Wachtmeister Studer - Friedrich C. Glauser - E-Book

Wachtmeister Studer E-Book

Friedrich C. Glauser

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Beschreibung

Nachdem Frau Witschi ihre Fragen abgeschossen hatte, verschnaufte sie ein wenig. Ihre Blicke ruhten mißbilligend auf Studers Begleiter. Was der da wolle, fragte sie, und diese letzte Frage war ganz besonders giftig; ihre Stimme überschlug sich. Schreier wurde rot. Studer fühlte sich unbehaglich, aber er ließ sich nichts anmerken. Und daß seine Zehen in den Schuhen kleine Tänze aufführten, das sah niemand. "Wir haben Sie gesucht, Frau Witschi", sagte Studer und seine Stimme wurde ganz tief, wahrscheinlich als Ausgleich gegen die allzu hohe der Frau. "Wir haben uns den Garten angesehen. Ein schöner Garten, wirklich ein wunderbarer Garten. Es fehlt ein wenig an der Pflege, aber natürlich, das ist begreiflich..." Glauser ist nach der Auffassung von Erhard Jöst "einer der wichtigsten Wegbereiter des modernen Kriminalromans". Seine Haupfigur steht in einer Tradition von Dürrenmatts Bärlach. Bei einer Umfrage im Jahr 1990 unter 37 Krimifachleuten nach dem "besten Kriminalroman aller Zeiten" landete Wachtmeister Studer als bester deutschsprachiger Krimi auf Platz 4. Null Papier Verlag

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Friedrich Glauser

Wachtmeister Studer

Ein Kriminalroman

Friedrich Glauser

Wachtmeister Studer

Ein Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Morgarten-Verlag AG, Zürich, 1935 3. Auflage, ISBN 978-3-954181-51-3

www.null-papier.de/studer

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ei­ner will nicht mehr mit­ma­chen

Der Fall Wen­de­lin Wit­schi zum ers­ten

Bil­lard und al­ko­ho­lis­mus chro­ni­cus

Fe­li­ci­tas Rose und Par­ker Duo­fold

Lä­den, Laut­spre­cher, Land­jä­ger

Noch ei­ner, der nicht mehr mit­ma­chen will

Zim­mer zu ver­mie­ten

In­te­rieur der Fa­mi­lie Wit­schi

Der Fall Wen­de­lin Wit­schi zum zwei­ten

Der Dau­men­ab­druck

The Con­vict Band

Wit­schis Schieß­stand

Ana­sta­sia Wit­schi, geb. Misch­ler

Schwomm

Lie­be vor Ge­richt

Der Fall Wit­schi zum drit­ten und vor­letz­ten Male

Der Au­to­dieb

Be­su­che

Mi­kro­sko­pie

Der Fall Wen­de­lin Wit­schi zum letz­ten Mal

Spritz­tour und Ende

Dan­ke

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Die Ro­ma­ne mit Wacht­meis­ter Stu­der bei Null Pa­pier

Wacht­meis­ter Stu­der

Mat­to re­giert

Die Fie­ber­kur­ve

Der Chi­ne­se

Krock & Co

An­de­re Kri­mi­nal­ro­ma­ne von Fried­rich C. Glau­ser

Der Tee der drei al­ten Da­men – Eine Kri­mi­nal­ge­schich­te

Autor

Fried­rich Charles Glau­ser (✳ 4. Fe­bru­ar 1896 in Wien; † 8. De­zem­ber 1938 in Ner­vi bei Ge­nua) war ein Schwei­zer Schrift­stel­ler. Er gilt als ei­ner der ers­ten deutsch­spra­chi­gen Kri­mi­au­to­ren.

Schrift­stel­ler zu sein, hieß für Fried­rich Glau­ser zu­nächst, Ge­dich­te zu schrei­ben. In der ly­ri­schen Form glaub­te er, sein in­ne­res Er­le­ben aus­drücken zu kön­nen. Vor­bil­der wa­ren für ihn Sté­pha­ne Mall­ar­mé und Ge­org Trakl; der Ton ent­spricht dem ex­pres­sio­nis­ti­schen Te­nor der Zeit am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges. Doch kei­ner die­ser Tex­te wur­de ge­druckt. Für die Samm­lung sei­ner Ge­dich­te, die Glau­ser 1920 zu­sam­men­stell­te, fand sich kein Ver­le­ger. Sei­ne Ge­dich­te wur­den da­her erst post­hum ver­öf­fent­licht.

In den letz­ten drei Le­bens­jah­ren schrieb Glau­ser fünf Kri­mi­nal­ro­ma­ne, in de­ren Mit­tel­punkt Wacht­meis­ter Stu­der steht, ein ei­gen­sin­ni­ger Kri­mi­nal­po­li­zist mit Ver­ständ­nis für die Ge­fal­le­nen der Ge­sell­schaft.

Der Kri­mi­nal­ro­man »Mat­to re­giert« spielt in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik und man merkt ihm ge­nau­so wie den an­de­ren Ro­ma­nen an, dass der Au­tor ei­ge­ne Er­leb­nis­se ver­ar­bei­tet hat. Mit ein­dring­li­chen Mi­lieu­stu­di­en und pa­cken­den Schil­de­run­gen der so­zi­al­po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ge­lingt es ihm, den Le­ser in sei­nen Bann zu schla­gen.

Glau­ser ist nach der Auf­fas­sung von Er­hard Jöst »ei­ner der wich­tigs­ten Weg­be­rei­ter des mo­der­nen Kri­mi­nal­ro­mans«. Sei­ne Ro­ma­ne und drei wei­te­re Bän­de mit Pro­sa­tex­ten wur­den zwi­schen 1936 und 1945 ver­öf­fent­licht.

Glau­sers Nach­lass be­fin­det sich im Schwei­ze­ri­schen Li­te­ra­tu­rar­chiv in Bern.

Bei ei­ner Umfrage im Jahr 1990 un­ter 37 Kri­mi­fach­leu­ten nach dem »bes­ten Kri­mi­nal­ro­man al­ler Zei­ten« lan­de­te Wacht­meis­ter Stu­der als bes­ter deutsch­spra­chi­ger Kri­mi auf Platz 4.

Einer will nicht mehr mitmachen

Der Ge­fan­ge­nen­wär­ter mit dem drei­fa­chen Kinn und der ro­ten Nase brumm­te et­was von »ewi­gem G’­stürm«, – weil ihn Stu­der vom Mit­ta­ges­sen weg­hol­te. Aber Stu­der war im­mer­hin ein Fahn­der­wacht­meis­ter von der Ber­ner Kan­tons­po­li­zei, und so konn­te man ihn nicht ohne wei­te­res zum Teu­fel ja­gen.

