WalHeimat - Manuela Brocksieper - E-Book

WalHeimat E-Book

Manuela Brocksieper

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Beschreibung

Wer träumt nicht davon, im Sommer auf Spitzbergen zu sein? Nun – Jugendliche meistens nicht! Was findet man dort? Und wen? Nichts ist los dort in der Arktis – oder? Jacob und seine Schwester Merle müssen in diesem Sommer zwangsläufig dorthin. Gemeinsam mit ihrem Vater entdecken sie eine ganz neue Welt und treffen die merkwürdigsten Typen. Wer hätte gedacht, dass man schon nach so kurzer Zeit einen völlig anderen Blick auf die Welt haben kann? Dabei gibt es auch echte Ekelpakete, Angeber, nervige Touristen – ja, selbst hier! Und natürlich einen viel zu beschäftigten Papa. Zum Glück! Sonst hätten sie niemals diese irrsinnige Geschichte erlebt. So cool – so verrückt – und faszinierend zugleich. Wer keine Angst vor Eisbären, Walfängern und abgedreht-leuchtenden Flaschen hat, der muss jetzt einfach weiterlesen …

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Seitenzahl: 349

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Für Zoi – meine Mutter, die jetzt die Polarlichter aus dem Himmel sehen kann

und für alle Neugierigen und Langzeit-Abenteurer

WalHeimat

Ein Svalbard-Erlebnis

Von Manuela Brocksieper

© 2024 Manuela Brocksieper

Lektorat und Layout: Susanne S. Junge

Illustrationen: Jakob Näf

Umschlagbild: Jakob Näf (bereits verwendet für die Bachelor-Arbeit „Grönlandfahrt - kommerzieller Walfang im 17. Jahrhundert“, 2018, Hochschule Luzern, Design & Kunst)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Softcover

978-3-347-78967-8

Hardcover

978-3-384-09663-0

E-Book

978-3-347-78969-2

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Widmung

Titelblatt

Urheberrechte

Die Personen

Die Story

Wie alles begann – oder: Warum nur …?

LYR – warum nicht HH?

… und es wird doch noch ganz witzig

Erste Eindrücke – blå

Der Nervige – Youri…

Auftauen und Eintauchen

Es geht noch öder

Der Alte

Annäherung

Ein Rätsel oder: Warum eigentlich hier?

Ny-Ålesund – Notgemeinschaft der Wissenden

Die Marmorinsel – Marble Island

Blas, Flensen, Wale sehen

KlimaTurbotaste

Ny Frihet

Doch nicht nur doof

Bilderbuch

TierSprech – ein Versuch

Takk for turen

Pomoren

Biike – Biko – der Alte dreht bald durch

Eine ungewöhnliche Entdeckung

Geheimnisvolle Schätze im Museum

Ganz nah dran

Tierisch gute Rettung

Wale backbord

Moderne Trapper

Power of New thinking

WalHeimat – nach Hause orientiert

Epilog

Tusen takk – vielen DANK

Die Autorin

Der Illustrator

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Die Personen

Der Illustrator

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Die Personen

Der Alte:

Ein Relikt seiner Zeit. Als Walfänger aufgebrochen und im Kongsfjord gestrandet. Er sehnt sich nach seiner Frau (Marlene), die er in Altona zuletzt verabschieden musste. Das letzte, das er von seiner Heimat sah, waren die Biikefeuer an der Küste. Er ist wortkarg, Einzelgänger und im Zeitriss gefangen. Nach und nach fasst er Vertrauen zu den Kindern und lässt sich von ihnen helfen. Gemeinsam stehen sie manches Abenteuer durch.

Jacob:

Ein 15-jähriger, der vor kurzem die Trennung seiner Eltern verkraften musste und nun bei seinem Vater lebt. Er vermisst seine Mutter meistens schmerzlich. Vor allem aber die Zeit, als sie noch eine Familie waren. Er muss nun mit seinem Vater Matthias (Geologe) und seiner Schwester Merle notgedrungen die Ferien auf dem norwegischen Archipel verbringen. Als mürrischer Jugendlicher völlig überfordert mit der Situation, entdeckt er den Alten am Strand. Jacob lebt seine eigene Meinung – mit Überzeugung. Er ist engagiert bei „Fridays for Future“, ihn interessieren Klimawandel, verantwortlich veganes Leben und CO2-Bilanzen. Er ist empört, direkt, fühlt sich verantwortlich für seine kleine Schwester und wollte nie in diese Einöde. Sein Kunst-Talent (von der Mutter gefördert, verbindet ihn besonders mit ihr) gibt ihm einen neuen Blick auf diese Landschaft und die Tierwelt.

Merle:

Ein fast 11-jähriges Mädchen aus Hamburg Altona. Sie vermisst ihre Mutter ebenso, versucht aber, tapfer die Familie auf ihre Art zusammenzuhalten. Sie ist Brückenbauerin vor Ort und ein abenteuerlustiges und neugieriges Kind. Sie liebt Tiere, zu denen sie einen ganz besonderen Zugang hat.

Youri:

Sohn des Museumsdirektors Ulf in Longyearbyen. Ein wenig arrogant. Auch für ihn ist es schwierig, älter zu werden. Im Gegensatz zu den beiden Hamburger Kindern ist er bereits 16 – hat erste Erfahrungen im Umgang mit Booten und liefert sich das eine oder andere Duell mit Jacob. Die beiden stecken so manches Revier ab. Mit dem Alten, den er anfangs so verspottet, verbindet ihn am Ende mehr, als er sich erträumt hätte.

Matthias:

Geologe an der Uni Hamburg. Er betäubt sich mit Arbeit in dem Schmerz darüber, dass er von seiner Frau verlassen wurde. Polarforschung ist seine Leidenschaft. Allerdings dieses Mal mit zwei Halbwüchsigen im Gepäck, die den alten Zeiten nachtrauern. Sehr mühsam versucht er, sie mit Elan für seine Welt zu begeistern. In seine Arbeit eingebunden, bekommt er zunächst nicht richtig mit, was seinen Kindern alles passiert. Doch am Ende brauchen sie ihn wirklich…und dann ist er für sie da.

