis gleichermaßen bedroht. Ein Fall, den sie nur gemeinsam lösen können ...

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Seitenzahl: 504

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SERGEJ LUKIANENKO

Quazi

ROMAN

Aus dem Russischenvon Anja Freckmann

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der russischen Originalausgabe:

Kваzи

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe

Redaktion: Kristof Kurz

Copyright © 2016 by Sergej Lukianenko, AST, Moskau

Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe und Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung einer Illustration von Jonas De Ro

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20625-3V002

www.heyne.de

Inhalt

Erstes Kapitel: Ermittlung und Strafe

Zweites Kapitel: Himmel und Wind

Drittes Kapitel: Schauspieler und Asyl

Viertes Kapitel: Moskau und jenseits des MAR

Fünftes Kapitel: Glaube und Quazi

Sechstes Kapitel: Gerupfter Fuchs und die Kartoffel

Siebtes Kapitel: Kinder und Dinosaurier

Achtes Kapitel: Liebe und Mäuse

Neuntes Kapitel: Schüler und Viren

Zehntes Kapitel: Alte Leutchen und Geiseln

Elftes Kapitel: Windpocken und Telefon

Zwölftes Kapitel: Der Ermittler und der Inspektor

Literaturhinweise

Erstes Kapitel

Ermittlung und Strafe

Der Hof war sympathisch, sauber und gepflegt. Ein neu aussehender Spielplatz mit weichem Bodenbelag unter Rutsche und Schaukeln, Blumenbeete, ein Zierteich, Bänke unter alten grünen Bäumen. In einem Winkel des Hofs hatte man sogar eine Raucherecke eingerichtet, eine an drei Seiten zum Schutz gegen den Wind geschlossene Plastikbude. Kamen die Bewohner allen Ernstes hier runter, anstatt auf ihren Balkonen und in den Hauseingängen zu rauchen? Im Winter? Das konnte ich nicht glauben.

Normalerweise wohnten in einem Haus mit einem solchen Hof lauter brave, fröhliche Menschen. Auf dem Spielplatz mit den Schaukeln lärmte eine Kinderschar, auf den Bänken erzählten sich alte Männer die ewig gleichen Geschichten, und in der Mitte des Hofes putzte und räkelte sich eine dicke rotgetigerte Katze.

Vielleicht nicht unbedingt rot. Vielleicht auch schwarz.

»Es hat ganz ungut geklungen«, sagte die Concierge.

»Wie denn?«, wollte ich wissen. »›Uäh, Uääh?‹«

Die Concierge zuckte zusammen. Sie war klein, ziemlich gedrungen. Frauen wie sie gerieten nicht grundlos aus der Fassung. Mit ihren deutlich über vierzig Jahren hatte sie sicher schon einiges erlebt.

»Nein, so schlimm nicht«, sagte sie. »Es klang eher nach ›Bumm‹!«

»›Bumm?‹« Ich sah sie ironisch an.

Die Concierge blies die Wangen auf und atmete geräuschvoll aus: »Na dann eben ›Peng‹!«

Das klang jetzt tatsächlich nach einem Schuss.

»Woher kam das Geräusch?«

»Von dort.« Die Concierge zeigte nach oben auf den Balkon im zweiten Stock. Die Balkontür war geöffnet. »Ich stand hier am Zaun …« Sie stockte.

»Um zu rauchen.«

»Wir dürfen uns nicht weit vom Eingang entfernen«, rechtfertigte sie sich. »Ich stand hier, alles war still, und plötzlich: ›Peng‹! Ich bin gleich hochgelaufen. Es kam aus der Wohnung des Professors …«

Bei den letzten Worten huschte eine Regung über ihr Gesicht. Hatten sie ein Verhältnis? Nein, der Herr Professor würde doch kaum mit einer wenig attraktiven Concierge anbändeln. Abneigung? Nicht gegenüber dem Professor … Nein … aber gegen etwas, das mit ihm in Verbindung stand …

Ich würde mich später darum kümmern.

»Und da hat keiner aufgemacht?«

Die Concierge schüttelte den Kopf.

»Nein! Dabei ist er heute nicht zur Arbeit gegangen. Seine Frau schon … die ist gleich morgens weg, aber er ist geblieben.«

Alles klar. Sie mochte die Frau des Professors nicht. Kam vor.

»Seine Frau hat die Wohnung also vor dem ›Bumm-Peng‹ verlassen?«, fragte ich.

»Ja«, bestätigte die Concierge mit offenkundigem Bedauern.

»Und wer ist noch in der Wohnung?«

»Sonst niemand.«

Inzwischen hatte ich eine ungefähre Vorstellung davon, was passiert war. Vermutlich ziemlich unschön, das Ganze.

»Aha … und das verdächtige Geräusch haben Sie etwa …« – ich blickte auf die Uhr – »vor siebenundvierzig Minuten gehört.«

»Ist schon eine Weile her, ich weiß.« Die Concierge seufzte.

»Wiktor Aristarchowitsch heißt er, ja?«, vergewisserte ich mich.

»Ja.« Sie nickte und wirkte dabei ziemlich deprimiert. »Wohnung 24.«

Ganz klar, die Concierge hatte sich ihren Teil zusammengereimt. Und ich hatte gelernt, der Intuition jener Frauen zu vertrauen, die noch im Wald nach Pilzen und Beeren gesucht haben.

»Bleiben Sie hier unten«, sagte ich. »Und wenn … was ist, rufen Sie mich an.«

Sie nickte und fragte: »Soll ich vielleicht den Hausmeister holen?«

»Tun Sie das.« Ich betrat das Treppenhaus und stieg die Stufen hinauf. Die Stockwerke waren nicht sonderlich hoch, ich würde ohne Aufzug auskommen.

Das Treppenhaus war genauso gepflegt wie der Rest des Gebäudes. Alles sauber, auf den Fensterbrettern Blumen, kein Dreck, keine Kippen, kein Graffiti. Hier wohnten anständige Leute, die ihre Kinder ordentlich erzogen … Obwohl, halt, ein Graffiti gab es ja doch, zwar übermalt, aber noch gut zu erkennen: QUAZI SIND ABSCHAUM!

Inhaltlich war ich damit absolut einverstanden, aber so etwas auf die Wände zu schmieren war trotzdem eine Sauerei.

Auch die Tür zu Nummer 24 war gediegen. Aus Metall natürlich, aber von außen mit Holzfurnier verkleidet. Zwei Schlösser. Ein Spion. Wie es sich gehörte.

Eigentlich wusste ich schon genug, um das Säuberungskommando rufen zu können. Aber was nach dessen Eintreffen geschehen würde, passte mir ganz und gar nicht.

Ich zog das Funkgerät aus dem Gürtel.

»Hier Denis Simonow, Ermittler für Todesangelegenheiten. Ich befinde mich bei folgender Adresse: Posledni-Gasse, Haus 2, Wohnung 24. Ich glaube, ich höre ein schwaches Stöhnen und Hilferufe durch die Tür!«, sagte ich laut. »Ich treffe jetzt Vorbereitungen, in die Wohnung einzudringen.«

Noch ehe man in der Funkzentrale reagieren konnte, hatte ich das Gerät wieder am Gürtel verstaut und meine Pistole gezogen.

Es gab nichts Stümperhafteres als den Versuch, mit einer Kugel ein Schloss aufzubrechen. Entweder sie verkeilte das Schloss ein für alle Mal, oder sie prallte ab und landete in deinem Kopf. Aber was für eine Wahl hatte ich … was für eine …

Ich starrte die Tür einige Sekunden lang an. Dann versetzte ich ihr einen Stoß mit dem Lauf.

Sie schwang ungehindert auf. Sie war nicht abgeschlossen, lediglich sorgfältig angelehnt.

Glück gehabt. Wiktor Aristarchowitsch war offenbar ein intelligenter Mensch. Wenn man beabsichtigte, sich zu erschießen, war eine angelehnte Tür eine höchst kultivierte Maßnahme.

»Wiktor Aristarchowitsch!«, rief ich für alle Fälle in die halbdunkle Wohnung hinein. »Ihre Tür ist offen. Darf ich eintreten?«

Stille.

Die Concierge hatte, wie es aussah, richtig gehört, und auch meine Vorahnung schien sich zu bewahrheiten.

Ich trat ein, hielt die Pistole vor mich. Links … rechts … im Vorraum war alles sauber. Sogar extrem sauber, alles aufgeräumt und reinlich. Entweder war die Frau des Professors eine Pedantin oder sie beschäftigen eine erstklassige Haushaltshilfe. Ich tippte auf eine Haushaltshilfe.

Vom Vorraum gingen mehrere Türen ab.

Eine zur Toilette. Sauber.

Eine andere in einen Gang zur Küche. Ebenfalls sauber. Allerdings roch es hier nach verbranntem Kaffee. Die Herdplatte war von guter Qualität, so eine, die sich selbst abschaltete. Trotzdem war die metallene Kaffeekanne darauf schwarz geworden und der Plastikgriff angeschmolzen und leicht deformiert.

Jetzt gab es keinen Zweifel mehr.

Von der Küche führte eine weitere Tür ins Wohnzimmer. Ich warf vorsichtig einen Blick hinein. Die Vorhänge waren zugezogen, es herrschte Halbdunkel.

Alles sauber.

Ich drehte mich nach rechts und links und lauschte auf irgendwelche Geräusche, während ich den Raum durchquerte. Im Fernseher lief stumm der Nachrichtenkanal. Eine Tür ging zum Flur, eine andere zu einer zweiten Toilette – sauber, hinter der Tür zum Schlafzimmer war auch niemand. Ich trat in eine kleine Diele. Von hier führte eine Tür wieder in den Vorraum, außerdem gab es noch zwei weitere Türen. Ziemlich verwinkelte Anlage für eine Etagenwohnung. Man konnte sich im Kreis bewegen, Räuber und Gendarm spielen. Ich hasse solche Wohnungen.

