WARP - Die komplette Trilogie - Eoin Colfer - E-Book

WARP - Die komplette Trilogie E-Book

Eoin Colfer

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Beschreibung

Alle Bände der Jugendbuchreihe WARP vom Spiegel-Bestseller-Autor der Artemis Fowl-Bücher, Eoin Colfer, in einem eBundle! Ein grandioses Zeitreise-Abenteuer mit ganz viel Humor für alle Fantasy-Leser ab 14 Jahren.   Was soll es anderes sein als eine Strafversetzung? FBI-Junior-Agentin Chevie Savano wurde nach London geschickt, um im Auftrag von WARP eine merkwürdige alte Metallkapsel zu bewachen. Das war vor neun Monaten. Und seitdem sitzt sie vor dem Ding und wartet darauf, dass irgendjemand oder etwas da rauskommt. Als ein Wandspiegel mit einem Knall zerplatzt, die Deckenleuchten anfangen zu flackern und draußen eine Straßenlaterne nach der anderen explodiert, ist Chevie sofort klar, dass die Kapsel im Keller aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht ist. Mit vorgehaltener Waffe stürmt sie die Treppe herunter und findet ... einen 14-jährigen Jungen, der aussieht, als wäre er soeben aus einem Buch von Charles Dickens gefallen.

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Seitenzahl: 1252

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Inhalt

Cover

Inhalt

Der Quantenzauberer

Widmung

Die Todeskammer

Powergirl

Macho-Nerds

Alt-Tech

Tauchstation

Victoriana

Die Rammböcke

Der Rote Handschuh

Golgoth, Golgoth

Mister Charismo

Das Old Nichol

Zum Staub

Epilog

Der Klunkerfischer

Widmung

Was bereits passiert ist und was hätte sein können …

Moley und Googoo

Sonnenschirme und gepuderte Perücken

Klick, nicht Bum

Zisch, und es ist vorbei

Engel in der Grube

Hände hoch, Prinzessin!

Messerstecher und Diebsgesindel

Dreimal ins Schwarze

Jawohl

Der mit dem Messer wirft

Die verdammten Stinkröhren

Vom Blitz getroffen

Auftauchtag

Danke, Tecumseh

Schön und gefährlich

Die Katzenhexe

Widmung

Was man wissen muss

Breitband

Die Verhandlung

Zeitensprung

Der Hexenfinder

Fairbrother Isles. Kapiert?

Die Show geht weiter

Die Einsatzzentrale

Lagebericht

Halleluja

Rosa

Jäger und Gejagter

Notausgang

Verbrennt die Hexe

Trash Talk

Die Todeskammer

Bedford Square, Bloomsbury, London. 1898

Zwei Flecken schwebten in den Schatten zwischen der Standuhr und den Samtvorhängen. Einer oben und einer weiter unten. Zwei blasse Fingerabdrücke in einer schwarzen Nacht, zusätzlich verdunkelt durch die schweren Vorhänge und das Sackleinen, das vor die Fenster des Kellerra ums gespannt war.

Der untere Fleck war das Gesicht eines Jungen, rußbeschmiert und ein wenig zitternd. Es gehörte Riley, der sich in dieser Nacht einer Prüfung unterziehen musste: Er sollte seinen ersten Mord begehen.

Der obere Fleck war das Gesicht eines Mannes, den seine Auftraggeber Albert Garrick nannten, obgleich er in der Öffentlichkeit früher unter einem anderen Namen berühmt gewesen war. Der Große Lombardi war sein Künstlername gewesen, und vor vielen Jahren hatte man ihn als den berühmtesten Illusionisten des West End gefeiert – bis er eines Tages während der Vorstellung seine hübsche Assistentin tatsächlich in der Mitte durchgesägt hatte. An dem Abend hatte Garrick entdeckt, dass das Auslöschen eines Lebens ihm beinahe genauso viel Freude bereitete wie der begeisterte Applaus des Publikums, und so hatte der Zauberer umgesattelt und war zum Auftragsmörder geworden.

Garrick fixierte den Jungen mit seinem kalten, ausdruckslosen Blick und packte ihn an der Schulter. Seine langen knochigen Finger bohrten sich schmerzhaft durch den Stoff von Rileys Mantel. Er sagte nichts, sondern nickte nur kurz, als Erinnerung und Aufforderung.