Ulf:

Archäologe und Direktor im Svalbard Museum in Longyearbyen und völlig beschäftigt mit der Organisation einer neuen und – wie er hofft – Maßstäbe setzenden Ausstellung zu den Pomoren (russische Walrossjäger). Außerdem spielt er eine entscheidende Rolle bei der Versöhnung mit der Geschichte.

Weitere Personen

Frigga:

Wissenschaftlerin, publiziert über die Marmorinsel „Marble Island“ und hinterlässt einen wichtigen Tipp für die Nachwelt

Isabel:

Eine Köchin im Hotel «Mary-Ann's Polarrigg»

Jan + Mana:

Crew des Kreuzfahrtschiffs, er ist Offizier und natürlich Gentleman, seine Frau ist eine bekannte Fotografin

Janosch:

Ein Taxifahrer

Jessika:

Bekannt als Guide, Profi an der Waffe und Hundenärrin

Jette:

Hundebesitzerin

Manuela:

Engagierte Pastorin in Longyearbyen

Magnus:

Angestellter im Hotel «Mary-Ann's Polarrigg»

Marlene:

Die Frau des Alten

Mary-Ann Dahle:

Chefin vom Hotel «Mary-Ann's Polar rigg»

Ole:

Guide vom «Basecamp Explorer» auf Spitsbergen

Philipp + Timo: Zwei Waffelverkäufer des Veteranenclubs

Rolf Stange: Ein Guide in Longyearbyen

Tommy Sandal: Moderner Trapper und Autor

Konrad, Eddy, Martin, René, Einar, Lasse, Morten, Karl, Wighard, Fred: Einige Wissenschaftler auf Spitsbergen

Die Story

Die Jugendlichen – Merle und Jacob – haben vor kurzem die Trennung von ihrer Mutter erleben müssen. Sie ist einfach mit einem anderen Typen auf und davon. Nun müssen sie mit ihrem Vater, dem Geologen Matthias, für die Sommerferien nach Spitzbergen im Svalbard-Archipel. Auf der deutschen Forschungsstation in Ny-Ålesund findet es der 15-jährige Jacob zunächst unfassbar öde. Er hadert mit seinem Schicksal und lässt sich auch von seiner fast 11-jährigen Schwester kaum beruhigen und auf andere Gedanken bringen.

Die Kinder finden einen alten Mann am Strand, der ihnen zunächst wie ein Felsbrocken erscheint, knurrig und einsilbig. Doch mit der Zeit freunden sie sich mit ihm an und entdecken, dass der seltsame Alte zwar wie sie aus Norddeutschland stammt, jedoch irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Ständig hält er Ausschau nach Biikefeuern. Er kennt sich aus im Walfang – aber nicht mit einem Telefon, Handy oder gar einer Drohne.

Nach turbulenten Abenteuern mit Youri, dem Sohn des Museumsdirektors in Longyearbyen, entdecken die Kinder den Grund dafür – und zugleich einen Weg, dem alten Mann seine Heimat zurückzugeben.

Jede Figur macht in der Geschichte eine eigene Entwicklung durch, aber vor allem Jacob lernt, sein stark ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken bei seinem Engagement für Umwelt, Klima und Gerechtigkeit auf der Welt aus einer ganz neuen Perspektive zu sehen.

Eine Geschichte um Freundschaft, Heimat, Historie und den modernen Blick auf Welt und Zukunft. Hoffnungsvolle Gedanken und Verständnis für die historische Vergangenheit. Die Rahmenhandlung bietet zugleich einen faszinierenden Background für Sachthemen aus den Bereichen des Walfangs und der Ressourcen, von Bergbau, historischer Jagd, Meeresgeschichte und dem Leben der Pomoren (russische Walrossjäger). Gleichzeitig werden moderne Themen wie Klimaschutz, Bewahrung und Entwicklung von polarer Landschaft und Tierwelt in der Veränderung der Zeit beschrieben.

Ein Einblick in die Notwendigkeit von Jagd, wissenschaftlicher Arbeit, historischer Veränderung und biologischer Lebensgemeinschaften von Menschen und Tieren.

Gestern – heute – morgen.

Drei Perspektiven, die verschmelzen und die Personen miteinander verbinden.

Wie alles begann – oder: Warum nur …?

Jacob

Er hasste es.

Er hasste es einfach zutiefst, hier zu sein. Wie konnte das nur passieren? Warum musste er sich eigentlich überhaupt darauf einlassen? Irgendwie hatte sein Vater es wohl geschafft, einen sentimentalen Moment abzupassen. Gemeinsam was machen. Pah! Was bitte schön sollten sie denn hier wohl machen?

Immer noch stand er unter Schock, wie er sich eingestehen musste: Diese ätzende Situation mit Mama war irgendwie immer noch nicht richtig bei ihm angekommen. Warum musste sie sich überhaupt nach anderen Typen umsehen? War doch eigentlich alles gut, wie es war. Und das sollte auch so bleiben. Mist, Mensch!

Grimmig schaute er durch das Fenster des Flugzeugs aufs Meer. Wappnete sich mühsam gegen das, was ihn dort unten erwartete, worauf er da hinunterblickte. Auf dem Weg nach Spitzbergen! Am Ende der Welt. Und das in den Ferien. Sogar noch länger hatte Papa sie hier eingeplant. Extra mit der Schule irgend so ʹnen Deal ausgehandelt, damit sie länger hierbleiben können. Dabei war hier echt überhaupt gar nichts. Sah man doch schon von oben. Unfassbare Leere. Immer nur Wasser zwischen den Wolkenfetzen. Da hatte er sich schon einen Fensterplatz ergattert, und was sah er? Wolkendecke, Einöde. Es sah einfach nur kalt, langweilig und farblos aus. Voll grau – wie seine Gedanken.

