Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg - Thomas Mayer - E-Book

Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg E-Book

Thomas Mayer

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Beschreibung

Dieses Buch ist eine sorgfältig recherchierte und umfassende Tatsachensammlung zum Ukraine-Krieg. Mit eigenen Vermutungen hält sich der Autor zurück. Die bloßen Vorgänge sind dramatisch genug. Wie ist der Konflikt historisch entstanden? Mit welchen Weichenstellungen wurde auf den Krieg hingesteuert? Um was geht es wirklich? Wie haben die Ukraine, die USA, die NATO und Russland die Eskalations-Spirale angetrieben? Es geht nicht darum, wer "gut" oder "böse" ist, wer "gewinnt" oder "verliert". Es geht darum, die Zusammenhänge zu verstehen. So erweitern wir den Raum für einen Dialog hin zum Frieden. Die Wahrheit macht frei. Und die Wahrheit zu achten führt zum Frieden. Leserstimmen: "Ich kannte viele Fakten zum Ukraine-Krieg, aber das war bisher alles so fragmentiert in meinem Bewusstsein, viele lose Puzzle-Teile. Jetzt entstand ein Gesamtbild." – "Die Geschehnisse genau anzusehen, war sehr erschütternd." – "Es hat etwas mit mir gemacht. Ich fühle mich jetzt versöhnter, im Frieden."

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Seitenzahl: 727

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Friede ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich.

Daher ist die Unwahrheit das eigentliche Böse,

jeden Frieden Vernichtende:

die Unwahrheit von der Verschleierung

bis zur blinden Lässigkeit,

von der Lüge

bis zur inneren Verlogenheit,

von der Gedankenlosigkeit

bis zum doktrinären Wahrheitsfanatismus,

von der Unwahrhaftigkeit des einzelnen

bis zur Unwahrhaftigkeit des öffentlichen

Zustandes.

Karl Jaspers

in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 19581

Thomas Mayer:

Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg

© 2023 Thomas Mayer, c/o JENBACHMEDIA, Grünthal 109, 83064 Raubling

Alle Rechte vorbehalten

Buchcover: Friedensengel in Hove, England2

Rückseite: Friedensengel in Hove, England3

Im Buch verteilt an manchen Ecken: Schutzgeister der Kathedrale von Chartres

WAHRHEITSSUCHE IM UKRAINE-KRIEG

Um was es wirklich geht

Thomas Mayer

Inhalt:

Was in diesem Buch ist

Was mich persönlich dazu brachte, dieses Buch zu schreiben

Teil 1 – Die Ausgangslage

Neun Stufen der Konflikteskalation

Zehn Prinzipien der Kriegspropaganda

Geschichte der Ukraine – willkürliche Grenzen

Ukraine ist ein Vielvölkerstaat

Ukraine als Armenhaus Europas

Bevölkerung flieht

Oligarchen, Staatsvereinnahmung und Korruption

Nationalismus in der Ukraine

Kollektive Traumata und Verdrängungsmechanismen in der Ukraine und in Russland

Geopolitische Hintergründe: Das Weltmachtstreben der USA

Ist Russland imperialistisch?

Teil 2 – Kriegsvorbereitung

Assoziierungsabkommen zwischen Ukraine und EU

Regierungsputsch am 22. Febr. 2014 mit NATO-Unterstützung

Krim: Jahrzehntelanger Kampf um Unabhängigkeit

Entsprach die Abspaltung der Krim dem Völkerrecht?

Acht Jahre Donbass-Krieg

Augenzeugenberichte aus dem Donbass

Das gebrochene Minsk-Abkommen

Sprachenverbot und Rassismus in der Ukraine

Einschränkung der Meinungsfreiheit und politische Verfolgung

NATO-Osterweiterung

Langfristig aufgebautes Russland-Feindbild

Wie Geopolitik funktioniert

NATO drehte die Eskalationsspirale

Ukrainische Regierung wollte den großen Krieg

Kriegseintritt Russlands am 24. Februar 2022

Diskussion des Kriegseintritts

Teil 3 – Kriegsverlängerung

Finanzierung, Waffenlieferungen und militärische Hilfe

Völkerrechtswidriger Wirtschaftskrieg durch Sanktionen

Informationskrieg

Persönliche Berichte

Repression in der Ukraine wie in einer Diktatur

Keine Friedensverhandlungen, Kampf bis zum blutigen Ende!

Volksabstimmungen: Ostukrainer schließen sich Russland an

Eskalation bis zur Gefahr eines Atomkriegs

Gipfelblick

Teil 4 – Nachwort

Anhang: Medientipps und Quellenangaben

Pax-Stein, Lindesnes, Norwegen

4

Was in diesem Buch ist

In diesem Buch beschreibe ich den Weg einer Wahrheitssuche zum Ukraine-Krieg

Dabei konzentriere ich mich auf folgende Fragen: Wie ist der Konflikt entstanden? Was waren die wichtigsten Eskalationsstufen? Mit welchen Weichenstellungen hätte der Konflikt verhindert werden können? Wie wurde der Krieg verlängert? Es zeigte sich, dass der Konflikt einen langen historischen Vorlauf hatte.

Beim Schreiben war es mein Bestreben, immer von belegten Sachverhalten auszugehen und diese unbefangen anzusehen. Erst danach ging es in einem zweiten Schritt darum, diese einzuordnen und moralisch zu bewerten. Eigentlich ist es selbstverständlich: Man darf nicht urteilen, bevor man etwas weiß.

Es geht also nicht darum, wer „gut“ oder „böse“ ist oder wer „gewinnt“ oder „verliert“, sondern es geht darum, die Vorgänge zu verstehen, eine freie innere Mitte auszubilden und so den Raum für einen Dialog zu erweitern.

Deshalb ging ich nicht von vornherein davon aus, dass Russland alleine am Ukraine-Krieg schuld war – unabhängig davon, dass die NATO-Regierungen und die westlichen Mainstream-Medien das behaupten. Mich interessierten die Fragen: Was ist wirklich passiert? Wie haben auch die NATO und die ukrainische Regierung die Eskalations-Spirale angetrieben, bis der Krieg begann?

Dazu habe ich viel gefunden und beschreibe das gründlich. Nicht jede oder jeder wird das gerne hören wollen. Aber das spielt hier keine Rolle. Meine Absicht ist, die Vorgänge möglichst tatsachengetreu zu schildern, unabhängig davon, ob das jemanden stört oder nicht.

Jeder kehre vor seiner eigenen Tür. Nach aller Lebenserfahrung führt nur das zu sozialem Frieden. Kümmern wir uns also um die Balken in unserem eigenen Auge, anstatt uns mit dem Splitter im fremden Auge zu beschäftigen.

Die NATO-Staaten unterstützen die ukrainische Regierung mit sehr viel Geld, Waffen und militärischen Hilfen. Es gilt, genau hinzusehen, was wir fördern. Auch deshalb untersuchte ich die Zustände der Menschenrechte und der Demokratie in der Ukraine.

Bei der Recherche entdeckte ich spannende Geschehnisse und Zusammenhänge, die bislang nicht aufgearbeitet wurden.

Ich war bestrebt, genau zu sein und den Vorgängen auf den Grund zu gehen. Wegsehen und ignorieren ist eine schlimme Sünde. Je tiefer ich forschte, umso drastischer wurde es. Vieles, was ich fand, war jenseits meiner Vorstellungskraft. Aber letztlich war es eine Erleichterung, die nackte Realität wahrzunehmen. Es stimmt schon, dass die Wahrheit frei macht.

Zur Methode

Ich ging immer von Sachverhalten aus, die in Quellen belegt sind. Ich verwendete die mir zu Verfügung stehenden Quellen; ich behaupte natürlich nicht, dass ich alle möglicherweise relevanten Quellen gefunden habe und damit einbeziehen konnte. Aus diesen Sachverhalten erarbeitete ich einen erkennenden Standpunkt.

Ich versuchte, die Vorgänge von Anfang an zu erklären, sodass die Inhalte nicht fragmentiert bleiben, sondern von den Leserinnen und Lesern verstanden und durchdacht werden können. Dabei wird vieles neu sein, denn viele dieser Sachverhalte werden von den westlichen Mainstream-Medien verschwiegen oder nur so verkürzt dargestellt, dass sie unverständlich bleiben müssen.

Damit die Geschehnisse für die Leserinnen und Leser verständlich werden, schildere ich ausführlich. So bleibt es nicht abstrakt, sondern die reale Bedeutung kann erfasst und auch gefühlt werden. Diese Ausführlichkeit der Darstellung ist auch notwendig, damit sich schließlich die Teile zu einem gegliederten Ganzen zusammenfügen können. Die Inhalte stehen nicht nebeneinander, sondern sie bauen aufeinander auf.

Um einen Boden der Wahrheit zu suchen, darf man nichts blind glauben. Stattdessen muss man immer den Wahrheitsgehalt von Meldungen und von Medien einschätzen und klar trennen zwischen manipulationsanfälligen Informationen und harten und belastbaren Fakten. Ich habe in diesem Buch angestrebt, bei den harten Fakten zu bleiben. Alles, was westliche oder russische Propagandaerfindung hätte sein können oder was mir unklar blieb oder unbelegt erschien, habe ich weggelassen.

Als Quellen verwende ich hauptsächlich: Gesetze und Beschlüsse von Regierungen, Zitate von westlichen und ukrainischen Politikern, allgemein anerkannte historische Tatsachen, Sachverhalte, die von allen Seiten anerkannt werden, Presseartikel von westlichen Medien, die nicht der russischen Propaganda verdächtigt werden können, Recherchen von Wissenschaftlern und Journalisten, die einen verlässlichen Eindruck machen und Augenzeugenberichte vor Ort. Ich benützte hauptsächlich westliche Quellen. Russische Quellen habe ich verwendet, um einen Standpunkt der russischen Regierung darzulegen oder gesellschaftliche Diskussionen in Russland zu beschreiben.

Um Fehler möglichst auszuschließen, prüfte ich die Ursprungsquellen. Das war nicht immer möglich; in diesen Fällen verließ ich mich auf Wissenschaftler oder Journalisten, die mir vertrauenswürdig erscheinen. Dabei spielte es für mich keine Rolle, wie sich die Mainstream-Medien zu dem jeweiligen Journalisten verhalten. Mir war allein wichtig, ob der Journalist ordentlich arbeitet und die von ihm geschilderten Sachverhalte nachvollziehbar belegt sind.

