Drachenpfade - Sergej Lukianenko - E-Book

Drachenpfade E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Sergej Lukianenko entführt Sie in eine phantastische Welt

Als plötzlich ein ihm unbekanntes Mädchen verletzt vor der Tür seiner Moskauer Wohnung liegt, ahnt Viktor, dass sich in seinem Leben einiges ändern wird. Doch wie einschneidend diese Veränderung tatsächlich ist, wird ihm erst bewusst, als ihn das Mädchen in eine magische Welt mitnimmt. Eine Welt, die auf die Ankunft eines Drachen wartet. Und auf einen Mann, der sich diesem Drachen entgegenstellt ...

Haben Sie zuweilen das Gefühl, dass unsere Welt nur ein kleiner Ausschnitt einer viel größeren ist? Und dass Ihre wahre Bestimmung in dieser größeren Welt noch auf Sie wartet? So geht es Viktor, der ein unscheinbares Leben in Moskau führt. Eines Tages jedoch entdeckt er auf seiner Türschwelle ein verletztes Mädchen namens Tel. Er trägt sie in die Wohnung, aber als er den Notarzt rufen will, explodiert das Telefon. Was geht hier nur vor? Schließlich nimmt Tel Viktor mit auf einen Waldspaziergang – und unvermittelt finden sich die beiden in einer anderen Welt wieder. Einer Welt, wie sie merkwürdiger nicht sein kann: Menschen leben hier, aber auch Elfen und Gnome. Und auch Drachen gab es einmal in dieser Welt, sie sind jedoch seit langem verschwunden. Nun aber hat ein mächtiger Zauberer die Rückkehr eines »Großen Drachen« eingeläutet – und damit den Untergang aller Völker. Und Viktor wird klar, dass man ihn nicht ohne Grund hierher geholt hat ...

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Inhaltsverzeichnis
Inschrift
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Copyright
Der Stunden Schar, die schlaflos mich bewacht, Wie ich, mit sterndurchwob’nem Tuch verhängt, Mich berg’ vor allzu heller Mondennacht, Umfächeln mich, wenn Träume mich bedrängt, Und wecken mich, wenn früh die Dämm’rung steigt, Die Träume all vergehn, der Mond sich neigt.
PERCY SHELLEY: Hymne des Apoll
Prolog
Es gibt Welten, in denen ist die Sonne grün und der Sand schwarz. Es gibt andere, in denen die Berge aus hell klingendem Kristall sind und die Flüsse das reine Gold schnellen Wassers mit sich führen. Es gibt Welten, in denen Schnee die Farbe von Blut hat, das Blut hingegen ist von weißestem Weiß. Es gibt Welten, in denen die Schlösser noch nicht durch riesige graue Stacheln mit unendlich vielen Stockwerken ersetzt wurden, und andere, wo diese Stacheln schon lange verlassen daliegen und aus ihren Ruinen Betonplatten für den Bau neuer Schlösser davongeschleppt werden.
Es gibt Welten, in denen die Morgendämmerung vom tausendfachen Klatschen der Flügel begrüßt wird, Flügel, die hoch über der Erde dahinsegeln; in denen sich die triumphale Hymne des aufgehenden Himmelskörpers mit dem Schluchzen des flügellosen Zyperngrases verbindet, das auf der verachteten Erde stirbt.
Es gibt Welten, in denen das Sonnenlicht nur auf die dumpfe Fläche verschlossener Fensterläden trifft - denn es ist bitterer als Galle.
Aber von diesen Welten ist hier nicht die Rede.
Es gibt Welten, in denen die Sonne gelb ist wie die Pupille des Drachen, das Gras grün und das Wasser durchsichtig. Dort recken sich Schlösser aus Stein und Häuser aus Beton in den Himmel, dort fliegen Vögel durch die Luft, und die Menschen lächeln in die Sonne.
Auch von ihnen ist hier nicht die Rede.
Es gibt Welten, in denen Nacht und Tag untrennbar miteinander verschmelzen. Wo man den Blick zur Sonne erheben und die Sterne erblicken kann. Wo man in die Nacht hinaustreten und ins Sonnenlicht schauen kann.
Auf den Weg …
1
Das Licht ging aus.
Wenn einem ständig kleine Unannehmlichkeiten zustoßen, handelt es sich genaugenommen nicht mehr um kleine Unannehmlichkeiten, sondern um ein Großes Unangenehmes System - unbedingt mit Großbuchstaben geschrieben. Die Theorie lehrt, dass kein einziges Großes System ohne eine Globale Ursache auskommt. Globale Ursachen gehören zu den Dingen, die man nur einmal im Leben vernachlässigt.
Tastend machte sich Viktor auf den Weg zur Tür, wo der Sicherungskasten versteckt war, eingemauert in die Wand wie ein Safe. Er hatte das Gefühl, als hätten die Möbel die Gelegenheit ergriffen, ein wenig durch die Wohnung zu spazieren, denn sie tauchten an Stellen auf, wo er am wenigsten mit ihnen rechnete. Es gelang ihm, einen Stuhl zu umrunden - dieser Hinterhalt war fehlgeschlagen -, dafür grätschte ihm ein anderer fröhlich in die Beine. Im Gehen rieb sich Viktor das angeschlagene Knie und streckte darauf suchend die Hand aus, als das Telefon anfing zu läuten. Das heißt, eigentlich fing es nicht an zu läuten, sondern es gellte grässlich und boshaft los und hüpfte dabei eifrig. So läutet es vermutlich, wenn ein Brand ausgebrochen oder jemand gestorben ist.
Das abgerissene Klingeln ertönte in kurzen Abständen - ein Anruf aus einer anderen Stadt -, und das konnte nur bedeuten, dass tatsächlich etwas geschehen war. Denn Mama würde höchstens zum Telefonhörer greifen, wenn eine Horde feuerspeiender Drachen in das gottverlassene Nest, in dem sie wohnte, eingefallen war.
Feuerspeiende Drachen mit kleinen gelben Pupillen …
Viktor schüttelte den Kopf, um diese plötzliche, alberne Vision zu vertreiben, und stürzte mit großen Sprüngen zum Telefon, wobei er einen Stuhl umwarf. Wahrscheinlich den, den er zuvor mit einem Fußtritt beiseitegeschubst hatte und der daraufhin arglistig an den alten Platz zurückgekehrt war.
Mit einer heftigen Bewegung riss Viktor den Hörer von der Gabel.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Nur ein sehr langsames, heiseres Atmen war zu vernehmen.
»Hallo? Hallo, Mama, bist du es?«
Er wusste schon, dass sie es nicht war. Aber er war nicht bereit, sich das einzugestehen.
Im Hörer erklang gleichmäßiges Atmen. Begleitet von einem Pfeifton, als söge jemand die Luft zwischen nicht ganz fest geschlossenen - extrem scharfen - Zähnen hindurch ein.
»Hallo«, wiederholte Viktor. Müde und ergeben bemühte er sich um jene fürs Telefonieren typische Höflichkeit, die sich früher oder später doch so häufig in einen Strom gemeiner Schimpfwörter verwandelt - Schimpfwörter, die einem ein paar Minuten später peinlich sind.
»Bleib in Deckung …«, flüsterte der Hörer. Gedehnt, angestrengt, als wollte der unbekannte Anrufer etwas viel Beleidigenderes sagen, könne sich aber ebenfalls noch beherrschen. »Lebe … ruhig … halte still … bis …«
Den Hörer ans Ohr gepresst, stand Viktor am Fenster und spähte zwischen den Vorhängen hindurch nach draußen. In dem Spalt erblickte er Nacht, Dunkelheit, schwaches, dünnflüssiges Weiß von den Straßenlaternen der Nachbarstraße. Nein, der Mensch war nicht zum Menschen geworden, als er die Kerosinlampe und die Elektrizität erfand; die erste große Erfindung der Menschheit war die Dunkelheit gewesen - und zwar eine so undurchdringliche Dunkelheit, wie sie sich die Natur niemals hätte erträumen können.