Scheiße, Mann, er hasste seine Situation – einfach alles. Noch gar nicht so lange her, dass Mama sie alle verlassen hatte. Seitdem war es nur noch ätzend. Fast so, als wären aller Spaß und alle Lebensfreude mitgeflohen. Papa alleinerziehend. Ausgerechnet. Elender Verlust und Einsamkeit hieß das eigentlich übersetzt. Wie sollte er das nur aushalten? Und dann hier? Er hatte so sehr gehofft, dass sie wenigstens zu den anderen Großeltern könnten, aber die waren schon auf Sizilien – hatten keine Zeit für sie. Na, wenigstens die hatten es warm.

Aufmunternd und verzweifelt optimistisch schaute ihn Merle von der Seite an. Seine kleine Schwester. Ja klar – für sie musste man sich zusammenreißen. Aber doch wohl nicht wochenlang!? Das ging gar nicht. Auch nicht für sie. Das musste Papa einfach verstehen!

Eigentlich fand Jacob es ja meistens cool, dass gerade sein Papa so einen spannenden Job hatte: Geologe. Da beschäftigt man sich immer irgendwie mit der Entstehung der Welt, mit dem Heraustüfteln, was früher mal gewesen war und woran man das erkennen konnte. Checker-Kram eben. Wie Forensik in der Natur ist das. Manchmal kam ihm sein Papa wie der James Bond unter den Wissenschaftlern vor. Oft genug hatte er mit ihm angegeben vor seinen Freunden, vor allem bei den „Fridays for Future“-Leuten! War irgendwie immer ein bisschen so, als hätte er noch einen Joker, der einfach mehr weiß und an der Quelle der neuesten Infos und Prognosen zum Klimawandel sitzt. Kein Trend, der es nicht schon den Weg über den Frühstückstisch in Hamburg geschafft hätte. Und unter normalen Umständen hätte es ja auch eine echt klasse Zeit werden können. Aber so … ohne Mama war es irgendwie völlig sinnlos!

Merle plapperte munter drauflos, irgendwas, was sie mal irgendwo gelesen oder aufgeschnappt hatte. Informationen zur Hauptstadt Longyearbyen, ein altes Bergarbeiterstädtchen dort im Norden. Sie fand es oberkomisch, dass der Ort am Adventfjord liegt – und das mitten im Sommer. Kicherte über die Aussicht auf Hundeschlittentouren und wies Jacob auf die U-Form von Gletschertälern hin. Als wüsste er nicht selbst, dass das so ist. Babykram, dachte Jacob. Aber weil Merle es sagte, zeigte er sich interessiert und nickte immer wieder scheinbar beeindruckt. Bis sie ihn dabei erwischte, dass er gar nicht so richtig zuhörte. Sie kräuselte genervt ihre kleine Stirn und sah ihn böse an. Offensichtlich hatte sie gerade eine sehr wichtige Frage gestellt – und er hatte es verpasst.

„Was jetzt?“, fragte er nochmal.

„Na, was ist ein Chillifaktor, Jacob??? – Weißt du das?“

Hä – was meinte sie? Da ging es ihm auf: Windchill-Faktor! Er grinste – vielleicht ein neues Geheimwort: „Das ist der Ausdruck für die gefühlte Temperatur. Die ist meist noch niedriger als die gemessene. Und es heißt Windchill-Faktor. Aber Chillifaktor finde ich viel besser!“

Er grinste sie noch breiter an. Dann kicherte er vorsichtig los, und auch Merle gluckste ein bisschen vor sich hin. Papa sah erleichtert von seinen wissenschaftlichen Papieren auf und freute sich, dass sie zwischendurch mal wieder lachten. Alles, was nur irgendwie so halbwegs normal war, wie früher, war ihm ein Fest. War ja klar.

War auch für ihn nicht leicht die letzte Zeit. Sie mussten sich wohl ein bisschen mehr um ihn kümmern. Aber – solange er beschäftigt war, war es ihnen eigentlich am liebsten. Schon schwierig genug, den Kopf selber über Wasser zu halten. Da brauchte man den besorgten Dackelblick von Papa nicht auch noch immer zwischendurch, der dann oft wortlos fragte, ob alles in Ordnung war. Nix war mehr in Ordnung. Blöde Frage! Saublöde!

Und so war Jacob wieder zwischen Wut, Verzweiflung und dieser bekloppten Situation hin- und hergerissen. Ach – manchmal tat es einem einfach so richtig gut, sich tüchtig auszukotzen, wie er das in den letzten Wochen gemacht hatte. Beim großen Streit zu Hause kurz vor Abflug. Totaler Wutanfall. Im Selbstmitleid ließ es sich einfach aber auch wunderbar baden. Und dann ist eben alles, was andere sagen, einfach blöd. Zorniger Ritter. Gefiel ihm. Denn er hatte ja echt ständig das Gefühl, dass alles nie wieder gut wird. Niemals. Wozu sich dann immer zusammenreißen? Da hatte er mal alles rausgelassen. Wie früher, als er noch klein war. Kotzbrocken sein. Keine Rücksicht mehr … außer natürlich auf Merle. Sie waren schon immer ein ganz besonderes Team gewesen. Konnten sich einfach angucken und wussten genau, was der andere gerade dachte. Eben echt gute Kumpel – obwohl sie Geschwister waren. Das war schon viel mehr, als seine Freunde so hatten. Er wusste das und schätzte es sehr.

Und deshalb schaffte Merle es auch jetzt, ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen.