Zur Bestätigung eines Sachverhaltes habe ich immer versucht, mehrere Quellen heranzuziehen. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern: Auf einer Webseite von Unabhängigkeitsaktivisten der Krim entdeckte ich, dass es 1995 einen erfolgreichen Militärputsch der ukrainischen Regierung gegen den gewählten Präsidenten der Krim gegeben hat. Da ich davon noch nichts gehört hatte, war ich skeptisch. Doch ich fand entsprechende Berichte in mehreren westlichen Zeitungen, die das bestätigten und nicht der russischen Propaganda verdächtig waren. Überzeugt hat mich dann ein Interview mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten in einer ukrainischen Zeitung, der die Umstände des Putsches schilderte. Also nahm ich diese Geschichte ins Buch auf.

Ich lade dazu ein, die in dem Buch geschilderten Vorgänge und Zusammenhänge unvoreingenommen wahrzunehmen und selbst zu durchdenken. Es ist natürlich möglich, zu anderen Einordnungen oder Wertungen zu kommen. Dies sollte aber auf Basis der geschilderten Sachverhalte erfolgen. Darauf weise ich ausdrücklich hin, da abzusehen ist, in welcher Art viele Kritiker auf das Buch reagieren werden: „Falsche Quellen“, „Voreingenommenheit“, „einseitige Darstellung“ – fertig. Mit solchen Schubladen wird dann vermieden, das Buch zu lesen und sich damit auseinanderzusetzen. Ich möchte stattdessen zur Diskussion auf Basis des Geschriebenen einladen.

*

Ich schloss das Manuskript im Herbst 2023 ab. Zu diesem Zeitpunkt war der Ukraine-Krieg noch nicht zu Ende. Irgendwann wird er geendet haben – dieses Buch bleibt aktuell, der innere Gehalt des Beschriebenen ist historisch zeitlos. Die Aufgabe, den Krieg aufzuarbeiten, bleibt auch nach einem Kriegsende bestehen.

*

Besonders dankbar bin ich den vielen Freundinnen und Freunden, die das Manuskript durchsahen und deren kritische Fragen, Hinweise und Korrekturen diesem Buch bei der Entstehung halfen. Das war ein wichtiger Ausreifungsprozess. Besonderer Dank geht an meine Partnerin Agnes Hardorp, sowie an Adreana Langscheid, Andreas Günther, Barbara und Klemens Vogt und Enno Schmidt.

*

Die geschilderten Vorgänge in diesem Buch sind manchmal eine emotional schwere Kost. Deshalb habe ich als aufbauendes Erholungsnetz Friedensengel, Friedensgötter und Friedenssymbole aus verschiedenen Kulturen und Zeitaltern gesammelt, die das Buch durchziehen. Diese wirken als Care-Team. Sie verstärken die Friedenskraft.

Was mich persönlich dazu brachte, dieses Buch zu schreiben

Das Bedürfnis zu sprechen und nicht zu schweigen. Da wir alle mit drinhängen und mitschuldig sind an diesem Krieg.

Im Februar 2022 gab es eine überraschende Wende: Plötzlich war der zweijährige Krieg gegen das Corona-Virus vorbei und Politiker und Mainstream-Medien steuerten um – zu einem neuen Krieg, zum Ukraine-Krieg.

Wenn es Streit bei befreundeten Ehepaaren gab, habe ich immer versucht, neutral zu bleiben, zu beiden Partnern den Kontakt zu halten und einen möglichst ruhigen Raum zu schaffen. Jeder vernünftige Mensch macht das so in Konflikten – nur unsere Regierungen nicht.

Es gab von den westlichen Regierungen keine ernsthaften diplomatischen Initiativen zur Lösung des Ukraine-Konfliktes. Diplomatische Lösungen brauchen immer Kompromisse, doch die NATO-Regierungen stellten ausschließlich von vorneherein aussichtslose Maximalforderungen an die ostukrainischen Volksrepubliken und Russland. Die diplomatische Kunst der NATO-Politiker bestand darin, für ein 30-minütiges Gespräch nach Moskau zu fliegen, Putin zu sagen, er solle sofort und bedingungslos mit dem Krieg aufhören, um dann vor dem Rückflug noch ein Pressefoto zu machen und den Medien zu sagen, man habe versucht, was man konnte. So etwas ist in Wirklichkeit Kriegspropaganda. Echte Diplomatie besteht darin, langfristiges Vertrauen aufzubauen und nicht, es zu zerstören; die Interessen der anderen zu berücksichtigen, anstatt diese zu missachten, und auf dieser Basis nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen.

Doch das Gegenteil geschah: Die ukrainische Regierung wurde laufend dazu ermuntert, weiter zu kämpfen und nicht nachzugeben – bis zum blutigen Ende, und egal wie viele Menschen sterben und Städte zerstört würden. Es ging immer nur um Waffenlieferungen und noch mehr Waffen und um noch mehr Milliarden für die bankrotte Ukraine. Der ukrainische Staatshaushalt wurde seit Kriegsbeginn zur Hälfte vom Westen finanziert; ohne diesen Geldregen wäre die ukrainische Regierung handlungsunfähig gewesen und hätte sofort einen Friedenskompromiss aushandeln müssen. Ansonsten ging es immer nur um noch mehr Sanktionen gegen Russland – die allerdings nicht die russische Wirtschaft, sondern vor allem die europäische Wirtschaft schädigten – und um noch mehr Hass gegen die Russen und speziell Hass auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Russland sollte isoliert und ein neuer Eiserner Vorhang errichtet werden. Alle wirtschaftlichen, kulturellen und sogar menschlichen Verbindungen zwischen den Menschen in Europa und Russland sollten gekappt werden. Die jahrzehntelange Versöhnungsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in die Mülltonne geworfen. Willy Brandt und Egon Bahr würden sich im Grabe umdrehen.

Die EU und die NATO-Regierungen hatten sich für den Krieg entschieden und sind aktiv am Krieg beteiligt durch den Informationskrieg, den Wirtschaftskrieg, die Vorgabe der Kriegsziele, die vollständige Finanzierung der ukrainischen Armee, die Lieferung von Waffen bis zur Erschöpfung der eigenen Depots, die Ausbildung ukrainischer Soldaten und die Lieferung nachrichtendienstlicher Daten. Die EU und Deutschland wurden de facto Kriegspartei gegen Russland.

Dieser Kriegseintritt geschah schleichend. Der Bevölkerung, die keinen Krieg wollte, sagte die Regierung deshalb einfach das Gegenteil: Wir seien am Krieg nicht beteiligt. Manchmal rutschte es aber dann doch heraus, so zum Beispiel der deutschen Außenministerin, die im Europarat erklärte, dass “wir” einen “Krieg gegen Russland kämpfen”.5 Und Frankreichs Ex-Präsident Hollande sagte in einem scheinbar vertraulichen Gespräch, das aber veröffentlicht wurde: „Die EU und somit auch Frankreich sind direkt am Krieg beteiligt. Das kann man allerdings nicht offiziell verkünden, da sonst Vergeltungsschläge drohen könnten.“6

Zum Glück blieb die russische Regierung an dieser Stelle besonnen, eskalierte nicht weiter und bombardierte keine Ziele in Deutschland, wie zum Beispiel Militärbasen, Nachrichtentechnik oder Transportmittel, mit denen das ukrainische Militär unterstützt wurde.

Von der NATO wurde der Konflikt immer weiter angeheizt bis zur Gefahr eines dritten Weltkriegs mit dem Einsatz von Atombomben. Diese Gefahr tritt ein, wenn eine der Atommächte sich in ihrer Existenz bedroht sieht. Wenn also die NATO die Forderung ausgibt, Russland müsse besiegt und dauerhaft geschwächt werden, und gleichzeitig von einer Aufteilung Russlands in mehrere Staaten gesprochen wird, dann sieht Russland das selbstverständlich als existenzielle Bedrohung an.

Diese Kriegstreiberei war für mich kaum auszuhalten. Jedoch tief ins Herz getroffen hat mich, dass Deutschland Waffen gegen Russland liefert und nationalsozialistische ukrainische Bataillone finanziert. Das erlebte ich als Dolchstoß in die deutsche Identität und damit auch in meine eigene Identität. Wie konnte die deutsche Geschichte so vergessen werden? Wie konnten der Erste und Zweite Weltkrieg und der furchtbare Nationalsozialismus so verdrängt werden? Deutschland ist für den Tod von 27 Millionen Russen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich.7 Reicht das immer noch nicht? Ich fühlte diesen Dolch in meinem Herzen und erlebte diese Schande und schämte mich für Deutschland.

Meine erste emotionale Reaktion war: „Ich gebe meinen deutschen Pass ab! Ich will mit diesen Kriegssüchtigen nichts mehr zu tun haben. Deutschland als das Land der Dichter und Denker ist verloren. Die Psychopathen aller Länder haben gewonnen. Sie setzen sich wieder durch, wie beim Ersten Weltkrieg und beim Zweiten Weltkrieg. Und Deutschland macht mit. Nichts wurde aus der deutschen Geschichte gelernt, diese wiederholt sich.“

Aber mir wurde klar: Ich komme nicht heraus. Ich könnte vielleicht irgendwann Schweizer oder Österreicher werden, das sind neutrale Staaten. Sie lieferten wenigstens keine Waffen. Aber auch die Schweiz und Österreich machen den Informations- und den Wirtschaftskrieg mit, genauso wie die NATO-Staaten. Der Unterschied ist klein. Es war trostlos.

So bleibt mir nur, mich für Wahrheitssuche und Frieden einzusetzen. Deshalb schrieb ich dieses Buch. Ich machte mich auf den Weg, den Ukraine-Krieg zu verstehen. Verständnis ist die Voraussetzung um Konflikte zu lösen. Ich meine, unsere Aufgabe als Europäer ist es nicht, eine Seite zu unterstützen, sondern neutral zu bleiben, die Mitte zu stärken und zu beleben und alles zu tun, damit das Töten aufhört.

Beim Schreiben ging es mir darum, den Dolch etwas aus meinem Herzen zu ziehen und meine Ehre und Würde als Mensch wieder zu erlangen. Und ich hoffe, damit auch anderen Menschen zu helfen, die ähnlich empfinden.

Drei Handlungsmöglichkeiten

Als einzelner Mensch haben wir drei Handlungsmöglichkeiten. Zum Ersten stellt der Ukraine-Krieg uns Menschen täglich vor die Entscheidung: Mache ich mit oder bleibe ich neutral? Treibe ich mit meinen Gedanken und Taten den Krieg an oder bleibe ich frei und helfe, einen Raum für Lösungen und Versöhnung zu schaffen?