Die nächste Tür … Noch ein Schlafzimmer. Für ein Kind? Nein, das Zimmer eines Erwachsenen. Schliefen die Eheleute etwa lieber getrennt? Waren wohl von der ganz vornehmen Sorte …

Und die letzte Tür …

Noch ehe ich sie aufschob, nahm ich schon den Geruch wahr – ein schwaches Gemisch aus Schießpulver, Blut und etwas Scharfem. Er war mir nur zu gut bekannt.

Ich nahm die Pistole in die linke Hand, zog mit der rechten die Machete aus dem Gürtel. Und stieß die Tür mit dem Fuß auf.

Hier war es etwas heller, und es stank ekelhaft nach Blut und Scheiße.

Professor Wiktor Aristarchowitsch stand mit dem Rücken zu mir an der geöffneten Balkontür neben einem großen umgestoßenen Sessel und schwankte, während sein nach vorne gekippter Kopf zuckte. Am Anfang können sie den Kopf nicht richtig halten, was frappierend an ein Neugeborenes erinnert. Der Professor war äußerst einfach gekleidet, eine alte, verknitterte Hose und ein blaukariertes Hemd, das am Rücken aufgerissen und dunkel vor Blut war. Als ich näher kam, drehte sich der Professor langsam um.

»Warum hast du dir bloß ins Herz geschossen, du Trottel.« Ich ging auf ihn zu. »In die Birne musst du schießen. Dann hätte ich weniger Arbeit, und du bräuchtest dich nicht so zu quälen.«

Der Professor antwortete natürlich nicht. Selbst wenn er sich quälte, Gefühle waren jetzt nicht mehr in seinem blassgrauen Gesicht zu erkennen. Außer dem Hunger. Die trüben, eingefallenen Augen richteten sich auf mich, der blutige Mund verzerrte sich gierig. Ich hatte mir Wiktor Aristarchowitsch als älteren Mann vorgestellt, dabei war er keine vierzig. Jung gestorben. Bei meinem Anblick stöhnte der Professor auf: »Uhäh-äh-ähuh!« Er kam direkt auf mich zu, obwohl ihm der Tisch im Weg war. Ein schwerer, massiver Tisch mit einer lederbezogenen Tischplatte und mächtigen Füßen an den Seiten. Keine Chance. Trotzdem trat der Professor hartnäckig auf der Stelle, drängte sich gegen den Tisch und streckte die Arme nach mir aus.

Am Anfang sind sie stockdumm.

»Nichts zu machen, du hast mich angegriffen, deshalb bin ich gezwungen, mich zu verteidigen«, teilte ich ihm mit und hob die Pistole. Irgendetwas beunruhigte mich, irgendetwas stimmte hier nicht …

»Uhäh-äh-uhäh!« Der Professor winselte schwermütig, als ob sein totes Gehirn wüsste, dass nun sein endgültiger Tod bevorstand. Er riss den blutigen Mund noch weiter auf.

Blutig!

Ich machte einen Satz nach links, drehte mich gleichzeitig und rechnete damit, dass mich im nächsten Moment Finger oder Zähne packen würden.

Aber noch war alles in Ordnung.

Tatsächlich, da war ein zweiter. Ein zerfleischter, blutüberströmter Mann um die dreißig, also in meinem Alter. Seine Kehle war zerfetzt, das Hemd aufgerissen, der Rumpf wirkte stark angenagt. Der Mann lag auf dem Bauch in einer dunklen Blutlache, zuckte, strampelte mit den Beinen, robbte mithilfe der Arme über das glitschige Parkett zielstrebig auf mich zu. Zwanghaft öffnete sich sein Mund. »Ähuh-ähuh-uhäh!«, heulte er.

Ich war noch nicht zu spät. Er war gerade dabei, auf die Beine zu kommen. Was bedeutete, dass der Professor nicht allein gewesen war … der Schuss war durchs Herz erfolgt … da lag noch die Pistole auf dem Boden, in der Blutlache.

Aber das war doch kompletter Unsinn.

Der Mörder hatte den Professor erschossen und dann darauf gewartet, dass dieser aufstand und ihm die Kehle durchbiss?

So etwas konnte unter gewissen Umständen womöglich aus Leidenschaft passieren, doch das war hier mehr als unwahrscheinlich.

»Jetzt habe ich überhaupt keine andere Wahl mehr«, teilte ich dem Professor mit und trat näher an den Tisch. Wiktor Aristarchowitsch ließ hektisch eine Hand sinken und kratzte damit über die Tischplatte in meine Richtung, als wollte er zu mir herüberrudern.

Ich holte aus und köpfte ihn mit der Machete.

Dann drehte ich mich um und ging auf den Mann zu, der sich inzwischen auf alle viere erhoben hatte. Sehr praktisch, um ehrlich zu sein.

»Uhuhäh?« stieß der Mann hervor.

Ich zielte und schlug auch ihm den Kopf ab.

Das war’s.

Und die Welt war sauberer.

Auch wenn dieses Arbeitszimmer eine Grundreinigung benötigte. Gut, dass es keine Teppiche gab.

Ich steckte die Pistole weg und griff wieder nach dem Funkgerät, das seit zwei Minuten an meinen Gürtel vibrierte.

Da hörte ich ein Rascheln in meinem Rücken.

Waren sie etwa zu dritt?

Die Verwirrung lähmte mich buchstäblich. Langsam wie in Trance drehte ich mich um.

In der Balkontür stand ein massiger, älterer Mann in einem zerknautschten, altmodischen Anzug und besah sich das Schlachtfeld, das ich angerichtet hatte. Im Gegenlicht hielt ich ihn zunächst für einen Menschen.

Aber dann sah ich die blaugraue Haut.

Er war ein Quazi. Ein gottverdammter Quazi!

Für einen Moment blickten wir uns an.

Ich ließ das Funkgerät los und griff nach meiner Pistole. Der Quazi hechtete über den Tisch hinweg, packte mit einer Hand mein rechtes Handgelenk, damit ich nicht mit der Machete ausholen konnte, mit der andern das linke, noch ehe ich die Pistole zu fassen bekam. Wir kämpften lautlos. Er war sehr stark, wie es seiner Natur entsprach, aber ich war zu wütend und zu schockiert, um aufzugeben.

Ich knallte ihm meinen Kopf mit voller Kraft ins Gesicht und rammte ihm gleichzeitig das Knie in die Leiste. Der Quazi wich zurück, schwankte einen Sekundenbruchteil und stürzte zur Balkontür. Ich sank auf ein Knie und schickte ihm zwei Kugeln hinterher. Schon als ich abdrückte, wusste ich, dass ich ihn verfehlen würde.

Der Quazi sprang, ohne sich noch einmal umzudrehen, über das Balkongeländer.

Als ich das Geländer erreichte, verschwand seine gedrungene Gestalt gerade um die Ecke des Nachbarhauses.

Ich hatte Grips genug, um nicht ein weiteres Mal zu schießen, und erst recht, um nicht zu springen. Schließlich bin ich kein Quazi, der sich zum Spaß mal eben acht Meter in die Tiefe stürzt …

Ich sah mich nach der Concierge um. Am Eingang stand sie nicht.

Verflucht.

»Herr Kommissar!« Ich hörte eine Stimme aus dem Flur. »Herr Kommissar! Ist alles in Ordnung?«

»Ich bin kein Kommissar, ich bin Ermittler!«, rief ich, während ich die Pistole ins Holster schob. »Alles okay.«

Ich kehrte zu der Stelle zurück, von der aus ich auf den Quazi geschossen hatte, und schätzte den Winkel ab. Glück gehabt, die Kugeln waren unbemerkt himmelwärts gerauscht und nicht in die Fenster eines Nachbarhauses. Gott sei Dank gab es im Zentrum von Moskau viele niedrige Gebäude.

»Wiktor Aristarchowitsch …« Die Stimme der Concierge, die in der Tür des Arbeitszimmers aufgetaucht war, klang wehmütig. »Ach, Wiktor Aristarchowitsch, also nein … Warum haben Sie das getan …«

Ich beobachtete sie genau und entschied, dass ihre Bestürzung aufrichtig war. Hinter ihr stand der junge Hausmeister – ein großer Tadschike mit einer gut geschärften Stechschaufel in der Hand. Ich nickte dem jungen Mann beifällig zu.

»Den hier haben Sie heute noch nicht zufällig gesehen?« Ich berührte den Schädel des jüngeren Toten mit der Schuhspitze.

»Nein!« Die Concierge schüttelte den Kopf. »Nein, nein! Der ist nicht an mir vorbei! Seit die Frau des Professors weggegangen ist, war ich ununterbrochen am Platz. Da ist keiner hoch!«

»Sie haben doch Überwachungskameras am Eingang?«, wollte ich wissen. »Keine Sorge, wir prüfen nach, wer wann wie …«

»Ich hab ihn gesehen«, sagte der Tadschike und schluckte. Er sprach akzentfreies Russisch, musste also in Moskau aufgewachsen sein. »Er hat ganz früh morgens den Hof überquert, als ich die Müllcontainer rausgerollt habe.«

Ich sah wieder die Concierge an.

»Meine Schicht beginnt um sieben«, erklärte sie eilig. »Und heute Nacht war keine Kollegin da, aber die Eingangstür war verschlossen. Vielleicht hat ihn einer der Bewohner reingelassen …«

»Niemand macht Ihnen irgendwelche Vorwürfe«, sagte ich. »Wir werden es schon rausfinden. Und jetzt verlassen Sie bitte vorerst den Tatort.«

Sobald die Concierge und der Hausmeister, der noch immer seine Schaufel geschultert trug, aus der Wohnung waren, schaltete ich das Funkgerät wieder ein.