Denk an deine Lektion von heute Nachmittag, sagte das Nicken. Beweg dich so lautlos wie der Nebel in Whitechapel und schieb die Klinge hinein, bis deine Finger in der Wunde versinken.

Garrick hatte Riley aufgetragen, einen Hundekadaver in ihre Räume in Holborn zu schaffen und daran den Einsatz seines Dolchs zu üben, damit er sich an den Widerstand der Knochen gewöhnte.

Neulinge denken meist, eine scharfe Klinge würde hineingleiten wie ein glühendes Schüreisen in Wachs, doch das ist ein Irrtum. Manchmal stößt selbst ein Meister wie ich auf Knochen und Muskeln, und dann hilft nur eins: runterdrücken und raufschieben. Merk dir das, Junge: runterdrücken und raufschieben. Benutz den Knochen als Hebelpunkt.

Garrick machte die Bewegung erneut mit seinem langen schmalen Dolch vor, die hohe, geschwärzte Stirn zur Seite geneigt, um sich zu vergewissern, dass der Junge auch zusah.

Riley nickte, dann nahm er den Dolch und wechselte ihn unauffällig in die andere Hand, wie er es gelernt hatte.

Garrick stupste Riley auf das große Himmelbett zu, in dem der Dahinzuscheidende lag.

Dahinzuscheidender. Das war einer von Garricks kleinen Scherzen.

Riley wusste, er musste die Prüfung bestehen. Das hier war ein echter Mordauftrag, mit einer prall gefüllten Börse als Vorauszahlung. Entweder er pustete sein erstes Licht aus, oder Albert Garrick würde zwei Leichen in diesem düsteren, schrecklichen Zimmer hinterlassen und sich einen neuen Lehrling aus der Londoner Gosse fischen. Möglicherweise würde es ihn zwar schmerzen, aber Garrick blieb nichts anderes übrig. Riley sollte lernen, mehr zu tun, als Würstchen zu braten und Stiefel zu wienern.

Vorsichtig setzte Riley einen Fuß vor den anderen, wobei er mit den Zehen jedes Mal einen weiten Kreis beschrieb, wie er es gelernt hatte, um den Boden abzutasten. Das machte ihn langsamer, aber schon das Knistern eines herumliegenden Papierfetzens konnte ausreichen, um sein Opfer zu wecken. Riley sah seine Hand mit dem Dolch vor sich, und er konnte kaum glauben, dass er wirklich hier war und gleich etwas tun würde, wofür er für immer in der Hölle schmoren würde.

Wenn du die Macht gespürt hast, kannst du mein Juniorpartner im Familienunternehmen werden, sagte Garrick oft. Vielleicht sollten wir uns Visitenkarten zulegen, was, mein Junge? Garrick und Sohn – Auftragsmörder. Wir sind willig, aber nicht billig.

Dann lachte er immer, und dieser dunkle, versonnene Klang brachte Rileys Nerven zum Flattern und drehte ihm den Magen um.

Wieder trat Riley einen Schritt vor. Er sah keinen anderen Ausweg, fühlte sich wie in einer Falle.

Ich muss diesen Mann töten, sonst werde ich selbst getötet. Rileys Kopf begann zu dröhnen, bis seine Hand anfing zu zittern und ihm beinahe der Dolch entglitt.

Sofort war Garrick neben ihm, wie ein Geist, und berührte Riley mit seinem kalten, krallenartigen Finger am Ellbogen.

»Denn Staub bist du …«, flüsterte er so leise, dass die Worte genauso gut von einem Windhauch hätten stammen können.

»… und zum Staub sollst du zurückkehren«, vervollständigte Riley nahezu lautlos das Bibelzitat. Garricks Lieblingsworte.

»Meine Version der letzten Ölung«, hatte er eines Winterabends zu Riley gesagt, als sie von ihrem Tisch in einem italienischen Restaurant auf den Leicester Square hinaussahen. Der Zauberer hatte bereits seinen zweiten Krug bitteren Rotweins geleert, und seine sonst so gewählte Ausdrucksweise geriet ins Rutschen wie ein Fisch auf einer nassen Fliese.