Eine zweite Entscheidung ist, selbst die Wahrheit zu suchen.

Die dritte Entscheidung ist, zu dem Gefundenen öffentlich zu stehen, auch wenn man diffamiert, ausgegrenzt oder juristisch bedroht wird. Der „Meinungskorridor“ in Deutschland und der EU ist sehr eng geworden. Demokratie verdorrt im Krieg. Das bisschen Demokratie, das wir hatten – ich finde und fühle sie nicht mehr. Die intoleranten und antidemokratischen Kriegstreiber bestimmen den öffentlichen Raum und die Medien und haben den Staat zur Beute gemacht. Dies vor Augen geht es darum, die Fahne des Friedens so gut es geht hoch zu halten.

Die Neutralität, Wahrheitssuche und öffentliches Dazu-Stehen sind die drei wichtigsten Handlungsmöglichkeiten, die wir haben, um unsere Souveränität zu bewahren. Dieses Buch möchte dazu ermuntern.

Nach Wahrheit suchen

Dabei ist die Wahrheitssuche die Basis. Es war erschreckend für mich zu erleben, dass viele Menschen beim Thema Ukraine-Krieg völlig dicht machten. Ihre Urteile waren gefällt, obwohl sie offensichtlich die allergrößten Wissenslücken hatten – dicke Vorurteile. Sie wollten aber auch keine Sachverhalte hören, die sie in ihrer vorgefertigten Haltung irritierten. Sie wollten keine Verunsicherung ihrer festen Positionierung und scheuten das Erleben einer kognitiven Dissonanz, die geistigen Schmerz verursachen kann. Da war nur noch Glauben statt Denken. Wer selber denkt ist diskussionsfähig, wer im bloßen Glauben seine Identität hat, muss jeden Widerspruch gnadenlos ablehnen. Oft kam die NATO-Kriegspropaganda aus den Mündern wie giftgrüne Drachen herausgeflogen. Doch das fiel den Menschen selbst nicht auf. Sie fühlten sich als die „Guten und Gerechten“, denn „Waffen sind Nächstenliebe“ oder „Frieden schaffen mit noch mehr Waffen“.

Frappierende Widersprüche! Ich fragte mich immer wieder: Warum fallen diese frappierenden Widersprüche nicht auf? Was ist hier los? Eine Antwort ist, dass diese Verdrehung und Besetzung des Bewusstseins schleichend und systematisch über viele Jahrzehnte erzeugt worden ist. Mit einer raffinierten Informations-Dauerflut in den Mainstream-Medien wurde ein mentales Spinnennetz aufgebaut und so das Denken eingesponnen. Und durch Bilder, Geschichten, Schocks und sehr viel Moralin wurden Vorverurteilungen emotional in den Menschen verankert. Von solchen Besetzungen der Seele kann man sich nur lösen, wenn man sich entscheidet, selbst die Wahrheit zu suchen.

„Den Teufel spürt das Völkchen nie, selbst wenn er es am Kragen hätte,“ sagt in Goethes „Faust“ der Mephistopheles zu Doktor Faust in Auerbachs Keller in Leipzig. Sodann demonstriert er seine teuflische Macht an den dort feiernden Studenten, die sich für die geistige Elite der Bevölkerung halten. Binnen weniger Minuten bringt er sie durch vorgegaukelte Trugbilder dazu, dass sie vollständig den Bezug zur Realität verlieren und sich gegenseitig die Nasen abschneiden wollen im Glauben, es handele sich um reife Weintrauben.

Diese mephistophelische Magie wird heute durch die Propaganda ausgeübt. Das Buch “Propaganda” von Edward Bernays von 1928 erwies sich nicht nur als die Bibel des nationalsozialistischen Ex-Propagandaministers aus Deutschlands dunkelsten Zeit, sondern diese Vorgehensweise ist und bleibt aktuell und wurde und wird immer weiter verfeinert. Während die Kriegspropaganda im ersten Weltkrieg auf Zeitungen angewiesen war, konnten die deutschen Nationalsozialisten mit dem Radio jede Küche zeitgleich erreichen und durch das gesprochene Wort viel stärkere emotionale Wirkungen erzielen. Durch Fernsehen, Internet und Socialmedia haben sich die Propagandamöglichkeiten nochmals stark erweitert.

Ich meine, dass Propaganda, Lügen und Heuchelei die wesentlichen Faktoren sind, um das Politikgeschehen verstehen zu können. Es geht heute mehr denn je um Manipulation. Wer am besten manipuliert, gewinnt und kann seine Interessen durchsetzen. Um Wahrheit geht es kaum. Und mit Demokratie – wie man sich diese naiv vorstellt – hat das in Wirklichkeit nichts zu tun.

Als Organisator mehrerer Volksbegehrens-Kampagnen in Deutschland und der Schweiz kenne ich die Medienarbeit recht gut. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das, was in der Zeitung steht oder im Fernsehen gezeigt wird, mit der Realität oftmals sehr wenig zu tun hat. Als Medienkonsument sollte man immer davon ausgehen, dass es sich um mephistophelische Trugbilder handelt, mit denen man manipuliert werden soll. Es wird uns das gezeigt, was wir sehen sollen.

Keine Einmischung in Angelegenheiten anderer

Ich kenne einige wenige russische und ukrainische Menschen und schätze diese. In Russland war ich 2016 für eine Woche. Diese Reise hat mir ein gewisses Grundgefühl für das Land gegeben. Ansonsten habe ich keine Beziehungen zu Russland. Ich halte Russland nicht für einen idealen Staat oder für einen besonders schlechten Staat, sondern vor allem bin ich der Ansicht, dass sich die russische Bevölkerung selbst um die Entwicklung ihrer Gesellschaft und Demokratie zu kümmern hat, und ich mich hier herauszuhalten habe. Genauso sehe ich es mit der Ukraine. Bei Nachbarn mische ich mich auch nicht ungefragt in das Familienleben ein, sondern suche ein achtungsvolles, freundschaftliches Verhältnis.

In diesem Sinne versuche ich Herrn Putin zu verstehen, genauso wie Herrn Selenskyj. Ich bin zutiefst erschrocken, dass die NATO-Kriegspropagandisten es geschafft haben, die urmenschlichste Fähigkeit des „Verstehens“ zu einem Diffamierungsbegriff in orwellscher Manier zu verdrehen. Das Wort „Putinversteher“ gehört zu den vielen Propaganda-Waffen der Kriegstreiber. Davon distanziere ich mich: Wer aufhört zu versuchen, andere Menschen zu verstehen, verlässt den Boden der Humanität und der Religion. Warum sich die Kriegstreiber das antun, verstehe ich trotz Bemühungen noch nicht.

Unter den Eskalationen der Politiker leidet die ukrainische Bevölkerung am meisten. Selenskyj hatte 2019 im Wahlkampf Frieden versprochen und deshalb auch viele Stimmen von russischen Ostukrainern bekommen. Aber dann tat er das genaue Gegenteil. Und die NATO feuerte die Ukraine ständig an, gegen Russland zu kämpfen. Am Ende dieses Krieges werden hunderttausende Ukrainer und Russen tot oder verstümmelt sein, viele Millionen traumatisiert und weite Teile des Landes in Schutt und Asche liegen. Der Hass zwischen den Völkern wird noch Generationen lang walten. Das ist das Resultat der Kriegstreiberei.

Noch einige Worte zu meinem Ausgangspunkt

Ich bin Bürgerrechtler, Autor mehrerer spiritueller und politischer Bücher, Meditationslehrer und Anthroposoph. Wichtig war für mich die Friedensbewegung in den 80er Jahren, wo ich Demonstrationen gegen Atomwaffen mitorganisierte. In der Gründungsphase der Grünen war ich viele Jahre sehr aktives Mitglied und engagierte mich in der Umweltschutz- und Dritte-Welt-Bewegung. Damals waren die Grünen eine Friedenspartei und noch nicht umgedreht in die heutige olivgrüne Kriegstreiberpartei. 1988 war ich Gründungsmitglied der bundesweiten Bürgerbewegung „Mehr Demokratie e.V.“ und bis 2001 deren Büroleiter und Geschäftsführer. Ich war Vertrauensmann des Volksbegehrens „Mehr Demokratie in Bayern“, mit dem 1995 die bayerische Bevölkerung selbst das Recht auf kommunale Bürgerbegehren und Bürgerentscheide eingeführt hat. Danach beteiligte ich mich in mehreren Bundesländern an Volksbegehren für direkte Demokratie und engagierte mich beim „Omnibus für direkte Demokratie in Deutschland“ im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys.8 Ich beschäftigte mich lange mit Komplementärwährungen und war beim Start der Regionalwährung „Chiemgauer“ beteiligt. Von 2013 bis 2018 war ich Kampagnenleiter der „Vollgeld-Initiative“ in der Schweiz. Eine echte Demokratie liegt mir sehr am Herzen. Ich habe den Großteil meiner Lebenszeit dafür eingesetzt.

Was ich nur sehr schwer ertrage, sind Lügen. So war ich zum Beispiel 1991 verantwortlich für eine Kampagne mit Anzeigen in Zeitungen, die unter dem Titel erschienen: „Das 8. Gebot – Du sollst nicht lügen“. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1990 hatten die Regierungsparteien eine Steuererhöhung ausgeschlossen, nach der Wahl aber doch durchgeführt. Die Anzeigen hatten den Untertitel „Steuer ja, Wahlbetrug nein. Wir verlangen Neuwahlen!“. Die Anzeige erschien ganzseitig in zehn überregionalen Zeitungen und erzeugte viel Aufmerksamkeit. Damals war Lügen noch verpönt. Das ärgerte die Regierung, und so versuchte das Finanzamt Bonn unserem Demokratieverein die Gemeinnützigkeit zu entziehen und eine existenzbedrohende Steuernachzahlung zu verlangen. Wir konnten das durch Gerichtsverfahren bis in die höchste Instanz abwenden.9 Auch in diesem Sinne sitze ich an diesen Zeilen, um mein Schmerzleiden an der heutigen Lügenflut zu lindern.

Damit bin ich bei Karl Jaspers, der nach dem Zweiten Weltkrieg seine Einsichten so zusammenfasste: „Friede ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich.“

So ist die Wahrheitssuche die menschliche Aktivität für Frieden und Freiheit.