Unser Polizeirevier ist klein, denn es liegt mitten im Zentrum, wo kaum Leute wohnen, dafür gibt es jede Menge Geschäfte und Büros. Kein Vergleich zu den Bettenburgen in anderen Stadtvierteln. Wir haben weniger zu tun, und deshalb auch weniger Personal. Die meisten unserer Mitarbeiter beschäftigen sich mit Diebstahl und Betrug.

Deshalb gibt es nur einen Ermittler für Todesangelegenheiten.

Und das bin ich.

»Denis, du weißt, dass du unser einziger Ermittler für Todesangelegenheiten bist? Ja?«

Ich blickte die Chefin des Reviers an und nickte.

»Ja, Amina Idrisowna. Ist mir klar.«

Wenn eine Frau ein Polizeirevier leitet, ist das schon schlecht. Aber eine Frau aus dem Osten – das ist ganz schlimm. Nicht weil eine Frau oder gar eine Frau aus dem Osten ihre Arbeit nicht genauso gut machen kann wie ein Mann. Nein, die macht sie genauso gut. Aber um jedermann für alle Zeiten zu beweisen, dass eine Frau ein paar Dutzend ruppiger Männer führen kann, muss sie – und das gilt erst recht für eine Frau aus dem Osten – lange und übereifrig unter Beweis stellen, dass sie Eier hat, und zwar stahlharte. Und bis endlich keiner mehr auch nur den geringsten Zweifel daran hat, ist ihr die Härte zur Gewohnheit, zur natürlichen Umgangsform geworden.

»Hauptmann, dann erklär mir verdammt noch mal, wieso bei dir von zwanzig Einsätzen dreizehn mit geköpftem Leichnam enden.«

»Es ist eine gefährliche Arbeit, Amina Idrisowna.« Meine Antwort war voll daneben.

»Ach so, gefährlich?«, rief Oberstleutnant Dauletdinowa mit gespieltem Mitgefühl. »Was du nicht sagst! War es schlimm, hm?«

Sie war sehr attraktiv und im besten Alter. Hatte einen Mann und drei Kinder. Wann war sie überhaupt dazugekommen, die zur Welt zu bringen? Ob sie zu Hause auch die Hosen anhatte? Oder hatte dort wie von jeher der Mann das Sagen?

»Sie haben ja recht, Amina Idrisowna«, sagte ich seufzend. »Aber Sie müssen zugeben, dass das keiner ahnen konnte … Die Concierge hatte den Verdacht, dass der Professor sich erschossen hat. Und ich dachte das auch, ging rein, mit den üblichen Sicherheitsmaßnahmen … Der Professor war schon auf den Beinen, ich wollte gerade das Netz einsetzen, als ich von hinten angegriffen wurde! Der Professor war bereits ziemlich in Fahrt, Sie wissen ja, er hatte schon gefressen, und wenn sie fressen, werden sie schneller …«

»Du lügst doch, Denis«, sagte unser Oberstleutnant verächtlich. »Gut, du hast von dem zweiten nichts gewusst. Aber du hättest sie bewegungsunfähig machen können. Kein Zweifel.«

Ich seufzte.

»An sich leistest du ja gute Arbeit, Denis«, sagte Amina Idrisowna unvermittelt, und ich war augenblicklich auf der Hut. »Ich würde dich nur ungern entlassen. Aber die Quazi haben schon drei Anzeigen gegen dich erstattet.«

»Zwei!«, korrigierte ich.

»Drei. Eine wegen dem Basketballspieler, eine wegen dem Jungen, der vom Auto überfahren wurde. Und jetzt die wegen dem Professor und seinem Mörder.«

»Wann haben sie das denn geschafft?«, murmelte ich.

»Gerade eben. Du warst noch nicht von deinem Einsatz zurück.« Die Chefin verzog das Gesicht. Offenbar brachte die schnelle Reaktion der Quazi sie ebenfalls aus dem Konzept. »War jemand dabei, als du die beiden Aufständischen einen Kopf kürzer gemacht hast?«

»Keine Menschenseele.«

»Das sieht gar nicht gut aus«, sagte Amina Idrisowna, während sie im Büro auf und ab ging. Ich saß da wie ein ungehorsamer Schüler und verfolgte ihre Bewegungen aus den Augenwinkeln. »Die durchschnittliche Rate der endgültigen Tötung bei der Festnahme von Aufständischen liegt bei zwanzig Prozent. Bei dir sind es fünfundsechzig Prozent. Im bestem Fall … im besten Fall, Denis! … kann ich dich zur Büroarbeit versetzen. Bist du damit einverstanden?«

Ich schwieg. Wenn es um meine Entlassung oder Versetzung gegangen wäre, hätte sie dieses Gespräch doch gar nicht erst angezettelt. Dann hätte sie sich die Zeit gespart.

»Gibt es noch irgendwelche Alternativen?«

»Du könntest mit einem Partner arbeiten, wie in allen anderen Revieren auch.«

Unangenehm, aber eindeutig das kleinere Übel.

»Wenn es sein muss …« Ich seufzte. »Aber wir sind doch voll belegt, mit wem würde ich denn …«

»Das ist nicht deine Sache«, sagte die Chefin. »Zum Glück haben die Quazi diese Alternative selbst vorgeschlagen.« Sie drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Schicken Sie Michail Iwanowitsch herein«, befahl sie.

Die Tür zu ihrem Büro ging auf und dahinter erschien, logischerweise, Michail Iwanowitsch.

Er war nicht mehr der Jüngste, massig, in einem alten Jackett mit breitem Revers.

Mit Haut von blaugrauer Färbung.

Ein Quazi.

Derselbe, auf den ich heute Morgen geschossen hatte.

Mir wurde eiskalt.

»Michail Iwanowitsch, darf ich vorstellen: Das hier ist Denis Simonow, unser Ermittler für Todesangelegenheiten«, sagte Amina Idrisowna. »Ein sehr fleißiger Mitarbeiter.«

»Das habe ich bemerkt«, sagte der Quazi und hielt mir die Hand hin. »Michail Iwanowitsch.«

In seinem Gesicht waren keine Gefühle auszumachen. Woher auch bei einem Quazi. Sie kannten weder Ironie noch Wut noch Schadenfreude.

»Michail Iwanowitsch ist erst heute von außerhalb des Rings eingetroffen«, fuhr Amina fort. »Er hat ausgezeichnete Referenzen … Michail Iwanowitsch, Sie waren doch früher Mitglied der Strafverfolgungsbehörden, ich meine, bevor Sie …«

Zu sehen, wie unsere strenge Chefin in Verlegenheit geriet, tat richtig gut.

»Im früheren Leben war ich Revierleiter in der kleinen Stadt Myschkin im Gebiet Jaroslaw.«

Er stand weiter so da, mit ausgestreckter Hand und blickte mich an.

»Denis Igorewitsch!«, rief Amina Idrisowna scharf.

Ich stand auf und nahm die Hand des Quazi.

»Denis Simonow, Hauptmann, Ermittler für Todesangelegenheiten«, sagte ich.

Ich drückte dem wandelnden Leichnam, auf den ich heute Morgen geschossen hatte, die Hand.

Michails Hand war stark – kein Wunder – und heiß – reiner Zufall. Quazi haben eine fast normale Körpertemperatur, 37,9 Grad. Außerdem sind sie etwa eineinhalb Mal stärker als der Durchschnittsmensch.

»Wir werden sicher gut zusammenarbeiten«, sagte der Quazi. »Nennen Sie mich einfach Mischa.«

»Ganz bestimmt«, antwortete ich und lächelte. »Nennen Sie mich einfach Deniska.«

Wir blickten einander an, während wir uns kräftig die Hände schüttelten.

»Sehr nett«, sagte die Chefin mit unüberhörbarem Zweifel. »Das freut mich. Dann können Sie gleich gemeinsam den Fall abschließen, den Denis heute Morgen aufgenommen hat, ja? Sozusagen, um sich in die neue Situation einzuleben … ach, entschuldigen Sie, Michail Iwanowitsch!«

»Macht nichts«, entgegnete der Quazi, ohne sich umzudrehen. »Ich habe keinerlei Vorbehalte gegen das Wort ›Leben‹. Es ist doch nur ein Wort. Gehen wir, Deniska?«

»Gehen wir, Mischka!«, sagte ich.

Und so verließen wir Schulter an Schulter das Büro unserer gestrengen Chefin aus dem Osten. Ich lächelte breit, Michail sah mich an.

Im Flur war niemand zu sehen.

Wir entfernten uns zwei Schritte von der Tür und blieben stehen.

»Und?«, fragte der Quazi einfach.

»Wenn du, egal wem, auch nur ein einziges Wort steckst …«, flüsterte ich.

Verdammt, er wartete darauf, dass ich weiterredete. Also gut.

»Dann grab ich dich ein, du Geist.«

»Einen Toten bringt man nicht so leicht um, junger Mann«, sagte der alte Quazi, der an diesem Morgen aus dem Reich der Toten nach Moskau gekommen war.

»Ich schon«, teilte ich ihm mit.

Im nächsten Augenblick wurde ich gegen die Wand gepresst, meine Beine baumelten einen halben Meter über der Erde. Der alte tote Revierleiter hielt mich mit einer Faust an den Aufschlägen meiner Uniform hoch, dass die Nähte ächzten und die Knöpfe von meinem Hemd abplatzten.

»Einen Quazi zu töten ist was anderes als begriffsstutzige Kinder zu köpfen, Denis«, sagte er kalt.

In Wirklichkeit bildete ich mir die Kälte in seiner Stimme natürlich nur ein. Tote können weder lieben noch hassen.