»Scheusale«, sagte Viktor. »Mistkerle!«
Er wollte gerne etwas Schlimmeres, Stärkeres sagen. Aber in einer leeren dunklen Wohnung vor sich hin zu schimpfen war genauso lächerlich, wie es für einen Dichter sein musste, die neuesten Verse für sich allein zu deklamieren.
»Idioten«, fügte Viktor noch hinzu und warf den Hörer auf die Gabel.
Langsamer und vorsichtiger als zuvor tastete er sich zurück zum Sicherungskasten.
Er wollte nicht hetzen. Wozu auch? In einer alten Wohnung waren die Sicherungen rausgesprungen. Was war daran so Besonderes? Ein betrunkener Trottel hatte angerufen oder eine bekiffte Rotznase. So was kommt vor.
Aber warum so oft? Warum?
Das Große Unangenehme System. Mama würde wahrscheinlich sagen, dass jemand ihn mit dem bösen Blick verhext hatte. Doch mit solchen abergläubischen Kindereien wollte er nichts zu tun haben!
»Gleich sind wir so weit«, murmelte Viktor, um sich zu beruhigen, während er sich mit einer Hand abstützte und mit der anderen die Wand abtastete, wo er den Kasten vermutete. »Gleich wird das Knöpfchen wieder reingedrückt …«
Er spürte etwas Kaltes und fuhr mit den Fingern über die ungleichmäßige Stelle, um herauszufinden, was es war. Ein Gewinde … ein zweites.
Die Schraubkappe - war leer. Die Sicherung war nicht rausgesprungen, der ganze Sicherungseinsatz war ganz einfach verschwunden.
Im Gegensatz zu seinem Bewusstsein wunderten sich seine Hände nicht. Langsam glitten sie von dem Verteilerkasten weg hinüber zur Klinke und öffneten die Eingangstür.
Im Treppenhaus brannte Licht, als sei nichts passiert. Auf dem Boden, direkt an der Türschwelle, lag der Sicherungseinsatz. Also war er rausgefallen. Hatte sich rausgedreht. Zufällig. Von selbst. War das möglich?
Nein.
Viktor staunte über seine eigene Gelassenheit und hob das Teil auf. Sorgfältig schraubte er es hinein und drückte den Knopf. Gehorsam ging das Licht an, und aus dem Fernseher erklang etwas Modisch-Poppiges, etwas Russisches, Vertrautes.
Eine weitere Unannehmlichkeit. Nach dem geplatzten Rohr, dem verstopften Abfluss, der explodierten Bildröhre und einer Reihe ähnlicher Missgeschicke. Höchstens ein bisschen merkwürdiger.
Obwohl … in der Psychiatrie gibt es einen Fachausdruck für solche »unerklärlichen« Ereignisse, wenn ein Mensch hundertprozentig sicher ist, dass er etwas getan hat, was aber in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Na ja, vielleicht war er abgelenkt gewesen, als er den Knopf das letzte Mal reindrückte, gestern Abend. Aber dann hätte das Licht ja nicht gebrannt. Oder hatten sogar die Elektronen daran geglaubt, dass die Sicherung eingeschaltet war?
Er musste die Tür schließen.
Er schob sie zu … und kurz bevor sie zufiel, klammerten sich Finger ganz unten um das Sperrholz. Blutverschmierte kleine Finger mit langen Nägeln, die von einem leuchtend goldenen Lack festlich glänzten, unpassend, aber auch schön neben dem frischen Blut.
Er wusste, er müsste eigentlich erschrecken.
Ob ihn seine tiefsitzende professionelle Routine schützte oder der Funken Ärger von eben noch nicht verglüht war, jedenfalls verspürte er keine Angst. Ebenso langsam und vorsichtig, wie er Minuten zuvor die Finger aus der nackten, wartenden Schraubkappe gezogen hatte, zog er jetzt die Tür wieder auf, und als die blutige Hand abrutschte, drängte er sich vorsichtig durch den Spalt.
Sie lag auf der Fußmatte, die Knie gegen die Brust gepresst.
Ein Teenager. Ein Mädchen, höchstens dreizehn Jahre alt, vielleicht sogar noch jünger.
Ein Rotschopf. Die Haare ziemlich kurz und völlig zerzaust. Sie trug schwarze, enge Hosen und einen dunklen Pullover, der an der Seite aufgetrennt war.
Sie hat viel Blut verloren, war Viktors erster Gedanke. Ein feines, sehr weißes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Nicht totenähnlich, nicht kreidebleich, sondern weiß, richtig weiß.
Bevor er sich über das Mädchen beugte, warf Viktor einen Blick ins Treppenhaus. Es war niemand zu sehen und kein Laut zu hören. Als ob das ganze Haus schon vor langer Zeit ausgestorben und das blutende Mädchen praktisch aus dem Nichts vor seiner Tür gelandet wäre.
Das Mädchen stöhnte hörbar.
Viktor hob den federleichten Körper hoch und bemerkte dabei, dass sich nicht sehr viel Blut unter der Tür angesammelt hatte. Aber diese Gesichtsfarbe - woher rührte sie? Es gab auch keine Blutspuren, der Treppenabsatz war sauber, die Verletzte schien buchstäblich auf seine Türschwelle herabgefallen zu sein.
Wieder drängte er sich seitlich durch den Türspalt, zurück in die Wohnung, als ob er Angst hätte, die Tür weiter zu öffnen. Der Fernseher im Zimmer murmelte vor sich hin, immerzu irgendetwas Fröhliches, Beruhigendes.
»Tut es weh?«, fragte Viktor. Er rechnete nicht mit einer Antwort, aber er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, während er das Mädchen vom Flur ins Wohnzimmer trug und aufs Sofa legte, das - zum Teufel damit - von einem abgewetzten weißen Überzug bedeckt war und augenblicklich braune Flecken bekam. »Gleich …«
Als Erstes musste er einen Krankenwagen rufen. Er hegte keine Illusionen, was ein baldiges Eintreffen seiner Kollegen anging, umso wichtiger war es, den Notdienst so schnell wie möglich zu benachrichtigen.
Dann musste er das Mädchen verbinden. Und die Tür schließen!
»Das ist nicht nötig«, sagte das Mädchen unerwartet laut. »Ruf nicht an … Viktor.«
Er ließ sich nicht stören, wunderte sich nicht einmal, dass sie seinen Namen kannte. Er begriff instinktiv, dass heute so eine Nacht war, in der er sich über nichts zu wundern brauchte.
Viktor griff zum Telefon, hob den Hörer ab. Und ließ ihn fallen - aus der Sprechmuschel stieg stinkender schwarzer Rauch auf.
»Ruf nicht an!«, wiederholte das Mädchen.
Allmählich kamen sie zusammen - zur Stunde des Grauen Hundes, der trostlosesten Zeit der Nacht. Jener Stunde, in der alles im Voraus bestimmt ist, unabänderlich und bereits bekannt. Zu dieser Stunde versammelt man sich am besten im sicheren Kreis guter Freunde, entzündet ein wärmendes Feuer, sticht ein Fass Aetanne an, holt eine alte Klampfe hervor und singt etwas im Stil von »Ach, auf Stein, auf schwarzem Stein, wo du nicht spürst der Erde Wurzeln …«, und nach dem melancholischen singt man ein fröhliches Lied, rasend fröhlich, vielleicht sogar frivol, sofern sich keine Damen in der Runde befinden.