Michaeli 2023,

Thomas Mayer

Teil 1

Die Ausgangslage

Einheit der Religionen, Eisenskulptur, die die wichtigsten religiösen Strömungen vereint, Einsiedelei von Sant Honorat, Mallorca, Spanien

10

Neun Stufen der Konflikteskalation

Um einen Krieg und Möglichkeiten von Konfliktlösungen zu verstehen, ist es wichtig, sich die Logik von Konflikteskalationen klar zu machen. Der österreichische Organisationsberater und Konfliktforscher Friedrich Glasl beschreibt neun Stufen der Konflikteskalation, die er in jahrzehntelanger Praxis beobachtet hat.11

Wenn sich Konfliktparteien bewusst sind, auf welcher Stufe sie sich befinden, haben sie die Möglichkeit, ihren Konflikt zu analysieren und entsprechend zu deeskalieren. Sie können aber auch eine Stufe tiefer in die Hölle des Konfliktes hinabsinken. Konflikte, die einen gewissen Punkt auf der neunstufigen Skala der Konflikteskalation erreicht haben, können nicht mehr ohne Hilfe von außen gelöst werden.

Das Konflikteskalationsmodell nach Glasl passt sowohl für Streitigkeiten zwischen Schülern oder Eheleuten, als auch Unstimmigkeiten im Geschäftsleben bis hin zu Konflikten zwischen Staaten. Die Stufen der Konflikteskalation ermöglichen den Vorlauf und die Entwicklung eines Krieges, so auch des Ukraine-Krieges, zu verstehen und den darin wirkenden Wahnsinn einzuordnen.

Die neun Stufen sind in drei Ebenen eingeteilt. Auf der ersten, der obersten Ebene ist es noch möglich, dass beide Parteien ohne Schaden oder sogar mit Gewinn aus der Sache aussteigen (win-win). Auf der zweiten Ebene muss einer von beiden der Verlierer sein (win-lose). Auf der dritten, der untersten Ebene gibt es auf beiden Seiten nur noch Verluste bis zur gegenseitigen Vernichtung (lose-lose).

Je tiefer man sich begibt, desto primitiver und unmenschlicher werden die Methoden, mit denen die Kontrahenten einen Sieg zu erringen versuchen. Deshalb stellt Glasl sein Modell auch nicht als einen Anstieg zu höheren Eskalationsstufen dar, sondern als hinabführende Treppe, die buchstäblich immer weiter in die Tiefen der menschlichen Unmoral führt, wie in eine unterirdische Hölle.

Ebene 1: Win-Win

Stufe 1 – Verhärtung: Erste Spannungen sind spürbar und werden bewusst, verschiedene Meinungen prallen aufeinander, die Fronten können sich verhärten und verkrampfen. Noch ist die Situation harmlos. Meinungsverschiedenheiten sind etwas Alltägliches und können durch Gespräche gelöst werden. Es gibt noch keine Lager- oder Parteienbildung.

Stufe 2 – Polarisation und Debatte: Die Meinungsverschiedenheiten werden fundamentaler, die Kontrahenten versuchen, den anderen durch rationale Argumente zu überzeugen und unter Druck zu setzen. Jeder beharrt auf seinem Standpunkt. Kompromissloses Schwarz-Weiß-Denken und verbale Gewalt setzen ein.

Stufe 3 – Taten statt Worte: Der Druck auf den Konfliktpartner wird erhöht, reden hilft nicht mehr, Taten sind nötig! Die verbale Kommunikation tritt in den Hintergrund, Gespräche werden ergebnislos abgebrochen. Der Kontrahent wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Das Einfühlungsvermögen für den jeweils anderen schwindet. Misstrauen und negative Erwartungen dominieren, was den Konflikt noch mehr verschärft.

Ebene 2: Win-Lose

Stufe 4 – Bashing und Lagerbildung: Dies ist die erste Stufe, auf der es nur noch EINEN Gewinner geben kann. Die Kontrahenten suchen nach Anhängern und Verbündeten, Parteien werden gebildet und gegeneinander ausgespielt. Imagekampagnen werden lanciert und böse Gerüchte über die andere Partei verbreitet. Die Konfliktparteien suchen nicht mehr nach Lösungen, sondern beschuldigen und attackieren sich gegenseitig. Es werden dabei oft auch persönliche Angriffe und Drohungen ausgesprochen. Es geht nicht mehr um die ursprüngliche Sache, sondern nur noch darum, den Konflikt zu gewinnen.

Stufe 5 – Gesichtsverlust: Die gegenseitigen Angriffe werden persönlich, unmoralische „Schläge unter die Gürtellinie“ beginnen. Auf jede erdenkliche Weise will man den Gegner bloßstellen. Der Verlust der Moral und des gegenseitigen Vertrauens zeigen sich daran, dass es nur noch um den Gesichtsverlust des anderen geht. Allein der Anblick des Kontrahenten erzeugt negative Gefühle bis hin zu Ekel und Hass.

Stufe 6 – Drohstrategien: Der Konflikt wird immer ernster, die Konfliktparteien erkennen, dass sie so nicht weitermachen können. Durch Drohung und Gegendrohung versuchen die Konfliktparteien jeweils Oberwasser zu gewinnen. Eine Forderung wird mit einer möglichen Bestrafung verbunden und mit einem Beweis der Strafmöglichkeit untermauert. Ein Beispiel: Ein Entführer fordert Geld und droht mit der Ermordung der Geisel, als Beweis schickt er eine Videobotschaft, die zeigt, dass er sie tatsächlich in seiner Gewalt hat. Je glaubwürdiger die Strafmöglichkeit, desto wirksamer die Drohung, und desto eher wird der Forderung nachgekommen. Hier geht es darum, wer mehr Macht besitzt und somit die schlimmsten Bestrafungen durchsetzen kann. Die widerlichen Drohungen auf beiden Seiten klaffen wie eine Schere auseinander, der Konflikt wird immer schlimmer.

Ebene 3: Lose-Lose

Stufe 7 – Begrenzte Vernichtungsschläge: Dies ist die erste Stufe, wo eigener Schaden in Kauf genommen wird, wenn nur der Schaden des anderen größer ist. Mit der Menschlichkeit ist es jetzt vorbei, alle Tricks werden angewendet, um dem Kontrahenten zu schaden. Der Gegner wird nicht mehr als Mensch, sondern als Ding ohne Gefühle wahrgenommen. Werte und Tugenden werden unwichtig.

Stufe 8 – Zersplitterung: Oberstes Ziel ist der Zusammenbruch des feindlichen Systems. Es kommt vermehrt zu Machtdemonstrationen, um die andere Seite einzuschüchtern. Die Frontkämpfer werden von ihren Verbündeten und der Versorgung abgeschnürt, lebenswichtige Funktionen werden attackiert bis zur physisch-materiellen, seelischsozialen oder geistigen Zerstörung. Die Konfliktparteien sind nicht mehr bereit, miteinander zu diskutieren, sondern arbeiten mit Drohungen und Ultimaten und wollen Zugeständnisse erzwingen.

Stufe 9 – Gemeinsam in den Abgrund: Es führt kein Weg mehr zurück, es kommt zur totalen Konfrontation der beiden Parteien. Wenn man den Gegner mit in den Abgrund reißen kann, dann springt man. Die Selbstvernichtung wird in Kauf genommen. Schäden an der Umgebung oder den Nachkommen halten die Kontrahenten nicht mehr von ihrer gegenseitigen Vernichtung ab.

Das Modell der Deeskalation:

Die Konflikte der Stufen 1-3 sind noch friedlich untereinander zu lösen. Die Konflikte sind noch nicht so weit eskaliert, dass sie außer Kontrolle geraten sind. Die Konfliktparteien haben noch die Chance, den Konflikt miteinander zu besprechen und gemeinsam Lösungen zu finden. Eventuell greift jemand vermittelnd ein (zum Beispiel die Eltern ersuchen ihre Kinder, sich wieder zu versöhnen).

Ab Stufe 4 benötigen die betroffenen Parteien unbedingt Hilfe von außen (zum Beispiel einen Mediator oder Vermittler), um ihren Konflikt lösen zu können. Es geht nicht mehr aus eigenen Kräften.

Ab Stufe 7 kann der Konflikt nur mit Hilfe einer Intervention durch Dritte bzw. einen Machteingriff von außen zu einer Lösung gebracht werden (zum Beispiel eine Friedensmission der UNO). Eine Intervention zu diesem späten Zeitpunkt ist meist sehr schwierig und risikoreich.

Eine militärische Auseinandersetzung befindet sich auf den Konfliktstufen 7 bis 9, die aber ohne die vorhergehenden Stufen 1 bis 6 nicht zu verstehen sind. Das werden wir in Bezug auf den Ukraine-Krieg näher ansehen.

Zehn Prinzipien der Kriegspropaganda

Ein weiteres notwendiges Basiswissen sind die zehn Prinzipien der Kriegspropaganda. Diese beschreiben, wie ein Krieg durch die Medien eskaliert und die Bevölkerung manipuliert wird. Ein Informationskrieg ist immer der Vorlauf und die Grundlage für einen militärischen Krieg.

Der englische Diplomat Baron Arthur Ponsonby beschrieb 1928 nach dem Ersten Weltkrieg die Methoden der Kriegspropaganda in seinem Buch „Falsehood in Wartime“. Es enthält den berühmten Satz: „Nach der Kriegserklärung ist die Wahrheit das erste Opfer.“ Die Brüsseler Geschichtsprofessorin Anne Morelli systematisierte und aktualisierte seine Darstellung in ihrem Buch „Die Prinzipien der Kriegspropaganda“.12

Diese zehn Prinzipien gelten praktisch für jeden Krieg. Es ist sehr wichtig, diese Prinzipien zu verinnerlichen. Mit diesen erkennt man Kriegspropaganda und kann vermeiden, dass man auf sie hereinfällt und mit hineingezogen wird.

1. Wir wollen keinen Krieg

Die Staatsoberhäupter aller Länder versichern immer wieder feierlich, dass sie keinen Krieg wollen, ja, dagegen seien. Damit reagieren sie auf die Tatsache, dass die Bevölkerung in der Regel gegen Krieg ist. Also stellen sich die Politiker als Pazifisten dar, um die Unterstützung der Bürger für kriegerische Handlungen zu erlangen. Das Aufrüsten, die Waffenlieferungen und die Kriegsbeteiligung geschehen ja nur, weil es in der Situation, zu der es gekommen ist, das einzige Mittel sei, Frieden zu schaffen. Das entspricht dem orwellschen Neuspruch: „Krieg ist Frieden“.