Der Wär­ter Liech­ti stand also auf, füll­te sein Was­ser­glas mit Rot­wein, leer­te es auf einen Zug, nahm einen Schlüs­sel­bund und kam mit zum Häft­ling Schlumpf, den der Wacht­meis­ter vor knapp ei­ner Stun­de ein­ge­lie­fert hat­te.

Gän­ge… Dunkle lan­ge Gän­ge… Die Mau­ern wa­ren dick. Das Schloss Thun schi­en für Ewig­kei­ten ge­baut. Über­all hock­te noch die Käl­te des Win­ters.

Es war schwer, sich vor­zu­stel­len, dass drau­ßen ein war­mer Mai­en­tag über dem See lag, dass in der Son­ne Leu­te spa­zie­ren gin­gen, un­be­schwert, dass an­de­re in Boo­ten auf dem Was­ser schau­kel­ten und sich die Haut braun bren­nen lie­ßen.

Die Zel­len­tü­re ging auf. Stu­der blieb einen Au­gen­blick auf der Schwel­le ste­hen. Zwei waag­rech­te, zwei senk­rech­te Ei­sen­stan­gen durch­kreuz­ten das Fens­ter, das hoch oben lag. Der Dach­first ei­nes Hau­ses war zu se­hen – mit al­ten, schwar­zen Zie­geln – und über ihm weh­te als blen­dend blau­es Tuch der Him­mel. Aber an der un­te­ren Ei­sen­stan­ge hing ei­ner! Der Le­der­gür­tel war fest ver­knüpft und bil­de­te einen Kno­ten. Dun­kel hob sich ein schie­fer Kör­per von der weiß­ge­kalk­ten Wand ab. Die Füße ruh­ten merk­wür­dig ver­dreht auf dem Bett. Und im Na­cken des Er­häng­ten glänz­te die Gür­tel­schnal­le, weil ein Son­nen­strahl sie von oben traf.

»Herr­gott!« sag­te Stu­der, schoss vor, sprang aufs Bett – und der Wär­ter Liech­ti wun­der­te sich über die Be­weg­lich­keit des äl­te­ren Man­nes – pack­te den Kör­per mit dem rech­ten Arm, wäh­rend die lin­ke Hand den Kno­ten auf­knüpf­te.

Stu­der fluch­te, weil er sich einen Na­gel ab­ge­bro­chen hat­te. Dann stieg er vom Bett und leg­te den leb­lo­sen Kör­per sanft nie­der.

»Wenn Ihr nicht so ver­dammt rück­stän­dig wä­ret«, sag­te Stu­der, »und we­nigs­tens Draht­git­ter vor den Fens­tern an­brin­gen wür­det, dann könn­ten sol­che Sa­chen nicht pas­sie­ren. – So! Aber jetzt spring, Liech­ti, und hol den Dok­tor!«

»Ja, ja!« sag­te der Wär­ter ängst­lich und hum­pel­te da­von.

Zu­erst mach­te der Fahn­der­wacht­meis­ter künst­li­che At­mung. Es war wie ein Re­flex. Et­was, das aus der Zeit stamm­te, da er einen Sa­ma­ri­ter­kurs mit­ge­macht hat­te. Und erst nach fünf Mi­nu­ten fiel es Stu­der ein, das Ohr auf die Brust des Lie­gen­den zu le­gen und zu lau­schen, ob das Herz noch schla­ge. Ja, es schlug noch. Lang­sam. Es klang wie das Ti­cken ei­ner Uhr, die man ver­ges­sen hat auf­zu­zie­hen; Stu­der pump­te wei­ter mit den Ar­men des Lie­gen­den. Un­ter dem Kinn durch, von ei­nem Ohr zum an­de­ren, lief ein ro­ter Strei­fen.

»Aber Schlumpf­li!« sag­te Stu­der lei­se. Er nahm sein Nas­tuch aus der Ta­sche, wisch­te sich zu­erst selbst die Stir­ne ab, dann fuhr er mit dem Tuch über das Ge­sicht des Bur­schen. Ein Bu­ben­ge­sicht: jung, zwei di­cke Fal­ten über der Na­sen­wur­zel. Trot­zig. Und sehr bleich.

Das war also der Schlumpf Er­win, den man heut mor­gen in ei­nem Kra­chen des Obe­raar­g­aus ver­haf­tet hat­te. Schlumpf Er­win, an­ge­klagt des Mor­des an Wit­schi Wen­de­lin, Kauf­mann und Rei­sen­der in Ger­zen­stein.

Zu­fall, dass man zur rech­ten Zeit ge­kom­men war! Vor ei­ner Stun­de etwa hat­te man den Schlumpf ord­nungs­ge­mäß im Ge­fäng­nis ein­ge­lie­fert, der Wär­ter mit dem drei­fa­chen Kinn hat­te un­ter­schrie­ben – man konn­te ge­trost den Zug nach Bern neh­men und die gan­ze Sa­che ver­ges­sen. Es war nicht die ers­te Ver­haf­tung, die man vor­ge­nom­men hat­te, es wür­de auch nicht die letz­te sein. Wa­rum hat­te man das Be­dürf­nis ver­spürt den Schlumpf Er­win noch ein­mal zu be­su­chen?

Zu­fall?

Vi­el­leicht… Was ist schon Zu­fall?… Es war nicht zu leug­nen, dass man dem Schick­sal des Schlumpf Er­win teil­nahms­voll ge­gen­über­stand. Rich­ti­ger ge­sagt, dass man den Schlumpf Er­win lieb­ge­won­nen hat­te… Wa­rum?… Stu­der in der Zel­le strich sich ein paar Male mit der fla­chen Hand über den Na­cken. Wa­rum? Weil man kei­nen Sohn ge­habt hat­te? Weil der Ver­haf­te­te auf der gan­zen Rei­se sei­ne Un­schuld be­teu­ert hat­te? Nein. Un­schul­dig sind sie alle. Aber die Be­teue­run­gen des Schlumpf Er­win hat­ten ehr­lich ge­klun­gen. Ob­wohl…

Ob­wohl der Fall ei­gent­lich ganz klar lag. Den Kauf­mann und Rei­sen­den Wen­de­lin Wit­schi hat­te man am Mitt­woch­mor­gen mit ei­nem Ein­schuss hin­ter dem rech­ten Ohr, auf dem Bau­che lie­gend, in ei­nem Wal­de in der Nähe von Ger­zen­stein auf­ge­fun­den. Die Ta­schen der Lei­che wa­ren leer… Die Frau des Er­mor­de­ten hat­te be­haup­tet, ihr Mann habe drei­hun­dert Fran­ken bei sich ge­tra­gen.