Aber das ließ sich nun nicht ändern. Es war die Stunde des Grauen Hundes - und Schatten glitten am äußersten Rand der Nacht dahin, die so dunkel war, dass der Blinde behänder als der Sehende wurde. Unter den Umhängen waren die Schwerter nicht zu sehen. Der Grund, weshalb sie sich hier versammelten, verlangte nach anderen Waffen - nicht nach denen, die man für rituelle Duelle mit Seinesgleichen verwendete. Vom Ausgang dieses Treffens hing viel ab. Selbst wenn nicht alle, die sich auf den Weg zu diesem Treffpunkt gemacht hatten, das Ausmaß der Gefahr kannten, so war es doch nicht nötig, irgendjemanden zur Eile zu drängen. Langsam traten die Bäume auseinander, der Wald lichtete sich, jener Wald, den die Holzfäller hundert Jahre zuvor so sorgfältig verstümmelt hatten.
Früher gab es hier Wege und Häuser. Aber die Zeit verschont nichts; die unerbittliche Zeit, der keiner zustimmen will. Inzwischen waren sogar die jungen Bäumchen, des Feuers liebste Nahrung, schon wieder ausgewachsen und hinfällig geworden. Inzwischen zerbröckelten sogar die Steine der Fundamente unter den Wurzeln der Gräser zu Staub …
Zur Stunde des Grauen Hundes war der Weg gefährlich; aber doch nicht so sehr wie zu anderen Zeiten der Nacht. Die Unbefriedbaren streiften umher; hoch in der Luft kreisten die Fliegenden; aus den dichten Wäldern blickten die habgierigen Augen jener, die ihre jahrhundertealte Angst nicht überwinden und aus dem Dickicht heraustreten konnten. Vor ihnen musste man sich in Acht nehmen, mehr aber nicht. Fürchten musste man andere: die ehemaligen Freunde und Verbündeten. Sie, die es einst gemeinsam von ihrer heimatlichen Küste hierher verschlug, waren einander nun die grimmigsten Feinde. Längst war jene Zeit vergessen, als sie nebeneinanderstanden, ohne die Hand an den Griff des Schwertes zu pressen. Vergessen und verflucht.
Wahrscheinlich für immer …
In der zerfurchten Erde, über die sich unzählige Male gepanzerte Armeen ergossen hatten, umgeben von einem ausgetrockneten, aufgeriebenen Wald, wo jeder Baum von Kugeln durchlöchert war, auf einem steilen Felsen, der sich über einem See erhob, stand eine Burg. Besser gesagt, das, was von ihr noch übrig war.
Ihre Wachtürme waren nicht von Kanonen und Rammböcken zerstört worden, denn die blieben weit entfernt im Gelände zurück, steckten fest im klebrigen Moos oder stürzten in versteckte Bodenfallen. Nein, ein alles vernichtender Zauber hatte das Werk vollbracht. Nur noch die Fundamente waren übrig geblieben, ein Haufen Steine, dick überzogen von grauem Grind - Magie hatte die Granitblöcke in Schutt und Asche zerlegt. Erdigel bedeckten die gewaltige Wunde, die Spaten dem Graben rund um die Ruine zugefügt hatten.
Man begrüßte einander schweigend - für derartige Treffen war noch keine Etikette erdacht worden. Der Thronsaal war schwerer als alle anderen Räumlichkeiten von der Verwüstung betroffen, denn zu jener Zeit tobte hier der letzte, verzweifelte Kampf zwischen den Verteidigern und den Angreifern. Bis heute bewahrten die Überreste der Mauern den Zauber, den ihre Erbauer in sie gewirkt hatten; er war das Einzige, was die Ruine vor dem Zusammenstürzen abhielt. Eine baufällige Wendeltreppe führte hinauf zum Saal, der wie ein Vogelnest im Baum in zwanzig Mann Höhe zwischen den Resten der Burgmauern hing.
Hier lohnte es sich nicht, mit Magie zu hantieren - vor allem nicht mit kriegerischer.
Deshalb hatten sie sich hier verabredet.
Diejenigen, die zuerst eintrafen, stellten sich an der am stärksten zerstörten Mauer auf, als ob sie damit einverstanden wären, dass ihre Silhouetten leichte Zielscheiben abgaben. Ein Zeichen des Vertrauens, des Friedens - aber wie oft hatte sich ein solches Zeichen schon als Falle, als Betäubung für die Wachsamkeit, als gemeines Kalkül entpuppt …
Trotzdem, es war ein Zeichen des Friedens.
»Wir haben viel zu bereden«, begann der groß gewachsene Mann, der in einen Umhang gehüllt war - der Anführer derer, die zuerst gekommen waren.
»In der Stunde des Grauen Hundes?« Eine Stimme voller Ironie erklang aus der Dunkelheit, wo die stämmigen Gestalten jener, die später eingetroffen waren, kaum auszumachen waren. Jeder wusste, dass man alles, was in dieser Stunde gesprochen wurde, nicht allzu ernst nehmen durfte.
»In der darauffolgenden Stunde gibt es für uns keine Wahrheit«, antwortete der Anführer gelassen. »Die Stunde des Erwachenden Wassers ist nicht unsere Stunde. Und erst recht nicht die eure. Daher dürfen wir keine Zeit verschwenden.«
»Wir hören dich an, Ritor«, willigte die unsichtbare Gestalt ein, scheinbar bereit, auf weiteres Wortgeplänkel zu verzichten. »Der Weg war weit. Wir sind doch nicht vergebens gekommen?«
Ritor ließ die Frage unbeantwortet. Er konnte sein Gegenüber nicht erkennen, und das beunruhigte ihn. Er wandte sich um und warf einen Blick auf seine Gefährten.
Vier an der Zahl, wie man es vereinbart hatte.
Die Brüder Klatt, die schwache Magier, aber ausgezeichnete Krieger waren. Auf ihnen lastete das ganze Gewicht ihrer Sicherheit zu dieser Stunde, wenn die Magie der Luft geschwächt war.
Auch Schatti war dabei, der noch junge, aber schon erfahrene Zauberer. Selbst zur Stunde des Grauen Hundes, der jede Magie verhasst ist, ging von ihm ein kaum spürbarer Hauch von Kraft aus.
Zu Ritors Rechten stand Taniel, sein Neffe. Der Junge hatte sich mit seinen gerade mal sechzehn Jahren bereits den Beinamen »Liebling des Windes« verdient. Für den Clan der Luft war er die Hoffnung der Zukunft.
Eine dunkle, unklare und gänzlich unbegründete Vorahnung überkam Ritor - obwohl es doch zu dieser Stunde, wenn alle Magie der Welt schläft, keine wirklichen Vorahnungen gibt. Er hätte den Jungen niemals mitnehmen dürfen! Auch wenn den Regeln nach einer, der noch kein Mann ist, bei den Gesprächen dabei sein sollte, um das Gesagte mit der ganzen Hitze der Jugend aufzunehmen - ganz gleich.
Er hätte ihn nicht mitnehmen sollen!
»Was willst du uns sagen, Ritor?«, beharrte der Anführer der anderen Gruppe.
Seltsam, als ob er nichts gegen Verzögerungen einzuwenden hätte …
Ritor kam mit einem Ruck zu sich.
Seine Vorahnung war unsinnig. Der Clan des Feuers war nicht ihr Feind. Und nun, an der Schwelle der Nacht, waren jene so schwach wie sie selbst - das würde alle von Verrat abhalten.
