Wahrnehmung als pädagogische Übung -  - E-Book

Wahrnehmung als pädagogische Übung E-Book

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Beschreibung

"Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen?" Diese scheinbar einfache Frage von Käte Meyer-Drawe geht diesem Buch als Inspiration voraus: Wohl alle glauben zu wissen, was es heißt, etwas zu sehen, zu riechen, zu schmecken, zu tasten, zu hören. Die Frage aber, was das nun wirklich heißt, erfordert die Überprüfung vermeintlicher Selbstverständlichkeiten und gewohnter Einordnungen. Im pädagogischen Handeln wird das Hinschauen, Hinhören, Einfühlen vielfach übersprungen zugunsten eines vorschnellen Deutens und Urteilens. Wahrnehmen als pädagogische Übung bedarf eines Innehaltens, das dem Verstehen bequeme Abkürzungen versperrt und eingespielte Sicherheiten irritiert. Erst dies erlaubt es, hinter Diagnosen, Bewertungsrastern und Begabungskategorien das konkrete Kind in seinem Lernen, den Mitmenschen in seinen Nöten und Potenzialen zu suchen. Das vorliegende Buch diskutiert und vertieft die phänomenologisch orientierte Vignetten- und Anekdotenforschung als Methode für die Reflexion und Sensibilisierung der Wahrnehmung von Lern- und Bildungsprozessen in Schule und Gesellschaft.

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Impressum

© 2020 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-6063-4

Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,

Innsbruck/Scheffau – www.himmel.co.at

Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: himmel. Studio für Design und Kommunikation, Innsbruck / Scheffau –

www.himmel.co.at

Umschlagfotos: hkp

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Titel
Hans Karl Peterlini
Die Übung des Wahrnehmens als pädagogische Aufgabe – Einführung und Vorwort
Leiblichkeit als Perspektive der Wahrnehmung
Käte Meyer-Drawe
Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen?
Empirie
Wie aber über Wahrnehmungen sprechen?
Beispiel 1
Beispiel 2
Beispiel 3
Feldzüge des Geistes
In Anspruch genommen
Für-wahr-Nehmen
Literatur
Hans Karl Peterlini
Der zweifältige Körper
Die Leib-Körper-Differenz als diskriminierungskritische Perspektive – Vignettenforschung zu Rassismus, Sexismus und Behinderung
Die dichotome Differenz zwischen Körper und Leib
Vignetten als Studien über Blicke auf Leib und Körper
Geschlechterdifferenz in der Perspektive von Körper und Leib
Die Sprache des Sexuellen zwischen Sexismus und Tabuisierung
Leibliches In-der-Welt-Sein als Überschreitung von Behinderung, Körperlichkeit als deren Wahrnehmung
Der Wildfang in einer Schulklasse – oder: Was könnte daran rassistisch sein?
Reflexive Zusammenschau: die Erzählung überschreitet den Körper und stiftet das Leibliche
Literatur
Methodologische Vertiefungen und methodische (Weiter-)Entwicklungen
Johanna F. Schwarz
Erfahrungen wahrnehmen – Wahrgenommener Erfahrung zum Ausdruck verhelfen
Theoretische und methodische Einführung in die phänomenologisch orientierte Vignettenforschung
Theoretische Annäherung an die phänomenologisch orientierte Grundierung der Vignettenforschung
Wahrgenommene Erfahrung in Vignetten konkretisiert
Ein veritabler Paradigmenwechsel
Affizierung, affiziert werden und affiziert sein
Beobachtungsnotiz versus Erfahrungsprotokoll
Rekreation vs. Rekonstruktion – Prägnanz vs. Präzision
Miterfahren von Erfahrung vs. teilnehmende Beobachtung
Subjektiv-Objektiv versus Selbst-Andere
Deutung – Interpretation – Analyse – Lektüre
Abschließende Bemerkungen
Literatur
Anja Thielmann
Von der Wahrnehmung zur Vignette
Wie Vignetten leibliche Wahrnehmungen und intersubjektive Erfahrungen in Sprache ‚übersetzen‘
Phänomenologisch orientierte Forschung in Bezug auf den Forschungsgegenstand Lernen
Phänomenologische Forschung in der Erziehungswissenschaft
Verortung in der qualitativen empirischen Forschung
Vignettenbasierte Forschung
Von der Datenerhebung zur Vignette
Vignetten als Ausdruck leiblicher Wahrnehmung
Design der Vignettenforschung
Vorüberlegungen zur Datenerhebung im Feld
Daten erheben – Protokolle gelebter Erfahrung
Verfassen der Rohvignette
Beispiel einer Rohvignette
Mündliche Validierung
Schreiben der Vignette
Phase des ‚Blackening out‘
Schreiben im Modus des ‚Directors cut‘
Beispiel Vignette
Schlussbemerkung
Literatur
Silvia Krenn
Die ‚merkwürdige‘ Geschichte einer (Lern-)Erfahrung
Über die Herausforderung, eine erzählte erinnerte Lernerfahrung in einer Anekdote als Forschungsinstrument zu gestalten
Eine Erfahrung aus dem Erfahrungsstrom
Transformationen gelebter Erfahrung in der Anekdote
Anekdote „Boris – Mit anderen besser umgehen“
Anekdoten aus der Erfahrungsgeschichte Amelkas
Anekdote „Amelka – Lerne, lerne, lerne!“
Anekdote: „Amelka – Panik“
Anekdote: „Amelka – Alles in Grenzen!“
Zum Abschluss
Literatur
Silvia Krenn
Die Kunst des Anekdoten-Schreibens
Vom Gespräch zur Anekdote – Über das Verfassen von Anekdoten als Forschungsinstrument
Anekdote „Brigitta – Die Schnellste“
Transkriptausschnitt
Zum Abschluss
Literatur
Rahel More
Hermeneutik und Phänomenologie – eine Ergänzung
Am Beispiel der Interpretativen Phänomenologischen Analyse (IPA)
Einleitung
Der hermeneutische Ausgangspunkt des Verstehens
Erfahrung, Erlebnis und Wahrnehmung
Der Sinn der Erfahrung und dessen Bedeutung
Hermeneutik und Phänomenologie – ein Widerspruch in sich?
Antizipation und die Rolle des Vorwissens
Forschungsansatz Interpretative Phänomenologische Analyse
Datenerhebung orientiert an IPA
Das Erfassen von leiblicher Erfahrung
Datenanalyse orientiert an IPA
Abschließende Bemerkungen
Literatur
Pädagogische Bezüge und Praxiserfahrungen
Siegfried Baur
Wahrnehmen im pädagogischen Handlungsprozess
Überlegungen zum Wahrnehmen im erzieherischen Verhältnis im ‚lernseitigen‘ – ‚lehrseitigen Spannungsfeld‘
Der pädagogische Bezug oder das erzieherische Verhältnis
Was kann Wahrnehmung sein?
Im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Personalisierung: Vertraut-werden lehrseits mit der Sichtweise des lernseitigen Blicks
Heterogenität, Individualisierung und Personalisierung
Was sieht der Blick der Lehrerin/des Lehrers oft nicht?
Vignette 1– Der ‚lehrseitige‘ Blick des Lehrers/der Lehrerin
Wie kann die Lehrerin/der Lehrer den ‚lernseitigen‘ Blick schärfen?
Vignette 2 – Der ‚lernseitige‘ Blick des Lehrers/der Lehrerin
Responsivität
Literatur
Evi Agostini und Stephanie Mian
Schulentwicklung mit Vignetten
Ein Beispiel zum Einsatz von phänomenologisch orientierten Vignetten in der Weiterbildung von Lehrpersonen
Zum Projekt
Ursprung
Genese
Ablauf
Besonderheiten und Herausforderungen
Kritische Reflexion und (vorläufige) Erkenntnisse
Literatur
Abgrenzungen – Annäherungen – Überschreitungen
Evi Agostini
Lernen ‚am Fall‘ versus Lernen ‚am Beispiel‘
Oder: Zur Bedeutung der pathischen Struktur ästhetischer Wahrnehmung für die Narration von phänomenologisch orientierten Vignetten
(Pädagogische) Kasuistik. Oder: Lernen ‚am Fall‘
Forschungsmethod(olog)ische und didaktische Überlegungen zwischen Narration, Illustration und Rekonstruktion von (Unterrichts-)Wirklichkeit
Prämissen, Besonderheiten und Ambivalenzen im Umgang mit „Fällen“
Phänomenologisch orientierte Vignettenforschung. Oder: Lernen ‚am Beispiel‘
Die Vignette als Beispiel
Die Vignette als Beispiel
Literatur
Irene Cennamo, Jasmin Donlic, Hans Karl Peterlini
Die Vignette im Forschungsdesign
Potenziale, Grenzen und Anknüpfungspunkte einer Methodenkombination am Beispiel einer Antragstellung
Problemstellung und Neulandbeschreitung – Eine Projekterfahrung
Lebensweltlich und sozialräumlich orientierte Forschung zu zwischenmenschlichem Zusammenleben, Handeln und Kommunizieren
Umrisse des Projektentwurfes – Forschungsfragen und methodische Skizze
Der methodische Begründungszusammenhang
Theoretischer Hintergrund und methodische Umsetzung
Die Datenerhebung und ihre Instrumente
Die Vignette
Die kontextintensiven Stegreiferzählungen
Das vertiefende narrative Interview
Die reflektierende Fokusgruppe – das reflektierende Gruppeninterview
Theoretischer Hintergrund und methodische Umsetzung
Literatur
Daniela Lehner
Widerfahrnis Wildheit?
Leiberfahrung und Fremdes
Wahrnehmung und Gestalt
Rohes Sein und Wahrnehmung
Vignette und Vignettenlektüre: Widerfahrnis Wildheit?
Vignette – Widerfahrnis Wildheit
Lektüre – Leiberfahrung und Fremdes
Gewahrsein und Lernen
Literatur
Autorinnen und Autoren