Und am Mitt­wo­cha­bend hat­te Schlumpf im Gast­hof zum ›Bä­ren‹ eine Hun­der­ter­no­te ge­wech­sel­t… Am Don­ners­tag­mor­gen woll­te ihn der Land­jä­ger ver­haf­ten, aber Schlumpf war ge­flo­hen.

So war es eben ge­kom­men, dass der Po­li­zei­haupt­mann am Don­ners­tag­abend den Wacht­meis­ter Stu­der in sei­nem Büro auf­ge­sucht hat­te:

»Stu­der, du musst an die fri­sche Luft. Mor­gen früh gehst du den Schlumpf Er­win ver­haf­ten. Es wird dir gut tun. Du wirst zu dick…«

Es stimm­te, lei­der… Ge­wiss, sonst schick­te man zu sol­chen Ver­haf­tun­gen Ge­frei­te. Es hat­te den Fahn­der­wacht­meis­ter ge­trof­fen… Auch Zu­fall?… Schick­sal?… Ge­nug, man war an den Schlumpf ge­ra­ten, und man hat­te ihn lieb­ge­won­nen. Eine Tat­sa­che! Mit Tat­sa­chen, auch wenn sie nur Ge­füh­le be­tref­fen, muss man sich ab­fin­den. Der Schlumpf! Si­cher­lich kein wert­vol­ler Mensch! Man kann­te ihn auf der Kan­tons­po­li­zei. Ein Une­he­li­cher. Die Be­hör­de hat­te sich fast stän­dig mit ihm be­schäf­ti­gen müs­sen. Si­cher wo­gen die Ak­ten auf der Ar­men­di­rek­ti­on min­des­tens an­dert­halb Kilo. Le­bens­lauf? Ver­ding­bub bei ei­nem Bau­ern. Dieb­stäh­le. – Vi­el­leicht hat er Hun­ger ge­habt? Wer kann das hin­ter­drein noch fest­stel­len? – Dann ging es, wie es in sol­chen Fäl­len im­mer geht. Er­zie­hungs­an­stalt Tes­sen­berg. Aus­bruch. Dieb­stahl. Wie­der ge­fasst. Ge­prü­gelt. End­lich ent­las­sen. Ein­bruch. Witz­wil. Ent­las­sen. Ein­bruch. Thor­berg drei Jah­re. Ent­las­sen. Und dann hat­te es Ruhe ge­ge­ben – zwei vol­le Jah­re. Der Schlumpf hat­te in der Baum­schu­le El­len­ber­ger in Ger­zen­stein ge­ar­bei­tet. Sech­zig Rap­pen Stun­den­lohn. Hat­te sich in ein Mäd­chen ver­liebt. Die bei­den woll­ten hei­ra­ten. Hei­ra­ten! Stu­der schnaub­te durch die Nase. So ein Bursch und hei­ra­ten! Und dann war der Mord an dem Wen­de­lin Wit­schi pas­sier­t…

Es war ja be­kannt, dass der alte El­len­ber­ger in sei­nen Baum­schu­len mit Vor­lie­be ent­las­se­ne Sträf­lin­ge an­stell­te. Nicht nur, weil sie bil­li­ge Ar­beits­kräf­te wa­ren, nein, der El­len­ber­ger schi­en sich in ih­rer Ge­sell­schaft wohl­zu­füh­len. Nun, je­der Mensch hat sei­nen Spar­ren, und es war nicht zu leug­nen, dass die Rück­fäl­li­gen sich ganz gut hiel­ten beim al­ten El­len­ber­ger… Und nur weil der Schlumpf am Mitt­wo­cha­bend eine Hun­der­ter­no­te im Bä­ren ge­wech­selt hat­te, soll­te er den Raub­mord be­gan­gen ha­ben?… Der Bur­sche hat­te das so er­klärt: es sei er­spar­tes Geld ge­we­sen, er habe es bei sich ge­tra­gen…

Cha­bis!… Er­spart!… Bei sech­zig Rap­pen Stun­den­lohn? Das mach­te im Mo­nat rund hun­dert­fünf­zig Fran­ken… Zim­mer­mie­te drei­ßig… Es­sen? – Zwei Fran­ken fünf­zig am Tag für einen Schwer­ar­bei­ter war we­nig ge­rech­net. Fün­fund­sieb­zig und drei­ßig macht hun­dert­fünf, Wä­sche fünf – Zi­ga­ret­ten, Wirt­schaft, Tanz, Haar­schnei­den, Bad – Blie­ben im bes­ten Fal­le fünf Fran­ken im Mo­nat. Und dann soll­te er in zwei Jah­ren drei­hun­dert Fran­ken er­spart ha­ben? Un­mög­lich! Das Geld bei sich ge­tra­gen ha­ben? Psy­cho­lo­gisch un­denk­bar. Sol­che Leu­te kön­nen kein Geld in der Ta­sche tra­gen, ohne es zu ver­put­zen… Auf der Bank? Vi­el­leicht. Aber nur so in der Brief­ta­sche?…

Und doch, der Schlumpf hat­te drei­hun­dert Fran­ken bei sich ge­habt. Nicht ganz. Zwei Hun­der­ter­no­ten und etwa acht­zig Fran­ken. Stu­der sah das Ein­lie­fe­rungs­pro­to­koll, das er un­ter­zeich­net hat­te:

»Por­te­mon­naie mit In­halt: 282 Fr. 25.«

Al­so… Es stimm­te al­les! So­gar der Flucht­ver­such im Bahn­hof Bern. Ein dum­mer Flucht­ver­such! Kin­disch! Und doch so be­greif­lich! Dies­mal lang­te es ja für le­bens­läng­lich…

Stu­der schüt­tel­te den Kopf. Und doch! Und doch! Et­was stimm­te nicht an der gan­zen Sa­che. Vo­rerst war es nur ein Ein­druck, ein ge­wis­ses un­an­ge­neh­mes Ge­fühl. Und der Fahn­der­wacht­meis­ter frös­tel­te. Die­se Zel­le war kalt. Kam denn der Dok­tor nicht bald?

Woll­te der Schlumpf ei­gent­lich gar nicht auf­wa­chen?… Ein tiefer Atem­zug hob die Brust des Lie­gen­den, die ver­dreh­ten Au­gen ka­men in die rich­ti­ge Stel­lung und Schlumpf sah den Wacht­meis­ter an. Stu­der fuhr zu­rück.

Ein un­an­ge­neh­mer Blick. Und jetzt öff­ne­te Schlumpf den Mund und schrie. Ein hei­se­rer Schrei – Schre­cken, Ab­wehr, Furcht, Ent­set­zen… Viel lag in dem Schrei. Er woll­te nicht en­den.