»Es naht Krieg«, sagte Ritor. Während er sprach, hatte er das Gefühl, sich in einen kalten Luftstrom zu werfen, einen Strom, der über Gebirgsgletschern entstanden war. Der Clan des Feuers war nicht der erste Clan, mit dem er das Gespräch suchte. Aber kaum jemand hatte seinen Worten bislang Glauben geschenkt.
Die Gestalten an der gegenüberliegenden Wand schwiegen. Die langen Umhänge waren in unheilvoller Bewegungslosigkeit erstarrt.
»Es naht Krieg«, wiederholte Ritor. »Und die Clans sind wie immer zerstritten.«
»Das wissen wir«, erklang im Flüsterton die Antwort. »Aber wir wissen auch, dass es niemals Eintracht, wahre Eintracht unter ihnen gab.«
»Nach dem letzten Krieg …«, begann Ritor.
»Diese Zeiten sind längst vorüber«, sagte der andere mit Härte. Ritor konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen. Weder mit der Sehkraft seiner Augen noch mit jenem magischen Blick, der in dieser Stunde kraftlos war. »Nach dem Krieg vielleicht, ja. Aber dann … Es wäre dumm, zu glauben, Ritor, dass sich die Clans ohne gemeinsamen Feind nicht gegenseitig bekämpfen würden. Seltsam, so etwas von dir zu hören, der du doch so weise bist.«
Ritor seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um zu verhindern, dass der Ärger sich entfalten konnte. Der Clan des Feuers war berühmt für seine Starrköpfigkeit. Was hatte er, Ritor, denn erwartet?
»Also gut«, sagte er. »Lassen wir die Eintracht. Lassen wir das vorerst. Ich will nur sagen, dass die Angeborenen nichts vergessen und nichts verziehen haben.«
»Kannst du deine Worte beweisen? Warum hast du dann auf ein geheimes Treffen beharrt? Warum hast du nicht die Große Versammlung angerufen?«
Ritor spürte einen kalten Hauch der Angst auf seiner Stirn. Der Clan des Feuers müsste ihn eigentlich verstehen … Obwohl er sich immer durch Unberechenbarkeit ausgezeichnet hatte, ebenso wie das unstete Element, das die Mitglieder des Clans mit Kraft versorgte.
»Weil die Große Versammlung unvermeidlich im großen Zank endet«, erwiderte Ritor verbittert. Warum musste er immerzu erklären, was ohnehin jeder wusste? »Was die Beweise angeht … Die Angeborenen erinnern sich an alles!« Ritor erschrak selbst über die Verzweiflung, die in seiner Stimme mitschwang. »Ich weiß es - alle Kinder der Luft wissen es! Der Südwind erzählt uns raunend von den Schiffen, die an der Bruchstelle warten, er trägt die Gerüche von geschmiedetem Stahl und von giftigen Gebräuen zu uns. Der Nordwind nimmt an Kraft zu, um die Flamme über unseren Städten anzufachen. Die Vögel fliegen früher als sonst nach Westen, die Aasgeier sind aus den Wüsten im Osten herangezogen - sie warten auf ihre Gelegenheit. Die Angeborenen stellen ihre Armee auf.«
»Aber doch nicht zum ersten Mal, Ritor. Sie haben es schon früher versucht. Einmal gleich nach dem großen Krieg und dann vor sieben Jahren. Was ist von ihren Armeen geblieben, Ritor? Erinnern sich deine Winde noch an die Todesschreie der Angeborenen?«
Die Stimme des Sprechers war frei von jedem Zweifel. Und frei von Angst. Im erwachenden Morgenlicht waren die Gestalten in ihren Umhängen von dunklem Orange zu finsteren, unbeugsamen Skulpturen erstarrt. Ritor empfand Hoffnungslosigkeit.
»Nach dem Krieg herrschte noch Eintracht«, flüsterte er. »Und vor sieben Jahren … Kann man bei zehn Schiffen von einer Armee sprechen? Das waren nur Kundschafter, eine Kraftprobe … Wir haben alle Beweise zusammengetragen, die wir finden konnten. Jetzt benötigen wir eure Hilfe, die Hilfe des Feuers. Die Winde sehen viel … aber nur das Feuer kann sagen, was genau sich in den Kesseln über ihm zusammenbraut.«
»Wir verstehen dich«, erklang es aus der Dunkelheit, »aber sag selbst, weiser Ritor, zweimal versuchten die Angeborenen, uns zu vernichten. Zweimal. Mit verschiedenen Kräften, verschiedenen Waffen. Zweimal sind wir mit ihnen fertiggeworden. Dennoch … wir verstehen deine Sorge. Aber hast nicht du selbst uns unseres Beschützers beraubt? Keiner behauptet, dass er der Inbegriff von Güte und Gerechtigkeit war, aber die Angeborenen erzitterten allein beim Klang seines Namens. Hast nicht du selbst dieses Geschlecht ausgerottet?«
Ritor senkte den Kopf. Der Anführer des Feuers sagte die Wahrheit. Die reine Wahrheit.
Mit einem kurzen Seitenblick bemerkte er, dass Taniels Augen sich geweitet hatten. Armer Junge … obgleich, warum arm? Der Krieg stand auf der Schwelle, es war an der Zeit, ein Mann zu werden.
»Du hast dieses Geschlecht ausgerottet«, fuhr der andere mit weicher Stimme fort. »War das eine weise Entscheidung, Ritor, was meinst du?«
Etwas an diesen Worten versetzte Ritor in Unruhe. Und wieder konnte er nicht bestimmen, was genau ihn wachsam machte. Der Clan des Feuers hatte immer als ihr Verbündeter gegolten … zumindest nicht als ihr Feind. Was schon viel wert war.
»Du hast nicht genügend Beweise sammeln können, um die Große Versammlung zu überzeugen, ist es nicht so, weiser Ritor? Und jetzt bittest du uns vom Clan des Feuers, das zu tun, was dein Clan nicht vermag? Du, der du den letzten aus dem Geschlecht vernichtetest, dessen Namen nie mehr auszusprechen du gelobtest. Und uns damit in Verdammnis stürztest.«
Die Vorwürfe trafen Ritor wie eine scharfe Wasserpeitsche. Er senkte den Kopf. Ja, Taniel, ja. Vor langer Zeit habe ich den größten Fluch unserer Welt überwunden. Und gleichzeitig - ihren größten Schutz. So ist es eigentlich immer, mein Junge.
Nichts auf der Welt darf zu viel Kraft besitzen.
»Wozu deine Worte?« Ritor schaute auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Wer weiß das schon?«, erklang es rätselhaft aus der Dunkelheit. »Wer weiß das schon, weiser Ritor … der du den Letzten aus dem verfluchten Geschlecht erschlugst? Also du glaubst, dass der Krieg nicht zu verhindern ist?«
»Ja«, sagte Ritor mit fester Stimme. Er hatte wieder Boden unter den Füßen - besser gesagt, er spürte einen neuen Luftstrom unter den Flügeln. »Der Krieg ist nah. Er ist unvermeidlich. Und wenn die Clans sich nicht verbünden, so wie damals …«
»Aber was hast du mit den verbündeten Clans vor?«, folgte eine giftige Frage. »Spätestens wenn die Angeborenen von Bord ihrer adlerköpfigen Schiffe gehen, verbünden wir uns ohnehin. Was hast du vor, weiser Ritor, warum willst du uns schon miteinander vereinigen, ehe der Krieg überhaupt angefangen hat? Du hast uns unserer besten Verteidigung beraubt, indem du jenen, dessen Namen du nicht aussprechen darfst, erschlugst. Du erschlugst ihn entgegen dem Willen vieler weiser Männer, und nun sollen wir alle uns dir unterordnen? Du verheimlichst uns etwas, Ritor. Die Zeit für offene Worte ist gekommen, falls du das noch nicht verstanden hast. Hör auf, dich hin und her zu winden wie ein Frühlingswind, und antworte ehrlich, wenn du auf uns zählen willst.«
Der Clan des Feuers war berühmt für seine Starrköpfigkeit. Es war nicht anders zu erwarten gewesen.