»Jeder Einzelne von uns ist aus dem Staub gekrochen und genau da landen wir am Ende auch wieder, hörst du? Ich sorge bloß dafür, dass es bei einigen schneller geht. Ein paar Herzschläge weniger, damit wir uns ein schönes Leben machen können. So läuft das bei mir, und wenn du nicht den nötigen Biss hast, Riley, dann …«

Garrick hatte seine Drohung nie ausgesprochen, aber es war klar, dass für Riley die Zeit gekommen war, seinen Platz am Tisch zu verdienen.

Riley spürte jede Dielenritze durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe, die auf der Drehbank in Garricks Werkstatt sorgfältig abgeschliffen worden waren. Jetzt konnte er das Opfer im Bett erkennen. Ein alter Mann mit einem Wust grauer Haare, der unter der dicken Decke hervorlugte.

Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Dafür immerhin war er dankbar.

Riley näherte sich dem Bett, Garrick direkt hinter ihm, und er wusste, die Uhr tickte.

Zum Staub. Du sollst zum Staub zurückkehren.

Er sah die Hand des alten Mannes auf dem Kissen liegen, der Zeigefinger nur noch ein Stummel, wohl aufgrund einer alten Verletzung, und da wusste er, er konnte es nicht tun. Er war kein Mörder.

Ohne den Kopf zu bewegen, blickte Riley sich im Raum um. Er hatte gelernt, dass er im Notfall seine Umgebung nutzen sollte, doch sein Mentor stand hinter ihm und beobachtete jede seiner Bewegungen mit diesem unheimlichen starren Blick. Der alte Mann im Bett würde ihm nicht helfen können. Was konnte so ein Grauschopf schon gegen Garrick ausrichten? Was konnte überhaupt irgendwer gegen ihn ausrichten?

Viermal war Riley schon weggelaufen, und viermal hatte Garrick ihn gefunden.

Der Tod ist der einzige Ausweg, hatte Riley gedacht. Meiner oder Garricks.

Aber Garrick konnte man nicht töten, denn er war selbst der Tod.

Zum Staub.

Plötzlich fühlte Riley sich ganz schwach, und er dachte, er würde zu Boden sinken. Vielleicht war das ja das Beste? Ohnmächtig daliegen und Garrick die blutige Arbeit tun lassen. Aber dann würde der alte Mann trotzdem sterben, und das Wissen würde im Jenseits auf Rileys Seele lasten.

Ich werde kämpfen, beschloss der Junge. Er hatte zwar wenig Hoffnung zu überleben, aber irgendetwas musste er tun.

Ein Plan nach dem anderen schoss durch sein fiebriges Hirn, jeder aussichtsloser als der vorige. Die ganze Zeit über bewegte er sich weiter vorwärts, Garricks kalten Atem im Nacken wie ein böses Omen. Der Mann im Himmelbett zeichnete sich deutlicher ab. Jetzt konnte er ein Ohr sehen, mit einer ganzen Reihe von Löchern, wo einst Ringe gewesen sein mussten.

Vielleicht ein Ausländer? Oder ein Seefahrer?

Er sah ein kantiges Kinn, darunter mehrere schlaffe Hautfalten und eine Schnur mit einem seltsamen Anhänger, der auf der Decke lag.

»Sieh dir jede Einzelheit genau an«, hatte Garrick ihm eingeschärft. Alles, was du mit deinen Augen aufsaugst, kann dir vielleicht das Leben retten.«

Aber nicht heute Nacht.

Als Riley den nächsten vorsichtigen Schritt setzte, spürte er, wie sein vorderer Fuß merkwürdig warm wurde. Er blickte nach unten und sah zu seiner Überraschung und Verwirrung, dass seine Schuhspitze grün leuchtete. Und nicht nur das: Um den schlafenden Mann hatte sich eine Kuppel aus Licht gebildet, und das Zentrum war der seltsame Anhänger, der smaragdgrün glühte.

Garricks Worte rauschten wie eine Windbö in sein Ohr. »Verdammt! Hier ist was faul! Los, stech ihn ab, Junge!«

Doch Riley konnte sich nicht rühren, er war wie gebannt von dem geisterhaften Licht.

Garrick stieß ihn weiter in die seltsam warme Lichtkuppel hinein, die plötzlich die Farbe wechselte und scharlachrot wurde. Aus dem Bett erscholl ein schauriges Heulen, so durchdringend und furchterregend, dass Riley das Hirn im Schädel bebte.