„Ey Jacooob – warum wird das jetzt nicht dunkel da? Muss ich dann mit Sonnenbrille schlafen? Oder mit so einer komischen Schlafbrille?“

Sie drehte sich zu ihrem Vater um: „Ja, Papa – warum ist das überhaupt so?“, fragte sie, “ich weiß ja, dass die Sonne im Sommer am Nord- und Südpol nie ganz untergeht und hinter dem Horizont verschwindet. Aber wir sind ja nicht am Nordpol. Ist es jetzt auf Spitzbergen immer hell? Ist das echt so? Oder ist die Nacht nur minikurz? Sag mal!“

„Hmm – ihr müsst euch das so vorstellen: Die Erde ist ja geneigt in ihrer Achse und steht der Sonne eben nicht gerade gegenüber. Außerdem eiert sie wie eine Kartoffel und nicht wie ein runder Ball. Haltet ihr vor so eine schräge Kartoffel dann eine Taschenlampe, wird ein Teil, der der Sonne zugewandt ist, von eurer Taschenlampen-Sonne die ganze Zeit beschienen und immer – rund um die Uhr – hell sein. Also wird es dort für eine gewisse Zeit im Jahr eben nicht dunkel. Der polare Sommer geht von Mitte Mai bis Ende September ungefähr. Aber die Mitternachtssonne gibt‘s immer vom 17. Mai bis so zum 23. August. Jetzt, wenn wir im Juni hier hinkommen, sind wir also mittendrin. Und dann kann es sein, dass man erstmal schlecht schläft, Merle. Nur, bis man sich dran gewöhnt hat. Muss aber nicht so sein. Ich nehme mir immer eine Schlafbrille mit. Möglich aber, dass dir das total egal ist. Für alle Fälle habe ich die Schlafbrille von Mama noch mitgenommen. Vielleicht hilft die dir dann.“

Jacob schluckte. Da war es wieder! Sobald irgendetwas an Mama erinnerte, war er echt raus. Wie lange dauert sowas wohl noch? Nie wieder froh werden? Nie wieder Nacht hilft da bestimmt erstmal. Denn nachts war es immer am schlimmsten. Und seine Träume konnte man ja schließlich nicht abschalten oder beeinflussen. Gut, wenn dann die Sonne scheint, dachte er und schaute angestrengt nach unten. Gleich würden sie landen in diesem Nichts. Na, großartig!

Er brütete wieder über seinem Unglück. Miese Aussichten. Jacob haderte mit seinem Schicksal. Echt alles blöde! Er wollte einfach im Moment so richtig angepisst sein über die ganze Situation. Grummelte vor sich hin. Erwachsene machen sich das echt immer leicht. Und was war mit ihnen? Sie wollten nicht immer hin- und herwandern. Und schon gar keinen Bock hatte er auf diesen Blödmann von neuem Freund. Was hat sich Mama nur dabei gedacht? Und was bitteschön war denn wohl sooo schlimm, dass sie sich nicht aussprechen konnten zu Hause? Eltern finden doch immer eine Lösung.

Aber einfach abhauen?

Ging gar nicht.

LYR – warum nicht HH?

Jacob

Und dann war es soweit: die Wolkendecke zog erst in Teilen frei und gab dann einen – zugegeben – echt spektakulären Blick auf Spitzbergen frei. Eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Berge, die steil aus dem Meer aufragen. Gletscherbedeckte Spitzen. Sahen fast gestreift aus durch die vereisten Rinnen. Und sie ragten direkt aus einer Wolkendecke, die ihm eben noch komplett die Sicht genommen hatte. Jetzt war der Himmel darüber knallblau. Das machte es ja schon mal nett, dachte Jacob. Wenigstens etwas Farbe. Unter ihnen alles erdbraun und ein wenig grün im Gletscher. Die bunte Welt schien hier ʹne Pause zu machen. Es wirkte sehr merkwürdig. Da gab es wieder ein Wolkenfeld, und Jacob versuchte angestrengt, weiter zu sehen.

Wahrhaftig tauchte eine kurvenreiche, langgestreckte Straße auf, die irgendwie vom Plateau der Berge in Serpentinen hinunterführte zu einer Art Delta. Und dann tauchten Häuser auf. Winzig. Alles wirkte vollkommen chaotisch. Aber zugleich irgendwie unbewohnt, wie auf dem Mars. Winzige, kleine Schachtelansammlung. Sollte das etwa Longyearbyen sein? Ein paar Holzschuppen? Und das war es schon???? Na, wenigstens waren diese Schachteln total farbenfroh. Und so komische Bälle auf dem Plateau neben dem Ort. Seltsam. Voll spacig. Echt krass, fand Jacob.

Die Schiffe vor Ort am Hafen, das sah dagegen eher gemütlich aus. Erinnerte aber auch wieder an Hamburg. An die Hafenstadt, die sie ja leider gerade zurückgelassen hatten. Nur eben in Mini hier. Kein Vergleich mit der Heimat.

Fast hielt er die Luft an, ob sie auch wirklich wieder zum Stehen kommen würden, bevor es ins Meer ging. Da drehte die Kiste, und ein paar bekloppte Amerikaner versuchten sogar zu klatschen. Die waren sich für nix zu schade. Egal. Sie waren angekommen und konnten sich nun endlich wieder freier bewegen. Jacob war schon ganz steif vom vielen Sitzen. Das hielt er auch in der Schule nicht gut aus für länger – aber da gab es wenigstens Pausen. Hier dagegen schien ein endlos langer Tag mit Umsteigen, Einchecken, Kontrollen und vor allem mit Sitzen zu vergehen. Das war überhaupt gar nicht sein Ding.

Erst jetzt erzählte Papa ihnen: „Ach ja, der gehörte übrigens zu den zehn gefährlichsten Landeplätzen der Welt! Hatte ich ganz vergessen, euch zu erzählen!“ und schmunzelte.

Ach, ja? Jacob atmete tief und genervt ein. Sah auf seinen Rucksack auf dem Gepäckanhänger und erkannte die Abkürzung LYR. Warum konnte da nicht schon HH stehen? Wieviel lieber wäre er jetzt zu Hause. In gewohnter Umgebung mit seinen Leuten. Einfach chillen, vor sich hinbrüten, neue Aktionen planen für’s Klima. Oh Mist – seine CO2-Bilanz war durch diese Flüge eh wieder unterirdisch. Ökologischer Fußabdruck für’n Ar***. Aber was willste machen: Wenn du fremdbestimmt bist, haste eben keine Chance, wusste Jacob. Alles rempelte sich zum Aussteigen bereit, und auch Jacob kramte seine Ear Buds, den Rucksack und die Wasserflasche zusammen. Merle war immer noch voll aufgeregt mit schon hochroten Wangen. Bestimmt ärgerte sie das, weil dann alle fanden, dass sie so niedlich aussah. Jacob konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Stimmte ja auch. Aber wehe, man sagte ihr das dann. Er schielte unter einem Haarbüschel zu seinem Vater, der nun doch auch ein wenig angespannter wirkte. „Geht jetzt los, was, Papa?“, meinte er gutmütig.