Erfahrungsorientierte Bildungsforschung

Band 7

Im Bildungsbereich werden täglich vielfältige Aktivitäten initiiert, Prozesse in Gang gesetzt und Aufgaben bearbeitet. Wenig ist darüber bekannt, wie sie vollzogen werden. Die Reihe „Erfahrungsorientierte Bildungsforschung“ erschließt einen in den Bildungswissenschaften vernachlässigten Bereich, indem sie den Erfahrungen nachspürt, die sich in Bildung und Erziehung zeigen. Die einzelnen Bände machen die Erfahrungsmomente pädagogischen Handelns versteh- und erfahrbar. Über verdichtete Beschreibungen (z.B. Vignetten, Anekdoten) werden Erfahrungsdimensionen erschlossen, welche zum Überdenken der eigenen pädagogischen Erfahrungen beitragen können.

Herausgegeben von Evi Agostini, Markus Ammann, Siegfried Baur, Hans Karl Peterlini, Michael Schratz und Johanna F. Schwarz

Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.)

Wahrnehmung als pädagogische Übung

Theoretische und praxisorientierte Auslotungen der phänomenologisch orientierten Bildungsforschung

Hans Karl Peterlini

Die Übung des Wahrnehmens als pädagogische Aufgabe – Einführung und Vorwort

Titel und Fokus dieses Bandes verdanken sich einer Frage, die Käte Meyer-Drawe am Ende eines Workshops und am Anfang ihres Beitrages stellt: „Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen?“ Es ist die Qualität und Sprengkraft scheinbar einfacher Fragen, dass sie vermeintlich Fragloses, als geklärt Vorausgesetztes mit einem Mal einer Erschütterung aussetzen. Die Frage nach der Wahrnehmung ist entwaffnend: Sie erfordert das Ablegen genau jener Instrumente, die wir für die Beantwortung bräuchten, die nun aber Gegenstand der Befragung sind und nicht Auskunft über sich selbst geben können. Wohl alle glauben zu wissen, was es heißt, etwas zu sehen, zu riechen, zu schmecken, zu tasten, zu hören, weil wir dies in einem immerwährenden Fluss tun, ohne es besonders reflektieren zu müssen. Die Frage danach, was es nun aber heißt, etwas zu sehen oder zu hören, verunsichert die vermeintliche Übereinstimmung in den möglichen Antworten. Ähnlich ist es, wenn wir wissen möchten, ob das, was wir als rot sehen, auch für die anderen rot ist; allein schon im Phänomen sogenannter Farbenblindheit erkennen wir die Bodenlosigkeit unseres Vertrauens in geteilte Erfahrungen. Selbstverständlich glauben wir zu wissen, was Rot ist, und berechtigter Weise gehen wir davon aus, dass wir in der Wahrnehmung von Rot alle dasselbe meinen. Aber haben wir Gewissheit, können wir es uns gegenseitig beweisen? Wir sind unseren Sinnen in gleichem Maße ausgesetzt, wie sie uns überhaupt erst Zugang zueinander und zur Welt verschaffen. Hinter sie gelangen zu wollen, das Wunder des Sehens, Hörens, Spüren und Fühlens entschlüsseln zu wollen, führt an Grenzen des Aussprechbaren und Denkbaren. Es verlangt die paradoxe Übung, dem zu misstrauen, worauf wir sehend und zugleich blind, hörend und zugleich taub vertrauen. Dabei ist interessant, dass wir auf manche Sinne so vertrauen, dass wir gar kein Wort dafür haben, wenn sie ausfallen: Tasten, Schmecken, Riechen. Wir müssen uns von den Entwürfen unserer Wahrnehmung distanzieren, wenn wir sie reflektieren wollen, wir müssen ihre vermeintlich sicheren Auskünfte, auf die wir uns im täglichen Leben verlassen, um überhaupt über eine Straße zu kommen oder uns mit den Nachbarn zu unterhalten, dazu einer Befremdung aussetzen. Aus einer phänomenologischen Perspektive ist Wahrnehmen weder ein nur autonomer noch ein nur passiver Akt, weder haben wir die absolute Freiheit zur Willkür, etwas als etwas zu erkennen, noch sind wir gerade in diesem Prozess, etwas als etwas wahrzunehmen, völlig fremdbestimmt von Dingen und Sinnen. Was wir wahrnehmen, hat mit uns, mit unseren Vorerfahrungen und unserem Vorwissen zu tun, mit den Wahrnehmungsmöglichkeiten unserer Sinne und Übersetzungsleistungen unserer kognitiven Anstrengungen, im Wahrnehmen konstituieren wir, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, fühlen, was auf uns einwirkt, aber wir können dies nicht beliebig tun, wir können nicht Rot für Grün erklären, können den schrillen Ton nicht als lieblich begrüßen, den harten Schlag nicht als zärtliches Streicheln empfinden. Innerhalb dieser Gegensätze aber liegt eine Bandbreite von Empfindungsmöglichkeiten des Wahrgenommenen, liegen Schattierungen und Nuancierungen, liegen Widersprüche und Ambivalenzen, ist uns der direkte Zugang zur Wirklichkeit hinter dem Erscheinen von Dingen und Farben verwehrt. So sehen wir ein Möbelstück deshalb als rot, weil der rote Gegenstand vom weißen Licht alle anderen Facetten des Lichtspektrums verschluckt und nur jene Wellenlängen reflektiert, die für uns dann rot sind. Mit den Augen mancher Tiere würden wir mehr und andere Farben wahrnehmen, weil sie mit anderen Rezeptoren ausgestattet sind. Was die Farbe Rot „ist“, können wir somit letztlich nicht sagen, wohl aber können wir – intersubjektiv – uns darüber austauschen, wie Rot in unseren Sinnen erscheint, welche Vorkommnisse von Rot wir wahrnehmen und welche Bedeutungen wir damit verbinden. Damit scheitert jede Engführung in der Begriffsbestimmung von „Rot“, wohl aber tut sich ein Universum von möglichen Vorkommnissen und Deutungen von Rot in unserer Lebenswirklichkeit auf: von der Farbe der Liebe zum Stopp im Straßenverkehr, von der Farbe des Blutes bis zum Abendrot als Schönwetterbot’.