»Schau nach unten«, krächzte ich.

Der Lauf meiner Pistole war beinahe an seinem Kinn, und mein Finger lag auf dem Abzug.

»Noch mal schieß ich nicht vorbei«, sagte ich.

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte der Quazi mir zu.

Und öffnete die Faust.

Ich fiel herunter, kam schmerzhaft mit den Fersen auf dem Boden auf und hätte mir fast auf die Zunge gebissen. Aber ich blieb stehen und zielte sogar noch mit der Pistole auf ihn.

»Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagte der Quazi gelassen. »Erstens, ich gehe jetzt wieder da rein und teile Oberstleutnant Dauletdinowa mit, was ich heute Morgen beobachtet habe: Nämlich, dass du ohne jede Not zwei Aufständische enthauptet hast, anstatt sie außer Gefecht zu setzen und uns zur Erhöhung zu übergeben. Du hast zwei potenziell vernunftbegabte Wesen umgebracht, Hauptmann.«

»Das muss erst bewiesen werden«, flüsterte ich.

»Quazi lügen nicht, das weiß jeder«, sagte Michail Iwanowitsch. »Die zweite Möglichkeit lautet: Wir legen unsere gegenseitigen Vorurteile und Abneigungen ab und fangen …«

»Ein neues Leben an?«, sagte ich mit maximaler Verachtung.

»Ich wollte sagen: Fangen noch mal von vorne an«, entgegnete der Quazi. »Aber deine Formulierung passt auch, danke.«

Er verstummte.

Auch ich schwieg eine Weile.

»Wie alt sind Sie, Michail?«

»Du kannst einfach Mischa sagen. Ich starb 2017 im Alter von 64 Jahren. Und wurde sehr schnell erhöht, nach etwa einer Woche. Wenn man also von meiner Geburt als Mensch aus rechnet, bin ich jetzt 74.«

»Dann waren Sie also einer der ersten, Michail?«

Er nickte. Und wartete weiter ab.

»Ich bin dreißig«, sagte ich. »Als alles anfing, war ich gerade mal zwanzig, eine Rotznase, und plötzlich drehte die Welt durch. Ich … ich habe viel gesehen. Ich hasse euch. Aufständische genauso wie Erhöhte. Ihr seid alle nur Gespenster.«

Michail Iwanowitsch stand immer noch vor mir und blickte mir in die Augen.

»Nur damit es keine Missverständnisse gibt«, präzisierte ich.

»Also, für welche Möglichkeit entscheiden wir uns?«, fragte er geduldig.

»Wir sollten unseren Oberstleutnant nicht damit belasten«, sagte ich. »Sie ist okay.«

»Das soll wohl heißen, dass wir zusammenarbeiten«, sagte der tote Revierleiter. »Die gemeinsame Arbeit bietet jede Menge Möglichkeiten, sich gegenseitig kennenzulernen und besser zu verstehen.«

Ich nickte.

Die gemeinsame Arbeit würde auch eine Menge Möglichkeiten bieten, den Partner umzulegen.

Aber das sprach ich nicht aus.

»Wir sind zusammen, wir schaffen das«, sagte Olga. »Ganz sicher, Deniska!«

Ich starrte sie an, konnte den Blick nicht abwenden. Mein Kopf schwamm, aber nicht von dem Schlag…, sondern von dem Wahnsinn um uns herum. Ich wollte nur still dasitzen, mich nicht bewegen…

Olga holte aus und gab mir eine Ohrfeige.

Komischerweise musste ich daraufhin husten. Dann rieb ich mir übers Gesicht und sagte: »Na sieh einer an. Kaum ein Jahr nach der Hochzeit und meine Frau schlägt mich schon…

»Wie geht es dir?«, fragte Olga.

»Geht so. Besser.« Ich erhob mich und beugte mich vorsichtig aus dem Fenster.

Die Straße war leer.

Dann drehte ich mich um und blickte auf das, was da am Boden lag.

Zu sagen: Auf den menschlichen Leichnam, den meine Frau mit dem Küchenmesser geköpft hatte, wäre nicht ganz richtig gewesen. Denn der junge Bursche in unserem Alter war schon vorher tot gewesen. Als frischer Leichnam war er auf uns zugeschwankt, hatte dabei irgendwelche unverständlichen, glucksenden Laute ausgestoßen, leise geheult und gestöhnt. Sein Blick war leer, dabei zwanghaft auf uns geheftet gewesen. Seine Beine hatten sich in verschiedene Richtungen bewegt, aber er war nicht hingefallen. Eine Gesichtshälfte war entweder eingeschlagen oder angefressen… Lieber nicht drüber nachdenken…

Aber als ich mich auf ihn gestürzt hatte, um ihn wegzustoßen, hatte mich der auferstandene Tote mit einem Schlag zu Boden geworfen. Und noch während ich benommen dalag, beugte er sich über mich…

In dem Moment tötete Olga ihn endgültig. Sie packte ihn von hinten an den Haaren, zog seinen Kopf zurück und säbelte ihn mit heftigen Bewegungen ab. Mit dem großen, scharfen Messer, das sie am Morgen aus der Restaurantküche mitgenommen hatte. Aus der aufgeschnittenen Kehle war etwas direkt auf mein Gesicht getropft, eine dickliche Flüssigkeit, die an beinahe geronnenes Blut erinnerte…

»Glaubst du, dass ich mich anstecke?«, hatte ich gefragt, während ich mir das Gesicht abwischte.

Olga zuckte mit den Schultern. Kein Mensch hätte diese Frage beantworten können.

»Du hast ihn… einfach so…« Mir wurde klar, dass ich schlecht »umbringen« sagen konnte.

»Ich bin schon als Fünfjährige mit meinem Vater auf die Jagd gegangen.«

»Aber das waren Tiere.«

»Und das hier war kein Mensch.«

»Es ist eine Schande«, sagte ich. »Ich sollte dich beschützen, nicht du mich…«

»Deniska, du hast alles richtiggemacht. Ich hatte doch das Messer. Du hast ihn abgelenkt, ich habe ihn ausgeschaltet. Wir sind zusammen. Zu zweit schaffen wir das.«

Ich betrachtete Olga. Mir wurde klar, dass ich meine Frau nicht richtig kannte. Mein Vater hatte zu mir gesagt: »Wenn du vor deinem zwanzigsten Geburtstag heiratest, heiratest du keine Frau, sondern deine Fantasien.«

Und, hatte er recht behalten?

Nein. Diese Frau war viel besser als meine Fantasien.

»Wir schaffen das«, sagte ich und lächelte. »Wir sind ein Team!«

Auch Olga lächelte, wurde aber sofort wieder ernst.

»Versprich mir eins, Denis. Wenn sie mich beißen oder verletzen… Dann bringst du mich um. Okay? Damit ich nicht auch so etwas…«– sie nickte zu dem toten Leichnam hinüber– »…werde.«

Ich antwortete nicht sofort.

»Ich verspreche es dir«, fügte sie hinzu.

Ich schluckte schwer. »Ich verspreche es dir auch. Aber wir kommen hier raus. Nach Moskau ist es nicht weit. Und im Radio haben sie gesagt, dass innerhalb des Autobahnrings keine Gefahr droht.«

»Natürlich kommen wir hier raus.« Olga nickte. »Seinetwegen.«

Wir sahen zum Bett.

Wo unser Sohn einen festen Säuglingsschlaf schlief.

Die Leute in unserer Abteilung haben sich gut im Griff. Alle wussten schon über Michail Bescheid, und alle taten so, als ob das nichts Besonderes wäre.

Und was ist daran auch besonders?

Gibt es in Moskau etwa keine Quazi? Doch, an die 50 000. Die meisten wohnen in ihren eigenen Vierteln im Südwesten und auf den Ljuberzer Feldern, aber auch in den Menschen-Vierteln gibt es viele. Und jedes Mal, wenn ich die Aufständischen nicht einfach töten konnte, sondern sie ins Revier mitnehmen musste, kamen die Quazi, um sie abzuholen.

Ich grüßte sie sogar. Schüttelte ihnen die Hand. Schließlich musste ich den hohen Standards der Moskauer Polizei genügen. Wir stehen über allen Vorurteilen, wir kennen keinen Sexismus, Rassismus oder Unterschiede in Sachen Vitalitätsstatus.

Aber mit einem Quazi als Partner arbeiten!

»Also, Denis, lassen Sie uns klären, wie wir uns anreden«, sagte Michail.

»Okay«, entgegnete ich. Wir gingen durch das Gebäude. Ich nickte einem entgegenkommenden Kollegen zu. »Ich werde Sie Gena nennen.«

»Warum Gena?«, fragte Michail total überrascht.

»Sie haben doch vorgeschlagen, dass wir uns Spitznamen überlegen, mit denen wir uns gegenseitig anreden. Sie sind das Krokodil Gena und ich bin Tscheburaschka. Wie in den Kinderbüchern.«

»Ich meinte, wir sollten uns darauf einigen, ob wir uns duzen oder siezen«, erklärte Michail geduldig.

»Ach …«, sagte ich gedehnt. »Sie sind älter, ich muss Sie mit Vor- und Vatersnamen ansprechen. Aber da wir ja jetzt Partner sind, könnte das bei der Arbeit unpraktisch werden. Wie ist Ihr Rang?«

»Wir haben keine Polizei in Ihrem Sinne«, sagte Michail. »Und Ränge auch nicht. Ich bin Sonderbeauftragter des Vorsitzenden.«

»Oh!«, sagte ich und legte einen Schritt zu. Mir gefiel gar nicht, wie uns meine Kollegen beäugten. Ihr Spott war kaum zu übersehen. Jeder im Revier kannte meine Einstellung zu Aufständischen und Quazi. Heute hatten die Leute endlich mal was zu reden … »Dann sind Sie ja eine ganz große Nummer, Michail! Aber wenn Sie keinen Rang haben, wie wollen Sie dann …?«

»Ich war Major der Polizei, und offiziell habe ich diesen Rang immer noch«, sagte Michail. »Gefällt Ihnen das etwa besser, Hauptmann Simonow?«

Sieh mal an! Wenn das keine Gefühle waren, dann fehlte aber nicht mehr viel dazu.