2. Der Gegner ist allein für den Krieg verantwortlich

Jede Partei erklärt, dass sie wegen des Verhaltens des Gegners zum Krieg gezwungen sei, weil der Gegner „unsere Werte“ bedroht, zerstört und unsere Freiheit nimmt. Dabei wird die Entstehungsgeschichte eines Kriegsbeginns bewusst unterschlagen, denn schuld ist immer die andere Seite. Konkret: In den NATO-Staaten galt seit Februar 2022 folgende offizielle Sprachregelung: „Putins Russland ist für den unprovozierten, ungerechtfertigten und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine verantwortlich.“13

3. Der Führer des feindlichen Lagers wird dämonisiert

Da es schwierig ist, Hass auf ein ganzes Volk zu erzeugen, wird der Hass auf die Person des Staatsführers gelenkt. So hat der Feind ein Gesicht. Er wird als wahnsinnig, als Monster dargestellt. Dieses Monster gefährdet alle und muss beseitigt werden. Genauso wird im Westen über Präsident Putin gesprochen.

4. Wir verteidigen ein edles Ziel und keine eigennützigen Interessen

Die wirtschaftlichen und geopolitischen Ziele des Krieges müssen durch ein Ideal maskiert werden, durch moralische Werte, denn nur dadurch kann die Bevölkerung überzeugt werden, dass der Krieg sein muss, gerecht ist und dem Guten zum Sieg verhilft. Die Zustimmung ist am leichtesten zu gewinnen, wenn es angeblich um Freiheit, das Leben der Bevölkerung und um Frieden geht. „Wir führen den Krieg aus ehrenhaften Motiven. Wir sind die Guten!“ Konkret: Im Ukraine-Krieg werden die „westlichen Werte“ verteidigt. Dieses Prinzip wird dadurch ergänzt, dass der Feind kein Mensch, sondern eine verabscheuungswürdige Abart ist und eine barbarische Gesellschaft repräsentiert.

5. Der Feind begeht gezielt Grausamkeiten; wenn uns das passiert, geschieht dies unbeabsichtigt und nur im Einzelfall

Die Geschichten über Grausamkeiten des Feindes sind ein wesentliches Propagandaelement. Grausamkeiten gehören zu allen Kriegen. Aber es wird immer so dargestellt, dass nur der Feind Grausamkeiten beginge und die eigene Armee humanitär sei und von der Bevölkerung geliebt werde. Dabei begnügt sich die Kriegspropaganda nicht mit den wirklichen Geschehnissen, sondern erfindet frei inhumane Grausamkeiten. Hier gibt es zwischen den verschiedenen Kriegen kaum Unterschiede. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden viele erlogene Geschichten von Gruppenvergewaltigungen, Morden, Misshandlungen und über Verstümmelungen von Kindern in Umlauf gebracht. Ähnliche Berichte gab es während den Kriegen im Irak, in Afghanistan und im Kosovo. Genauso läuft die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg.

6. Der Feind benutzt unerlaubte Waffen

Dieses Prinzip ergänzt die vorhergehenden. „Wir führen ehrenhafte, humane und moralische Kriege, während der Gegner sich unerlaubter Waffen bedient.“ Die Ukraine hat Russland den Einsatz von Streubomben vorgeworfen. Wenn aber die USA verbotene Streubomben völkerrechtswidrig an die Ukraine liefert und die ukrainische Armee diese gegen Zivilisten verwendet – und dies sogar offiziell bestätigt ist14 – sind die Mainstream-Medien darüber hinweggegangen.

7. Wir erleiden geringe Verluste, aber die Verluste des Gegners sind groß

Da die öffentliche Meinung zum Krieg immer positiv gehalten werden muss, werden eigene Verluste verschleiert und die des Feindes übertrieben. Bei einer Veröffentlichung der tatsächlichen eigenen Todeszahlen bestünde die Gefahr, dass Proteste gegen den Krieg und Desertationen von Soldaten zunehmen. Mit der Übertreibung der Todeszahlen beim Gegner wird suggeriert, dass dieser bald besiegt sein wird und der Krieg erfolgversprechend sei. Sehr oft wurde in den Mainstream-Medien geschrieben, dass russische Soldaten in Scharen sterben, während die ukrainischen Verluste gering seien.

8. Anerkannte Kulturträger und Wissenschaftler unterstützen unser Anliegen

Jede Kriegspartei kann auf die Unterstützung von Künstlern, Schriftstellern und Musikern zählen, die das Anliegen ihrer Länder unterstützen. Fotografen und Journalisten finden sich, die passende Bilder und Texte zusammenstellen. Bildmanipulation ist heute ein Leichtes und sehr wichtig in der Kriegspropaganda.

9. Unser Anliegen hat etwas Heiliges

Alle, die auf unserer Seite mitwirken, werden idealisiert und wollen nur das Gute, während die andere Seite als „Achse des Bösen“ vernichtet werden muss. Krieg zu führen ist damit die „Verwirklichung des göttlichen Willens“. Widerspruch ist „Gotteslästerung“ und verboten.

10. Wer unsere Propaganda in Zweifel zieht, arbeitet für den Feind und ist damit ein Verräter

Dieses letzte Prinzip vervollständigt alle anderen. Wer auch immer nur ein einziges der Prinzipien infrage stellt, ist notwendigerweise ein Kollaborateur. Es gibt nur zwei Bereiche: Gut und Böse. Dazwischen gibt es nichts. Abweichende Meinungen werden mit einem „Lynchprozess“ in den Medien, sozialer und beruflicher Ausgrenzung, juristischen Verfahren und Angriff auf die Existenzgrundlage bestraft. Ein Pluralismus der Meinungen existiert nicht mehr, alle Opposition wird durch Totschlagargumente diskreditiert und zum Schweigen gebracht. Um auf die aktuelle Situation im Ukraine-Krieg zu kommen: Schon wer von Diplomatie und Frieden spricht, ist ein Kollaborateur, Putin-Troll, Putin-Versteher, Antisemit, Rechtsradikaler oder vielleicht sogar ein Reichsbürger oder Klimaleugner. In der Diskreditierung sind die Kriegstreiber wahllos und sehr erfinderisch.

Meinungsfreiheit ist jedoch der Sauerstoff der Demokratie. Wenn dieser Sauerstoff entzogen wird, erstickt die Demokratie. Im Krieg gibt es keine Meinungsfreiheit und keine Demokratie mehr.

Diese zehn Prinzipien der Kriegspropaganda sind aus der Analyse der Kriege des letzten Jahrhunderts kondensiert.

Mit ihnen kann man die innere Logik der täglichen Medienflut zum Ukraine-Krieg verstehen. Probieren Sie es aus! Sie können ein Mainstream-Medium nehmen und sich bei jedem Artikel zum Ukraine-Krieg fragen, welche Prinzipien bedient werden. Dieses Experiment ist lehrreich, aber auch erschreckend. Denn es zeigt sich immer wieder: Diese zehn Prinzipien sind offensichtlich die Arbeitsanleitung der Mainstream-Medien.

Kriegs-Propaganda lügt die Menschen bewusst an und emotionalisiert manipulativ, um die Menschen aufzuhetzen und für den Krieg zu begeistern. Lüge ist eine der schlimmsten Sünden. Wer angelogen wird, wird gedemütigt, entwürdigt und missbraucht. Lüge ist ein extremer Vertrauensbruch und fühlt sich wie ein seelischer Mord an. Im normalen Leben führen Lügen deshalb oftmals zu einem Abbruch von Beziehungen. Partnerschaften enden oft dann, wenn die Lügen eines Partners zu Tage kommen. In Freundschaften oder Ehen werden viele Konflikte oftmals lange ausgehalten, aber die Lüge ist eine rote Linie. Das gilt auch bei Geschäftsbeziehungen: Wenn ein Mitarbeiter, Lieferant oder sonstiger Geschäftspartner lügt, dann ist meistens Schluss. Jedoch in der Politik sind Lügen und Manipulation zentrale Arbeitsmittel. Das scheint ganz normal und alltäglich, fast alle machen bei der Kriegspropaganda munter mit.

Hier stellt sich die große Frage: Warum ist das Lügen in der Politik angesichts ihrer zerstörerischen Wirkung eigentlich keine Straftat? Warum bekommen Politiker, Beamte oder Journalisten, denen eine Lüge nachgewiesen wurde, keine Strafen oder Berufsverbote? Merkwürdigerweise gibt es zu dieser Frage in der Gesellschaft keine Diskussion, obwohl es um die Zerstörung des Fundaments der Demokratie geht.

Anstatt die Lügerei aufzudecken und zu bestrafen, wird mehr Energie dafür verwendet, dass die Lügen möglichst nicht auffallen, damit sie ihre Wirkung behalten. Deshalb wird scharf gegen diejenigen vorgegangen, die nach Wahrheit suchen, kritisch hinterfragen und darüber öffentlich sprechen. Das ist auch der Grund, warum es sehr viele staatliche und halbstaatliche Maßnahmen zur Lenkung der öffentlichen Diskussion gibt.

Sich selbst von der Kriegspropaganda befreien

Um die eigene Entwürdigung zu beenden, ist es nötig zu lernen, Kriegspropaganda zu erkennen und sich davon frei zu machen. Das ist folgendermaßen möglich:

Erstens: Propaganda informiert immer einseitig. Deshalb ist es notwendig, die Berichterstattung beider Kriegsseiten und von mehr oder weniger neutralen Dritten, zum Beispiel indischem oder afrikanischem Fernsehen, zu studieren und dabei zu beobachten, wo Unterschiede und Gleichheiten bestehen. Natürlich gibt es auch russische Kriegspropaganda. Beim Lesen russischer Medien muss man genauso hinterfragen wie bei westlichen Medien.

Zweitens: Propaganda verwirrt. Damit verdeckt sie die wichtigen Informationen. Deshalb muss man Spreu vom Weizen trennen lernen und aus der täglichen Informations-Schwemme die zentralen Sachverhalte herausfinden.

Drittens: Propaganda lügt und erfindet Geschichten. Deshalb muss man immer eigenständig überprüfen, ob Fakten unzweifelhaft und fälschungssicher sind. Im Informationskrieg sollte man immer damit rechnen, dass alles um 180 Grad verdreht oder gar frei erfunden ist.

Viertens: Propaganda arbeitet immer mit fragmentierten Informationsbrocken, die die Vernunft narkotisieren. Deshalb sollte man Informationen immer unvoreingenommen und sachbezogen durchdenken und versuchen, sie zu verstehen und in Zusammenhänge zu bringen.

Fünftens: Es ist wichtig, seriöse und unabhängige Zeitungen, Blogs und Bücher zu suchen, die einem bei dieser Arbeit der Wahrheitssuche helfen. Sonst ist man überfordert.