Die Frage des Wahrnehmens tritt in pädagogischen Diskursen vielfach hinter die Frage des Verstehens zurück, sie wird oft schlicht übersprungen zugunsten eines Einordnens des Wahrgenommenen in Verständniskategorien. In einer Übung mit Studierenden, Zeichnungen über pädagogische Interaktionen zu deuten, ohne dass Hintergründe, Vorgeschichte, Kontext mitgeliefert werden, zeigt sich vielfach eine Verunsicherung, die an die eingangs verwendete Metapher der Entwaffnung erinnert. Die Instrumente, mit denen pädagogische Situationen gemeinhin eingeordnet und damit einem Verstehen zugänglich gemacht werden, werden in diesem Fall vorenthalten: Was ist die Vorgeschichte dieses Kindes und der dargestellten Situation, was ist das für eine Schule oder sonstiges Lernfeld, gibt es eine Funktionsdiagnose, Noten und Verhaltensbeschreibungen, was ist mit den Eltern? Es gibt nur eine Zeichnung, vielleicht eine Sonne und eine Wolke über zwei Menschen, die lachen oder heruntergezogene Mundwinkel haben, eine Faust, Strahlen, Blitze, ein Fluss vielleicht … Die erste Übung liegt darin, nicht zu deuten, wasdas sein könnte, sondern was sich im Bild zeigt: die Farben, in denen die Szene gemalt ist, dickere oder dünnere Striche, Symbole. Allmählich geht dieses Wahrnehmen in Deutungen über, in Überlegungen, was dies oder jenes bedeuten könnte. Allein durch die Hürde, die dem Deuten durch Vorenthaltung von Kontext gestellt wurde, durch die Verzögerung, dass vor dem Deuten das genaue Hinsehen eingefordert war, entstehen vielfältige Auslegungsmöglichkeiten. Wenn dann, im Anschluss an die Übung, die Person sich outet, die das Bild gemalt hat, und nun ihren Kontext, ihre Darstellung anbietet, kommt es zwar wieder zu einer Engführung, aber diese ist nun facettenreicher. Die zeichnende Person hat Deutungsangebote erhalten, die ihrer eigenen Deutung teilweise widersprechen, diese teilweise verstärken, teilweise zusätzliche Aspekte sichtbar machen, die ihr selbst entgangen waren.

Wahrnehmen als pädagogische Übung meint genau dies – der schnellen Deutung, der Abkürzung auf dem Weg zum möglichen Sinngehalt, der sicheren Diagnose das Hinschauen, das Hinhören, das Hinfühlen, das Einfühlen, das möglichst lange offen gehaltene Wahrnehmen vorlagern. Wenn wir von einem Kind wissen, dass es die Diagnose ADHS hat, wird es schwerlich außerhalb dieses Verhaltensmodells wahrgenommen werden können. Es wird dieser Diagnosehoheit unterworfen. Dies kann hilfreich sein, um Maßnahmen für das Kind zu ergreifen; es kann aber vieles ausblenden und der Wahrnehmung entziehen, was dieses Kind sonst noch alles ist, sein kann, sein möchte. Es wird das Kind in seinen Überschüssen über die Diagnose hinaus verkannt; und es wird vieles nicht getan werden, was dem Kind helfen könnte, der eigenen Diagnose zu entkommen.

Die phänomenologische Haltung, sich Aussagen darüber möglichst zu enthalten, was die Dinge vermeintlich sind, und sich dafür intensiver damit zu beschäftigen, wie sie uns erscheinen, was sie für uns sind und was sie aus anderer Perspektive sein könnten, ist ein Ausweg aus Engführungen im pädagogischen Urteil. Diese Einstellung öffnet Augen, Ohren und unser Mitfühlen für erweiterte Bedeutungen dessen, was uns in der pädagogischen Arbeit begegnet und herausfordert. Es weitet die Einordnungsraster, was dieses oder jenes gesellschaftliche oder personale Verhalten bedeuten mag, weil dem schnellen Urteil, der klaren und sicheren Einordnung die Übung der Wahrnehmung vorgeschaltet wird. Es ist letztlich das, was mit der phänomenologisch orientierten Vignetten- und Anekdotenforschung, von Innsbruck ausgehend und nachfolgend in Brixen (Südtirol/Italien), in Zürich, Klagenfurt, Wien repräsentiert und versucht wird: Lernprozesse, ob in der Schule oder in sozialen Räumen, dadurch zu verstehen zu versuchen, indem zunächst hingeschaut, hingehört, eingefühlt wird. Als Band 7 der Reihe „Erfahrungsorientierte Bildungsforschung“ reiht sich diese Publikation somit ein in die Auseinandersetzung mit und Thematisierung von Zugängen zu phänomenologischen Fragestellungen des personalen und gesellschaftlichen Lernens. Der Band entspringt einer Forschungswerkstatt mit Käte Meyer-Drawe an der Universität Klagenfurt im Sommer 2018 zur phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung, geht aber insofern über einen Tagungs- oder Werkstattband hinaus, als mit der Frage nach der Wahrnehmung ein besonderer, unterbelichteter Aspekt pädagogischen Denkens und Handelns fokussiert wird.

Das Buch gliedert sich in vier größere Abschnitte. Im ersten Abschnitt „Leiblichkeit als Perspektive der Wahrnehmung“ geht Käte Meyer-Drawe in ihrem Beitrag „Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen?“ auf die hier nur angerissene Fragestellung ein – ohne Zweifel der Schlüsseltext dieses Bandes, der für das Verständnis der nachfolgenden Beiträge einen – um im Bild der Farbwahrnehmung zu bleiben – weitgespannten Regenbogen eröffnet, einen Verstehensrahmen, innerhalb dessen Vielfalt und Vieldeutigkeit möglich werden. Auf die Fragestellung, wie eine leibphänomenologisch orientierte Wahrnehmung diskriminierungsanfällige Einordnungen in Bezug auf Kultur, Rasse, Geschlecht und Behinderung durchkreuzen kann, geht der Beitrag „Der zweifältige Körper“ (Hans Karl Peterlini) ein.

Im nachfolgenden Abschnitt „Methodologische Vertiefungen und methodische (Weiter-)Entwicklungen“ führt Johanna Schwarz über das Wahrnehmen von Erfahrungen in die Vignettenforschung ein. Anna Thielmann thematisiert den theoretischen Rahmen phänomenologischer Forschung in Bezug auf konkrete Einblicke in die Vignettenforschung – ein Betrag zum Theorie-Praxis-Problem. Ähnlich theoretisch explorierend und forschungspraktisch darlegend sind zwei aneinandergereihte Beiträge von Silvia Krenn zur Anekdotenforschung, in denen es – im Unterschied zur Vignette als Instrument der augenblickbezogenen Wahrnehmung – um erinnerte Erfahrungen geht. Rahel More schließt diesen methodologischen und methodischen Teil mit Überlegungen zu Hermeneutik und Phänomenologie als Ergänzung ab, was im speziellen an der Interpretativen Phänomenologischen Analyse (IPA) diskutiert wird.