»Still! Willst still sein!« flüs­ter­te Stu­der. Er be­kam Herz­klop­fen. Schließ­lich tat er das ein­zig mög­li­che: er leg­te sei­ne Hand auf den lau­ten Mun­d…

»Wenn du still bist«, sag­te der Wacht­meis­ter, »dann bleib ich noch eine Wei­le bei dir, und du kannst eine Zi­ga­ret­te rau­chen, wenn der Dok­tor fort ist. Hä? Ich bin doch noch zur rech­ten Zeit ge­kom­men…« und ver­such­te ein Lä­cheln.

Aber das Lä­cheln wirk­te auf den Schlumpf durch­aus nicht an­ste­ckend. Zwar sein Blick wur­de sanf­ter, aber als Stu­der sei­ne Hand vom Mun­de fort­nahm, sag­te Schlumpf lei­se:

»Wa­rum habt Ihr mich nicht hän­gen las­sen, Wacht­meis­ter?«

Schwer auf die­se Fra­ge eine rich­ti­ge Ant­wort zu fin­den! Man war doch kein Pfar­rer…

Es war still in der Zel­le. Drau­ßen tschilp­ten Spat­zen. Im Hof un­ten sang ein klei­nes Mäd­chen mit dün­ner Stim­me:

»O du liebs En­ge­li, Ros­marins­ten­ge­li, Al­li­weil, al­li­weil, blib i dir treu…«

Da sag­te Stu­der und sei­ne Stim­me klang hei­ser:

»Eh, du hast mir doch er­zählt, dass du hei­ra­ten willst? Das Meit­schi… es wird doch zu dir hal­ten, oder? Und wenn du sagst, du bist un­schul­dig, so ist’s doch gar nicht si­cher, dass du ver­ur­teilt wirst. Und du kannst dir doch den­ken, dass ein Selbst­mord­ver­such die größ­te Dumm­heit ge­we­sen ist, die du hast ma­chen kön­nen. Das wird dir als Ge­ständ­nis aus­ge­leg­t…«

»Es war doch kein Ver­such. Ich hab wirk­lich…«

Aber Stu­der brauch­te nicht zu ant­wor­ten. Es ka­men Schrit­te den Gang ent­lang, der Wär­ter Liech­ti sag­te »Da drin ist er, Herr Dok­tor.«

»Scho wie­der z’wäg?« frag­te der Dok­tor und griff nach Schlumpfs Hand­ge­lenk. »Künst­li­che At­mung? Fein!«

Stu­der stand vom Bett auf und lehn­te sich ge­gen die Wand.

»Ja, also«, sag­te der Dok­tor. »Was ma­chen wir mit ihm? Selbst­ge­fähr­lich! Sui­ci­dal! Na ja, das kennt man. Wir wer­den eine psych­ia­tri­sche Ex­per­ti­se ver­lan­gen… Nicht wahr?«

»Herr Dok­tor, ich will nicht ins Ir­ren­haus«, sag­te Schlumpf laut und deut­lich, dann hus­te­te er.

»So? Und warum nicht? Naja, dann könn­te man… Ihr habt doch si­cher eine Zwei­er­zel­le, Liech­ti, in die man den Mann le­gen könn­te, da­mit er nicht so al­lein ist… Geht das? Fein…«

Dann, lei­se, so, wie man auf dem Thea­ter flüs­tert, je­des Wort ver­ständ­lich: »Was hat er an­ge­stellt?«

»Ger­zen­stei­ner Mord!« flüs­ter­te der Wär­ter eben­so deut­lich zu­rück.

»Ah, ah«, nick­te der Dok­tor be­küm­mert – so schi­en es we­nigs­tens. Schlumpf dreh­te den Kopf, sah hin­über zum Wacht­meis­ter. Stu­der lä­chel­te, Schlumpf lä­chel­te zu­rück. Sie ver­stan­den sich.

»Und wer ist die­ser Herr da?« frag­te der Arzt. Das Lä­cheln der bei­den brach­te ihn in Ver­le­gen­heit.

Stu­der trat so hef­tig vor, dass der Dok­tor einen Schritt zu­rück­wich. Der Wacht­meis­ter stand steif da. Sein blei­ches Ge­sicht mit der merk­wür­dig schma­len Nase pass­te nicht so recht zu dem ein we­nig ver­fet­te­ten Kör­per.

»Wacht­meis­ter Stu­der von der Kan­tons­po­li­zei!« Es klang auf­rüh­re­risch und bo­ckig.

»So, so! Freut mich, freut mich! Und Sie sind mit der Un­ter­su­chung des Fal­les be­traut?« Der blon­de Arzt ver­such­te sei­ne Si­cher­heit wie­der­zu­ge­win­nen.

»Ich hab ihn ver­haf­tet«, sag­te Stu­der kurz. »Üb­ri­gens, ich will gern noch eine Wei­le bei ihm blei­ben bis er sich be­ru­higt hat. Ich hab Zeit. Der nächs­te Zug nach Bern fährt erst um halb fün­f…«

»Fein!« sag­te der Arzt. »Wun­der­bar! Tut das nur, Wacht­meis­ter. Und heut abend legt Ihr mir den Mann in eine Zwei­er­zel­le. Ver­stan­den, Liech­ti?«

»Ja­wohl, Herr Dok­tor.«

»Le­bet wohl mit­ein­an­der«, sag­te der Arzt und setz­te den Hut auf. Liech­ti frag­te ob er schlie­ßen sol­le. Stu­der wink­te ab. Ge­gen Haft­psy­cho­sen wa­ren wohl of­fe­ne Tü­ren das wirk­sams­te Ge­gen­mit­tel.

Und die Schrit­te ver­hall­ten im Gang.

Um­ständ­lich setz­te Stu­der den Stroh­halm in Brand, den er aus der Bris­sa­go ge­zo­gen hat­te, hielt die Flam­me un­ter das Ende der­sel­ben, war­te­te bis der Rauch oben her­aus­quoll und steck­te sie dann in den Mund.

Dann zog er ein gel­bes Päck­li aus der Ta­sche, sag­te: »So, nimm eine!« Schlumpf sog den ers­ten Zug der Zi­ga­ret­te tief in die Lun­gen. Sei­ne Au­gen leuch­te­ten. Stu­der setz­te sich aufs Bett.

– Der Wacht­meis­ter sei ein Gu­ter, sag­te der Schlumpf.

Und Stu­der muss­te sich zu­sam­men­neh­men, um ein merk­wür­di­ges Ge­fühl im Hal­se zu un­ter­drücken. Um es zu ver­trei­ben, gähn­te er aus­gie­big.