Prompt wachte der alte Mann auf und schoss hoch wie ein Springteufel.

»Der Sensor spinnt schon wieder«, brummte er mit schottischem Akzent und blinzelte mit seinen trüben Augen. »Verdammtes Mistding.«

Da bemerkte er Riley und die Klinge, die wie ein Eiszapfen aus seiner Faust ragte. Langsam legte er die Hand auf den glühenden Anhänger, der nun auf seiner hageren Brust lag, und tippte zweimal darauf. Das schreckliche Heulen verklang, und in der Mitte des Anhängers leuchteten Zahlen auf, wie aus Licht geschrieben, die von zwanzig rückwärts zählten.

»Ganz ruhig, mein Junge«, sagte der alte Mann. »Wir können über alles reden. Ich habe Geld.«

Riley starrte wie gebannt auf den Anhänger. Er war magisch, aber vor allem kam er ihm irgendwie bekannt vor.

Garrick unterbrach seine Gedanken mit einem derben Stoß in die Rippen.

»Schluss mit dem Gezauder«, sagte er energisch. »Tu, was zu tun ist, Junge. Zum Staub.«

Doch Riley konnte nicht. Er wollte nicht wie Garrick werden und sich zu einer Ewigkeit in der Hölle verdammen.

»Ich … ich …«, stammelte er und suchte verzweifelt nach Worten, die ihn und den alten Mann aus dieser Notlage befreien würden. Der Mann hob die geöffneten Hände, um zu zeigen, dass er wehrlos war, als gäbe es in diesem Raum irgendeine Aussicht auf Fairness.

»Ich bin unbewaffnet«, sagte er. »Aber ich habe Geld, so viel ihr wollt. Es ist für mich ein Kinderspiel, ein paar Tausend Pfund zu drucken. Aber wenn ihr mir etwas antut, dann werden Männer kommen, um sich davon zu überzeugen, dass ihr mir nicht meine Geheimnisse genommen habt – Männer mit Waffen, wie ihr sie noch nie gesehen habt.«

Der alte Mann verstummte, denn plötzlich steckte ein Dolch in seiner Brust. Riley sah seine eigene Hand auf dem Griff, und einen schrecklichen Moment lang dachte er, seine Muskeln hätten sich seinem Herzen widersetzt und die Tat begangen; doch dann spürte er, wie sich kalte Finger von seinem Unterarm lösten, und da wusste er, dass Garrick seine Hand geführt hatte.

»Das war’s«, sagte Garrick, als das warme Blut auf Rileys Arm rann. »Halte den Dolch, dann spürst du, wie das Leben ihn verlässt.«

»Ich hab das nicht getan«, sagte Riley verzweifelt zu dem Mann. »Ich war’s nicht.«

Der alte Mann saß stocksteif da, die Anhängerschnur halb von der Klinge durchtrennt.

»Das darf nicht wahr sein«, ächzte er. »All die Leute, die hinter mir her sind, und dann erwischen mich ausgerechnet diese beiden Clowns.«

Garricks Worte krochen wie Schnecken in Rileys Ohren. »Das hier ist nicht dein Verdienst, Junge. Meine Hand hat die Lücke zwischen seinen armseligen Rippen gefunden, aber ich gebe zu, hier liegen besondere Umstände vor. Deshalb gebe ich dir vielleicht eine zweite Chance.«

»Das darf nicht wahr sein«, röchelte der alte Mann noch einmal, dann piepte sein Anhänger, und er verschwand. Buchstäblich. Löste sich auf in eine Wolke orangeroter Funken, die vom Zentrum des Anhängers aufgesogen wurden.

»Magie«, hauchte Garrick ehrfürchtig. »Es gibt sie wirklich.«

Hastig wich der Mörder zurück, um sich vor möglichen Auswirkungen der Auflösung zu schützen, doch Riley war nicht geistesgegenwärtig genug, es ihm gleichzutun. Er hielt noch immer den Dolch fest und sah verwirrt zu, wie die Funkenwolke auf seinen Arm übersprang und ihn ebenfalls auflöste, und zwar schneller, als ein Bettler ausspucken konnte.