Als ein solcher Beitrag zur Wahrheitssuche möge dieses Buch dienen. Beginnen wir nun am Anfang mit der Geschichte der Ukraine.

Pax, römische Friedensgöttin, Relieftafel der Ara Pacis Augustae, 13 v. Chr., Italien

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Geschichte der Ukraine – willkürliche Grenzen

Es gab in der Geschichte der Menschheit noch keinen Krieg, der aus dem Nichts entstanden ist. Immer gab es eine Vorgeschichte. Je besser man diese versteht, umso eher kann man Wege zum Interessenausgleich und Frieden finden. Im Folgenden will ich zunächst geschichtliche Hintergründe der Ukraine zusammentragen.

Die Ukraine war historisch immer ein Teil anderer Staaten

Die Ukraine gibt es erst seit 1991 als eigenständigen Staat. Davor gab es im Gebiet der heutigen Ukraine wechselnde Herrscher, wechselnde Aufteilungen und wechselnde Grenzen. Die „Kiewer Rus“ im Mittelalter ab 882 bestand aus mehreren Fürstentümern. Dieser Verbund umfasste einen Großteil der heutigen Ukraine, Weißrusslands und des europäischen Russlands. Die Fürstentümer arbeiteten zusammen, bevor sie sich wieder zersplitterten. Von Staaten im heutigen Sinne kann man im Mittelalter aber kaum sprechen. Mitte des 13. Jahrhunderts fielen die Mongolen ein, und so wurden die Fürstentümer zu tributpflichtigen Vasallen der Mongolen. Nach dem Ende der Mongolenherrschaft gingen im 14. Jahrhundert große Teile des Gebietes der heutigen Ukraine an das Großfürstentum Litauen, im 15. Jahrhundert dann an das Königreich Polen und im 17. Jahrhundert zum russischen Zarenreich. Außerdem existierte von 1648 bis 1764 das Reich des Kosaken-Hetmanats. Im 18. Jahrhundert kam die heutige Westukraine zum Habsburger Reich, der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Das Wort „Westukraine“ wurde damals nicht verwendet, gebräuchlich war „Galizien“. Dieses Galizien ist nicht zu verwechseln mit „Galicien“ im Nordwesten Spaniens.

Der Süden der heutigen Ukraine und die Krim waren ab 1441 als „Khanat“ der Krimtataren an das Osmanische Reich angeschlossen. Durch den Russisch-Türkischen Krieg 1768–1774 wurden diese Gebiete Teil des russischen Zarenreiches.16 Daraus entstand „Neurussland“. Zum Aufbau der bis dahin wenig besiedelten Regionen lud die russische Zarin Katharina die Große Einwanderer aus Zentralrussland, Deutschland, Serbien und Griechenland ein. In kurzer Zeit wurden daraufhin neue Städte gegründet, deren Namen durch den Ukraine-Krieg weltweit bekannt wurden: Dnipro, Cherson, Odessa, Sewastopol, Nikolajew, Mariupol und andere.

Neurussland wurde 1774 Teil des Russischen Reiches.

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Die nördlichen Gebiete der heutigen Ukraine, die zum Russischen Reich gehörten, hießen über Jahrhunderte “Kleinrussland”. Der Begriff Ukraine war damals noch nicht gebräuchlich.

Im 19. Jahrhundert bildeten sich aus der Volkssprache eine ukrainische Schriftsprache und Literatur heraus. Kulturelles ukrainisches Zentrum war damals Galizien mit der Hauptstadt Lemberg (heutiges Lwiw). Die im damaligen Österreich-Ungarn übliche Bezeichnung für die ukrainische Sprache war „Ruthenisch“.18

Der ukrainische Historiker Mychajlo Hruschewskyj (1866 - 1934) schuf Anfang des 20. Jahrhunderts in Lemberg die Grundlage für eine ukrainische Nationalbewegung, indem er der Auffassung einer einheitlichen ostslawisch-russischen Geschichte widersprach und ihr sein Schema einer getrennten Entwicklung des russischen und ukrainischen Volkes entgegenstellte. Er war damit ein führender Kopf der aufkommenden ukrainischen Nationalbewegung.19

Erste Versuche einer ukrainischen Staatsgründung im russischen Bürgerkrieg

Die Ukraine als einheitlicher Staat hat also keine jahrhundertelange Geschichte. Die ersten Versuche einer Staatsgründung gab es nach dem Sturz des russischen Zaren während der russischen Revolution, die zu den Wirren eines Bürgerkrieges führte. Zwischen 1918 und 1921 wurden neun verschiedene „Staaten“ auf dem ungefähren Gebiet der heutigen Ukraine ausgerufen, die sich teilweise gegenseitig bekämpften.

Die Bolschewisten proklamierten im Dezember 1917 in Charkow die „Ukrainische Sowjetrepublik“. Kurz darauf, am 25. Januar 1918, rief die ukrainische Nationalbewegung in Kiew die „Ukrainische Volksrepublik“ aus. Im Frühjahr 1918 gab es zudem die „Sowjetrepublik Donez-Kriwoi Rog“, die „Sowjetrepublik Odessa“ und die „Sozialistische Sowjetrepublik Taurida“ auf der Krim.20

Durch den Einmarsch der deutsch-österreichischen Armee im Frühjahr 1918 löste sich im April die bolschewistischen „Ukrainische Sowjetrepublik“ wieder auf; auch die nationalistische „Ukrainische Volksrepublik“ verschwand. Stattdessen setzten die deutschen Besatzer am 29. April 1918 ein Marionettenregime unter Pawlo Skoropadskyj ein, der mit harter Hand regierte. Er vertrat eine stark nationalistische Linie und proklamierte den „Ukrainischen Staat (Hetmanat Ukraine)“. Nach dem Abzug der österreichischen Truppen wurde er am 14. Dezember 1918 durch einen Putsch entmachtet, und die „Ukrainische Volksrepublik“ wurde unter Führung von Symon Petljura wieder belebt. Diese Volksrepublik bestand 15 Monate, kontrollierte aber immer nur kleine Teile des Gebietes der heutigen Ukraine. Dabei kam es zu ethnischen Säuberungen durch Pogrome an Juden; mindesten 35.000 wurden ermordet.21 Auf diese „Ukrainische Volksrepublik“ beruft sich die heutige Ukraine.

Im Januar 1919 eroberten die Bolschewiki die Stadt Kiew und riefen die „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ aus.22 Die Regierung der „Ukrainischen Volksrepublik“ musste aus Kiew fliehen und zog sich im Laufe der Zeit immer weiter nach Westen zurück. Als die Rote Armee alle Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht hatte, endete im Februar 1920 die Existenz der „Ukrainischen Volksrepublik“.

In der Westukraine um die Stadt Lemberg existierte von Ende 1918 bis Mai 1919 die „Westukrainische Volksrepublik“. Deren Gebiet wurde dann im Vertrag von Riga 1921 zwischen Polen, Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei aufgeteilt.23

Weite Teile der Südukraine im Umfang von etwa einem Drittel der heutigen Ukraine wurden 1919 von der anarchistischen Bauern- und Partisanenbewegung „Machnowschtschina“ kontrolliert. Sie wurde von der Roten Armee hart bekämpft und schließlich 1922 vernichtet.24

Alle diese verschiedenen Republiken kontrollierten immer nur Teile der heutigen Ukraine. Von einer Staatlichkeit im normalen Sinne und geordneten Verwaltungsstrukturen kann man nicht sprechen.

Eine einheitliche Staatlichkeit entstand erst, nachdem die Rote Armee unter Lenin alle anderen ausgerufenen Republiken besiegt hatte und die „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR)“ etabliert wurde. Die Ukrainische SSR wurde 1922 Teil der Sowjetunion. Die Sowjetunion war ein föderaler Staat. Die Ukrainische SSR war also nie ein eigenständiger Staat, sondern kann verglichen werden mit einem Bundesland in Deutschland oder Österreich.

Die Grenzen der heutigen Ukraine sind also nicht langfristig historisch gewachsen, sondern eine Folge des russischen Bürgerkrieges 1917-22. Das ehemalige nördliche Kleinrussland und das südöstliche Neurussland wurden als Territorium der Ukraine innerhalb der Sowjetunion vereinigt. Ohne Lenin wäre die Bildung einer ukrainischen Staatlichkeit in ihrer heutigen Ausdehnung nicht möglich gewesen. Das hören heutige ukrainische Nationalisten nicht gerne, es ergibt sich aber aus der historischen Betrachtung. Diese Zusammenlegung von Kleinrussland und Neurussland wurde von oben beschlossen. Die Bevölkerung hatte dabei nichts zu sagen.

1945: Westukraine wird Sowjetunion zugeschlagen

Die heutige Westukraine gehörte nach dem Ersten Weltkrieg nicht zur Sowjetunion, sondern war zwischen Polen, Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei aufgeteilt. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Konferenz von Jalta. Die Staatschefs Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (Vereinigtes Königreich) und Josef Stalin (UdSSR) trafen sich 1945 in Jalta auf der Krim, um die Machtverteilung in Europa nach dem Ende des Krieges auszuhandeln. Ein Ergebnis war, dass die Grenzen der Sowjetunion Richtung Westen verschoben wurden und die heutige Westukraine gebildet wurde. Die Bevölkerungen dieser Regionen hatten kein Mitspracherecht. Die drei Staatschefs entschieden selbstherrlich über deren Schicksal.

Konferenz von Jalta 1945. Gruppenfoto nach dem Abschluss der Verhandlungen; von links: Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin.

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1991: Unabhängigkeit der Ukraine

Die Ukraine war bis 1991 Teil der UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), auch Sowjetunion genannt. Die Sowjetunion war ein Vielvölkerstaat, der die kulturelle und sprachliche Identität der vielen Volksgruppen zu achten versuchte. Die Toleranz zwischen den Volksgruppen war kommunistische Staatsdoktrin. Nationalistische Bestrebungen wurden in der Sowjetunion unterdrückt. Der Journalist Thomas Röper, der in Sankt Petersburg lebt und Russland gut kennt, beschreibt die gesellschaftliche Stimmung:

Vor 1991 konnte sich niemand ein Auseinanderbrechen der Sowjetunion vorstellen. Daher waren die Grenzziehungen zu Sowjetzeiten recht unwichtig und wurden entsprechend ohne große Sorgfalt in Bezug auf die Ethnien durchgeführt. So wurde (…) die Krim 1954 vom damaligen ukrainischen Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chrustschow, der Ukraine zugeschlagen. (…)

Den Menschen waren die Grenzziehungen innerhalb der Sowjetunion nicht wirklich wichtig. Schließlich geschah all dies innerhalb eines Staates und hatte keine Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Aber diese willkürlich gezogenen Grenzen sind der Grund dafür, dass die Bevölkerung in der Ukraine heute tief gespalten ist zwischen dem Westteil des Landes, in dem vor allem Ukrainer, aber auch Rumänen, Polen, etc. leben und dem Osten des Landes, wo vor allem ethnische Russen leben.