»So, Schlumpf­li«, sag­te er dann. »Und jetzt. Wa­rum hast du Schluss ma­chen wol­len?«

– Das kön­ne man nicht so ohne wei­te­res sa­gen, mein­te der Schlumpf. Es sei ihm al­les ver­lei­det ge­we­sen. Und er ken­ne ja den Be­trieb. Wenn man ein­mal ver­haf­tet sei, dann käme man nicht mehr los. Vor­be­straft! – Und jetzt wer­de es für le­bens­läng­lich lan­gen… Und das Meit­schi, von dem der Wacht­meis­ter ge­spro­chen habe, das wer­de ja­wohl auch nicht war­ten wol­len. Es wäre schön dumm, wenn es das täte. – Wer denn das Meit­schi sei? – Es hei­ße Son­ja und sei die Toch­ter vom er­mor­de­ten Wit­schi. – Und ob die Son­ja glau­be, dass er den Mord be­gan­gen habe? – Das wis­se er nicht. Er sei ein­fach fort, da­mals, als er ge­hört habe, man be­schul­di­ge ihn. – Wie das denn zu­ge­gan­gen sei, dass man ge­ra­de auf ihn ver­fal­len sei? – Eh, we­gen der Hun­der­ter­no­te, die er im ›Leu­en‹ ge­wech­selt habe. – Im ›Leu­en‹? Nicht im ›Bä­ren‹? – Es kön­ne auch im ›Bä­ren‹ ge­we­sen sein. Na­tür­lich im ›Bä­ren‹! Der ›Leu­en‹ sei die für­neh­me Wirt­schaft, da hät­ten sie ein­mal bei ei­nem An­lass auf­ge­spiel­t…

»Bei wel­chem An­lass? Und wer hat auf­ge­spielt?«

»Bei ei­ner Hoch­zeit. Der Bu­cheg­ger hat Kla­ri­net­te ge­spielt, der Schrei­er Kla­vier und der Ber­tel Bass­gei­ge. Und ich Hand­har­fe…«

»Schrei­er? – Bu­cheg­ger? – Die – die kenn’ ich doch!« Stu­der run­zel­te die Stirn.

»Denk wohl!« sag­te der Schlumpf, und ein klei­nes Lä­cheln ent­stand in sei­nen Mund­win­keln. »Der Bu­cheg­ger hat oft von Euch er­zählt und der Schrei­er auch. Ihr habt ihn vor drei Jah­ren ge­schnapp­t…«

Stu­der lach­te. So, so! Alte Be­kann­te! – Und die hät­ten sich also zu ei­ner Länd­ler­ka­pel­le zu­sam­men­ge­tan? »Länd­ler­ka­pel­le?« Schlumpf tat be­lei­digt. »Nein! Ein rich­ti­ger Jazz­band. Der El­len­ber­ger, un­ser Meis­ter, hat uns so­gar einen eng­li­schen Na­men ge­ge­ben: ›The Con­vict Ban­d‹! Das soll hei­ßen: Die Sträf­lings­mu­si­k…«

Der Bur­sche Schlumpf schi­en ganz zu­frie­den zu sein, von ne­ben­säch­li­chen Din­gen zu spre­chen. Aber wenn man vom Mord an­fing, ver­such­te er ab­zu­bie­gen.

Stu­der war ein­ver­stan­den. Der Schlumpf soll­te nur ab­schwei­fen, wenn er Freu­de dar­an hat­te. Nicht drän­gen! Es kommt al­les von selbst, wenn man ge­nü­gend Ge­duld hat…

»Dann habt Ihr auch in den um­lie­gen­den Dör­fern ge­spielt?«

»So­wie­so!«

»Und or­dent­lich Geld ver­dient?«

»Zünf­tig…« Zö­gern. Schwei­gen.

»Also, Schlumpf­li, ich will dir ja glau­ben, dass du den Wit­schi nicht um­ge­bracht hast – um ihm die Brief­ta­sche zu rau­ben. Drei­hun­dert Fran­ken hast du er­spart ge­habt?«

»Ja, drei­hun­dert Er­spar­tes…« Schlumpf blick­te zum Fens­ter auf, seufz­te, viel­leicht weil der Him­mel so blau war.

»Du hast also die Toch­ter vom Er­mor­de­ten hei­ra­ten wol­len? Son­ja hieß sie? Und die El­tern, die wa­ren ein­ver­stan­den?«

»Der Va­ter schon; der alte Wit­schi hat ge­sagt, ihm sei es gleich. Er war oft beim El­len­ber­ger zu Be­such und dort hat er mit mir ge­spro­chen, der Er­mor­de­te, wie Ihr sag­t… Er hat ge­meint, ich sei ein or­dent­li­cher Bursch, und wenn ich auch ein Vor­be­straf­ter sei, man sol­le nicht zu Ge­richt sit­zen, und wenn ich ein­mal die Son­ja zur Frau hät­te, dann wür­de ich kei­ne Dumm­hei­ten mehr ma­chen. Die Son­ja sei ein or­dent­li­ches Meit­schi… Und dann hat mir mein Meis­ter die Ober­gärt­ner­stel­le ver­spro­chen, weil doch der Cot­te­reau schon alt ist und ich tüch­tig bin…«

»Cot­te­reau? Hat der die Lei­che ge­fun­den?«

»Ja. Er geht je­den Mor­gen spa­zie­ren. Der Meis­ter lässt ihn ma­chen, was er will. Der Cot­te­reau stammt aus dem Jura, aber man merkt ihm das Wel­sche nicht mehr an. Am Mitt­woch­mor­gen ist er in die Baum­schu­le ge­lau­fen ge­kom­men und hat er­zählt, im Wal­de lie­ge der Wit­schi, er­schos­sen… Dann hat ihn der Meis­ter gleich auf den Land­jä­ger­pos­ten ge­schickt, um die Mel­dung zu ma­chen.«

»Und was hast du ge­macht, nach­dem du vom Cot­te­reau die Neu­ig­keit er­fah­ren hast?«

Ach, mein­te der Schlumpf, sie hät­ten alle Angst ge­habt, weil der Ver­dacht auf sie fal­len müs­se, als Vor­be­straf­te. Aber den gan­zen Tag sei es ru­hig ge­we­sen, nie­mand sei in die Baum­schu­le ge­kom­men. Nur der Cot­te­reau habe sich nicht be­ru­hi­gen kön­nen, bis ihn der Meis­ter an­ge­schnauzt habe, er sol­le mit dem G’­stürm auf­hö­ren…

»Und am Mitt­wo­cha­bend hast du die hun­dert Fran­ken im ›Bä­ren‹ ge­wech­selt?«

»Am Mitt­wo­cha­bend, ja…«

Stil­le. Stu­der hat­te das Päck­chen Pa­ri­si­en­nes ne­ben sich lie­gen las­sen. Ohne zu fra­gen nahm Schlumpf eine Zi­ga­ret­te, der Wacht­meis­ter gab ihm die Schach­tel Zünd­höl­zer und sag­te:

»Ver­steck bei­des. Aber lass dich nicht er­wi­schen!«

Schlumpf lä­chel­te dank­bar.