Ritor seufzte. »Die Winde bringen verschiedene Kunde. Wortfetzen von Beschwörungsformeln fliegen über den großen Ozean wie abgerissene Blätter. Die Angeborenen bereiten etwas vor … etwas Furchtbares, das aufzuhalten …«
»… nur der vermag, den du erschlagen hast?« Schneidend erklang die Stimme aus der Dunkelheit.
»Ja«, antwortete Ritor dumpf. »Ja, und deshalb …«
»Erneut begehrst du die Kraft aller Clans … Warum?«
Alles in Ritor zog sich zusammen. Heraus damit - die Zeit für offene Worte war gekommen! »Nach dem zu urteilen, was die Winde uns kundtun, wollen die Angeborenen einen Drachen erschaffen.«
Stille senkte sich über die Burgruine. Es schien, als ob die Steine durch den verfluchten Namen noch lebloser wurden. Jene Steine, die doch längst für alle Zeiten von der früheren Magie zerstört worden waren.
»Einen Drachen erschaffen?«, klang es aus der Dunkelheit. »Einen Drachen … erschaffen? Kann man das denn?«
»Wer weiß das schon …« Ritor ließ den Kopf sinken. »Wir haben auch nicht an ihre Schiffe geglaubt, erinnerst du dich? Und als sie dann auftauchten - war es schon fast zu spät. Erinnerst du dich noch daran, wie viel Blut über diese Gestade geflossen ist? Erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich.« Raschelnd wie schnell fließendes Wasser ertönte die Antwort. »Aber Schiffe - überlege selbst, weiser Ritor -, Schiffe sind noch vorstellbar, ein Drache jedoch ist etwas ganz anderes. Aber … was du sagst, überrascht uns nicht.«
»Wieso?«, fragte Ritor bestürzt.
»Keiner kennt die Grenzen jener Kräfte, die von den Angeborenen entfesselt wurden. Wir glauben nicht, dass man einen Drachen erschaffen kann … aber du hast Recht, wir haben auch nicht an ihre Schiffe geglaubt. Also, was sollen wir tun? Was schlägst du vor? Willst du deine Jugend wieder aufleben lassen, Ritor?« Die Stimme war voller Häme.
Endlich erklang die eigentliche Frage, die Frage, um derentwillen Ritor diese Zusammenkunft veranlasst hatte, ohne Rücksicht auf seine Kräfte.
»Die Zeit des Drachen ist gekommen«, sagte er.
Sein Gegenüber brach in ein leises, glucksendes Lachen aus. »Die Zeit jener, die nicht mehr sind? Was sagst du da, weiser Ritor?«
»Die Zeit des Drachen ist gekommen«, wiederholte Ritor. Wieder trat Stille ein. Er hörte, wie Schatti hinter seinem Rücken stöhnte. Auch den Zauberer beunruhigte etwas.
»Ich verstehe«, war endlich aus der Dunkelheit zu vernehmen. »Dich bewegen die Erinnerungen an die Tage des großen Krieges. Hoffnungen und Ängste - sie stammen aus deiner Jugend. Ritor … der du den letzten Drachen tötetest.«
Ritor presste die Zähne aufeinander, beherrschte sich. Der Clan des Feuers, der sich in den Tagen des Krieges abseits gehalten hatte, hatte alles Recht, ihm Vorwürfe zu machen. Und dennoch … »Wir werden einer Invasion der Angeborenen nicht standhalten, und erst recht nicht, wenn der Erschaffene Drache sie anführt.«
»Aber kehrt nicht zusammen mit dem Drachen auch der Drachentöter zurück?«
Seltsam, der Anführer des Feuers schien sich kein bisschen zu wundern. Aber das sollte er eigentlich. Wenn der letzte Drache vernichtet war, konnten nicht einmal die Angeborenen ein solches Wunder neu erschaffen.
»Warst du nicht so ein Drachentöter, Ritor? Hast du nicht die Prüfungen des Feuers, des Wassers, der Luft, der Erde und des Bluts bestanden? Haben nicht die Weisen aller Clans ihre Rituale über dir vollzogen? Wenn die Angeborenen vom Drachen angeführt werden … stellen wir ihm seinen Drachentöter entgegen.«
»Es gibt einen anderen Weg.«
»Nein, gibt es nicht«, erwiderte der Anführer des Feuers schroff. »Und was wäre auch schlecht an dem Weg, den ich vorgeschlagen habe?«
»Die Angeborenen könnten noch etwas anderes anzetteln«, sagte Ritor langsam. »Sie brauchen ihn nicht unbedingt - den Drachen. Denn was werden sie hinterher mit ihm anfangen … nach dem Sieg? Es ist nicht einfach, einen Drachen zu töten. Es ist viel einfacher, die Feindschaft zwischen den Clans anzufachen … damit der Funke der Zwietracht entbrennt … dann braucht es nicht viel, um uns zu besiegen. Wir vernichten uns selbst gegenseitig. Ist nicht der Clan des Wassers jetzt schon bereit, sowohl uns wie auch euch in Stücke zu zerfetzen? Ist nicht der Clan der Schneeleoparden tief verfeindet mit den Tigern? Versucht nicht eben jener Clan des Wassers, die letzten Angehörigen vom Geheimen Clan aufzuspüren - und keiner weiß, weshalb? Und stimmt es nicht, dass ihr keine Gelegenheit auslasst, um den Clan der Erde bis aufs Blut zu reizen?« Was er zuletzt gesagt hatte, klang zu scharf. Aber die Worte waren bereits ausgesprochen.
Sein Gegenüber schien jedoch nicht gekränkt.
»Lassen wir die Streitereien erst mal beiseite«, sagte er leichthin. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, Ritor, bist du der Meinung, dass wir den Drachen brauchen?«
»Ja …« Hinterm Horizont grollte Donner, oder kam es Ritor nur so vor? »Um die Armada zurückzuschlagen … Um den Erschaffenen Drachen zu besiegen.«
»Das heißt, der Drache kann also zurückkommen.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Wenn der Drache nicht kommt, geht unsere Welt unter.«
»Wie das?«
»Kriege …«
»Bisher haben wir alle Kriege aus eigener Kraft überstanden. Die Zeit der Drachen ist vorbei, Ritor.«
Was war mit dem Clan des Feuers los, jenen, die doch bis zuletzt zu den entthronten Herrschern der Welt gehalten hatten?
»Wir brauchen den Drachen«, sagte Ritor. »Und er … er wird kommen.«
Er war auf Häme gefasst, auf bittere Ironie, auf Vorwürfe. Schließlich wusste jeder, dass die Drachen für immer verschwunden waren.
Nicht zuletzt seinetwegen.
»Ich weiß«, sagte sein Gegenüber. »Du hast den letzten Drachen nicht getötet. Du hast ihn - oder sie? - verjagt, aber nicht getötet.«
Die Worte waren ausgesprochen. Ritor hörte, wie seine Gefährten hinter ihm anfingen sich zu bewegen. Nur der Magier hielt still. Vielleicht weil er im Gegensatz zu den Kriegern und Kindern wusste, dass die Wahrheit stets mehrere Gesichter hat.