Der dritte Abschnitt stellt den Bezug von Theorie und Forschungsmethodologie zu pädagogischen Handlungsfeldern dar. Siegfried Baur reflektiert in einem sowohl ideengeschichtlichen als auch gegenwartsbezogenen Beitrag Wahrnehmen im pädagogischen Handlungsprozess. Evi Agostini und Stephanie Mian loten die Arbeit mit Vignetten im Rahmen der Weiterbildung von Lehrpersonen im Hinblick auf ihr Potenzial für Schulentwicklung aus.

Im vierten und abschließenden Abschnitt des Bandes wird die phänomenologisch orientierte Vignetten- und Anekdotenforschung unter der Perspektive von Abgrenzungen, Annäherungen und Überschreitungen beleuchtet. Evi Agostini stellt sich der erkenntnistheoretisch und forschungspraktisch zentralen Fragestellung, ob und, wenn ja, wie sich Kasuistik (als Lernen am Fall) von einem exemplarischen Wissenschaftsansatz (als Lernen am Beispiel) abgrenzen lässt. Irene Cennamo, Jasmin Donlic und Hans Karl Peterlini untersuchen dagegen am Beispiel eines konkreten Forschungsantrags die Möglichkeit der Verknüpfung von phänomenologisch orientierter Forschung mit anderen Zugängen. Der Beitrag von Daniela Lehner bezieht die Vignettenforschung auf Momente der Widerfahrnis in einem gestalttherapeutischen Gruppenselbsterfahrungsprozess – sie überschreitet damit bisherige Anwendungsfelder zugunsten eines Erprobens auf unbetretenem Gelände. Wahrnehmung bedarf genau dieser Übung – vertraute Perspektiven zu verlassen oder, in Husserl’scher Diktion, zumindest einzuklammern, um das Gewohnte wieder neu sehen, hören, fühlen zu können.

Leiblichkeit als Perspektive der Wahrnehmung

Käte Meyer-Drawe

Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen?

„Es bleibt das Problem des Überganges vom Wahrnehmungssinn zum sprachlichen Sinn, vom Verhalten zur Thematisierung.“

(Merleau-Ponty 2004)

Empirie

„Ist man wirklich objektiv gegenüber dem Menschen, wenn man glaubt, ihn als einen Gegenstand betrachten zu können, der sich durch ineinander verschlungene Prozesse von Kausalitäten erklären lässt? Ist man es nicht eher dann, wenn man durch die Beschreibung typischer Verhaltensweisen eine wirkliche Wissenschaft des menschlichen Lebens (science de la vie humaine) zu begründen versucht? Ist man objektiv, wenn man Tests auf den Menschen anwendet, die nur seine abstrakten Fähigkeiten betreffen, oder vielmehr dann, wenn man mittels anderer Tests zu erfassen versucht, wie der Mensch in Gegenwart der Welt und der anderen einen Standort zu gewinnen bestrebt ist?“ (Merleau-Ponty 2003, S. 48) Klammern wir einmal die Frage nach dem Testen aus und konzentrieren uns auf die Frage nach der wissenschaftlichen Geltung, so erinnern diese Worte an ein zentrales Problem der Vignettenforschung (vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012; Baur/Peterlini 2016). Sie sieht sich nämlich unter anderem dem Vorwurf ausgesetzt, sie basiere auf subjektiven Eindrücken und hielte deshalb einer intersubjektiven Überprüfung nicht stand. „Wir dürfen uns in der Wissenschaft [jedoch] nicht vormachen, mit Hilfe eines reinen und ortlosen Verstandes zu einem von jeglicher menschlichen Spur unberührten Gegenstand vorzudringen, wie Gott ihn sehen würde. Die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Forschung wird dadurch nicht im Geringsten gemindert, sondern es wird lediglich der Dogmatismus einer Wissenschaft bekämpft, die sich für ein absolutes und vollständiges Wissen hält. Dadurch wird man einfach nur allen Elementen der menschlichen Erfahrung gerecht, insbesondere unserer Sinneswahrnehmung.“ (Merleau-Ponty 2006, S. 17) Der menschlichen Erfahrung gerecht zu werden, ist ein zentrales Anliegen der Vignettenforschung. Ihre Empirie widmet sich hier jedoch nicht isolierten Daten, die im Nachhinein in einen Zusammenhang gestellt werden. Sie teilt vielmehr typische Aspekte alltäglicher Erfahrung, d. h. sie registriert nicht lediglich das Gegebene, sondern schult eine bestimmte Wahrnehmungssensibilität (vgl. Agostini 2016, S. 30ff; Peterlini 2016, S. 49ff und Schwarz 2018, S. 89ff). Dabei wird unterstellt, dass die Autorinnen und Autoren Unterrichtsszenen wahrnehmen und nicht nur beobachten. Während Beobachtungen eine distanzierte Weltzuwendung meinen, bleiben Wahrnehmungen situiert in ihrem Weltkontakt, verstrickt in ein Erfahrungsgewebe, das jeden Anspruch auf einen reinen Blick verdächtig macht. Dabei ist eine „gemeinsame“ Welt „niemals bloßes ethos im Sinne eines gemeinsamen Aufenthaltsortes, der sich aus der Sedimentierung einer bestimmten Anzahl verflochtener Handlungen ergibt. Sie ist immer auch eine konfliktreiche Verteilung von Seinsweisen und ‚Beschäftigungen‘ in einem Möglichkeitsraum.“ (Rancière 2008, S. 66) Es geht um die Vernehmbarkeit in konkurrierenden Ordnungen des Sinnlichen. Diese finden sich zusammen in der Glaubensgewissheit, dass wir eine Welt haben, die sich weder an einem absoluten Wissen noch an einer unmittelbaren Gegebenheit messen lässt. Im absoluten Wissen verlören wir unsere Welt, in der Begegnung mit dem Unmittelbaren uns selbst. Den wahrnehmenden Vignettenforscherinnen und -forschern wird abverlangt, dass sie in „unausgerichteter Bereitschaft“, gleichsam in „konzentrierter Passivität“ (Anders 2017, S. 117) bei den Lernenden sind.

Wie aber über Wahrnehmungen sprechen?

„Wir fragen uns nicht, ob die Welt existiert, sondern was es für sie bedeutet […] zu existieren.“ (Merleau-Ponty 2004, S. 130) Deshalb haben wir im Allgemeinen keine Probleme, über unsere Wahrnehmungen zu sprechen. Wir können sie wie unsere Erfahrungen tauschen. Wir können sie im doppelten Wortsinn teilen. Das bedeutet, dass unsere sinnliche Weltzuwendung Gemeinsamkeit erzeugt, aber das Wahrgenommene auch auf- und verteilt. Diese Ordnung des Sinnlichen „macht sichtbar, [hörbar], wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann. Eine bestimmte Betätigung legt somit fest, wer fähig oder unfähig zum Gemeinsamen ist.“ (Rancière 2008, S. 26) Man kann überhört oder keines Blickes gewürdigt werden. Das Gemeinsame garantiert dagegen, dass wir einander erzählen können, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder ertastet haben, ohne dass wir uns fragen, ob wir wirklich dasselbe wahrnehmen. Wir sprechen über Bilder, über eindrucksvolle Landschaften, schwärmen von unserem Lieblingskonzert, freuen uns, wenn andere unser Parfum als angenehm empfinden, und laufen nicht gerne barfuß über spitze Steine, kommen zu Hilfe, weil wir den Schmerz von anderen sehen. Kalter Wind lässt uns frösteln. Die Sonne blendet uns. Die Sirenen und das Kreideschaben auf der Tafel gehen uns buchstäblich auf die Nerven. „Ich werde [zwar] niemals wissen, wie Sie Rot sehen, und Sie werden nie wissen, wie ich es sehe; aber diese Trennung der Bewusstseinsströme wird erst nach dem Scheitern der Kommunikation erkannt, und unsere erste Reaktion besteht darin, an ein Seiendes zu glauben, das zwischen uns ungeteilt ist.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 36) Schwierig wird es also, wenn die Verständigung scheitert, wenn die Sprache versagt, weil es ihr nicht gelingt, unsere leibliche Resonanz auf die Welt zum Ausdruck zu bringen. Dann richtet sich die Frage darauf, was wir wirklich wahrnehmen. An drei ausgewählten Beispielen sollen die damit verbundenen Herausforderungen veranschaulicht werden.