Ulf – das war ein Freund von Papa, ein netter Däne und inzwischen Museumsdirektor in Longyearbyen – wollte sie hier abholen am Flughafen. Sie verließen die Maschine der skandinavischen Fluggesellschaft SAS und gingen ein paar Meter über das Rollfeld in die Ankunftshalle. Alles sehr übersichtlich – mehr hätte ihn auch echt gewundert. Mitten im Zentrum des Gepäckbands stand ein ausgestopfter Eisbär. Widerlich, fand Jacob. Merle juchzte in den höchsten Tönen und bekam gleich eine viel höhere Stimme. Mädchen eben. Leicht zu begeistern, dachte Jacob verächtlich. Er wollte einfach angenervt sein und vergrub sich mit Leidenschaft in seine Anti-Haltung.

VELKOMMEN. Dickes Banner, viele schöne Katalogfotos an den Wänden. Ein Idealbild von Spitzbergen, das aber auch überhaupt gar nichts mit der Realität zu tun hat, dumpfte Jacob vor sich hin. Da fiel ihm doch der Titel „Monotonie“ ein – eigentlich kannte er nur das Cover von den „Beatsteaks“ – aber letztlich hatte er sogar mal die Originalversion bei Papa im Schrank gefunden. Von „Ideal“ 1982 – noch als Platte natürlich. Mit Annette Humpe. Die hatte eigentlich auch eine geile Stimme, sinnierte Jacob so vor sich hin und merkte überhaupt nicht, dass auch schon ihre Gepäckstücke auf dem Band auftauchten. Na ja – von Südsee und 30 Grad waren sie hier ja auch echt weit, weit weg. 78 Grad nördlicher Breite – jawoll! Noch nördlicher ging‘s ja wohl kaum. Also: aus der Traum von Reggaeklängen, Karibik und Swag. Lässig und cool kam vielleicht im nächsten Jahr wieder. Oder auch nie. Er war da nicht zu optimistisch. Nicht im Moment.

Angekommen im Hier und Jetzt. Reiß dich mal zusammen, Jacob!, dachte er – und schon knallte ihm Papa seine große Reisetasche vor die Füße.

„Träum nicht, Junge!“, sagte er und angelte sich gleich darauf den kleinen, rosa Rollkoffer von Merle. Das hier hätte er sich eh nie erträumt. Monotonie … in der Grönland-See … und in den Farben … ja, und im ganzen Leben. Mimimi.

Jacob mochte seinen Gedanken schon selbst nicht mehr zuhören. Dauerschleife im Rumgeheule. Gut, dass Gedanken nicht für alle sichtbar waren. Oder als Blasen über den Köpfen schwebten. Hatte er da nicht mal so ʹnen bekloppten Film gesehen?

Merle

Puhh – was für eine Stimmung. Wie gut, dass der Flug nun endlich vorbei war. Irgendwie war mit Jacob ja auch überhaupt nichts los. Trübe-Tassen-Stimmung. Die konnte Merle auch mit den besten Fragen nicht aufhellen. Wie anstrengend. Große Brüder und traurige Väter voller Geokram in den Gedanken waren echt schwierig auszuhalten. Dabei ging es ihr selbst ja auch nicht gerade Bombe. Wie auch. Alles total verfahren und ätzend. Aber Merle hatte tief innen das Gefühl, dass sie die bestmögliche Person war, die beiden Kerle jetzt zu trösten und so irgendwie ein bisschen die Familie zusammenzuhalten.

Das hätte Mama nämlich ganz genauso gemacht. Nur war DIE Profi darin. Die konnte das immer voll easy. War irgendwie so eines von ganz vielen Talenten von ihr. Wenn Mama dabei war, war die Stimmung gut, die Welt bunt und laut und witzig. Wo Mama auftauchte, war immer Lachen, Leben und Musik. Sie konnte einen immer aufmuntern, bestärken und einfach das beste Leben bereiten. Immer schien sie einen geheimen Sensor zu haben, der ihr genau sagte, wie es Merle gerade ging, was sie brauchte – und bei allen anderen ganz genauso. „Offenes Haus“ fand Mama cool und wichtig, und so wurde sie über die Jahre immer wieder zu einer super Anlaufstelle für alle möglichen Menschen. In der Nachbarschaft, bei den Kindern, bei Familie und Freunden. Magneten-Superkraft. Egal, woher die Leute kamen und wie sie ihnen so begegnete: Zu Hause war immer noch Platz für einen Teller mehr, einen Kaffee in Ruhe und ein witziges Gespräch. Mama war da schon immer ganz besonders gewesen. Und jetzt hatte sie sie einfach so verlassen. Richtig im Stich gelassen. Und das nur für einen Kerl. Und warum der nicht auf ewig Papa hieß, war ihr ein Rätsel. Es war doch eigentlich alles gut? Sie hatten doch ein tolles Leben?