Diese Spaltung aber hatte lange keine „ernsthafte“ Konsequenzen. Man muss sich das Verhältnis zwischen Ukrainern und Russen im Grunde so vorstellen, wie das zwischen Bayern und Norddeutschen. Es war eher ein gegenseitiges „Frotzeln“, keine echte Kluft.26

1991 zerfiel die Sowjetunion. Diese bestand aus fünfzehn Sowjetrepubliken. Russland war nur eine Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion, nahm aber etwa 78 Prozent von deren Fläche ein.27 Die Sowjetunion wurde vom Moskauer Kreml aus regiert. Russland wurde nach 1991 Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Den komplizierten Zusammenbruch der Sowjetunion nachzuzeichnen, sprengt den Rahmen dieses Buches. Wichtig ist jedoch ein Blick auf die Motivation der ukrainischen Bevölkerung bei der Begründung einer unabhängigen Ukraine.

Am 17. März 1991 fand das erste und einzige Referendum in der Geschichte der Sowjetunion statt. In den neun teilnehmenden Sowjetrepubliken sprachen sich 76,4 Prozent der Wähler für den Erhalt der Sowjetunion aus. Die Abstimmungsbeteiligung lag bei beachtlichen 80 Prozent. Sechs Sowjetrepubliken – Armenien, Georgien, Moldawien und die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen – beteiligten sich nicht, da sie entschlossen waren, aus der Sowjetunion auszutreten.28 Die Bürgerinnen und Bürger der Ukrainischen Sowjetrepublik stimmten mit einer überwältigenden Mehrheit von 70,2 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion.29 Das heißt, die ukrainischen Nationalisten hatten im März 1991 keine Mehrheit für eine Unabhängigkeit. Die Ukrainer wollten in der Sowjetunion bleiben.

Im August 1991 scheiterte in Moskau der Putschversuch kommunistischer Hardliner, dem „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“, gegen Präsident Gorbatschow. Bei der Niederschlagung des Putsches profilierte sich Boris Jelzin, der damals Präsident der Russischen Sowjetrepublik war. Dadurch beschleunigte sich der Zerfallsprozess der Sowjetunion schlagartig.30 In der kurzen Zeit vom 20. bis zum 31. August 1991 verabschiedeten Parlamente mehrerer Sowjetrepubliken Unabhängigkeitsbekundungen, darunter auch das ukrainische Parlament.

Neun Monate nach dem Referendum vom 17. März 1991, bei dem 70,2 Prozent der Ukrainer für den Erhalt der Sowjetunion gestimmt hatten, fand in der Ukraine am 1. Dezember 1991 ein zweites Referendum statt. Jetzt stimmten 90,3 Prozent der Ukrainer für einen Austritt aus der Sowjetunion und eine staatliche Unabhängigkeit des Landes.31 Wie ist ein solcher Meinungsumschwung ins Gegenteil erklärlich?

Natürlich haben dazu der erwähnte Putschversuch in Moskau, die Unabhängigkeitserklärungen mehrerer Sowjetrepubliken und die zunehmende politische Verunsicherung beigetragen. Aber das reicht für eine Erklärung nicht aus. Gehen wir auf Spurensuche.

Versprechungen vor dem Unabhängigkeitsreferendum

Vladislav Zubok, Professor für Geschichte an der Londoner Schule für Wirtschaft und Politikwissenschaft, beschreibt in seinem Buch „Collapse: The Fall of the Soviet Union“32, dass für die Bewohner im Südosten der Ukraine die Idee einer unabhängigen Ukraine nicht anziehend war. Sie fühlten sich hauptsächlich mit der russischen Geschichte und Kultur verbunden. „Für Millionen von Menschen in diesen Regionen – Menschen gemischter ethnischer Herkunft und einer gemeinsamen [russlandverbundenen] Identität – war die Idee der ukrainischen «Souveränität» etwas Vages, etwas, das immer noch eine gemeinsame Staatlichkeit mit der Russischen Föderation implizieren könnte.“

Leonid Krawtschuk war ukrainischer Parlamentspräsident in der Endphase der Sowjetunion. Er wurde zeitgleich mit dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Dezember 1991, bei dem 90,3 Prozent der Ukrainer für einen Austritt aus der Sowjetunion stimmten, zum ersten Präsidenten des somit neu gebildeten ukrainischen Staates gewählt. Er war ein maßgeblicher Befürworter einer unabhängigen Ukraine. Er unterschrieb am 8. Dezember 1991 zusammen mit seinen Amtskollegen, den Präsidenten Jelzin (Russland) und Schuschkewitsch (Weissrussland), die „Belowescher Vereinbarungen“, wonach die Sowjetunion „ihre Existenz beendet“ habe.33 Wie hat Leonid Krawtschuk, als er noch Parlamentspräsident der Ukrainischen Sowjetrepublik war, für die Unabhängigkeit der Ukraine geworben?

Zu dieser Frage verweist der in Odessa geborene Historiker Alexander Nepogodin auf die vom Wahlkampfteam Krawtschuks im Vorfeld des Referendums verteilten Werbebroschüren. In diesen hieß es:

Nur eine unabhängige Ukraine wird in der Lage sein, als ein gleichberechtigter Partner mit seinen Nachbarn eine zwischenstaatliche Gemeinschaft zu bilden, vor allem mit Russland, das uns am nächsten steht. Wir stehen in der Verpflichtung, die Republik zu einer guten Mutter für alle ihre Bürger zu machen. Die vom Obersten Rat der Ukraine einstimmig beschlossene Erklärung über die Rechte der Nationalitäten innerhalb der Ukraine eröffnetbreite Möglichkeiten für die Entwicklung der Sprachen und Kulturen aller Nationalitäten in der Ukraine. Es spielt keine Rolle, welche Sprache ukrainische Bürger sprechen, solange sie über eine unabhängige Ukraine und ihre gesetzlichen Rechte sprechen.34

Der Historiker Alexander Nepogodin schildert weiter:

Der Plan der Behörden der ukrainischen Republik war erfolgreich. Eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent der Bewohner der Ukrainischen Sowjetrepublik sagte „Ja“ zu einem unabhängigen Weg, getrennt von der Russischen Sowjetrepublik. Die Abstimmungsergebnisse sprachen für sich: 83,9 Prozent stimmten in der Region Donezk für die Unabhängigkeit der Ukraine; 83,9 Prozent im Gebiet Lugansk; 86,3 Prozent im Gebiet Charkow; 85,4 Prozent in der Region Odessa. Nur die Krim wich von dieser hohen Zustimmung ab, obwohl selbst dort 54,2 Prozent der Wähler die Unabhängigkeit der Ukrainischen Sowjetrepublik befürworteten. Es gab viele Gründe für eine so überwältigende Zustimmung. Der Bevölkerung wurde nicht nur die Aufrechterhaltung ungehinderter Beziehungen zu Russland zugesichert, sondern auch Maßnahmen zum Schutz und zur Entwicklung der russischen Sprache und Kultur, wie die Materialien zum Wahlkampf aus dieser Zeit belegen. Viele meinten, dass sich nichts drastisch ändern würde, dass aber die Unabhängigkeit zum Wohlstand der Ukraine führen würde. Es wurden wirtschaftliche Entwicklungsindikatoren genannt, die mit denen Deutschlands und Frankreichs vergleichbar waren. Tatsächlich nahm die Ukraine vor dem Zusammenbruch der UdSSR in Europa den ersten Platz in der Stahlerzeugung, im Kohle- und Eisenerzbergbau und in der Zuckerproduktion ein.

Es ist wichtig hervorzuheben: Der Bevölkerung im Südosten der Ukraine wurden 1991 ungehinderte Beziehungen zu Russland und ein Schutz der russischen Sprache und Kultur versprochen. Unter diesen Voraussetzungen stimmte sie für eine Unabhängigkeit der Ukraine als eigenständigem Staat. Aber diese Versprechen wurden in den folgenden Jahrzehnten Stück für Stück von den ukrainischen Nationalisten gebrochen. Das spaltete das Land.

Mit dem Ukraine-Krieg wurde aus dem Spalt eine abgrundtiefe Kluft. Die Geschichte wiederholte sich im Verlauf von nur 100 Jahren zum vierten Mal:

Im Ersten Weltkrieg dienten ukrainische Soldaten im Heer der österreichischen Habsburger sowie im Heer des russischen Zaren und schossen aufeinander.

Im Bürgerkrieg nach der russischen Revolution kämpften Ukrainer in den Armeen der verschiedenen auf ukrainischem Gebiet neu ausgerufenen Republiken gegeneinander.

Und im Zweiten Weltkrieg dienten Ostukrainer der Roten Armee, während sich viele Westukrainer den Nationalsozialisten und der Deutschen Wehrmacht anschlossen.

Wenn es keine tiefgehende Aufarbeitung gibt, gären solche Konflikte und traumatischen Erfahrungen im Untergrund weiter.

Ab 2014 traten sie mit den Maidan-Protesten und dem darauf folgenden Donbass-Krieg wieder als gewaltsame Konflikte auf.

Zusammenfassung:

Im Laufe der Jahrhunderte herrschten auf dem Gebiet der Ukraine viele verschiedene Machthaber in immer wieder unterschiedlich aufgeteilten Regionen. Die Versuche einer Staatsgründung nach dem Ersten Weltkrieg scheiterten. Die Ukraine gibt es als eigenen Staat erst seit dem 1. Dezember 1991. Vor dem Referendum, in dem die Bevölkerung über die Unabhängigkeit abstimmen konnte, wurden den Wählern ungehinderte Beziehungen zu Russland und der Schutz der russischen Sprache und Kultur versprochen. So votierte eine große Mehrheit auch in russischsprachigen Gebieten für eine Ablösung von der Sowjetunion. Das Territorium der heutigen Ukraine entstand aus willkürlichen Grenzziehungen. Lenin brachte 1921 Kleinrussland mit Neurussland zusammen, Stalin fügte 1945 der heutigen Westukraine Teile Ungarns und Rumäniens hinzu, Chruschtschow 1954 die Krim. Solche territorialen Zugehörigkeiten spielten keine große Rolle, solange sie so oder so zum Sowjetreich gehörten.