Beispiel 1

Abb. 1: Phänomenale Kausalität (Stadler/Seger/Raeithel 1977, S. 121)

Dieses Phänomen wird von Massironi und Bonaiuto als „phänomenale Kausalität“ bezeichnet und meint den Befund, dass wir beim Betrachten obiger Darstellung den Eindruck kaum abwehren können, dass hier ein Keil ein Linienbündel zusammendrückt. Zu rechnen ist wohl kaum mit folgender Beschreibung: „Eine Schar übereinander liegender Linien, die in der Mitte, von oben begonnen, dreiecksförmige Einbuchtungen nach unten besitzen, welche, je tiefer die Linie liegt, immer stärker abgeflacht sind. Die unteren Linien sind gerade und durchgehend. Direkt über der tiefsten Stelle der Einbuchtung der oberen Linie befindet sich ein schrägschraffiertes, gleichseitiges, spitzwinkeliges, aufrecht mit dem spitzen Winkel nach unten stehendes Dreieck [genauer: Dreiecksfeld].“ (Ebd., S. 121) In unserem Zusammenhang soll nicht die gestalttheoretische Diskussion dieses Phänomens weitergeführt werden, an der die Autoren interessiert sind. Die wiedergegebene ausführliche Beschreibung soll vielmehr dazu dienen, Befremdung auszulösen; denn üblicherweise sehen wir nicht nach dem Gebot geometrischer Ordnungen. Unsere Empfindungen verweigern sich in gewissem Maße dem begrifflichen Verhör. Die Anstrengung, die unternommen wurde, zu notieren, was wir nur sehen, aber nicht gleichzeitig tasten, ohne es zu deuten, wirkt anstößig, weil es unser „szenisches Gewahren“ (vgl. Hogrebe 2009, S. 29) ignoriert, das unserer ausdrücklichen Zuwendung zu anderen, zu uns selbst und zu unserer Lebenswelt vorausliegt. „Szenen sind das Primäre für unsere Weltwahrnehmung, nicht die Objekte der Welt oder ihr Mobiliar, […].“ (Ebd., S. 50) Wahrnehmen ist nicht Inspizieren. Die Wirklichkeit wird nicht ausgefragt, sondern in bestimmten Kontexten sinnlich erfahren. Etwas weckt unsere Aufmerksamkeit, es spricht uns an, es nimmt eine Bedeutung für uns an. Darüber zu schreiben, meint nicht, Daten zu protokollieren, sondern Wahrnehmungserfahrungen zum Ausdruck zu bringen. „Das bloße Sprechen über die Erfahrung läßt diese verstummen, anstatt ihr zum Ausdruck zu verhelfen.“ (Waldenfels 1995, S. 107)

Beispiel 2

Der Handlungsreisende Matthias in Robbe-Grillets Roman DerAugenzeuge sieht seinem eigenen Handeln zu und notiert: „Mit seiner linken Hand erfaßt er dann den ersten rechteckigen Karton an seiner unteren linken Ecke und hält ihn um fünfundvierzig Grad rückwärts geneigt in Brusthöhe, wobei sich die beiden langen Seiten parallel zur Tischfläche befinden. Mit der rechten Hand erfaßt er zwischen Daumen und Zeigefinger das am oberen Teil des Kartons befestigte Schutzpapier; indem er dieses Papier an seiner rechten unteren Ecke anfaßt, hebt er es an und klappt es um den Rand, an dem es haftet, über die senkrechte Position hinaus. Dann läßt er das Papier los, das mit seinem unteren Rand oben am Karton befestigt bleibt, seine Rotationsbewegung nach hinten von selbst fortsetzt und so schließlich von neuem eine fast senkrechte Position einnimmt, die durch die natürliche Steifheit des Blattes etwas beeinträchtigt wird“. (Zit. nach Bonnemann 2016, S. 9f.)1 Matthias ist der Prototyp eines unbeteiligten Zuschauers. Er übt das reine Beobachten. Interesselos fällt sein Blick auf sein eigenes Handeln. Damit erfüllt er das Ideal wahrheitsorientierten Erkennens, das sich von der Welt nicht irre machen lässt. Er wirft einen „reine[n] Blick“ auf sich selbst, einen „Wissensstrahl, der aus dem Nirgendwo“ auftaucht (Merleau-Ponty 2004, S. 152). Jeder Glaube an seine Welt, der jeder ausdrücklichen Zuwendung vorausgeht, jedes szenische Vertrauen, jede vorreflexive Einweihung in die Welt, von der auch noch diese asketische Beschreibung profitiert, wird ignoriert. Die Welt hat sich zu einem Gegenstand der Erkenntnis zusammengezogen und büßt ihre weitreichende Dimension ein, Milieu unseres Wahrnehmens, Fühlens und Handelns zu sein. Aber die Welt ist „nicht prädestiniert […] für die Eingriffe unseres Erkennens und Handelns“ (Merleau-Ponty 2006, S. 34). Vor jeder verstandesmäßigen Zurichtung erfahren wir unsere Welt. Sie besticht uns, sie bezwingt uns, sie beflügelt oder behindert uns. Einer bloßen Protokollierung bleiben Probleme dieser Verflechtung und damit der Übersetzung von sinnlicher Erfahrung und Sprache fremd. Sie ist blind für das „Wunder der Rede“, das Merleau-Ponty mit Proust zur Sprache bringt. „Reden und Schreiben bedeutet, eine Erfahrung zuübersetzen, die doch erst zum Text wird durch das Wort, das sie selbst wachruft.“ (Zit. nach Waldenfels 1995, S. 115)