»Ja«, sagte Ritor leise. »Ich konnte ihn nicht töten, denn …«
»Ich weiß, ich weiß«, ließ sich der andere vernehmen, weich und murmelnd klang seine Stimme. »Du musst es nicht erklären. Du hast ihn laufen lassen … und jetzt wacht der letzte Drache wieder auf. Aber wir brauchen ihn nicht!«
»Er ist der Einzige, der unsere Welt verteidigen kann …«
»Verteidigen werden wir uns selbst! Ritor, wir werden nicht zulassen, dass er zurückkehrt. Wenn der Drache erwacht - erwacht auch der, der ihn erschlägt. Dieser jemand warst du, so war es seinerzeit. Und so wird es auch jetzt sein. Und wieder wird es Krieg geben, viel schrecklicher als der Kampf mit den Angeborenen, mit dem du uns jetzt Angst machst. Hast du alles vergessen, weiser Ritor? Oder nicht? Und doch hast du trotz alledem den Drachen gerufen, nicht wahr?«
»Den Drachen kann man nicht rufen, er kommt von selbst.«
»Aber dafür kann man denjenigen rufen, der den Drachen aufhält. Und das haben wir getan.«
Ritor spürte, wie Schatti stöhnte. Irgendetwas um sie herum hatte sich verändert.
Der Raum erzitterte, als die Kraft allmählich in die Welt zurückkehrte. Die Stunde des Grauen Hundes war zu Ende, die Magie erwachte. Auch wenn die Magie der Luft noch schwach war, denn bis zur Stunde des Offenen Himmels dauerte es noch lange.
Ritor spürte, wie zarte Windströme um seine Finger strichen, er hörte, wie hinter ihm in den Ritzen der Mauern die Luft raunte. »Seltsam, so etwas von den Kindern des Feuers zu hören …«, flüsterte er.
»Hier ist nicht das Feuer!«, rief der Magier hinter ihm. »Ritor, hier ist nicht das Feuer!«
Ritor warf seine Arme hoch - streckte sie mit aller Kraft den verhüllten Gestalten entgegen.
Ein schwacher Windstoß ging durch den Saal. Er reichte gerade aus, um die Kapuzen, die tief über die Gesichter gezogen waren, nach hinten zu fegen. Mit Müh und Not gelang diese Kraftanstrengung.
Die Gesichter, in die sie nun blickten, waren bleich. Zu durchsichtig und zu rein für den Clan des Feuers.
»Verrat!«, schrie Ritor und fasste dabei, ohne nachzudenken, nach dem Griff des nicht vorhandenen Pallaschs.
Der, den er für den Anführer des Feuers gehalten hatte, lachte auf. »Warum? Sie haben euch nicht verraten, Ritor. Wir mussten sie lange überreden, damit sie uns den Treffpunkt nannten …«
Die Brüder Klatt traten gleichzeitig nach vorne - sie benötigten keine Absprache, um sich zu verständigen. Ihre Säbel und Pistolen waren im Wald zurückgeblieben, in hundert Schritt Entfernung von der Ruine, so sahen es die Regeln vor - ein Magier spürt leicht verborgene Waffen auf, auch zur Stunde des Grauen Hundes. Aber selbst die langen Messer in den Händen der Brüder konnten ihnen jetzt von Nutzen sein. Taniel versuchte ebenfalls, Ritor und dem Magier mit seinem Körper Deckung zu geben, aber Ritor stieß ihn mit dem Ellbogen zurück. Im Kampf war der Junge keine Hilfe.
»Wir gehen«, sagte Ritor. Es war eine Feststellung, keine Frage, und er bemühte sich, seiner Stimme eine Sicherheit zu verleihen, die er ganz und gar nicht empfand.
Zwischen dem Clan der Luft und dem des Wassers gab er keinen offenen Zwist. Gelegentlich hatten sogar freundschaftliche Verhältnisse geherrscht - so zu Zeiten des großen Krieges. Vielleicht würde man sie ziehen lassen.
»Nein«, sagte jener, der das Wasser anführte. »Ich fürchte, das tut ihr nicht, Ritor.«
Es war ihre Zeit. Der Moment ihrer unbegrenzten Kraft. Und sie hatten keine Angst, sie auszuüben.
Alle fünf hoben die Arme und warfen die Umhänge der ermordeten Feuerkinder von ihren Schultern. Erst jetzt konnte man sehen, dass der orangefarbene Stoff an manchen Stellen zerrissen war und bräunliche Flecken hatte. Unter der fremden Kleidung kam ihre eigene hervor: schimmernd blassblaue, eng anliegende Kamisole.
Es war die Stunde ihrer Kraft - und niemand auf der Welt vermochte es, die Magie des Wassers aufzuhalten.
Die Klatts warfen sich ohne zu zögern in den aussichtslosen Kampf. Ritor sah deutlicher, als ihm lieb war, wie der ältere der Brüder strauchelte, schwankte und sich an die Gurgel fasste. Sein beweglicher, schmaler Körper begann sich aufzublasen, im gleichen Augenblick riss krachend der Stoff seines Rocks und die silbernen Schließen sprangen klingend über die Steine. Im Handumdrehen war sein Körper plump und unbeweglich geworden und der Krieger stürzte zu Boden. Ein gellender Schrei erschütterte die Ohren.
Dann platzte der ältere Klatt. Mit einem widerwärtigen Geräusch riss seine Haut, unnormal helles, durchsichtiges Blut spritzte in alle Richtungen.
Blut wie Wasser.
Der Jüngere der Brüder lebte ein paar Sekunden länger. Jede Magie benötigt ein Gegengewicht - sein Körper platzte nicht, sondern trocknete aus. Der Mann schaffte es sogar noch zuzustechen, sein Messer glitt über die Brust eines der Feinde. Wohl ohne die übliche tödliche Kraft, doch immerhin stöhnte jener auf, strauchelte und brachte den Angriff durcheinander. Der vertrocknete, mumienartige Körper des jüngeren Klatt fiel vor den Kämpfern des Wassers zu Boden. Der Augenblick der Verwirrung dauerte nur kurz, und doch …
»Verschwinde, Ritor!«, schrie Schatti und trat nach vorne. Er war an der Reihe zu sterben, und der Magier wusste das.
Ritor blickte sich um. Sich an den Feinden vorbei zur Treppe durchzuschlagen war aussichtslos. Es blieb nur ein einziger Ausweg: Die eingestürzte Mauer hinter ihm, wo der Himmel leuchtete und die schwindelnde Höhe atmete.
Etwas mehr Kraft! Nur ein wenig mehr!
»Taniel!« Ritor zog seinen Neffen mit sich. Sah die Angst in dessen Augen. Zu seiner Stunde war der Junge schon zu vielem fähig, aber jetzt … »Taniel, sonst sterben wir!«
Wind erfasste sie am Rücken. Wahrscheinlich gab der Magier alle seine Kräfte in diesem letzten Kampf, der kurz und hoffnungslos war. Ein reißender Luftstrom schleuderte die Kinder des Wassers zur Treppe. Ganz wie Augenblicke zuvor Klatt der Ältere fasste sich nun ihr Anführer an die Gurgel. Schatti hatte den Hauptangriff gegen ihn gerichtet, er sog ihm die Luft aus den Lungen und drohte ihn zu ersticken. Wäre es nicht die Stunde des Erwachenden Wassers - der Magier wäre in der Lage gewesen, seinen Gegner auf diese Weise zu vernichten.
»Spring!«, rief Ritor dem Jungen zu. Jener atmete tief aus, den Blick seiner tödlich erschrockenen Augen fest auf Ritor geheftet, und tat einen Schritt ins Leere.
Hinter ihm pfiff eine Wasserpeitsche.