Als Territorium eines unabhängigen Staates aber erzeugen solche willkürlich gesetzten Grenzen Spannungen, die nur mit großer Achtsamkeit und Bemühung um Ausgleich überwunden werden können, sodass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht gefährden. Solche Spannungen und alten Konflikte können aber auch leicht benutzt werden, um die Bevölkerung in gewalttätige innere Auseinandersetzungen zu treiben.

Erzengel Michael im Fresko der Abtei Sant‘Angelo in Formis, Italien, ca. 1080

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Ukraine ist ein Vielvölkerstaat

Aufgrund der wechselhaften Geschichte wird die heutige Ukraine von vielen Volksgruppen bewohnt. Sie ist ein Vielvölkerstaat mit zwei Hauptsprachen: Ukrainisch und Russisch. Beide Sprachen haben dieselben Wurzeln im Altostslawischen, entwickelten sich aber über die Jahrhunderte unterschiedlich. Ukrainisch mischte sich mit Polnisch, Ungarisch, Österreichisch und Rumänisch. Heute ist der Verwandtschaftsgrad von Russisch und Ukrainisch vergleichbar mit dem von Spanisch mit Portugiesisch.36

Beide Sprachen sind im konkreten Leben nicht sauber getrennt, es gibt „Surschyk“, das in sehr vielen Regionen der Ukraine gesprochen wird. Dieses Wort bezeichnete früher eine Mischung aus Weizen und Roggen oder Gerste und Roggen. Bei Surschyk werden Ukrainisch und Russisch gemischt. Der Anteil beider Sprachen ist bei jedem Sprecher individuell unterschiedlich.37

Die Identität zu einer Volksgruppe entsteht vorwiegend durch die Sprache. Alles, was eine Gesellschaft ausmacht, entsteht durch Kommunikation. Deshalb ist die Sprache identitätsstiftend. Identitätsstiftend sind auch eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Religion.

Die Kiewer Akademie der Wissenschaften hat die Entwicklung der Muttersprache in der Ukraine seit der Unabhängigkeit der Ukraine beobachtet. 2011 sprachen 39 Prozent der Menschen in der Ukraine zu Hause Russisch und 43 Prozent zu Hause Ukrainisch. Über diese Statistik der Akademie der Wissenschaften berichtete „The Ukrainian Week“ am 18. April 2012.38 In dem Artikel wurde ausgeführt, dass sich die Ukraine nach der Unabhängigkeit 1991 in der Sprachfrage nicht in Richtung einer einheitlichen Nation entwickelt hat. Stattdessen betrachteten immer weniger Menschen beide Sprachen als Alltagssprache. Die Verständigungsmöglichkeiten innerhalb des Landes nahmen also ab und die Spaltung nahm zu. Das ist in folgender Graphik sichtbar.

Entwicklung der Muttersprachen in der Ukraine

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2001 gab es eine Volkszählung in der Ukraine, in der auch nach der ethnischen Zugehörigkeit gefragt wurde. Die Befragten beantworteten diese Frage in einer Selbsteinschätzung nach eigenem Gefühl ohne klare Kriterien.40 77,8 Prozent sagten, dass sie sich als Ukrainer fühlten, 17,3 Prozent als Russen und 4,9 Prozent als Angehörige anderer Volksgruppen.41 17,3 Prozent der ukrainischen Staatsbürger fühlten sich also als Russen. Die gemeinsame Geschichte, Sprache und Religion mit Russland waren für diese Menschen identitätsstiftender als ihre rechtliche Staatsangehörigkeit und ihr Pass.

In dieser Volkszählung wurde auch nach der Muttersprache gefragt. Der Anteil derjenigen, deren Muttersprache Ukrainisch war, belief sich auf 67,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, der Anteil derjenigen, deren Muttersprache Russisch war, belief sich auf 29,6 Prozent. Die obige Graphik zeigt aber, dass deutlich mehr Menschen – bis zu 40 Prozent – im Alltag Russisch sprachen. Russisch wurde also auch von vielen ukrainischen Muttersprachlern bevorzugt gesprochen.

Einen weiteren kulturellen Unterschied findet man in der Religion. In der Westukraine ist die Mehrheit der Gläubigen katholisch. Im Osten und Süden überwiegt das orthodoxe Christentum. Nach Jahrzehnten des Sozialismus gibt es auch sehr viele Atheisten.

Die Spaltung des Landes zeigte sich ebenfalls bei den Wahlen, hier zum Beispiel bei den Präsidentenwahlen 2010:42

In den roten Wahlbezirken hatte die westlich orientierte Kandidatin Tymoshenko die Mehrheit, in den blauen Wahlbezirken der russlandoffene Kandidat Janukowitsch.

In den westlichen Mainstream-Medien wird die Ukraine immer als politisch und kulturell einheitlicher Staat dargestellt. Über die Konflikte und Kriegsursachen innerhalb des Landes wird kaum berichtet. Warum? Vermutlich, weil dies nicht zu der einfachen Erzählung passt, dass die gute Ukraine von dem bösen Russland überfallen wurde (siehe 2. Prinzip der Kriegspropaganda).

In einem Vielvölkerstaat muss sich die Politik bemühen, Konflikte zu vermeiden und Minderheiten ernst zu nehmen. Die Geschichte zeigt, dass die Unterdrückung von Sprachen oder Volksgruppen einen Staat zerreißen kann. Genau das ist leider in der Ukraine passiert.

Ukraine als Armenhaus Europas

Zur Ermittlung des durchschnittlichen Jahreseinkommens der Bevölkerung wird das Bruttonationalprodukt eines Landes, das sind alle Verdienste aller Einwohner eines Landes, durch die Anzahl der Einwohner geteilt. Darin enthalten sind alle Löhne, Gehälter, Gewinne, Kapitalerträge und andere Einkommen.

Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf lag in Deutschland im Jahr 2021 bei 51.040 US-Dollar (USD), also bei rund 4.250 USD monatlich. Deutschland befand sich damit an 20-ster Stelle von 200 Staaten.

In der Ukraine lag 2021 das durchschnittliche Einkommen pro Kopf bei jährlich 4.120 USD oder monatlich 340 USD. Die Ukraine befindet sich im weltweiten Vergleich an 122-ster Stelle zwischen El Salvador und Sri Lanka und weit abgeschlagen von allen anderen europäischen Staaten.43 Es handelt sich um das durchschnittliche Einkommen. Einige Gutverdienende und Wohlhabende haben natürlich sehr viel mehr, aber 45 Prozent der Bevölkerung haben weniger als 100 Euro monatlich zur Verfügung und leben in Armut. Auch wenn man mit 100 Euro in der Ukraine mehr kaufen kann als in der EU, kann damit niemand anständig leben.44 Durch die Kriegseskalation ab 2022 hat sich die Lage natürlich noch weiter verschlechtert.

In der Ukraine übersteigen die Heizkosten allein oft die Renten oder Löhne ärmerer Leute. Auf Drängen des Internationalen Währungsfonds (IWV), von dem die Ukraine seit 2014 abhängig ist45, wurde die staatliche Subventionierung der Wohnnebenkosten, also für Gas, Wasser, Strom und Heizung, eingestellt. Da sich deren Tarife den Preisen in der EU anglichen, mussten die Menschen bis zu 12-fache Preissteigerungen für Heizung und Gas zahlen.46 Da reichte es nicht mehr für Lebensmittel. Also bezahlten die Menschen die Nebenkosten nicht, was dazu führte, dass die örtlichen Versorger wiederum ihre Lieferanten nicht bezahlen konnten. In Kiew gab es eine zentrale Versorgung der Wohnungen mit Warmwasser. Da aber der Versorger “Kyivteploenergo” das Gas zum Erwärmen des Wassers nicht mehr bezahlen konnte, gab es 2018 den ganzen Sommer über in Kiew kein warmes Wasser. Bürgermeister Klitschko kündigte an, dass die zentrale Warmwasserversorgung nun ganz eingestellt werde. Stattdessen sollten sich die Wohnungsinhaber Boiler kaufen. Das ist zynisch, denn die armen Leute, die die Nebenkosten nicht bezahlen konnten, konnten sich natürlich auch keinen neuen Boiler und teuren Strom leisten.47

Warum ist die Ukraine so arm? Das Land hat sehr viele Bodenschätze und wertvollstes Ackerland. In Bezug auf natürliche Ressourcen steht die Ukraine weltweit auf dem vierten Platz, schrieb die „Foreignpolicy“ in einem Report.48 Die Ukraine hatte 1991 wirtschaftlich eine ähnliche Ausgangslage wie Russland und war in einigen Industrien führend. Jedoch hat sich Russland wirtschaftlich deutlich besser entwickelt. In Russland war 2021 das durchschnittliche Einkommen mit 11.600 USD jährlich fast dreimal so hoch wie in der Ukraine.

Auch deshalb ist für viele Ostukrainer ein engerer Zusammenschluss mit Russland attraktiv. Dreimal höhere Löhne sind ein handfestes Argument. Dazu kommen deutlich billigere Energiekosten.

Auf der anderen Seite ist aber auch die EU für die Ukraine sehr anziehend. Dort sind die Einkommen noch viel höher. Der Einkommensunterschied zwischen zum Beispiel 100 Euro zu 2000 Euro im Monat ist sehr hoch – verführerisch hoch. Es ist verständlich, dass man von dem Reichtum der EU auch etwas abbekommen will und eine EU-Mitgliedschaft fordert. An diesem Punkt entzündete sich der Konflikt in der Ukraine und führte 2014 zum Regierungs-Putsch.

Hier wirken aber viele Illusionen. Denn realer Wohlstand entsteht nicht durch Fördergelder der EU, sondern wenn die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass die Kreativität und der Arbeitswille einer Bevölkerung sich entfalten können. Das ist in der Ukraine seit 1991 kaum gelungen, stattdessen flohen viele Menschen.

Bevölkerung flieht

Zum Zeitpunkt der Gründung der Ukraine 1991 hatte sie ca. 52 Millionen Einwohner. Seither schrumpfte die Bevölkerung durch Auswanderung und eine sinkende Geburtenrate. Mütter trauen sich nicht, Kinder zu bekommen. Bei der Volkszählung 2001 wurden 48,2 Millionen Einwohner gezählt, also 4 Millionen weniger als zehn Jahre zuvor.49 Die Volkszählung 2020 ergab nur noch 37,2 Millionen Einwohner, weitere 11 Millionen weniger als 2001.50