»Ich verschwinde«, sagte er, und das stimmte, obwohl er nicht wissen konnte, wohin.

Er sah, wie sein Rumpf durchsichtig wurde, und einen Moment lang waren seine Organe sichtbar, dicht aneinandergedrängt hinter den glasartigen Rippen, dann waren auch sie verschwunden, ersetzt durch Funken.

Als Riley sich ganz aufgelöst hatte, wurde er in das Herz des Anhängers gesogen. Er landete in einem Strudel, und plötzlich erinnerte er sich daran, wie er am Strand von Brighton von einer Welle erfasst worden war, und er sah einen Jungen, der ihn vom Ufer aus beobachtete.

Ginger. Ich erinnere mich an dich.

Dann war Riley nur noch ein einziger glühender Punkt reiner Energie. Der Punkt zwinkerte Garrick noch einmal zu und verschwand. Der alte Mann und der Junge waren fort.

Garrick streckte die Hand nach dem Anhänger aus, der auf die Decke gefallen war, und dachte: Dieses Ding habe ich schon mal gesehen oder jedenfalls ein ganz ähnliches. Vor vielen Jahren … Doch statt des seltsamen Talismans berührten seine Finger nur einen Rußfleck.

»Mein ganzes Leben lang«, sagte er. »Mein ganzes Leben lang …«

Seine Lippen formten die Worte, doch er sprach sie nicht aus, denn er war allein in diesem Raum der Wunder.

Mein ganzes Leben lang habe ich nach echter Magie gesucht. Und jetzt weiß ich, dass es sie gibt.

Garrick war ein Mann stürmischer Gefühle, die er gewöhnlich in seinem Herzen verschloss, doch jetzt rannen ihm warme Tränen des Glücks über die Wangen und tropften auf seinen Hemdkragen.

Keine Zauberkunststücke. Echte Magie.

Der Mörder sank zu Boden, die langen dürren Beine angezogen, sodass seine Knie auf einer Höhe mit den Ohren waren. Blut durchdrang das Gesäß seiner teuren Hosen, doch das kümmerte ihn nicht, denn von jetzt an würde nichts mehr so sein wie zuvor. Seine einzige Sorge war, dass die Magie womöglich für immer von diesem Ort verschwunden war. Ihr so nahe gewesen zu sein und sie dann um Haaresbreite verpasst zu haben, wäre wahrhaft Folter.

Ich werde hier warten, Riley, dachte er. Die Chinesen glauben, dass Magie oft an bestimmte Orte gebunden ist. Also ist das meine einzige Chance. Und wenn die Männer mit ihren fantastischen Waffen kommen, werde ich dich rächen. Ich werde mir die Magie aneignen und sie meinem Willen unterwerfen, und dann kann mich niemand mehr aufhalten.

Powergirl

Bedford Square, Bloomsbury, London. Heute

Chevron Savano hatte noch nie viel von der Parabel über den verlorenen Sohn gehalten. Genau genommen hasste sie diese Geschichte, und sie knirschte jedes Mal mit den Zähnen, wenn jemand davon anfing. Im Himmel ist große Freude, wenn ein verlorener Sohn in den Schoß der Familie zurückkehrt.

Ach ja? Tatsächlich? Und was war mit dem Sohn beziehungsweise der Tochter, die im Schoß der Familie geblieben war und die Ferien und Wochenenden durchgearbeitet hatte, um besagte Familie vor Korruption und organisiertem Verbrechen zu beschützen? Was war mit der Tochter, die so ziemlich alles geopfert hatte, um zu verhindern, dass die Familie in Gefahr geriet? Hm? Tja, die Tochter wurde quer um die halbe Welt nach London abgeschoben, um auf ein Zeugenschutzhaus aufzupassen. Nicht gerade ein karrierefördernder Einsatz, so viel war klar.

Spezialagent Lawrence Witmeyer, ihr Chef beim FBI in Los Angeles, hatte ihr versichert, das sei keine inoffizielle Strafe für ihren blamablen Auftritt, den sie vor Kurzem in aller Öffentlichkeit hingelegt hatte.

»Das hier ist ein wichtiger Auftrag, Chevie. Sehr wichtig sogar. Das WARP ist schon seit über dreißig Jahren ein zentraler Teil des FBI.«

»Wofür steht WARP überhaupt?«, hatte Chevie gefragt.