Und wie Merle das jetzt vermisste! Seitdem war es echt nicht leicht. Obwohl sie fast jeden Tag mehrmals mit Mama sprach. Mal laut, mal in Gedanken. Immer vor dem Schlafengehen. Ach – eigentlich ganz egal, wo sie gerade war. Mama war immer irgendwie dabei. Und manchmal – aber das war ein echt geheimer Gedanke, den sie noch nicht mal ihren besten Freundinnen verriet – manchmal hatte Merle irgendwie das Gefühl, dass manche Tiere, denen sie begegnete, von ihrer Mama geschickt wurden. Die guckten dann immer so ganz speziell. Als wollten sie trösten oder hätten einfach eine liebevolle Nachricht. Wer weiß, vielleicht gab es da ja echt Verbindungen, die Merle noch nicht kannte? Zuzutrauen wäre es Mama auf jeden Fall, dachte Merle, dass sie mit allen Tricks und Kniffen eine besondere Botschaft an ihre Kinder schicken würde. Mit welchen Methoden sie Jacob erreichte, war ihr allerdings schleierhaft. Irgendwie hatte sie da wohl noch eine knifflige Aufgabe zu lösen. Der hatte sich einfach vollkommen eingeigelt. Seit Mama nicht mehr bei ihnen war, war nicht nur die Luft, sondern auch die Farbe raus bei ihm. Nur noch diese grauen und schwarzen Klamotten. Sah aus wie ein Grufti oder Emo … Dabei war er doch ihr Jacob. Immer für Aktionen gut, immer unterwegs und voller Ideen. Der wollte ständig die Welt retten und wusste immer alles ganz genau und meistens besser. Dachte er zumindest. Was Merle allerdings wirklich obercool fand, war, dass er echt gut war im Parcours. Der traute sich da Sachen in Hamburg und hatte alle Hindernisse in einem Affentempo überwunden. Mit seinen Jungs war der immer in der Nähe vom Elbstrand, am Jenischpark oder im Altonaer Volkspark unterwegs. Da war kein Geländer sicher, kein Fahrradständer ein Problem. Jedes Auto, jeder Bordstein, jede Treppe sah bei denen aus wie ein Sprungbrett. Unglaublich! Aber das hatte er die letzten Wochen natürlich auch überhaupt nicht mehr gemacht.

Vielleicht ja auch ganz gut, dass sie jetzt erstmal weit weg waren von Altona. Einfach wirklich weit im Norden. Papa war dann beschäftigt, und sie sahen auch mal was total anderes. Kissen- und Kachelwechsel, wie auf der alten CD von „Sultan und Kotzbrocken“. Sie musste in Erinnerung ein wenig grinsen. Dieses Hörspiel hatten sie beide immer geliebt. War so ein Familiending: unterwegs im Bus mit Mama und Papa. Mit solchen Geschichten hatten Urlaube ganz oft begonnen.

Puh – Merle musste mal tief durchatmen. Angekommen. In Longyearbyen. Schwieriges Wort. Der Flughafen war schon mal übersichtlich. Aber immerhin war alles Gepäck angekommen, und es konnte jetzt losgehen. Der Eisbär in der Ankunftshalle am Gepäckband war unfassbar groß. Aber auch total süß und kuschelig. Ob sie wohl auch so einen sehen würden? Lebendig natürlich. Das wäre sooo cool! Erstmal freute sie sich darauf, endlich aus ihren ollen Klamotten rauszukommen. Wie hieß nochmal das Hotel, wo es hingehen sollte? Und wo war überhaupt Onkel Ulf? Suchend blickte Merle überall am Flughafen um sich.

Matthias

Ah, da war Ulf ja! Pünktlich war er – wie immer. Fröhlich winkte er und wedelte mit seinen langen Armen. Er kam mit weit ausholenden Schritten auf sie zu. Die alten Freunde fielen sich in die Arme. Voller Mitleid klopfte ihm Ulf leicht unbeholfen, aber kräftig auf den Rücken. Es gibt eben Situationen im Leben, da fehlen einem die Worte, dachte Matthias, ist auch nicht immer notwendig. Man kann Sachen auch zerquatschen.

„Schön, dich zu sehen, Ulf! Toll, dass das geklappt hat und du uns abholen kannst!“

Scheu sah ihn Ulf von der Seite an. Ein schwieriger Moment. Doch dann lächelt er und schluckt noch einmal trocken: „Tut mir so leid mit Zoe. Sie war eine wunderbare Frau. Du musst sie furchtbar vermissen. … Oder bist du einfach mur sauer? Ich habe da einen klasse Boxsack im Keller. Kannst dich da gerne austoben.“

Matthias versteinerte leicht. Eigentlich konnte er das alles selbst noch nicht so richtig glauben. Warum war ausgerechnet ihnen das passiert? Niemand hatte ihn darauf vorbereitet, dass alles so verdammt schnell vorbei sein konnte. So richtig checkte er es immer noch nicht. Meistens wirkte es für ihn, als wäre Zoe nur mal kurz unterwegs und würde nachher wieder da sein. Wie so oft. Ging ja gar nicht anders …

Der blöde Moment ohne Maske kam und ging. Unter Freunden musste man sich zum Glück nicht verstellen.

Daher seufzte Matthias nochmal abgrundtief, sah seine Kids mit dem Gepäck hantieren und war wieder im Hier und Jetzt. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Einfach ablenken, zähneknirschend weitermachen und bestmöglich als Papa für sie da sein. Irgendwie würde er das schon packen. Irgendwann. Wenn überhaupt. Er schüttelte sich. Raffte alle Energie zusammen und sagte übertrieben motiviert: „Na dann mal los. Wo pennen wir? Hast du noch was für uns gekriegt?“

Er gab seinem Freund zu verstehen, dass sie später reden würden. Wenn es mal vier Ohren weniger um sie herum gab.

Ulf schaute verschmitzt: „Ihr werdet staunen – und euch ganz bestimmt sauwohl fühlen! Nachdem im Radisson Blu Polar Hotel alles dicht war – du weißt, die Konferenz beim neuen Sysselmester …“

Matthias unterbrach ihn gleich: „Sysselmester?? Ist das eure Art zu gendern hier?“, mit weit aufgerissenen Augen sah er den Freund an.

„Na jaaa“, grinste Ulf, „so heißt das jetzt eben als großes Zeichen der Gleichberechtigung. Sysselmann geht eben nicht mehr so gut für Frauen!“

Beide sahen sich einen Moment sprachlos und verblüfft an – und barsten dann vor Lachen.