Beispiel 3

Der Hirnforscher Gerhard Roth geht von der scheinbar selbstverständlichen Annahme aus, alltägliche Erfahrungen als interesselose Akte eines physischen Systems zu betrachten. Er schreibt: „Der Schluss aus solchen Untersuchungen (sofern sie korrekt durchgeführt und interpretiert wurden) lautet, dass die klassisch-philosophische wie auch alltagspsychologische Aussage ‚mein Arm und meine Hand haben nach der Kaffeetasse gegriffen, weil ich dies so gewollt habe!’ nicht richtig ist“ (Roth 2007, S. 31). Aus der Perspektive einer Philosophie der Erfahrung ist diese Redeweise ebenso befremdlich wie die daraus gezogenen Konsequenzen. Denn nicht mein Arm und meine Hand greifen zur Tasse, sondern ich. Alltagssprachlich unterscheiden wir sehr präzis zwischen Akten, die wir ausführen, und Ereignissen, die unserem Körper widerfahren. Während meine Nase läuft, mein Auge brennt, mein Fuß juckt, mein Ohr klingelt, putze ich mir die Nase, reibe ich mein Auge, kratze ich mich am Fuß und höre ich schlecht. In der Objektivierung zur Körpermaschine ist kein Ort für einen freien Willen, nicht einmal für einen unfreien. Deshalb darf es nicht überraschen, wenn man vergeblich danach sucht. Lebensweltlich könnten wir die Sorge um uns nicht tragen, wenn wir die Differenz zwischen Ereignis und Erlebnis nicht kennten. Wenn ich die Bewegung eines mechanischen Systems nicht mehr unterscheide von einer menschlichen Tätigkeit, dann ist die Frage nach dem freien Willen obsolet geworden. Es ist lebensweltlich evident zu sagen, dass ich Kaffee trinke, dass ich denke, dass ich will. Es bedarf einer strengen Analyse, ob es dasselbe ist zu sagen, mein Gehirn denkt, meine Hand greift nach der Tasse. Bekannt ist, dass es psychopathologische Störungen gibt, in denen Patienten tatsächlich ihren Körper als Instrument erfahren und nicht mehr im strengen Sinne als ihnen zugehörig. (Vgl. Meyer-Drawe 2012, S. 71ff; vgl. Sacks 1987 und Merleau-Ponty 1966 unter Berücksichtigung von Kurt Goldstein, S. 138ff) Was ist geschehen, dass wir unseren naiven sinnlichen Weltbezug im Sinne pathologischer Störungen beschreiben? Wir sind Opfer unserer westlichen Tradition, in der unser Wahrnehmen in ein Denken, ein Urteilen, ein Erkennen verwandelt wurde. Wir haben unseren Weltglauben durch einen Zweifel an sicherer Erkenntnis eingebüßt. Aber die Welt ist vor allem Erkennen da, und wir sind mit ihr vor jeder Analyse verwickelt. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 3ff) „Alle diese Gegenstände … wie soll ich sagen? Sie belästigen mich; ich hätte gewünscht, sie würden weniger stark existieren, auf trockenere, abstraktere Weise, mit mehr Zurückhaltung.“ (Sartre 1989, S. 145; vgl. Helfritzsch 2018, S. 124f.)

Feldzüge des Geistes

Auf die Frage: Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen? wird in unserem Kontext die Antwort nicht in der Hirnforschung oder Psychologie gesucht. In beiden Perspektiven herrscht das Muster der Subjekt-Objekt-Konfrontation und ein biologisches bzw. physiologisches Interesse für Wahrnehmen überhaupt. Die Antwort auf die Frage wird vielmehr in der phänomenologischen Philosophie vermutet, die sich darauf konzentriert, dass ich etwas wahrnehme, oder, um es im Stil von Maurice Merleau-Ponty zu formulieren, dass ich beim Wahrnehmen unter die Dinge gerate. „Nichts ist [allerdings] schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen.“ (Merleau-Ponty 1966, S. 82) Mit dieser einfachen Feststellung wird ein Problem berührt, das uns seit Beginn der Neuzeit umtreibt. Es fällt uns nämlich nicht leicht, genau zu sagen, was wir sehen, hören, riechen, tasten und schmecken. Immer kommt uns unser Denken in die Quere. Unser Wahrnehmen hat sich in ein „Denken wahrzunehmen“ verwandelt. Wahrnehmen erscheint in dieser Perspektive als eine Besichtigung, die ein Geist vornimmt, der die Welt mustert, sich aber nicht durch sie ansprechen lässt. Mit dieser Transformation einer gelebten Welt in eine erkannte verbinden sich mannigfache Einbußen, die unterschiedliche historische Folgen hatten. Insbesondere wird die sinnliche Wahrnehmung seit Beginn der Neuzeit am Maßstab der sicheren Erkenntnis gemessen und als der Vernunft oder dem Verstand unterlegen betrachtet. Es ist üblich geworden, René Descartes für diesen Einschnitt verantwortlich zu machen. Blicken wir deshalb im nächsten Schritt zurück, um dann vom Standpunkt der Leiblichkeit nochmals danach zu fragen, was es heißt etwas wahrzunehmen.

In seinen Meditationen über die Erste Philosophie meint Descartes, rückblickend auf seinen Zweifelsgang, dass er nun doch besser wisse, wer er denn sei, nämlich ein Denkender. Dennoch bleibt ihm der Eindruck treu, dass er die Sachen besser kenne als sich selbst, wenngleich ihm das als ungereimt erscheint, denn diese sind doch oft zweifelhaft, unbekannt und fremd. Noch ist sein Geist nicht bereit, sich in den Grenzen der Wahrheit zu halten, also lässt er ihm jetzt noch einmal die Zügel schießen und wendet sich den Dingen zu, die man gemeinhin am deutlichsten zu erfassen glaubt. (Vgl. Descartes 1956 [1641], S. 49ff)

Solche Dinge, sagt Descartes, sind Körper, die wir betasten, die wir sehen, und zwar nicht die Körper im Allgemeinen, denn jene allgemeinen Vorstellungen pflegen bedeutend verschwommener zu sein, sondern einen Körper als einzelnen. Dem Phänomenologen nicht unähnlich fährt Descartes fort und schreibt: „Nehmen wir z. B. dieses Wachs; vor kurzem wurde es aus Bienenwachsscheiben gewonnen; es hat noch nicht den Geschmack seines Honigs verloren, es behält noch etwas zurück von dem Duft der Blumen, aus denen es gesammelt worden ist; seine Farbe, Gestalt, Größe sind handgreiflich; es ist hart, es ist kalt, man kann es leicht berühren, und wenn man es mit dem Knöchel anschlägt, gibt es einen Ton von sich; kurz – es ist alles da, was erforderlich scheint, damit ein Körper auf das deutlichste erkannt werden kann.“ (Ebd., S. 51) Wenn man einmal davon absieht, dass Descartes nicht von einer Kerze, sondern von einem Stück Wachs ausgeht, dann sind seine Beschreibungen voller Sinnlichkeit. Er riecht, er schmeckt, er berührt.

Der nächste Schritt ist jedoch der entscheidende im Rahmen der erkenntnistheoretischen Bestattung der Außenwelt (vgl. Heidegger 1976, S. 273). Es geht nämlich nicht darum, die scheinbare Vertrautheit mit der Kerze zu verunsichern, um zur Sache der Dinge zu kommen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der sicheren Erkenntnis. Damit ist nicht die Gebung das Entscheidende, sondern die Zerstörung. In einer Kaskade von Ausdehnungen verschwindet jede Kontur, jeder Geruch, jeder Klang, alle Widersetzlichkeit der Dinge: „Aber siehe“, ruft Descartes aus, „während ich das sage, wird es [scil. das Wachs] dem Feuer nahegebracht, die Überreste des Geschmacks werden herausgeläutert, der Duft erlischt, die Farbe verändert sich, die Gestalt wird vernichtet, die Größe wächst, es wird flüssig, es wird warm, man kann es kaum mehr berühren, und es gibt jetzt, wenn man klopft, keinen Ton mehr von sich.“ (Descartes 1956 [1641], S. 53) Alle kennen das Ergebnis: „Es bleibt mir also nur übrig zuzugeben, daß ich, was dieses Wachs ist, keineswegs einbilde, sondern allein im Geist [sola mente] ergreife; dies sage ich von dem Stück Wachs im einzelnen, denn vom Wachs überhaupt ist es noch klarer.“ (Ebd.) Damit ist der Weg frei für die wissenschaftliche Forschung, die keinen Platz für Anmutungen hat. Dinge sind nur noch das, was wir von ihnen denken, eine Auffassung, die auch heute noch ihre Vertreterinnen und Vertreter findet. Es ist daher lohnend, den Versuch zu unternehmen, vor diese Zäsur zurückzublicken, um unsere Denkgewohnheiten weiter zu lockern.