Im Sprung drehte Ritor sich um und sah, wie die elastische hellblaue Rute, umgeben von einer Aureole spritzender Wassertropfen, den Körper des Magiers von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte durchtrennte, dann erneut aufblitzte, hoch unter das Gewölbe des Saales schoss und als Nächstes auf ihn zustürzte. Nur weil der vom Magier beschworene Wind noch nicht abgeflaut war, verfehlte der Kämpfer vom Wasserclan Ritor um Haaresbreite. Die Wasserpeitsche, die sich aus der gegnerischen Hand dehnte, erzitterte, als sie sich den Weg in die fremde Sphäre suchte.
Aber Ritor fiel schon.
Luft schlug ihm ins Gesicht - zärtlich und verwirrt.
Es ist nicht deine Stunde, Ritor, was tust du, Ritor?
Er fiel aus zwanzig Mann Höhe. Unter ihm trudelte Taniels Körper. Jetzt kam der Junge zu sich - er breitete die Arme aus, lag in der Luft. Ein schwaches Leuchten umhüllte seine Gestalt, als er versuchte zu fliegen. Die glitzernden magischen Luftflügel blitzten hervor, versuchten sich aufzuspannen.
»Nein!«, rief Ritor. Aber der Wind trug seinen Schrei davon.
In der Stunde des Erwachenden Wassers vermochten nicht einmal die allerstärksten Magier der Luft zu fliegen. Aber Taniel glaubte zu fest an sich, an seine Kräfte, an das ihm eigene Element. Sein Alter kannte keine Kompromisse. Er glaubte so stark, dass Ritor für einen Moment das Gefühl hatte, der Junge würde es schaffen …
Die Aura, die Taniel umgab, flackerte hell auf - und verlosch. Die Luftflügel öffneten sich nicht.
Für Schmerz blieb keine Zeit. Auch Ritors Fall strebte dem Ende zu. Er schloss die Augen, spürte mit seinem ganzen Körper den Ozean aus Luft um sich herum, zog an den zarten Fäden der Kraft, die kreuz und quer im Raum verliefen. Er würde sich keine Flügel erschaffen können. Aber es gab noch einen anderen Weg …
Die Luft verdichtete sich unter ihm zu einem prallen Kissen, einer durchsichtigen Linse.
Ein Kinderspiel, eine der ersten Übungen in der Kunst der Magie. Wer hält sich länger auf der unsichtbaren Stütze, wer springt höher, schaukelt weiter auf dem federnden Luftpolster? Wie konnte Taniel diese einfache Formel nur vergessen? Oder hatte er sie nicht vergessen, sondern nur die ernste, erwachsene Fertigkeit des Fliegens vorgezogen?
Die Luftlinse zerplatzte beim Aufprall auf die Erde. Die vom Zauber zusammengehaltene Luft verflüchtigte sich erleichtert in alle Richtungen. Dennoch wurde Ritors Fall gebremst. Erst wurde er kurz in die Höhe gedrückt, schwankte auf der sich rasant auflösenden Stütze. Vom plötzlich auftretenden Druckgefälle verschlossen sich seine Ohren. Dann traf er auf Stein auf, jedoch ohne die vorherige tödliche Wucht.
Er rollte einen Abhang hinunter, bis er sich mit tauben Fingern an den Zweigen der Büsche festkrallen konnte, die am Rand des längst ausgetrockneten Burggrabens wuchsen. Von dieser Seite aus war die Burg nicht angegriffen worden, der Graben war nicht verstopft von Erdigeln, sondern hatte seine ursprüngliche Tiefe bewahrt, und spitze Pfähle ragten aus dem Boden.
Es war sehr still. Genauer gesagt - es schien, als ob rundum Stille herrschte. Nur das Blut in seinen Schläfen pfiff. Ritor stand auf, schluckte, öffnete den Mund, um zu gähnen. Der Druck auf den Ohren ließ nach.
Taniels lebloser Körper lag ganz in der Nähe. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass der Junge tot war. Er war auf einen Felsen geprallt, und in dem zertrümmerten, verbogenen Körper war kein Leben mehr.
Dennoch ging Ritor zu ihm. Wenn er seinen Neffen schon nicht retten konnte, so wollte er doch wenigstens dessen Körper mitnehmen …
Die Erde erzitterte unter seinen Füßen. Ein trübes Gewässer plätscherte und spritzte in kleinen Fontänen um seine Beine herum. Ritor legte den Kopf in den Nacken und sah, dass die Kinder des Wassers von oben durch das Loch in der Mauer auf ihn herabblickten.
Verflucht sollten sie sein!
Er lief los. Die Erde verwandelte sich mit jedem Schritt mehr zu einem nassen Brei, alles um ihn herum schwamm bereits. Aber er war schon weit, die Feinde konnten ihn unter dem schützenden Dach der Bäume nicht sehen.
So einfach war es auch wieder nicht, den Besten aus dem Clan der Luft niederzustrecken. Selbst zu einer für ihn so ungünstigen Stunde.
2
Viktor legte den rauchenden Hörer auf den Tisch. Alles ereignete sich wie in einem bösen Traum, in dem die normale Welt zusammenbricht, aber nicht auf einmal, sondern nach und nach und voller Hohn. Alles, was er anfasste, starb. Rohre platzten, Bildröhren explodierten, Telefone brannten … Wie um Himmels willen konnte so ein fast neues, im Ausland produziertes Gerät in Brand geraten?
Die Isolierung der Drähte, irgendein Pulver im Mikrofon? Aber was sollte da für ein Pulver sein, und das erbsengroße Mikrofon würde doch niemals einen so anhaltenden Brandgeruch verursachen!
Unvermindert trat beißender Rauch aus. Er musste an einen albernen Streich aus seinen Kindertagen denken. Mit seinem Kumpel hatte er die erstbeste Nummer aus dem Telefonbuch gewählt, und wenn sich jemand meldete, hatten sie mit energischer, erwachsener Stimme in den Hörer geschrien: »Feuer! In der Telefonzentrale ist Feuer ausgebrochen! Werfen Sie den Hörer sofort in einen Wassereimer!« Dabei hatten sie sich gar nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Dennoch, vielleicht …
Noch eine Sekunde, und ich fange an zu lachen. Fürchterlich, hysterisch zu lachen, während hinter mir ein Kind stirbt … Das war der richtige Gedanke gewesen. All die wirren Albernheiten in seinem Kopf verflüchtigten sich. Viktor ließ die armseligen Überreste des Hörers liegen und ging zu dem Mädchen - es war noch immer bei Bewusstsein, das war gut. Aber woher rührte diese Blässe?
Er beugte sich über die unerwartete Patientin und schob vorsichtig den blutigen Pullover hoch. Das Mädchen drehte sich ein wenig, um ihm dabei zu helfen. Tapfere Kleine.
Der Pulli ließ sich leicht hochziehen, das war gut, aber auch seltsam. Gut, weil es bedeutete, dass das Blut frisch war und die Kleidung noch nicht an der Wunde klebte - also musste auch die Verletzung frisch sein. Seltsam, denn eine frische Wunde müsste eigentlich noch weiter bluten.
»Wie sieht es aus?«, fragte das Mädchen. Ganz ruhig, ohne jenen melodramatischen Beiklang, wie man ihn oft bei erwachsenen Frauen hört, die sich in den Finger geschnitten haben.
»Ganz gut«, antwortete Viktor, erstaunlicherweise im gleichen gelassenen Tonfall.
Er war auf alles Mögliche gefasst. Eine klaffende Wunde, die von einem abgebrochenen Flaschenhals herrührte, oder sogar darauf, dass gar keine Kratzer auf der Haut zu sehen waren, denn womöglich tat die Kleine nur ihren Job und diente einer Bande minderjähriger Gauner als Türöffner.