„Erklär das mal Kjerstin Askholt. Die war unsere Gouverneurin bis 2021 – und der ist das bestimmt völlig egal“, prustete Matthias, „na gut, Kinder, lasst uns los hier. Wo wohnen wir denn jetzt, Ulf?“

„Ach ja – im Polarrigg von Mary-Ann! Ihr werdet es lieben, sag ich euch!“.

Daraufhin setzte sich die ganze Truppe in Bewegung. Endlich wieder gehen, sich bewegen, atmen. Und genau wie die meisten Passagiere mussten sich die Kinder natürlich erstmal scheu umsehen.

Wo man wohl gelandet war.

… und es wird doch noch ganz witzig

Jacob und Merle

Und Jacob und Merle staunten tatsächlich nicht schlecht, als sie ankamen: Das sah schon aus wie eine alte Trapperbude. Und Ulf plauderte auch gleich munter drauflos: „Ja heute ist das hier eine urige Unterkunft mit drei Hauptgebäuden, der Förderplattform, der Luxusplattform und der Transportplattform. Ihr merkt schon, das sind alte Bergarbeiterkasernen, und Mary-Ann Dahle hat das total liebevoll umgebaut, kann ich euch sagen. Die hat immer wieder so tolle Ideen, damit sich wirklich alle Gäste wohlfühlen. Viele Gegenstände im Hotel stammen aber in der Tat aus alten Kohlebergwerken hier aus der Gegend. Sogar der alte Bergarbeiterbus vor der Bar!“, er grinste, „der ist aber heute nur noch ein beleuchteter Raucherunterstand. Voll cool. Und die Zimmer sind der Hit! Ich habe euch in einem super Familienzimmer untergebracht. Da habt ihr alles, was ihr braucht. Wir treffen uns in einer Stunde unten im Restaurant Vinterhagen. Ihr werdet staunen! Packt erstmal aus. Bis gleich, Folks!“

Und mit diesen Worten und einem flüchtigen Grinsen ging er stracks auf den gemütlichen Aufenthaltsraum zu und begrüßte dort ein paar Freunde der bunten Crew des merkwürdigen Hotels. Er hatte den typischen, skandinavischen Slang angenommen. Es klang alles so niedlich, was er erzählte. Man dachte sofort, dass er ein guter Freund ist. Liebevoll und kumpelig. Echt nice.

Also checkten sie ein und bewunderten erstmal vorsichtig die ganze bunte Sammlung an Dingen, die sich hier fanden. Total urig und gemütlich war es auf jeden Fall. Da hatte Ulf völlig recht. Irgendwie aber auch befremdlich mit den Geweihen und so … doch eher eine Trapperwelt. Sah aus wie in einem Bilderbuch.

Umgewöhnen mussten sie sich auch, weil erstmal alle hier die Schuhe auszogen. Gilt in allen öffentlichen Gebäuden, sagte Papa so lapidar. Wie bitte? Spitzbergen auf Socken erleben??? Echt wild hier.

Und dann ging es aufs Zimmer. Familienzimmer mit genug Platz für alle. War aufgemacht wie ʹne Kapitäns-Kajüte. Mit Bullaugenspiegel und so. Schon klasse, fanden beide. Merle stürzte sich gleich auf das obere Bett – das war allen ganz lieb so. Die Taschen wurden ausgeräumt – aber nur das Nötigste, denn eigentlich war Longyearbyen ja nur die erste Station, und dann ging es weiter nach Ny-Ålesund. Unvorstellbar, wenn das hier schon die Hauptstadt sein sollte, wie einsam konnte es noch werden? Jacob zog die Gardine vor dem Fenster weg und wäre fast zurückgeprallt: Direkt vor dem Fenster guckte er auf ein Schiff! Auf dem Trockenen und mit diversen Sitzgelegenheiten darauf. Konnte bestimmt gemütlich sein – sah aber unwirklich aus, wie eine Postertapete. Irre.

Aber Papa hatte ihnen zugesichert, dass das hier ein wenig außerhalb lag, damit sie nicht im totalen Rummel wohnen müssten. Rummel – pah. Hier sagten sich auf jeden Fall Rentier und Polarfuchs gute Nacht, dachte Jacob. Hatte die Trulla am Empfang ja auch schon gesagt. Wir sollen uns nicht wundern, wenn hier so Tiere auftauchen oder sogar ein Schwarm Moorhühner vorbeifliegt. Dafür reichte sein Englisch natürlich schon. War ein bisschen fremd für die Kinder, hier ihr olles Schulenglisch nun auch wirklich mal anzuwenden. Sonst im Urlaub hatten sich immer Papa und Mama darum gekümmert, und sie mussten nur ein ganz klein wenig zur Unterhaltung beitragen. Blieb meistens so im Yes-und-No-Bereich. Manches konnte man auch einfach weglächeln und musste gar keine Worte suchen. Vor zwei Jahren beispielsweise auf Lanzarote in diesem Sport-Dings. Da ging es ja auch hauptsächlich um Action und sich austoben. La Santa. Hmm – damals waren sie noch zu viert und total super-entspannt und sorglos. Konnte ja keiner ahnen, was danach plötzlich kommt. Und genau da begann das wohl alles. Weil Mama sich in so einen Yoga-Guru verguckt hatte. Guru Steve. Wenn Jacob nur an den Vogel dachte, kam ihm schon die Galle hoch. Und Guru Steve war dann leider auch der Grund, warum Mama auf und davon war. Von heute auf morgen. Unfassbar.

Das sollte es eigentlich gar nicht geben dürfen, dachte Jacob, dass Eltern sich so verabschieden. Klar war er kein Baby mehr und wusste um solche Dinge. Aber das passierte doch eigentlich immer nur anderen. Oder im Film oder in Büchern. Doch nicht den eigenen Eltern, Mann! Zornig trat er gegen seine Tasche.