»In Ordnung, Mischa!«, rief ich, blieb stehen und legte dem Quazi die Hand auf die Schulter. »Dann also per du!« Und eine Sekunde später wurde mir klar, dass er genau das bezweckt hatte.

Wir verließen das Revier, ich setzte mich hinter das Steuer meines Fahrzeuges, und der Quazi nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

»Was schlägst du als Nächstes vor, Partner?«, fragte ich betont liebenswürdig.

»Die Ermittlungen zum Tod von Professor Wiktor Aristarchowitsch Tomlin wieder aufzunehmen.«

»Die Todesursache lautet: Enthauptung durch den Ermittler Denis Simonow«, antwortete ich.

»Ich spreche von seinem ersten Tod.«

Ich seufzte und ließ den Motor an.

»Er wurde von einem Einbrecher erschossen. In der Wohnung gibt es einiges zu holen … Das hast du doch selbst gesehen. Der Hausmeister hat den Einbrecher bemerkt. Auf den Bändern der Überwachungskamera ist er ebenfalls zu sehen. Der Einbrecher hat offenbar im Treppenhaus gewartet, bis die Tomlins die Wohnung verließen, aber nicht mitbekommen, dass seine Frau alleine ausging. Er öffnete die Tür, betrat die Wohnung, stieß dort auf den Hausherrn und schoss. Aber der Einbrecher hatte sich verrechnet. Der Professor stand extrem zügig wieder auf und machte sich dann über seinen Mörder her.«

»Wie schnell ist der Professor aufgestanden?«

»Schnell. Nach fünfundzwanzig Minuten, die kürzeste mögliche Zeitspanne, wie man in der ersten Klasse lernt.«

»Genau. Also wusste der Einbrecher das ebenfalls. Trotzdem hat er eine halbe Stunde in der Wohnung rumgewühlt? Und dann den langsamen, hungrigen Aufständischen an sich rangelassen? Woraufhin er ebenfalls gestorben und in ebenso kurzer Zeit wieder aufgestanden ist, nämlich genau im Moment deiner Ankunft?«

»Unwahrscheinlich heißt nicht unmöglich«, sagte ich dickköpfig.

Auf diesen offensichtlichen Unsinn antwortete der Quazi nichts.

Ich seufzte und fuhr aus der Parklücke. Natürlich war Moskau nicht mehr so von Autos verstopft wie früher. Im Gegenteil, auf den Straßen ist jetzt ziemlich viel Platz. Das Benzin ist teuer, und innerhalb des Moskauer Autobahnrings ist ohnehin zu wenig Platz, um jedem der inzwischen zwanzig Millionen Einwohner ein eigenes Auto zu genehmigen.

Trotzdem gerieten wir in der Puschkarjew-Gasse in einen kleinen Stau. Wir krochen langsam auf die Metro-Station Trubna zu, um dahinter in die Sretenka-Straße abzubiegen.

»Ich kenne Moskau nicht so gut«, sagte der Quazi unerwartet. »Aber meinem Empfinden nach ist das Revier gerade mal ein, zwei Minuten zu Fuß vom Tatort entfernt. Wohin willst du?«

»Zur Arbeitsstelle seiner Frau. Oder besser: seiner Witwe. Dauert etwa zwanzig Minuten.«

»Warum?«

»Man hat sie vom Tod ihres Mannes informiert, aber sie meinte, sie muss bis zum Abend am Arbeitsplatz bleiben. Das ist doch ziemlich seltsam, oder?«

Michail gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Wir bogen in die Sretenka ein.

»Weißt du schon, was du sie fragen willst?«

»Ich habe so eine Idee«, sagte ich unverbindlich. »Aber jetzt bist du erst mal dran, Michail.«

Der Quazi seufzte. »Ich weiß deine Zurückhaltung zu schätzen. Ich habe schon darauf gewartet, dass du fragst.«

»Also, leg los«, sagte ich.

»Wir haben Informationen erhalten, dass in dem betreffenden Haus ein Verbrechen stattfinden würde.«

Ach so! Na klar, so einen Zufall konnte es gar nicht geben. Entweder war Michail selbst der Mörder, oder er hatte von dem bevorstehenden Mord gewusst. Immerhin versuchte er das nicht zu verschleiern.

»Woher stammte diese Information?«

»Der Informant wollte anonym bleiben«, sagte Michail schnell.

Klar. Ein Quazi kann nicht lügen, aber er kann der Antwort ausweichen.

»Aber du vertraust ihm oder ihr?«

»Ja, hundertprozentig«, sagte Michail. Seine Stimme klang irgendwie feierlich dabei. »Die Information war richtig, aber ich kam zu spät. Leider kam ich zu spät …«

»Warum?«

Michail holte tief Luft. Nein, er holte nicht tief Luft, sondern er tat nur so als ob! Auch Quazi atmen, aber ihre Atmung ist immer völlig gleichmäßig. Nur bei extremer Anstrengung beschleunigt sie sich ein wenig.

»Ein Stau.«

»Ein Stau?«, rief ich. »Keine unerwartete Begegnung, kein Anruf oder eine selbstverschuldete Verzögerung?«

»Leider war es einfach nur Pech.«

»Weißt du noch etwas, das uns bei der Suche nach dem Mörder helfen kann?«, fragte ich.

Michail überlegte eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Alles andere hat nichts mit diesem Mord zu tun.«

Er wich aus, aber immerhin hatte er geantwortet.

Wir fuhren den Gartenring entlang. Auch hier bildete sich gerade der traditionelle Abendstau. Es wurde allmählich dunkel.

Staus sind die Geißel der Großstädte. Staus sind tödlich. Nach der Katastrophe sank die Zahl der Privatautos um vier Fünftel, und trotzdem gab es immer noch Staus! Wie sind wir früher überhaupt jemals irgendwo hingekommen?

»Und wie ist es bei euch in Piter so?«, fragte ich.

»Bei uns gibt es keine Staus. Wir fahren fast nie mit dem Privatwagen.«

»Aber bei euch gibt es doch auch Lebende.«

»Ja, 12,5 Prozent.« Michail nickte. »Aber die fahren auch lieber mit der Metro oder dem Rad.«

»Bei euch sind die Winter wärmer«, brummte ich. Ich hatte Reportagen aus der Hauptstadt der Nicht-Lebenden im Fernsehen gesehen: Massenhaft Quazi auf Rädern, die schön ordentlich in einer Reihe den Newski entlang fuhren … während ich mich so mit diesem Quazi unterhielt, ganz normal, wie mit einem Menschen, und mich gleichzeitig an diese Unmengen toter Radfahrer erinnerte, lief es mir kalt den Rücken runter.

Vor uns tauchte groß der Buchstabe »M« auf. Ich hielt am Fahrbahnrand.

»Ich bin noch nicht zum Essen gekommen. Willst du auch was?«

Michail sah mich zögernd an. Dann nickte er.«Okay, einen Quazi-Burger.«

»Alles klar.«

Ich stieg aus, betrat das Schnellrestaurant und winkte schamlos mit meinem Ausweis, während ich mich durch die Menge der Jugendlichen zur Kasse drängte.

»Einen Cheeseburger, einen Quazi-Burger. Eine große Cola und ein großes Wasser.«

Niemand beschwerte sich, auch die Jugendlichen nicht. Trotz allem war der Respekt vor Polizei und Armee in den letzten zehn Jahren gewaltig gestiegen. Ich kehrte mit meiner Beute zum Auto zurück, überreichte Michail sein Burgerimitat und packte meinen Cheeseburger aus, ehe ich mich langsam auf die rechte Spur einfädelte.

Ich kaute auf meiner Frikadelle mit Käse herum, die zwischen ein fades Brötchen geklemmt war, und beobachtete Michail aus dem Augenwinkel. Der aß seinen Quazi-Burger – Zwiebel, Salat, Gurke, Tomate und Aubergine. Eingequetscht in das gleiche fade Brötchen wie mein Fleischklops.

»Hast du nie Lust auf Fleisch?«, fragte ich.

»Du weißt doch, dass alle Quazi Vegetarier sind.«

»Ja, aber ich meine: Appetit.«

»Wir hatten schon mehr als genug Fleisch«, antwortete Michail. Er wartete einen Moment, ehe er weitersprach. »Das war derb. Entschuldige. Aber ja, wir sind Vegetarier, und nein, wir haben keinen Appetit auf Fleisch, auch nicht auf Fisch oder Käse.«

Er kaute weiter, aber etwa einen Wohnblock weiter sagte er unvermittelt: »Manchmal habe ich Lust auf Milch. Ich hab sie probiert, konnte sie aber nicht bei mir behalten.«

»Sojamilch?«, schlug ich vor.

»Ekelhaft. Ich trinke sie, mit künstlichem Honig. Auch ekelhaft. Ich schmecke jeden chemischen Zusatz. Sogar die Spuren des Phosphatdüngers auf diesem Salatblatt … obwohl es lange und gründlich gewaschen wurde. Bei uns zu Hause essen wir nach Möglichkeit nur organisch angebautes Obst und Gemüse.«

Für einen kurzen Moment tat er mir leid.