In Anspruch genommen

So ist für Platon die Differenz von Denken und Wahrnehmen zwar entscheidend, allerdings ergründet er auch ihr Zusammenspiel im Hinblick auf die denkende Seele. Im Dialog Theaitetos begreift Platon die Wahrnehmung selbst als einen wechselseitigen Prozess von Herstellen (poiein) und Erleiden (paschein), „denn weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe mit dem Wirkenden; ja auch, was mit dem einen zusammentreffend ein Wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein anderes fällt, als ein Leidendes“ (Platon 1990, 157a). Im Sehen etwa werden die Röte des Gegenstands und die Wahrnehmung zusammen erzeugt, „was beides nicht wäre erzeugt worden, wenn eines von jenen beiden nicht wäre erzeugt worden“ (Platon 1990, 156d). Konkret entstehen ein sehendes Auge und die Farbe, welche vom Gegenstand miterzeugt wird. Noch genauer muss man mit Platon sagen, dass weder eine Wahrnehmung noch eine bestimmte Farbe entstanden ist, sondern ein sehender Jemand und ein gesehener Gegenstand, etwa ein rotes Holz. (Vgl. 156e) Wahrnehmender und Wahrgenommenes bilden „ein zwittriges Ineinander“, ein „Zwischen [metaxy] von Tun und Leiden“ (Nielsen 2006, S. 182). Das Wahrnehmbare und die Wahrnehmung treten gemeinsam auf wie Zwillinge [didymoi] in unendlich vielen Gestalten. Sie sind verwandt. Deshalb sieht man bestimmte Farben, hört wirkliche Töne, riecht mit Wohlgefallen oder Abscheu.

Das griechische Verb aisthanomai ist ein Medium, d. h. es liegt zwischen dem bloß Aktiven und dem lediglich Passiven. Sich überraschen lassen, sich etwas einfallen lassen, geboren werden und erwachen sind solche Prozesse, bei denen ich dabei bin, ohne die Initiative zu ergreifen. (Vgl. Alloa 2016, S. 142) Im Hinblick auf sinnliche Wahrnehmung bedeutet das: Etwas wird in dem Sinne empfunden, zu dem das Bemerkte herausfordert. „Die Empfänglichkeit als Möglichkeit des Empfindens (pathos) setzt voraus, daß etwas gegeben ist. Wenn wir empfänglich sind, dann deshalb, weil uns etwas widerfährt, […]. Das, was uns widerfährt, ist keineswegs etwas, was wir vorher kontrolliert, programmiert und begrifflich erfaßt haben. Oder: wenn das, wofür wir empfänglich sind, ursprünglich auf Begriffen beruht, wie kann es uns ergreifen?“ (Lyotard 1989, S. 193)

Maurice Merleau-Ponty wird nicht müde festzuhalten, dass wir in unserem Begehren nach sicherer Erkenntnis unser Wahrnehmen in ein Denken, unsere Welt in eine bloß gedachte sowie schließlich den anderen in einen Undenkbaren verhext haben. Was wir in Anlehnung an Max Weber oft als Entzauberung bezeichnen, zeigt sich in dieser Hinsicht lediglich als ein anderer Zauber. Man könnte dies eine cartesische Magie nennen, die über das Denken die Existenz beglaubigt. Einvernehmlich ist wohl: „Es gibt [zwar] kein Sehen ohne Denken. Aber es reicht nicht zu denken, um zu sehen: […]“ (Vgl. Merleau-Ponty 1964, S. 51). Um eine möglichst unerschütterliche Erkenntnis zu erreichen, liebäugelte man mit dem unbeteiligten Zuschauer, dem Kosmotheoros, dem seine Welt nichts anhaben kann.2 Der Spitzenreiter in der Rangliste unbeteiligter Zuschauer ist derzeit das Gehirn, der cerebrale Agent, der aus der Sicht neurowissenschaftlicher Theorien nur noch neuroanatomische Korrelate kennt. Der mitunter obsessive Charakter der Welt, dem ein Begehren des Sehens und Berührens entspricht, passt nicht in das Schema. Hier wird das Muster der frontalen Begegnung von Mensch und Welt zelebriert sowie als ‚1. und 3. Weltperspektive‘ gezählt.

Sobald man sich jedoch auf das Sehen und Berühren selbst einlässt, sich diesen Sinneserfahrungen als solchen öffnet, zerbricht die Sortierung nach Subjekt und Objekt, lassen sich die Perspektiven nicht mehr zählen, schleicht sich eine anonyme Verwandtschaft von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem ein, bei der man sich nicht einfach auf eine Seite schlagen kann. Als Sehende bin ich sichtbar, als Berührende berührbar – auch für mich selbst.

Für-wahr-Nehmen

Eva Schürmann beschreibt ihre eigenen Erfahrungen, die sie im Sprengelmuseum in Hannover gemacht hat, als sie den „Dark Space“ von James Turrell besuchte, der den Titel „Thought when seen“, also ‚gedacht, wenn gesehen‘, trägt. Sie notiert: „Die Hannoveraner Installation arbeitet mit einer besonderen Art von Licht namens Tungstenlicht. Man geht einen wenige Meter langen und tiefschwarzen Gang an einem Handlauf entlang. Das Körperbefinden ist durch die umgebende Schwärze verunsichert und irritiert. Die Irritation ist beträchtlich, aber nicht bedrohlich, weil der Raum mit schwarzem, samtweichem Stoff ausgekleidet ist, den man ertastet und der den Eindruck von Wärme vermittelt. Sobald man merkt, daß der Handlauf endet, und man einen Sitzplatz ertasten kann, läßt man sich – erleichtert darüber, bis hierhin mit nichts und niemandem zusammengestoßen zu sein, – darauf nieder. Doch dem erwartungsvoll angespannten Blick bietet sich zunächst überhaupt nichts. Dieselbe Finsternis, die man im Gang spürte, schweigt den Betrachter auch hier an. Die akustische Aufmerksamkeit ist geschärft; man lauscht und man schaut. Nach einigen Momenten fängt man an, in einiger Entfernung ein schwaches, rötliches Flimmern wahrzunehmen.“ (Schürmann 2000, S. 106) Dieses Flimmern ist so schwach und unstetig, dass die Betrachterin und der Betrachter nicht wissen, ob sie/er sieht oder denkt zu sehen. In dieser Situation wird die Differenz von Sehen und Denken zu sehen am eigenen Leibe erlebt. Die Irritation lenkt die Aufmerksamkeit auf die Besonderheit des Sehens selbst. Das Sehen erweist sich dabei als konventionell. Es ist auf ein Wiedersehen aus und nicht auf den unkalkulierbaren Wechsel. Im Unterschied zum Tasten, das sich erst nach und nach die Dinge vergegenwärtigt, geht der Blick aufs Ganze. An solche Erfahrungen knüpft die phänomenologische Philosophie an. Es geht also nicht um Erkenntnisgewissheit, sondern um die Frage, was es für ein leibliches Wesen heißt, dass für es eine Welt existiert, und was es für die Welt heißt, dass wir im Verhältnis zu ihr existieren. Was auf den ersten Blick so einfach aussieht, erweist sich als enorme Herausforderung an den/die zivilisierten Mitteleuropäer/Mitteleuropäerin.