»Wann habt Ihr Fei­er­abend in der Baum­schu­le?«

»Um sechs. Wir ha­ben den Zehn­stun­den­tag.« Dann füg­te Schlumpf eif­rig hin­zu: »Über­haupt, in der Gärt­ne­rei kenn ich mich aus. Der Vor­ar­bei­ter auf dem Tes­sen­berg hat im­mer ge­sagt, ich kann et­was. Und ich schaff’ gern…«

»Das ist mir gleich!« Stu­der sprach ab­sicht­lich streng. »Nach dem Fei­er­abend bist du ins Dorf, in dein Zim­mer. Wo hast du ge­wohnt?«

»Bei Hof­manns, in der Bahn­hof­stra­ße. Ihr fin­det das Haus leicht. Die Frau Hof­mann war eine Gu­te… Sie ha­ben eine Kor­be­rei.«

»Das in­ter­es­siert mich nicht! Du bist in dein Zim­mer, hast dich ge­wa­schen. Dann bist du zum Nachtes­sen ge­gan­gen? Oder?«

»Ja.«

»Also: sechs Uhr Fei­er­abend.« Stu­der zog ein No­tiz­heft aus der Ta­sche und be­gann nach­zu­schrei­ben. »Sechs Uhr Fei­er­abend, halb sie­ben – vier­tel vor sie­ben Nachtes­sen…« Auf­bli­ckend: »Hast du schnell ge­ges­sen? Lang­sam? Hast du Hun­ger ge­habt?«

»Nicht viel Hun­ger…«

»Dann hast du schnell ge­ges­sen und warst um sie­ben fer­tig…«

Stu­der schi­en in sein No­tiz­buch zu star­ren, aber sei­ne Au­gen wa­ren be­weg­lich. Er sah die Ver­än­de­rung in den Ge­sichts­zü­gen des Schlumpf und un­ter­brach die Span­nung, in­dem er harm­los frag­te:

»Wie viel hast du für das Nachtes­sen be­zahlt?«

»Eins fünf­zig. Zu Mit­tag hab ich im­mer beim El­len­ber­ger eine Sup­pe ge­ges­sen und Brot und Käs mit­ge­bracht. Der El­len­ber­ger hat nur fünf­zig Rap­pen für den Tel­ler Sup­pe ver­langt, und z’Im­mis hat er um­sonst ge­ge­ben, denn der El­len­ber­ger war im­mer an­stän­dig mit uns, wir ha­ben ihn gern ge­habt, er hat so koh­lig da­her­ge­re­det, er sieht aus, wie ein ur­al­ter Mann, hat kei­ne Zäh­ne mehr, aber…« dies al­les in ei­nem Atem­zug, als ob der Re­den­de vor ei­ner Un­ter­bre­chung Angst hät­te. Doch Stu­der woll­te dies­mal auf das Ge­schwätz nicht ein­ge­hen.

»Was hast du am Mitt­wo­cha­bend zwi­schen sie­ben und acht Uhr ge­macht?« frag­te er streng. Er hielt den Blei­stift zwi­schen den ma­ge­ren Fin­gern und blick­te nicht auf.

»Zwi­schen sechs und sie­ben?« Schlumpf at­me­te schwer.

»Nein, zwi­schen sie­ben und acht. Um sie­ben warst du mit dem Nachtes­sen fer­tig, um acht hast du im ›Bä­ren‹ eine Hun­der­ter­no­te ge­wech­selt. Wer hat dir die drei­hun­dert Fran­ken ge­ge­ben?«

Und Stu­der blick­te den Bur­schen fest an. Schlumpf dreh­te den Kopf zur Sei­te, plötz­lich warf er sich her­um, drück­te die Au­gen in die Ell­bo­gen­beu­ge. Sein Kör­per zit­ter­te.

Stu­der war­te­te. Er war nicht un­zu­frie­den. Mit klei­nen Buch­sta­ben schrieb er in sein No­tiz­buch: ›Son­ja Wit­schi‹ und mal­te hin­ter die Wor­te ein großes Fra­ge­zei­chen. Dann wur­de sei­ne Stim­me weich, als er sag­te:

»Schlumpf­li, wir wer­den die Sa­che schon ein­ren­ken. Ich hab’ dich ex­tra nicht ge­fragt, was du am Diens­tag­abend, also am Abend vor dem Mord, ge­tan hast. Da hät­test du mich doch nur an­ge­lo­gen. Und dann steht es si­cher in den Ak­ten, und ich kann auch dei­ne Wir­tin fra­gen… Aber sag mir noch: Was ist die Son­ja für ein Meit­schi? Ist sie das ein­zi­ge Kind?«

Schlumpfs Kopf fuhr in die Höhe.

»Ein Bru­der ist noch da. Der Ar­min!«

»Und den Ar­min magst du nicht?«

Dem habe er ein­mal zünf­tig auf den Gring ge­ge­ben, sag­te Schlumpf und zeig­te die Zäh­ne wie ein knur­ren­der Hund.

»Der Ar­min hat dir die Schwes­ter nicht gön­nen mö­gen?«

»Ja; und mit dem Va­ter hat er auch im­mer Krach ge­habt. Der Wit­schi hat sich oft ge­nug über ihn be­klag­t…«

»So­so… Und die Mut­ter?«

»Die Alte hat im­mer Ro­ma­ne ge­le­sen…« (›die Al­te‹, sag­te der Bur­sche re­spekt­los). »Sie ist mit dem Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher ver­wandt und der hat ihr den Bahn­hof­ki­osk in Ger­zen­stein ver­schafft. Dort ist sie im­mer ge­hockt und hat ge­le­sen, wäh­rend der Va­ter hau­siert hat… Nicht ge­ra­de hau­siert. Er ist mit ei­nem Zehn­der­li her­um­ge­fah­ren, als Rei­sen­der für Bo­den­wich­se, Kaf­fee… Und das Zehn­der­li hat man ja auch ge­fun­den, ganz in der Nähe, es stand an der Stra­ße…«

»Und wo ist der alte Wit­schi ge­le­gen?«

»Hun­dert Me­ter da­von, im Wald, hat der Cot­te­reau er­zähl­t…«

Stu­der zeich­ne­te Männ­lein in sein No­tiz­buch. Er war plötz­lich weit weg. Er war in dem Kra­chen im Obe­raar­gau, wo er den Bur­schen ver­haf­tet hat­te. Die Mut­ter hat­te ihm auf­ge­macht. Eine merk­wür­di­ge Frau, die­se Mut­ter des Schlumpf! Sie war gar nicht er­staunt ge­we­sen. Sie hat­te nur ge­fragt: »Aber er darf noch z’Mor­gen es­sen?«.