»Trotzdem ist es extrem schwierig, mich zu vergiften«, fuhr er fort, und mein Mitleid schwand. »Ich kann Substanzen, die für Menschen giftig sind, löffelweise zu mir nehmen, ohne dass mir das schadet. Auch Fleisch bringt mich nicht um. Es wird einfach abgestoßen.«

Abgestoßen … vornehm ausgedrückt …

»Aber sag mal … Partner, was ist mit deinem albernen Anzug?«, fragte ich und warf ihm einen Seitenblick zu. »Wurdest du darin erhöht?«

Der Quazi betrachtete sein Jackett, als ob er es zum ersten Mal sähe. Er zupfte ein Härchen vom Aufschlag.

»Nein. Der war voller Flecken und zerrissen. Aber auf dem Land gibt es viele kleine Städtchen mit vielen verlassenen Läden. Ich suche mir immer die gleiche Montur aus. Das ist eine Angewohnheit.«

»Das ist keine Angewohnheit, sondern Stillstand«, entgegnete ich unerwartet wütend.

»Ja, Stillstand«, stimmte er mir zu. »Wir sind nicht fähig, uns zu entwickeln, das ist richtig. Ich schaue mir alte Filme an, lese alte Bücher und trage alte Kleidung. Das ist der Preis für die Erhöhung.«

»Vielleicht sollte man es dann nicht als Erhöhung begreifen?«, gab ich zurück, während ich auf den Parkplatz des Instituts für Biochemie einbog.

»Man kann auch aus dem tiefsten Abgrund erhöht werden, Denis«, sagte der Quazi sanft. »Wenn du eine Zeit lang als blutrünstige Bestie ohne Bewusstsein existiert hast, ist der erhöhte Zustand höchst attraktiv. Auch wenn man Abstriche machen muss.«

Wir stiegen aus. In unserem Rücken rauschte der Verkehrslärm des Gartenrings. Das Gebäude lag bereits im Zwielicht, nur vereinzelte Fenster waren erleuchtet. Der eine oder andere schien also noch zu arbeiten.

»Ich verstehe seine Frau nicht«, sagte ich. »Wie kann man weiterarbeiten, wenn man erfahren hat, dass der eigene Ehemann gestorben ist?«

»Sie kann doch ohnehin nichts mehr daran ändern«, sagte Michail vorwurfsvoll. »Also ich kann sie vollkommen verstehen.«

Eine Sekunde später fiel bei mir der Groschen.

»Scheiße!«, rief ich aus. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Trotz der blaugrauen Haut war die Frau überaus attraktiv. Vielleicht, weil ihre Erhöhung im besten Alter stattgefunden hatte – irgendwo Ende zwanzig, als sie bei maximaler Schönheit und Kraft gewesen war. Quazi unterscheiden sich abgesehen von der Hautfarbe äußerlich nicht von einem Menschen, und sie benutzen normalerweise keine Kosmetika. Also war das ihr wahres Äußeres. Reine Natur.

Der dunkelgraue Hosenanzug, die roten Pumps und die rote Bluse passten optimal zur blaugrauen Haut. Das war eindeutig ihr persönlicher Stil.

»Mein aufrichtiges Beileid, Wiktoria … äh …«

»Andrejewna, aber das ist nicht wichtig«, entgegnete die Quazi. »Wiktoria reicht.«

»Wir bevorzugen kurze Namen«, warf Michail ein.

Er und Wiktoria wechselten einen Blick. Sie nickte. Wir setzten uns an einen Couchtisch im Foyer. Das Institut wirkte zu meiner Überraschung nicht wie die typisch trostlos-funktionale wissenschaftliche Einrichtung, sondern großzügig und höchst modern. Im Foyer waren überall nette kleine Sitzecken verteilt, versehen mit guten und dazu noch kostenlosen Kaffeemaschinen; die Räume waren erstklassig renoviert, in angenehmen Farben gehalten, es gab hochwertige Ledermöbel, schöne Stores vor den Fenstern. Bei uns sehen die Labors normalerweise auch ziemlich modern aus, an der Technik wird nicht gespart, aber dafür wird alles andere völlig vernachlässigt. Hier dagegen versuchte man eine komfortable, wohnliche Atmosphäre zu schaffen, vermutlich damit die Mitarbeiter länger blieben.

An der Wand hing eine große Tafel voller Aushänge, daneben – so etwas gibt es tatsächlich nur noch in wissenschaftlichen Instituten – eine nicht mehr ganz neue Wandzeitung mit Glückwünschen zum 8. März für alle Frauen, Bekanntmachungen der Gewerkschaft, Angeboten für Familien-Urlaub in Eupatoria, den Terminen für die Forschungsgruppe »Der Junior-Biochemiker« und anderen nutzlosen Informationen. Das hier war kein Institut, sondern ein zweites Zuhause …

»Das Revier hat Sie benachrichtigt …«, fuhr ich fort.

»Ich verstehe schon, Sie wundern sich, dass ich nicht alles stehen und liegen lasse und nach Hause fahre«, sagte die Quazi gelassen. »Hier läuft im Moment ein wichtiges Experiment, bei dem ich anwesend sein muss. Wiktor kann ich jetzt ohnehin nicht mehr helfen. Seine Arbeit war ihm sehr wichtig. Er wird mich verstehen, da bin ich mir sicher.«

Ich runzelte die Stirn. Was redete sie da?

»Wiktor und Wiktoria, wie hübsch«, sagte Michail plötzlich. »Waren Sie schon vor Ihrer Erhöhung verheiratet?«

»Nein, wir haben uns erst hier im Institut kennengelernt, vor drei Jahren. Aber Sie haben recht, Wiktor hielt das für ein gutes Omen. Menschen neigen manchmal ein wenig zum Aberglauben.«

»Hatte er Feinde?«, fragte Michail.

»Nicht mehr als jeder andere junge, begabte Forscher. Jedenfalls nicht solche Feinde, die ihm einen Schuss ins Herz verpasst hätten. Man sagte mir, ein Einbrecher habe ihn erschossen?«

Michail nickte.

»Und dann ist er aufgestanden und hat den Einbrecher umgebracht?«, fuhr Wiktoria fort.

»Genau.«

»Dann hat die Gerechtigkeit ja gesiegt«, sagte Wiktoria. »Darin liegt eine höhere Logik. Der Einbrecher wollte ihn umbringen und kam dabei selbst zu Tode, und das für immer.«

»Ich glaube, Sie haben da etwas falsch verstanden«, hakte ich ein. »Mit der Gerechtigkeit hat es nicht so ganz hingehauen …«

Wiktoria hob eine Augenbraue. Eine ziemlich menschliche, unnatürlich wirkende Reaktion.

»Als der Ermittler in die Wohnung kam, waren dort zwei Aufständische«, sagte ich. »Der Ermittler sah sich gezwungen, zur Waffe zu greifen. Beide sind tot. Und zwar endgültig. Sie wurden geköpft.«

»Wie?«, fragte Wiktoria. Und blinzelte. Jetzt sah sie so entsetzt aus wie eine ganz normale Frau, die vom Tod ihres Gatten erfährt.

»Mit einer Machete.«

»Das meine ich doch nicht, Sie Idiot«, schrie Wiktoria. »Wie … wie konnte das passieren? Warum? Das ist nicht richtig, so sollte das nicht ablaufen.«

»Ein Verbrechen läuft per Definition niemals richtig ab«, sagte Michail.

Wiktoria beruhigte sich augenblicklich.

»Sie haben recht. Das ist sehr traurig. Sehr ungerecht. Wiktor war ein extrem talentierter Wissenschaftler. Ein riesiger Verlust.«

Natürlich war kein Anzeichen von Trauer zu erkennen. Ich war überrascht, dass sie überhaupt die Stimme erhoben und mich beschimpft hatte. Eine Quazi, die ihren Mann geliebt hatte? Unsinn. Sie hätte ihn nach ihrem eigenen Tod und ihrer Erhöhung nur dann lieben können, wenn sie ihn schon zuvor gekannt hätte.

Was aber nicht der Fall war.

Vielleicht hatte sie den Sex geliebt. Ganz banal. Sie hatte den Sex so geliebt, dass diese Eigenschaft nach Tod und Erhöhung ihr Hauptwesenszug geworden war. Quazi sind einseitig entwickelt. Das, was für sie als Mensch am wichtigsten war, bleibt ihr einziges Ziel, wenn sie das ewige Leben beginnen. Michail zum Beispiel war Polizist gewesen, vermutlich mit Leib und Seele, und war deshalb auch als Quazi Polizist, selbst wenn man seine Tätigkeit anders bezeichnete. Ein kleines Licht, der Bürgermeister eines Provinzstädtchens, war nach seiner Erhöhung zum genialen Politiker und Vorsitzenden aller Quazi in Russland geworden. Er hatte den Krieg zwischen Lebenden und Toten beendet, genau wie dies in Deutschland der Vorsitzende der Grünen und in den USA der Gouverneur Kaliforniens getan hatten.

Wiktoria mochte Sex lieben oder das Eheleben und deshalb einen Menschen geheiratet haben. Aber der Tod dieses Menschen würde sie nicht berühren. Für sie war dieser Mensch nur eine Schraube im Getriebe, die man leicht ersetzen konnte.

Selbst wenn sie ihn wirklich geliebt hatte. Mal angenommen, der Sinn ihres neuen Lebens war tatsächlich die Liebe. Warum ihn dann umbringen?

Irgendetwas passte da nicht.

Gar nichts passte da.

»Unsere Arbeit wird dadurch stark verzögert«, sagte Wiktoria mit offenkundiger Enttäuschung. »Erst wenn wir jemanden finden, der Wiktor ersetzen kann, und wenn dieser Jemand sich eingearbeitet hat …«

Ach so, ja klar. Das war abstoßend, aber kein Verbrechen. Sie sorgte sich, weil die Forschungen ihres Mannes nicht weitergeführt werden konnten.