Witmeyer ging gerade die Mails auf seinem Bildschirm durch. »Äh … Witness Anonymous Relocation Programme – anonymes Zeugenschutzprogramm.«

»Wieso ›anonym‹? Na, wahrscheinlich haben sie das nur reingenommen, damit man die Abkürzung aussprechen kann. Sonst hieße es WRP, und das klingt, als hätte sich jemand verschluckt.«

»Ich nehme an, es sollte cool klingen. Sie wissen doch, wie die Jungs sind, wenn es um Namen geht.«

Chevie war stocksauer. Es war offensichtlich, dass das FBI sie nach London abschob, damit die Presse sie nicht fand.

»Ich habe doch nur meinen Job gemacht. Ich habe Leben gerettet.«

»Das weiß ich.« Für einen Moment wurde Witmeyers Miene weicher. »Chevron, noch können Sie wählen. Die anderen aus der Gruppe haben die Abfindung genommen. Sie sind sechzehn, Sie können tun, was immer Sie wollen.«

»Außer weiter FBI-Agent sein.«

»Sie waren nie ein echter Agent, Chevie. Sie waren eine offizielle Geheimdienstquelle. Das ist etwas ganz anderes.«

»Aber auf meinem Ausweis stand Agent. Mein Betreuer hat mich Agent Savano genannt.«

Witmeyer lächelte Chevie an, als wäre sie fünf Jahre alt. »Wir dachten, der Ausweis würde euch Freude machen. Euch das Gefühl geben, wichtig zu sein. Aber ein Ausweis macht noch keine Agentin, Chevie.«

»Ich war auf dem besten Weg, ein richtiger Agent zu werden. Sie haben mir gesagt, ich müsste nur meine Aufgabe erfüllen, dann würde ich einen Platz an der Akademie in Quantico kriegen.«

»Gesagt, ja«, erwiderte Witmeyer. »Aber es gibt nichts Schriftliches. Nehmen Sie das Angebot an, Miss Savano. Es ist gut. Und wenn Sie schön in der Spur bleiben, können wir in ein, zwei Jahren noch mal über Quantico sprechen.«

Das Angebot interessierte Chevie nicht die Bohne, aber wenn sie eine echte Spezialagentin werden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als nach England zu gehen.

»Ich berichte dann also an das Londoner Büro?«

Witmeyer wirkte plötzlich, als hätte er etwas zu verbergen. »Nein. Sie berichten direkt an WARP. Das Londoner Büro kümmert sich hauptsächlich um Verbrechen aus niedrigen Beweggründen und dergleichen. Ihre Aufgabe hat nichts mit deren Arbeitsbereich zu tun. Die werden nicht mal wissen, dass Sie im Land sind, solange Sie sich nicht bei ihnen melden.« Witmeyer strahlte sie an, als käme jetzt etwas unglaublich Tolles. »Im Grunde brauchen Sie da nichts weiter zu tun, als für Ihre Fernkurse an der Highschool zu lernen.«

»Das Kind darf also wieder zur Schule gehen.«

»Tut mir leid, wenn ich das sagen muss, Chevie, aber Sie sind noch ein Kind«, sagte Witmeyer. Er blickte über Chevies Schulter, begierig darauf, dieses Gespräch zu beenden und sich den anderen Agenten anzuschließen, die im Nebenraum geräuschvoll ihre Waffen prüften. »Sie kriegen von mir doppelte Jahre für die Pension, Chevie. Mehr kann ich nicht tun. Entweder Sie nehmen das Angebot an oder Sie lassen es. Aber wenn Sie auch nur die geringste Chance haben wollen, beim FBI zu bleiben, dann gehen Sie nach London.«

Und so hockte Chevie nun schon seit neun Monaten im Keller eines vierstöckigen georgianischen Hauses am Bedford Square und bewachte eine Metallkapsel, die aussah wie ein Landemodul der Apollo-Raumfähre.

»Was genau tun wir hier eigentlich?«, hatte sie ihren Londoner Vorgesetzten am ersten Morgen gefragt. Er hieß bizarrerweise Agent Orange, was vermutlich ein Deckname war, denn er war komplett grau, von seiner Stirntolle und der Sonnenbrille über den dünnen Anzug bis hin zu den handgearbeiteten Slippern mit Bommeln.