Ein klei­nes Mäd­chen in Ger­zen­stein, eine alte Mut­ter im Obe­raar­gau… und zwi­schen bei­den der Bur­sche Schlumpf, an­ge­klagt des Mor­des…

Es kam ganz dar­auf an, was für ein Un­ter­su­chungs­rich­ter den Fall über­neh­men wür­de… Man müss­te mit dem Mann re­den kön­nen. Vi­el­leicht…

Schrit­te ka­men nä­her. Der Wär­ter Liech­ti er­schi­en in der Tür und sein ro­tes Ge­sicht glänz­te bos­haft.

»Wacht­meis­ter, der Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter will Euch spre­chen.«

Und Liech­ti grins­te un­ver­schämt. Es war nicht schwer zu er­ra­ten, was das Grin­sen zu be­deu­ten hat­te. Ein Fahn­der hat­te sei­ne Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten und wur­de ein­ge­la­den, den fäl­li­gen Rüf­fel in Empfang zu neh­men…

»Leb wohl, Schlumpf­li!« sag­te Stu­der. »Mach kei­ne Dumm­hei­ten mehr. Soll ich die Son­ja grü­ßen, wenn ich sie seh’? Ja? Also; ich komm dich dann viel­leicht ein­mal be­su­chen. Leb wohl!«

Und wäh­rend Stu­der durch die lan­gen Gän­ge des Schlos­ses schritt, konn­te er den Blick nicht los wer­den und den Blick nicht deu­ten, mit dem ihm Schlumpf nach­ge­blickt hat­te. Er­stau­nen lag dar­in, ja­wohl, aber hock­te nicht auch eine trost­lo­se Verzweif­lung auf dem Grun­de?

Der Fall Wendelin Witschi zum ersten

Ihr sei­d…« (Räus­pern.) »Ihr seid der Wacht­meis­ter Stu­der?«

»Ja.«

»Nehmt Platz.«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war klein, ma­ger, gelb. Sein Rock war über den Ach­seln ge­pols­tert und von li­la­brau­ner Far­be. Zu ei­nem wei­ßen, sei­de­nen Hemd trug er eine korn­blu­men­blaue Kra­wat­te. In den di­cken Sie­gel­ring war ein Wap­pen ein­gra­viert – der Ring schi­en üb­ri­gens alt.

»Wacht­meis­ter Stu­der, ich möch­te Euch sehr höf­lich fra­gen, was Ihr Euch ei­gent­lich vor­stellt. Wir kommt Ihr dazu, Euch ei­gen­mäch­tig – ich wie­der­ho­le: ei­gen­mäch­tig! in einen Fall ein­zu­mi­schen, der…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter stock­te und wuss­te selbst nicht wes­halb. Da saß vor ihm ein ein­fa­cher Fahn­der, ein äl­te­rer Mann, an dem nichts Auf­fäl­li­ges war: Hemd mit wei­chem Kra­gen, grau­er An­zug, der ein we­nig aus der Form ge­ra­ten war, weil der Kör­per, der dar­in steck­te, dick war. Der Mann hat­te ein blei­ches, ma­ge­res Ge­sicht, der Schnurr­bart be­deck­te den Mund, so­dass man nicht recht wuss­te, lä­chel­te der Mann oder war er ernst. Die­ser Fahn­der also hock­te auf sei­nem Stuhl, die Schen­kel ge­spreizt, die Un­ter­ar­me auf den Schen­keln und die Hän­de ge­fal­tet… Der Un­ter­su­chungs­rich­ter wuss­te selbst nicht, warum er plötz­lich vom ›Ihr‹ zum ›Sie‹ über­ging.

»Sie müs­sen be­grei­fen, Wacht­meis­ter, es scheint mir, als hät­ten Sie Ihre Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten…« Stu­der nick­te und nick­te: na­tür­lich, die Kom­pe­ten­zen!… »Was hat­ten Sie für einen Grund, den Ein­ge­lie­fer­ten, den ord­nungs­mä­ßig ein­ge­lie­fer­ten Schlumpf Er­win noch ein­mal zu be­su­chen? Ich will ja ger­ne zu­ge­ben, dass Ihr Be­such höchst op­por­tun ge­we­sen ist – das will aber noch nicht sa­gen, dass er sich mit dem Kom­pe­tenz­be­reich der Fahn­dungs­po­li­zei ge­deckt hat. Denn, Herr Wacht­meis­ter, Sie sind schon lan­ge ge­nug im Diens­te, um zu wis­sen, dass ein frucht­ba­res Zu­sam­men­ar­bei­ten der di­ver­sen In­stan­zen nur dann mög­lich ist, wenn jede dar­auf sieht, dass sie sich streng in den Gren­zen ih­res Kom­pe­tenz­be­rei­ches häl­t…«

Nicht ein­mal, nein, drei­mal das Wort Kom­pe­tenz… Stu­der war im Bild. Das trifft sich güns­tig, dach­te er, das sind die Bö­ses­ten nicht, die im­mer mit der Kom­pe­tenz auf­rücken. Man muss nur freund­lich zu ih­nen sein und sie recht ernst neh­men, dann fres­sen sie ei­nem aus der Han­d…

»Na­tür­lich, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter«, sag­te Stu­der und sei­ne Stim­me drück­te Sanft­mut und Re­spekt aus, »ich bin mir be­wusst, dass ich wahr- und wahr­haf­tig mei­ne Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten habe. Sie stell­ten ganz rich­tig fest, dass ich es bei der Ein­lie­fe­rung des Häft­lings Schlumpf Er­win hät­te be­wen­den las­sen sol­len. Und dann – ja, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, der Mensch ist schwach – dann dach­te ich, dass der Fall viel­leicht doch nicht so klar lie­ge, wie ich es an­fangs an­ge­nom­men hat­te. Es könn­te mög­lich sein, dach­te ich, dass eine wei­te­re Un­ter­su­chung des Fal­les sich als nö­tig er­wei­sen wür­de und dass ich viel­leicht mit de­ren Ver­fol­gung be­traut wer­den könn­te, und da woll­te ich im Bil­de sein…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war sicht­lich schon ver­söhnt.