»Das tut mir leid«, sagte Michail. »Woran hat Ihr Mann gearbeitet?«

»Jedenfalls nicht an solchem Schwachsinn wie ›Aufständische heilen‹, falls Sie das meinen.« Wiktoria runzelte die Stirn. »Es waren ganz normale, langweilige Forschungen zum Windpockenvirus. Wir suchen ein neues Medikament. Wenn wir Glück haben, werden diese Studien in fünf Jahren immensen Profit abwerfen.«

»Warum braucht man ein Heilmittel dagegen?«, fragte ich. Die Frau gefiel mir nicht, aber das hatte nichts damit zu tun, dass sie eine Quazi war. »Man schmiert sich dieses grüne Zeug auf die Haut, und nach ein paar Tagen ist der Spuk vorbei.«

»Kinder machen Windpocken in der Regel ohne Komplikationen durch, Erwachsene dagegen erkranken oft schwer«, erklärte Wiktoria. »Für sie braucht man ein Medikament.«

Michail nickte. »Dürften wir uns noch mal in Ihrer Wohnung umsehen?«, fragte er. »Die Verstorbenen wurden schon weggebracht … mein Beileid. Aber vielleicht wurde irgendetwas übersehen.«

»Bitte schön.« Wiktoria machte eine nachlässige Handbewegung. »Ich werde heute wahrscheinlich hier übernachten. In der Wohnung ist es sehr leer, und hier gibt es schöne Erholungsräume …«

»Anfangs dachte ich, dass Sie etwas mit dem Tod Ihres Mannes zu tun hätten«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.

Michail blickte mich an, blieb aber stumm.

»Wie denn?«, fragte Wiktoria, die schon halb aufgestanden war und sich jetzt wieder auf das Sofa sinken ließ. »Der Mord fand doch in meiner Abwesenheit statt. Als ich schon hier im Institut war.«

Ich nickte.

»Meine Anwesenheit hier wird ständig kontrolliert.« Wiktoria nickte zur Linse einer Überwachungskamera an der Decke hinauf. »Ich habe das Gebäude nicht verlassen. Und selbst wenn ich den Mörder beauftragt hätte, hätte ich ihn ja wohl kaum dazu überreden können, mit dem Leichnam allein zu bleiben und sich dem Aufständischen als Futter anzubieten.«

»Ach, wo Sie schon am Spekulieren sind, fällt mir noch eine andere Hypothese ein«, sagte ich. »Sie hätten jemanden mit dem Mord an Ihrem Mann beauftragen können und es wie einen Einbruch aussehen lassen können. Wir haben den Mörder bereits identifiziert: Der Mann hat schon zweimal wegen Diebstahls gesessen. Er hat Ihren Mann erschossen …«

»Und dann etwas gesucht, obwohl er genau wusste, dass der Tote jeden Augenblick aufstehen konnte?« Wiktoria lächelte. »Das ist doch widersinnig. Er hätte dem Toten doch wohl vorher den Kopf abgehauen oder ihn wenigstens gefesselt. Am Anfang sind Aufständische schwach und schwerfällig. Warum als Futter herhalten?«

»Stimmt«, sagte ich und blickte sie an. »Das ist wirklich widersinnig. Kein Mensch würde sich freiwillig zu einem solchen Tod bereiterklären.«

Michail erhob sich.

»Entschuldigen Sie die Mutmaßungen meines Kollegen«, sagte er. »Denis vertraut uns nicht besonders. Was natürlich albern ist. Entschuldigen Sie die Störung. Und noch mal unser Beileid.«

»Kein Problem«, sagte Wiktoria und erhob sich.

Auch ich stand auf. Irgendetwas passte nicht, war einfach nicht richtig.

Aber ich hatte keine Beweise, kein Motiv, und es gab keine Verbindung zwischen dem Mörder und Wiktoria.

»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte Michail plötzlich. Und küsste Wiktoria auf den Mund.

Die Quazi-Frau zuckte zusammen und stolperte rückwärts, weg von dem Quazi-Mann.

Michail leckte sich die Lippen. Seine Zunge war blau.

»Höchst ungewöhnlich«, sagte er. »Ad hoc kann ich nicht sagen, was für eine Substanz das ist. Aber ich nehme an, dass Sie sie bereits heute Morgen auf Ihre Lippen aufgetragen haben? Noch bevor Sie vor die Tür traten, den angeheuerten Mann … oder besser gesagt, den verführten Mann, auf die Lippen küssten, in Ihre Wohnung ließen und zur Arbeit gingen. Wie lange dauerte es, bis die Betäubung nachließ? Fünf Minuten? Zehn? Fünfzehn? Musste er mit ansehen, wie Ihr toter Mann sich erhob und sich auf ihn zuschleppte, um sich an ihm gütlich zu tun?«

Wiktoria packte den schweren Ledersessel, hob ihn in die Luft und knallte ihn dem alten Polizisten gegen den Kopf.

Wäre er lebendig gewesen, hätte sie ihn damit getötet. Auch wenn er sich mit den Händen hätte schützen können.

Aber die beiden waren Quazi, und Michail steckte den Schlag locker weg.

Wiktoria stürmte aus der Halle. Ich rannte hinter ihr her und zerrte dabei die Pistole aus dem Holster.

»Nicht schießen«, schrie Michail und überholte mich. Die Rückenfalte seines Jacketts klaffte auseinander. »Wehe, du Idiot!«

Ich ließ die Pistole sinken, hielt sie mit beiden Händen vor mich und folgte ihm.

Michail holte Wiktoria im Treppenhaus ein. Er sprang auf ihren Rücken und warf sie dabei um. Die beiden Quazi kullerten die Treppe hinunter. Von dem widerlichen Geräusch von Schädeln, die auf Stein knallten, drehte sich mir der Magen um. Selbst im Fallen versuchten die beiden, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen – das Gehirn war das einzige wirklich verletzbare Organ ihrer Spezies.

Und dann brach Michail ihr den Hals.

Ich erkannte das eklige, feuchte Knacken sofort und verlangsamte meinen Schritt. Ihnen hinterherzustürzen war für mich alles andere als reizvoll … Ich würde danach nicht mehr aufstehen.

Auf dem Weg nach unten holte ich die verstärkten Spezialhandschellen für Quazi hervor. Michail saß auf dem Boden und hielt den zuckenden Körper der Quazi fest. Seine Handschellen hatte er schon an ihren Fußgelenken befestigt. Schweigend nahm er meine entgegen und fesselte Wiktorias Hände.

Dann saßen wir eine Minute einfach nur da. Ich atmete schwer und bedauerte es wieder einmal, nicht zu rauchen. Michail blickte die Quazi an. Er war wirklich ein guter Polizist – ich glaube, er hatte Mitleid mit ihr.

Dann knackte Wiktorias Hals und streckte sich wieder. Sie öffnete die Augen und blickte uns an. Hob die Hände und betrachtete die Handschellen.

»Das ist nicht mehr nötig«, sagte sie.

»Egal, tragen Sie sie einfach noch ein bisschen«, entgegnete ich. »Warum? Warum haben Sie das getan?«

Die Quazi-Frau blickte mir in die Augen. Sie lächelte. »Haben Sie schon mal geliebt?«, fragte sie.

»Könnte sein«, entgegnete ich.

»Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie dieser geliebte Mensch allmählich alt wurde«, sagte sie. »Seine Form verlor, seine Attraktivität. Wie sein Verstand an Brillanz einbüßte … Eines Tages würde er ein Quazi sein … aber dann so ein alter, alberner Tropf …« Sie nickte verächtlich zu Michail hinüber. »Während das wahre, vollwertige, höhere Leben doch zum Greifen nahe war. Er musste nur sterben, eine kurze unangenehme Phase durchstehen … und dann auferstehen. Für immer jung.«

»Für immer tot«, flüsterte ich.

»Für immer jung«, wiederholte sie, dann schwieg sie.

»›Jeder tötet, was er liebt‹«, sagte Michail und hob Wiktoria ruckartig vom Boden hoch. »›Das möge jeder hören, der Tapfere mit einem Schwert, der Feigling mit dem Kuss.‹«

»Schreiben Sie Gedichte?«, wollte Wiktoria wissen.

»Das ist von Oscar Wilde, Sie halbtote Ignorantin«, sagte ich, während ich einen Blick zu Michail rüberwarf. »Mit Betonung auf ignorant, nicht auf halbtot.«

Michail rieb sich über die linke Seite und gab ein sehr natürliches Stöhnen von sich.

»Meine Rippen tun weh. Drei Stück, ausgerechnet die, die am längsten brauchen, um zu regenerieren. Rufst du bitte die Polizei, Denis?«

Nachts ist Moskau schön. Jahrelang dachte ich, dass ich die Nacht für immer hassen würde.

So schlimm ist es nicht mehr, ich habe mich einigermaßen an sie gewöhnt …

»Wohin willst du, Michail?«, fragte ich.

»Ins Hotel Leningrad natürlich. Wo sonst könnte ein anständiger Quazi absteigen?«

»Du machst Witze, oder?«, fragte ich finster.

»Ich versuche es. Und, gelingt es mir?«

Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Einer von uns ist nicht zu Scherzen aufgelegt. Am liebsten würde ich mich betrinken.«

»Du hast es gut.« Michail nickte. Er holte sein Handy raus und rief jemanden an.

Ich hörte nicht hin. Anscheinend hatte er wirklich einen Witz gemacht.

Wir hielten vor dem Hotel neben dem lärmenden Bahnhofsvorplatz. Eben fuhr unter lautem Hupen der Panzerzug Moskau-Kasan ab, um das tote Land zu durchqueren, wo sich selbst die Quazi zwischen den Massen von Aufständischen nicht mehr sicher fühlten.