»Wir hüten die Kapsel«, sagte ihr neuer Chef mit kantigem schottischem Akzent.

»Ist das etwa der Heilige Gral, oder was?«, entgegnete Chevie pampig, noch etwas angeschlagen vom Jetlag.

Doch Orange nahm die Frage ernst. »Ja, Agent Savano, in gewisser Weise. Die Kapsel da unten ist sozusagen heilig.«

Er führte Chevie durch die Eingangshalle, die aussah wie die Lobby eines englischen Dreisternehotels, samt Buddelschiff und Kaminböcken, hinunter zum Keller, der mit einer Panzertür aus Stahl verschlossen war. Sobald sie die Tür durchschritten hatten, sah plötzlich alles sehr FBI-mäßig aus. In die Betonwände waren mindestens ein Dutzend Kameras eingelassen, der gesamte Flur war mit Bewegungssensoren gespickt, und alle Arten von Kabeln, die der Mensch je erfunden hatte, liefen durch einen grauen Schacht an der Decke.

»Netter Schacht«, sagte Chevie trocken. »Passt gut zu Ihrem … allem.«

Orange räusperte sich. »Agent Witmeyer hat Ihnen mitgeteilt, dass ich Ihr Vorgesetzter bin?«

»Negativ«, log Chevie. »Er sagte, wir wären Partner.«

»Das bezweifle ich sehr«, sagte Orange. »Im Übrigen nenne ich Sie nur aus Höflichkeit Agent. Nach meinen Informationen hat man Sie hierher abgeschoben, nachdem die unausgereifte OperationHighschool aufgeflogen war.«

Sie kamen an einer Zelle und einem gut ausgestatteten Krankenzimmer vorbei, dann erweiterte sich der Flur zu einem runden Raum, in dessen Mitte eine drei Meter hohe pyramidenförmige Kapsel stand, die mit zahllosen Schläuchen und blinkenden Lämpchen bedeckt war.

»Das hier ist die WARP-Zentrale«, sagte Orange und tätschelte zärtlich die Metallhülle.

»Sieht aus wie ein Science-Fiction-Weihnachtsbaum«, bemerkte Chevie, bemüht, nicht allzu beeindruckt zu wirken.

Orange überprüfte einige Anzeigen, und es sah aus, als wüsste er tatsächlich, was er tat.

»Ihre Einstellung überrascht mich nicht«, sagte er, ohne Chevie anzusehen. »Ich habe mir Ihre Akte durchgelesen. Sehr aufschlussreich: Beste Ihrer Spezialeinheit. Hervorragende Testergebnisse trotz Ihres jungen Alters. Probleme mit Autoritätspersonen und so weiter, und so fort. Die klassische Kinoheldin.« Nun wandte Orange sich endlich zu ihr um. »Wir wissen beide, warum Sie hier sind, Agent Savano. Ihre Gruppe war eine Blamage für das FBI und ein potenzielles juristisches Minenfeld, wegen Ihres Alters. Sie haben in Los Angeles vor laufender Kamera Mist gebaut, deshalb hat man Sie weit weg auf einen stillen Posten versetzt, aber auch wenn Sie es nicht glauben: Was wir hier tun, ist wichtig. Und es gibt für Sie keine Sonderbehandlung, nur weil Sie noch so jung sind.«

Chevie funkelte ihn wütend an. »Keine Sorge, Agent. Sonderbehandlung habe ich in der letzten Zeit genug gehabt.«

Orange hielt eine Hand in die Kapsel, um die Temperatur zu prüfen. »Gut. Die Chance ist nicht sehr groß, dass Ihre Talente tatsächlich gebraucht werden. Vermutlich wird kein Mensch je aus der WARP-Kapsel kommen, und Sie haben nichts weiter zu tun, als für Ihre Abschlussprüfung zu lernen. Aber falls dieser unwahrscheinliche Fall doch eintreten sollte, während ich gerade abwesend bin, dann müssen Sie dafür sorgen, dass er am Leben bleibt. Halten Sie ihn am Leben und geben Sie mir Bescheid. Das ist alles.«