»Aber, Wacht­meis­ter«, sag­te er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließ­lich, wenn die­ser Schlumpf sich auch er­hängt hät­te, das Mal­heur wäre nicht groß ge­we­sen – ich wäre eine un­an­ge­neh­me Sa­che los ge­wor­den und der Staat hät­te kei­ne Ge­richts­kos­ten zu tra­gen brau­chen…«

»Ge­wiss, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter. Aber wäre mit dem Tode des Schlumpf wirk­lich der gan­ze Fall er­le­digt ge­we­sen? Denn dass der Schlumpf un­schul­dig ist, wer­den auch Sie bald her­aus­fin­den.«

Ei­gent­lich war eine der­ar­ti­ge Be­haup­tung eine Frech­heit. Aber so ehr­er­bie­tig war Stu­ders Stim­me, so zwin­gend heisch­te sie Be­ja­hung, dass dem Herrn mit dem wap­pen­ge­schmück­ten Sie­gel­ring nichts an­de­res üb­rig blieb, als zu­stim­mend zu ni­cken.

Mit brau­nem Holz wa­ren die Wän­de des Rau­mes ge­tä­felt, und da die Lä­den vor den Fens­tern ge­schlos­sen wa­ren, schim­mer­te die Luft wie dunkles Gold.

»Die Ak­ten des Fal­les«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter ein we­nig un­si­cher. »Die Ak­ten des Fal­les… Ich habe noch nicht recht Zeit ge­habt, mich mit ih­nen zu be­schäf­ti­gen… War­ten Sie…«

Rechts von ihm wa­ren fünf Ak­ten­bün­del über­ein­an­der ge­schich­tet. Das un­ters­te, das dünns­te, war das rich­ti­ge. Auf dem blau­en Kar­ton­de­ckel stand:

SCHLUMPF ERWIN MORD

»Lei­der«, sag­te Stu­der und mach­te ein un­schul­di­ges Ge­sicht. »Lei­der hat man in letz­ter Zeit ziem­lich viel von man­gel­haft ge­führ­ten Un­ter­su­chun­gen ge­hört. Und da wäre es viel­leicht bes­ser, wenn man sich auch bei ei­nem so kla­ren Fall mit den not­wen­di­gen Kau­te­len um­ge­ben wür­de…«

In­ner­lich grins­te er: Kommst du mir mit Kom­pe­tenz, komm ich dir mit Kau­te­len.

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nick­te. Er hat­te eine Horn­bril­le aus ei­nem Fut­te­ral ge­zo­gen, sie auf die Nase ge­setzt. Jetzt sah er aus wie ein trau­ri­ger Film­ko­mi­ker.

»Ge­wiss, ge­wiss, Wacht­meis­ter. Sie müs­sen nur be­den­ken, es ist mei­ne ers­te schwe­re Un­ter­su­chung, und da wird mir na­tür­lich Ihre Kom­pe­tenz in die­sen An­ge­le­gen­hei­ten…«

Wei­ter kam er nicht. Stu­der hob ab­weh­rend die Hand.

Aber der Un­ter­su­chungs­rich­ter be­ach­te­te die Be­we­gung nicht. Er hat­te zwei Fo­to­gra­fi­en in der Hand und reich­te sie über den Tisch:

»Auf­nah­men des Ta­tor­tes…«, sag­te er.

Stu­der be­trach­te­te die Bil­der. Sie wa­ren nicht schlecht, ob­wohl sie von kei­nem kri­mi­no­lo­gisch ge­schul­ten Fach­mann auf­ge­nom­men wor­den wa­ren. Auf bei­den sah man das Un­ter­holz ei­nes Tan­nen­wal­des und auf dem Bo­den, der mit dür­ren Na­deln über­sät war – die Bil­der wa­ren sehr scharf –, lag eine dunkle Ge­stalt auf dem Bauch. Rechts am kah­len Hin­ter­kopf, schät­zungs­wei­se drei Fin­ger breit von der Ohr­mu­schel, ge­ra­de über ei­nem dün­nen Haar­kranz, der zum Teil den Rock­kra­gen be­deck­te, war ein dunkles Loch zu se­hen. Es sah ziem­lich ab­sto­ßend aus. Aber Stu­der war an sol­che Bil­der ge­wöhnt. Er frag­te nur:

»Ta­schen leer?«

»War­ten Sie, ich habe hier den Rap­port vom Land­jä­ger­kor­po­ral Mur­mann…«

»Ah«, un­ter­brach Stu­der, »der Mur­mann ist in Ger­zen­stein. So, so!«

»Ken­nen Sie ihn?«

»Doch, doch. Ein Kol­le­ge. Hab ihn aber schon vie­le Jah­re nicht ge­se­hen. Was schreibt der Mur­mann?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter dreh­te das Blatt um, dann mur­mel­te er hal­be Sät­ze vor sich hin. Stu­der ver­stand:

»… männ­li­che Lei­che auf dem Bau­che lie­gen­d… Ein­schuss hin­ter dem rech­ten Ohr… Ku­gel im Kopf ste­cken ge­blie­ben… wahr­schein­lich aus ei­nem 6,5 Brow­ning…«

»In Waf­fen kennt er sich aus, der Mur­mann!« be­merk­te Stu­der.

»… Ta­schen leer…«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter.

»Was?« ganz scharf die Fra­ge. »Ha­ben Sie zu­fäl­lig eine Lupe?« Alle Höf­lich­keit war aus Stu­ders Stim­me ver­schwun­den.

»Eine Lupe? Ja. War­ten Sie. Hier…«

Ein paar Au­gen­bli­cke war es still. Durch einen Spalt der Fens­ter­lä­den fiel ein Son­nen­strahl ge­ra­de auf Stu­ders Haar. Schwei­gend be­trach­te­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter den Mann, der da vor ihm hock­te, den brei­ten, run­den Rücken und die grau­en Haa­re, die glänz­ten, wie das Fell ei­nes Ap­fel­schim­mels.

»Das ist lus­tig«, sag­te Wacht­meis­ter Stu­der mit lei­ser Stim­me. (Was, zum Teu­fel, ist an der Fo­to­gra­fie ei­nes Er­mor­de­ten lus­tig! dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter.) »Der Rock ist ja ganz sau­ber auf dem Rücken…«

»Sau­ber auf dem Rücken? Ja, und?«

»Und die Ta­schen sind leer«, sag­te Stu­der kurz, als sei da­mit al­les er­klärt.

»Ich ver­steh’ nicht…« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nahm die Bril­le ab und putz­te die Glä­ser mit sei­nem Ta­schen­tuch.