Merle guckte ihn komisch von der Seite an – warum war der nur immer wieder so sauer? Urplötzlich! Was ging eigentlich in seinem Kopf so vor? Echt anstrengend, große Brüder. Reden nicht mehr und sind wirklich kompliziert. Hoffentlich kam sie nie in die Pubertät. Kicher.

„So – fertig! Erste!!“, verkündete Merle, nachdem sie ihren Eisbären auf dem Kopfkissen platziert hatte. Voller Energie wollte sie nun endlich die ganze Bude erkunden. Also machte sie sich auf den Weg. Englisch war nun auch nicht so ihr Ding, aber wenn es sein musste, konnte sie sich immer noch mit Händen und Füßen irgendwie verständlich machen. Und wenn nichts mehr ging, dann hatte sie ja immer noch Jacob an der Hand. Deswegen zerrte sie ihn auch gleich an seinem Pullover mit aus dem Zimmer.

Papa gab ihnen einen Zimmerschlüssel und wollte sich nochmal kurz hinlegen. Seine Sache. Sie wollte jetzt endlich looos.

Und weil es sowieso gleich soweit war mit dem Essen, wollte sie mindestens noch diesen komischen Raucherbus vor dem Haus checken. Witzig. Und irgendwie total abgedreht, fand sie. Jacob folgte ihr mürrisch. Eigentlich war er ja ganz froh darüber, dass Merle ihn aus den Gedanken und dem Zimmer rausholte. Dieser Bus, den sie sich jetzt ansehen wollte, der interessierte ihn auch. Raucherbus, tse.

Im Aufenthaltsraum sah es aus wie in einem Wohnzimmer von irgendwem. Echt starkes Hotel eigentlich. Die vom Team hatten so Jeanshemden und braune Schürzen an. Voll locker. Jacob hatte in Hamburg mal in einer kleinen Eisdiele um die Ecke gejobbt. Nur für ein paar Stunden, wegen „Zukunftstag“ an der Schule. Danach konnte er immer in den Sommerferien zur Hochsaison aushelfen. Daher kannte er das schon, in so einer Schürze rumzulaufen. Aber hier sahen die Leute echt total entspannt aus damit. Nicht so steif. Und irgendwie waren die auch alle jung. Scheinbar eine bunte Truppe aus verschiedenen Nationen. Sowas war immer hip. Aber sonst – völlig Wildwest hier. Wie eine Zeitreise. Überall Felle. Igitt. Und Geweihe und Gewehre. Kann doch auch mal ohne Gewalt gehen heute, oder? In seiner Hamburger 3F-Gruppe ging es immer um gewaltfreien Protest, um Gendern, um Anti-Rassismus und Anti-Gewalt. Mit friedlichen Protesten war es doch viel einfacher und eindeutiger. Gibt schließlich schon genug Knallköpfe, dachte Jacob.

Merle zog es nach draußen. Der Bus leuchtet ihnen knallrot entgegen, und vor dem Eingang war dieses große Holzgestell zu sehen. Mit den Geweihen daran.

„Häh“, fragte sie, „was hieß das eigentlich: Polarrigg? Was für ein Rigg denn?“

Sie starrte ihren Bruder an, doch der zuckte auch nur mit den Schultern. Da kam eine Köchin aus dem Seiteneingang, um eine zu rauchen. Sie grinste die Kinder an und wies mit ihrer Zigarette nach oben, erklärte irgendwas in einer fremden Sprache. Kam ihnen wie Spanisch vor. Als sie wild mit den Armen wedelten und die Schultern zucken, guckte die Köchin erst nur erstaunt mit großen Augen. Dann fragten sie auf Englisch, ob sie es ihnen übersetzen könnte. Das tat sie gerne. Isabel hieß sie, tatsächlich Spanierin. Aber sie hatte lange Jahre in Dortmund gearbeitet bei ihrem Schwager im Restaurant. Boah, was für ein mega Glück! Sie hatte nicht Spanisch, sondern Norwegisch gesprochen, aber das verstanden die Kinder gar nicht. Isabel konnte den Kindern zum Glück auch auf Deutsch sagen, worum es hier ging: Polarrigg meinte «die polaren Bohrungen». Hier war früher ein Bohrturm gewesen. Und jetzt war es eben der Grund, warum hier die alten Bohrungs-Relikte und die Welt der modernen Trapper und Jäger zusammenkamen. Eine gute Mischung, wie sie fand. Mary-Ann hatte eben ein Händchen dafür. Und immer wieder gäbe es im Restaurant besondere Motto-Wochen: mal thailändisch, äthiopisch, orientalisch, indisch oder eben spanisch, das kochte dann sie. Denn Isabel war Köchin aus Leidenschaft, bestätigte sie stolz.

Merle und Jacob fanden Isabel echt nett und freuten sich schon sehr auf spanisches Essen. Das mochten sie zu Hause auch immer total gerne. Sie verabschiedeten sich von ihr und guckten auf die Uhr. Über alldem war die Zeit auch schon fortgeschritten, und gleich sollte es in den Wintergarten gehen – oder wie das hier hieß – zum Essen. Überall fand man noch einen Eisbären, der irgendwo rein- oder rausguckte, Felle, Geräte, von denen man bei kaum der Hälfte wusste, wofür die gut wären. Fast wie Wohnen-im-Museum, dachte Jacob. Und so unrecht hatte er damit ja auch nicht. Wie Isabel ihnen vorhin erklärt hatte, war es der Sammelleidenschaft der Chefin geschuldet, dass all der Kram hier munter miteinander verbunden wurde. Cool war auf jeden Fall der Holzweg, auf dem man durch die Flure ging, die bunte Komposition an Zeug überraschte einen immer wieder – und langweilig, ja, langweilig konnte es einem hier überhaupt nicht werden. Schon mal für den Anfang gar nicht so schlecht. Musste selbst Jacob zugeben. In so etwas hatten sie noch nie gewohnt. Dazu kam wohl, dass die Chefin sich eher als Künstlerin empfand und schon deswegen alles so wild kombinierte. Sie erschuf so eine ganz eigene, neue Welt hier im Norden.