»Denk bloß nicht, dass wir jetzt Freunde sind«, sagte ich. »Du bist trotzdem von der gleichen Sorte wie sie: ein Gespenst.«

»Keine Sorge«, stimmte Michail zu.

Wir stiegen aus, ich zögerte, ehe ich ihm die Hand schüttelte. Die heiß war, selbst für einen warmen Sommerabend. Eine Straßenbahn näherte sich unter Getöse.

Straßenbahnen sind die gefährlichsten Transportmittel überhaupt, das wissen wir spätestens seit Bulgakow. Zack – und schon rollt der Kopf. Egal wie stark ein Quazi ist, wenn er ausrutscht und unter die Straßenbahn gerät …

»Morgen bekommen wir eine Wohnung«, sagte Michail. »Ich werde für einige Zeit hier in Moskau arbeiten.«

»Schon kapiert.« Ich nickte. »Wer ist wir?«

Die Straßenbahn war schon ganz nah. Ich sah mich um. Wo waren die Kameras … war ich im Bild? Konnte man sehen, dass ich den Quazi nicht nur nicht zurückhielt, sondern im Gegenteil schubste?

Michail wandte plötzlich den Kopf und blickte zum Hotel hinüber.

»Papa!« Aus dem Eingang hüpfte ein Junge, zehn, elf Jahre alt, und rannte auf Michail zu. »Papa, ist alles okay?«

Die Straßenbahn rauschte vorbei.

Michail umarmte den Jungen unbeholfen. Ich bemerkte, dass er ihn an seine rechte Seite drückte.

»Klar. Was könnte mir denn schon zustoßen?«

Ich schaute weg. Ein Quazi-Kind. Der reine Horror. Was Schlimmeres gibt es nicht.

Aber als ich wieder hinguckte, sah ich, dass der Junge lebendig war. Er hatte eine rosige Hautfarbe, gerötete Backen und strahlte mich neugierig an.

Falsch. Es geht doch schlimmer.

Aber warum ausgerechnet heute?

»Das ist Denis, mein neuer Partner«, sagte Michail. »Ein guter Kerl und lebendig.«

»Hallo«, sagte ich. »Und bis bald! Ich muss los, zu Hause wartet man auf mich.«

Und warf mich so hektisch hinters Steuer, als ob eine Horde Aufständischer hinter mir her wäre. Lächerlich.

Zu Hause schleuderte ich, ohne mich zu bücken, die Schuhe von den Füßen, da ich eine Plastiktüte aus dem Supermarkt in den Händen hielt. Ich ging in die Küche, wobei ich feuchte Spuren auf dem Boden hinterließ. Meine Socken waren nach dem langen Tag komplett durchgeschwitzt. Dann setzte ich mich an den Tisch, ließ mich gegen die Wand sinken und holte eine Flasche Wodka aus der Tüte. Ich schraubte sie auf und trank direkt aus der Flasche.

Flüssiges Vergessen breitete sich in meinem Körper aus.

Ich saß einfach nur da und starrte die gegenüberliegende Wand an. Das Foto, auf dem Olga am Fenster stand und den Säugling in den Armen hielt. Drei Monate vor der Apokalypse. Sie lächelte, und auch mein neun Monate alter Sohn lächelte.

»So kann es kommen«, sagte ich und nahm den nächsten Schluck.

In der leeren Wohnung war kein Mensch, der mich hätte hören können. Aber ich wartete auch nicht auf eine Antwort. In zehn Jahren hatte ich gelernt, mit mir selbst zu reden.

Zweites Kapitel

Himmel und Wind

Im Juli erlebte Moskau regelmäßig Stürme. Oft rückten sie auf die Stadt zu, die Meteorologen gaben Sturmwarnungen aus, und dann lösten sie sich wieder auf.

Aber manchmal brachen sie auch mit voller Kraft auf die Stadt herein.

Ich hatte keine Ahnung, ob der Sturm sich heute Nacht so richtig austoben würde oder nur sein Spielchen mit uns trieb. Aber der Wind war kein Spaß mehr. Massive, regenschwangere Wolken rasten über den Himmel, ohne dass bisher auch nur ein Tropfen gefallen war.

»Ich gehe alleine«, sagte ich zu Michail.

»Soll ich nicht mitkommen?«, wollte er wissen.

»Ich komme schon klar.«

Wir standen vor dem Müllschacht, neben dem eine Tür auf einen kleinen ungenutzten Balkon führte. Im zwanzigsten Stockwerk, sechzig Meter über dem Boden.

»Ich gehe wenigstens nicht kaputt, wenn was schiefgeht«, erinnerte mich Michail und hielt mich am Ärmel fest.

Ich zeigte ihm einen Vogel.

»Das heißt, ich gehe natürlich kaputt«, gab Michail zu. »Aber ich überlebe es, will heißen, ich regeneriere mich. Mit der Zeit.«

»Und wovor sollte ich Angst haben?«, fragte ich. »Wenn ich kaputtgehe, stehe ich auf und werde erhöht. So einfach ist das.«

»In deinem Testament ist Verbrennung vermerkt«, sagte Michail. »Du stehst nicht auf.«

»Dann passiert mir auch nichts. Lass mich durch!«

»Warum gerade du? Du hast gestern viel getrunken. Ich rieche das.«

»Du hast die falsche Hautfarbe«, erklärte ich. »Sie sollten dich jetzt nicht sehen.«

Michail überlegte, dann ließ er mich los.

»Auch wieder wahr. Na gut, geh.«

Ich drückte die Tür auf und trat langsam auf den Balkon.

Oho!

Was für ein Wind!

Hätte ich einen Hut aufgehabt, wäre der jetzt weg.

Hätte ich Flügel, würde ich selbst wegfliegen.

Und hätte ich Köpfchen, würde ich ruckzuck ins Haus zurückkriechen.

Der Balkon war schmal, aber etwa vier Meter lang und verband den Wartebereich vor dem Aufzug mit der Tür zum Treppenhaus. Was bedeutete, dass die Hausbewohner im Fall eines Brandes eine Schleife drehten: Erst mussten sie auf den Balkon ausweichen und dabei frische Luft in das brennende Gebäude lassen, nur um dann wieder in das Inferno einzutauchen.

Ziemlich dämlich. Aber es brannte ja nicht.

Als Erstes blickte ich nach unten, wo mehrere Polizeifahrzeuge, ein Feuerwehrauto und ein Rettungswagen parkten. Außerdem standen da Gaffer – was würden wir ohne die tun – und Kamerateams, na klar …

Ich winkte ihnen zu.

Dann drehte ich mich um.

Die Mädchen standen in der Ecke des Balkons auf einer Art Podest, das ich zunächst für eine alte, abgewetzte Truhe hielt. Dann sah ich, dass es sich um eine Singer-Nähmaschine handelte. Uralt. Bestimmt hundert Jahre! Wer warf denn eine solche Antiquität weg?

»Hallo!«, sagte ich laut und freundlich. »Ganz schön windig!«

Ein Mädchen drehte sich ablehnend weg. Das andere nickte unsicher. Die beiden waren fünfzehn, sechzehn. Sie hielten sich an den Händen, so fest, dass ihre Finger ganz weiß waren. Und pressten sich an die Wand.

Die, die genickt hatte, war hübsch und rothaarig und hieß Julia. Sie ging in die zehnte Klasse. Die Abweisende mit dem braunen Kurzhaarschnitt hieß Anja. Sie war im ersten Jahr der technischen Berufsschule. Die beiden waren seit dem Kindergarten befreundet.

Das war schlecht.

»Erst mal muss ich eines wissen, Mädels!«, rief ich. »Seid ihr schwanger?«

Jetzt blickte auch Anja mich an. Völlig perplex.

»Ich erkläre euch den Grund für meine Frage«, sagte ich. »Wenn ihr aufsteht, wenn ihr schwanger seid, bleibt ihr das für immer. Könnt ihr euch vorstellen, was das für ein Horror ist?«

»Wir sind nicht schwanger!«, schrie Julia empört.

»Wir sind keine Prostituierten«, pflichtete Anja ihr bei.

Ich ging in die Hocke. Erstens um mich vor dem Wind zu schützen. Zweitens würde diese Haltung zur Entspannung der Situation beitragen. Und drittens konnte man aus dieser Position am schnellsten losspringen, aber das wussten die Mädchen hoffentlich nicht.

»Gut!«, rief ich. »Zweite Frage, wenn ich darf. Wie heißt das Schwein?«

Die Mädchen tauschten Blicke.

»Warum wollen Sie das wissen?«, kreischte Anja hysterisch.

»Ich muss doch wissen, wer so dämlich ist.«

»Er ist nicht dämlich!«, sagte Julia. Plötzlich blickte sie nach unten und erschrak. Gut so, gut …

»Er liebt uns beide!«, sprang Anja ihr bei. »Und kann sich nicht entscheiden! Und wir sind Freundinnen, wir wollen uns nicht gegenseitig verraten.«

»Warum verraten?« Ich tat überrascht. »Wenn er euch beiden gefällt und ihr Freundinnen seid, dann lebt doch zu dritt.«

Ich hielt das für einen fantastischen Vorschlag, auch wenn der Jugendpsychologe da möglicherweise anderer Meinung war.

»Er ist verheiratet«, schrie Julia wieder hysterisch. »Er sagt, er liebt uns beide, kann seine Frau aber nicht verlassen.«

»So ein Arsch«, sagte ich geradeheraus. Mal wieder das Übliche: Der Typ versuchte, die verliebten Minderjährigen loszuwerden, ohne sie zu traumatisieren. Aber das hatte er ordentlich verbockt. »Habt ihr vielleicht eine Zigarette, Mädels?«

Die beiden sahen sich an.