Und er hatte noch immer nicht die Tür geschlossen!
Aber es gab eine Wunde. Ein dünner, fast chirurgisch anmutender Schnitt. Der nicht mehr blutete.
»Sie haben mich nur leicht erwischt«, sagte das Mädchen, als ob es seine Gedanken lesen könnte. »Beim Übergang. Es hat nicht wehgetan, aber das Blut lief in Strömen …«
»Beim Übergang - die Unterführung also, alles klar …«
Viktor blickte wie gebannt auf die Wunde. Das Mädchen hatte Glück gehabt. Offensichtlich hatten sie mit einer Rasierklinge zugeschlagen. Aber der Schnitt war nicht tief und die Haut nur oberflächlich verletzt. Das Mädchen schien eine gute Blutgerinnung zu haben. Und sie hatte nicht die Fassung verloren. Viktor mochte es überhaupt nicht, nachts durch die Unterführung zu gehen - und er war immerhin ein erwachsener und ziemlich kräftiger Mann. Ständig war die Beleuchtung kaputt, es stank ekelhaft, und in den finsteren Ecken raschelten die Obdachlosen, die sich für die Nacht einrichteten. Da war sie also überfallen worden. Schweine. Aber diese Kleine war ein tapferes Kerlchen. Hatte sich losgerissen und war in den nächsten Hauseingang gelaufen, und erst dort war sie zusammengeklappt, aber zum Glück nicht wegen Blutverlusts, wie er zuerst gedacht hatte.
»Alles wird wieder gut«, sagte er. »Ganz bestimmt. Es ist nur eine Schnittwunde, die nicht mal genäht werden muss. Ich desinfiziere sie nur.«
»Gut, Viktor.«
Sie blickte ihm prüfend und ernst in die Augen. Nicht wie ein Kind.
Und sie kannte seinen Namen.
»Woher kennst du mich?«, fragte Viktor scharf.
Das Mädchen schwieg.
Es sah ganz so aus, als würde diese Nacht keine einfachen Antworten für ihn bereithalten.
Viktor ging in den Flur. Eilig schloss er die Eingangstür ab. Er war etwas verwirrt, dennoch nahm er den Schlüssel für das zweite Schloss vom Nagel an der Wand und schloss - was er sonst nie tat - auch dieses ab.
Das hieß es also, sich zu verbarrikadieren! Eine klapprige Tür aus Sperrholz und zwei dürftige Standardschlösser. Mein Haus ist meine Festung …
Nachtschwarz zeigen sich die Wände und die Kuppeln perlmuttweiß, hat die Trauer hier ein Ende, unsrer Träume Festung sei’s.
Glatt-blau plätschert eine Welle, Sonnenhonig strömt herab, aus dem Wolkenland zur Stelle Kinder, die zum Flug begabt.
Was ist wirklich, was ein Traum, denk nicht nach, stell keine Fragen. Ein Gedanke in dir wohnt, deine Antwort gibt dir Recht.
Der beherrscht die Welt des Tages, jener ganz allein die Nacht, aber vom geheimen Feuer einer nur den Schlüssel hat.
Viktor riss sich von der Wand los. Seine Beine zitterten leicht, aber fürs Erste schien der Unsinn aus seinem Kopf verschwunden. Als spulte er ein automatisches Programm ab, öffnete er die Hausapotheke, die im Flur hing, und entnahm ihr eine Plastiktasche mit Mullbinden und Pflaster.
Wenn das so weiterging, müsste er bald selbst in Behandlung …
Das Mädchen lag immer noch auf dem Sofa und blickte ihm entgegen. Viktor versuchte sich auf die einfachen Handgriffe zu konzentrieren, er riss ein Stück Mull ab, befeuchtete es mit Wasserstoffperoxid und tupfte vorsichtig über die Schnittwunde. Das Wasserstoffperoxid zischte auf der Wunde und fraß sich in die angetrocknete Blutkruste. Das Mädchen runzelte die Stirn.
»Also, woher kennst du meinen Namen?«, wiederholte Viktor seine Frage, während er eine Packung mit Leukoplast aufriss. Es war immer gut, den Kranken während der Behandlung mit irgendwelchem Gerede abzulenken. Davon abgesehen wollte er es wirklich wissen.
»Ich kenne ihn eben«, ließ sie sich zu einer Antwort herab. Nur leider, ohne irgendetwas zu erklären.
Um die Wunde abzudecken, benötigte er nur drei Stück Pflaster. Nein, sie hatte wirklich Glück gehabt. Eine rein oberflächliche Schnittwunde, abgerutscht vermutlich. Aber woher kam das viele Blut?
»Sie haben mit einer Rasierklinge zugestochen, oder?«, fragte er.
»Nein, mit einem Säbel.«
Ihre Augen blickten ernst. Aber Viktor hatte gelernt, Augen nicht zu vertrauen.
»Ich weiß nicht, wie du heißt«, fing er an, Ärger stieg in ihm auf. »Ich weiß nicht einmal, wo du dich so prächtig aufgeschürft hast …«
»Tel.«
»Was?«
»So heiße ich - Tel.«
Plötzlich begriff Viktor.
Solche Mädchen und Jungen hatte er schon im Fernsehen gesehen.
Schlampig gekleidet waren sie, trugen die Haare mit Bändern zusammengefasst, und auf dem Rücken hatten sie Holz- oder Metallschwerter. Sie gaben sich genau solche klangvollen Namen und trafen sich irgendwo im Wald, um Rollenspiele zu veranstalten.
Die hübsche Journalistin hatte überschwänglich erklärt, dass dies eine neue Form des Zeitvertreibs unter Jugendlichen sei, bei der sie alternative Formen des Verhaltens erlernen und die Geschichte vergangener Zivilisationen erfahren könnten. Beim Anblick dieser Jugendlichen war Viktor ein wenig beklommen zumute gewesen. Erstens glaubte er an diese vergangenen Zivilisationen der Gnome und Elfen ebenso wenig wie an das Reich des unsterblichen Koschtschej oder die Hexe Babajaga.1 Zweitens hatte er das Gefühl, dass die Augen dieser jungen Leute, die ihre Jugend dem Studium der Elfensprache widmeten, allzu fanatisch leuchteten.
Wahrscheinlich spielte auch das Mädchen hier, diese Tel, solche Spiele. Streifte in der Gesellschaft ihrer Elfenkameradinnen umher, malte sich die Nägel mit goldfarbenem Lack an, übte Fechten mit rostigen Eisenstangen. Na, und jetzt hatte sie ein kleines Souvenir fürs Leben abbekommen.
Wunderbare Erklärung. Was Besseres hätte er sich nicht ausdenken können. Und zu dieser späten Stunde hatte er nicht die Absicht, einfache, verständliche Erklärungen in Zweifel zu ziehen.
Aber woher kannte sie seinen Namen?
Vielleicht hatte sie ihn im Krankenhaus gesehen. Gelegentlich hatte er in der Kinderabteilung Bereitschaftsdienst. Die Göre hatte sich sein Gesicht und den Namen gemerkt, und als sie nun zufällig in seiner Wohnung gelandet war,
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Hе ВРеМЯ ДЛЯ ДРаКОНОВ bei AST, Moskau.
Verlagsgruppe Random HouseDas für dieses Buch verwendeteFSC-zertifizierte Papier Munken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden
Copyright © 1999 by Sergej W. Lukianenko & Nick Perumov
Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Ralf Oliver Dürr Herstellung: Helga Schörnig
eISBN : 978-3-641-04004-8
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