Sehen, das sich als Denken imaginiert, dient als Vorbild des Erkennens. Ihm verdankt die Lichtmetaphorik der Vernunft ihre Kraft und die Theorie ihr Ansehen. „Nicht nur hat der Gesichtssinn vorzugsweise die Analogien für den intellektuellen Überbau geliefert, er hat auch weithin als das Modell der Wahrnehmung überhaupt und damit als Maßstab für die anderen Sinne gedient.“ (Jonas 1973, S. 198) Dabei erinnert der Blick anders als das bloße Schauen an das Begehren eines Sehens, das nicht mehr sich selbst genügt, sondern auf etwas antwortet, das sich zu sehen gibt. Dem Anblicken entspricht ein Sich-Zeigen. Blicken meint im Unterschied zum Schauen eine Form des „Verkehrs mit der Zudringlichkeit der Dinge“ (ebd.). Damit wird aber deutlich, dass der ‚Adel des Sehens‘ seine privilegierte Stellung unter den anderen Sinnesempfindungen nur einem bestimmten Verständnis verdankt, nämlich dem unbeteiligten Schauen, dem sich die Dinge simultan, außerdem neutral im Hinblick auf Affektionen sowie aus der Distanz darbieten und das sich dadurch über seine Verwicklung mit der Welt täuscht. „Gegeben sind […] [jedoch] nicht etwa mit sich selbst identische Dinge, die sich dem Sehenden im nachhinein darbieten würden, und ebensowenig gibt es einen zunächst leeren Sehenden, der sich ihnen im nachhinein öffnen würde, sondern gegeben ist etwas, dem wir uns nur nähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten.“ (Merleau-Ponty 2004, S. 173)

Auch dem Tasten wird im Hinblick auf das menschliche Erkennen eine besondere Leistung zugestanden. Anders als das Sehen kann es uns der Widerständigkeit oder der Tiefe der Welt versichern. Das Sehen kann keine Kausalität bezeugen. Das Berühren dagegen spürt den Druck und damit das von ihm Unterschiedene, das existiert. Es ist nicht simultan, sondern eine Bewegung des Nach und Nach. Oft zählt man es wie das Schmecken zu den Nahsinnen. Die Doppelempfindung ist Archetyp der Reflexion wie Sehen das Urmuster der Ideenschau.

Ich kneife mich beispielsweise, um festzustellen, ob ich träume. Ist der Tastsinn nicht unser Realitätssinn par excellence? Aber ich kann mich vertasten, wie ich mich versehen kann. Wilhelm Wundt hat eine berühmt gewordene haptische Täuschung charakterisiert: „Wenn man […] Mittel- und Zeigefinger kreuzt und dann mit deren einander zugekehrten Flächen eine kleine Kugel berührt, so glaubt man zwei Kugeln zu fühlen. Hierbei sind wir uns zwar der gekreuzten Lage der Finger bewusst. Aber da wir diese Lage bei der gewöhnlichen Betastung der Objekte niemals wählen, so wissen wir mit derselben die Tastempfindungen nicht in Einklang zu bringen und legen nun die letzteren so aus, wie es der normalen Stellung der tastenden Finger entsprechen würde.“ (Zit. nach Mühleis 2005, S. 29) Kinder kennen das Vergnügen der haptischen Täuschung, wenn sie etwa mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger ihrem Nasenrücken entlangfahren.

Merleau-Ponty erläutert die haptische Täuschung als „Störung des Körperschemas“: „Was die Synthesis der beiden Tastwahrnehmungen zu einem einzigen Gegenstand verhindert, ist nicht so sehr die ungewohnte oder statistisch seltene Stellung der Finger, sondern vielmehr daß die rechte Seite des Mittelfingers und die linke des Zeigefingers zur synergischen Aufklärung eines Gegenstandes ungeschickt sind, daß die Kreuzung der Finger als eine gezwungene Bewegung die motorischen Möglichkeiten der Finger selbst übersteigt.“ (Merleau-Ponty 1966, S. 241) Die ungewohnte Berührung überfordert die Finger, in deren Repertoire dergleichen nicht vorkommt. Zweifel daran, dass uns das Berühren zweifelsfrei einer widerständigen Welt versichert, sind angebracht. Dennoch behält die Berührung ihre besondere Bedeutung einer leiblichen Vergewisserung, wie es zum Beispiel Berührungsreliquien immer wieder deutlich machen. Die berühmten Schweißtücher, etwa das der Veronica oder das Abgartuch bzw. Mandylion, verheißen eine besondere Authentizität. Das Tuch ermöglichte den Kontakt. Es ist der Erzählung nach buchstäblich mit dem Antlitz des Gottessohns auf „Tuchfühlung“ gegangen.

Sehen und Berühren sind nicht zu trennen. Wir leben in einer Welt, die wir sehen und berühren, riechen, hören, aber auch schmecken. Das eine hinterlässt Spuren im anderen. Vom Tasten wissen wir, wie es das Sehen unterstützen und ersetzen kann. Aber auch das Berühren ist auf das Sehen angewiesen. Vor Berührungsängsten kann uns das Sehen retten, wie man an Tastkästen in Erfahrung bringen kann, in denen alles Mögliche lauert.

Die Sinne modifizieren sich ständig wechselseitig, so dass der Ausfall eines Sinnes alle anderen Sinne verändert. Blind zu sein, bedeutet nicht lediglich, nicht sehen zu können. Hören, Riechen, Schmecken und Tasten erhalten dadurch ein anderes Gewicht in der Weltzuwendung. Unsere Sinne sind keine Instrumente, welche der Geist sich zu Nutze macht. Unsere sinnlichen Erfahrungen sind Gestaltungen unseres leiblichen Zur-Welt-seins. So bleibt die Welt für den durch einen Unfall erblindeten Menschen nicht im Prinzip dieselbe, jetzt nur ohne optische Ereignisse. Die Welt ändert vollständig ihren Sinn. Vertrautes kann unheimlich werden. Das Finstere verliert seine Schrecken.

„Jede Wahrnehmung findet in einer Atmosphäre von Allgemeinheit statt und gibt sich uns als anonyme. Ich kann nicht in demselben Sinne sagen, ich sehe das Blau des Himmels, wie ich sage, ich verstehe dieses Buch, oder ich entschließe mich, mein Leben der Mathematik zu widmen. […]: ich sehe blau, weil ich für Farben empfindlich bin – indessen personale Akte Situationen schaffen: ich bin Mathematiker, weil ich beschlossen habe, es zu sein. Wollte ich infolgedessen die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Ausdruck bringen, so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht, daß ich wahrnehme.“ (Merleau-Ponty 1966, S. 253) Wahrnehmen ist ein medialer Vollzug, der mich in Mitleidenschaft zieht. Meiner Initiative sind dadurch Grenzen gesteckt, meiner Empfänglichkeit Möglichkeiten eröffnet. „Sobald das ungezügelte Augenmerk das Glück hat, auf etwas Seltsames oder Aufregendes zu stoßen, übernimmt die Sache selbst die Regie: sie ist es, die den Blick schlagartig fesselt und fortan dirigiert. Wer so wahrnimmt, vollzieht die Wahrnehmung nicht als von ihm geführte Tat; er fungiert nur als die Stätte, an der sie stattfindet. Wahrnehmung geschieht, und sie geschieht ihm.“ (Sommer 1999, S. 310) Sinnliche Empfänglichkeit kann sich daher wesentlichen Tendenzen unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Existenz widersetzen. Statt aufgedrehter Selbstbemeisterung und Optimierung braucht es ein höchst aktives Zaudern, eine engagierte Zeugenschaft und nicht nur digitales Gezwitscher. Sie kann sich Immunisierungstendenzen entgegenstellen, in denen das, was wahrgenommen wird, nicht mehr als Reales erfahren wird und wir unsere Beziehung zur Welt verlieren. (Vgl. Mayer 2016, S. 244) Etwas wirklich wahrzunehmen kann zum „ruinösen Gegenspieler“ aller Bewerkstelligungen werden. (Vgl. Vogl 2008, S. 24) Darin wurzelt die politische Potenz unserer Sinnlichkeit. „Gerade in einer Zeit, in der die bestimmenden Faktoren der Existenz immer unsichtbarer werden und die Schwelle der Bemerkbarkeit unterschreiten, wenn Techniken in den Körper eindringen, Regulierungsprozesse unwahrnehmbar werden, das Digitale sich mit dem Leiblichen überkreuzt und die biopolitischen Machtformen ins Organische abgewandert sind, zeigt sich die Ebene der Sensibilität und Affizierbarkeit als eigentliches Feld des Politischen.“ (Busch 2017, S. 51)

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