»Ist der Mann jetzt da drin?«

»Nein. Im Moment ist die Kapsel leer, wie schon seit knapp dreißig Jahren.«

»Dann ist es also eine Wunderkapsel?«

Orange lächelte auf eine Weise, die Chevie verriet, dass er eine ganze Menge mehr wusste als sie. »Nein, eher eine Wanderkapsel.«

»Was soll das denn heißen?«

»Mehr werden Sie heute nicht aus mir herauskriegen, Agent Savano. Vielleicht werde ich Ihnen mehr verraten, wenn Sie sich als Hüterin der Kapsel bewährt haben. Bis dahin ist das hier Ihre Einsatzzentrale; Sie entfernen sich nicht weiter als einen Kilometer vom Haus, und während Sie schlafen, bewache ich die Kapsel.«

»Wo schlafe ich denn?«

»Oben in der Wohnung. Es wird Ihnen gefallen.«

»Und wo schlafen Sie? Im schönen Schottland?«

Wieder lächelte Orange. »Im obersten Stock. Ich habe das Penthouse. Einer der Vorzüge, wenn man der Chef ist.«

Er reichte Chevie ein Smartphone. »Alle Nummern sind bereits eingegeben, und es gibt Apps für Alarm und Überwachung. Sehen Sie das Icon hier? Wenn Sie da drauftippen, bricht die Hölle los. Also schön vorsichtig damit. Verstanden?«

Chevie nahm das Handy. »Verstanden.«

»Gut.« Orange wandte sich wieder der Kapsel zu. Seine Finger klimperten auf den altertümlichen Tastaturen, die an der Außenhülle befestigt waren. »Wenn Sie sich hier bewähren und ein, zwei Jahre von der Bildfläche verschwunden bleiben, können wir Sie wieder in die Staaten schmuggeln, ohne dass die Presse Wind davon kriegt. Bis dahin sind Sie fast alt genug, um sich für die Akademie zu bewerben.«

Chevie warf seinem grauen Rücken einen finsteren Blick zu. In zwei Jahren würde sie uralt sein. Fast neunzehn.

»Wow, das klingt ja toll. Zwei Jahre Babysitten. Wie gut, dass ich die ganzen Schusswaffenkurse gemacht habe.«

Orange verließ den Kapselraum, ohne sich noch einmal umzusehen. »Versuchen Sie’s ruhig weiter, Agent Savano!«, rief er über die Schulter. »Eines Tages fällt Ihnen bestimmt etwas ein, das wirklich witzig ist.«

Ich hasse den Kerl jetzt schon, dachte Chevie.

Jetzt, ein Dreivierteljahr später, hatte Chevie den Kontakt zu den meisten ihrer Freunde in Kalifornien verloren, während sie im Keller rumsaß und darauf wartete, dass irgendein geheimnisvoller Typ aus einer Art Raumkapsel spazierte. Sie hatte kein einziges Mal ihre Waffe abgefeuert, nicht mal in einem Übungsraum, und das machte sie extrem nervös. Mittlerweile redete sie nicht nur dauernd mit sich selbst, sondern führte sogar richtige Diskussionen.

Du musst damit aufhören, ermahnte sie sich. Sonst denken die Leute noch, du spinnst.

Ach ja? Welche Leute denn? Seit über sechs Wochen hatte sie mit niemandem außer Orange gesprochen. Sie hatte sogar ihren siebzehnten Geburtstag allein gefeiert, mit einem Schokoladenbrownie und einer einzigen armseligen Kerze.

Das Haus am Bedford Square war für sie zu einem zweiten Zuhause geworden oder in gewisser Weise auch zu einem Gefängnis. Sie kannte jeden Zentimeter des Hauses besser als ihr eigenes kleines Cottage in den Malibu Bluffs, wo sie von Gesetz wegen allein leben durfte, sobald sie achtzehn war, also in weniger als einem Jahr.

Einen Raum in dem Haus am Bedford Square liebte sie wirklich, und das war der große Saal. Irgendwann in der Geschichte des Hauses hatte jemand einen Großteil des ersten Stocks in einen Tanzsaal verwandelt, komplett mit Spiegelwand und Stange. Chevie Savano war zwar keine Tänzerin, aber ein begeisterter Fitnessfan und sie hatte Orange nur drei Wochen bearbeiten müssen, dann hatte er ein paar Tausend Pfund für Gewichte und Maschinen springen lassen.

An diesem Abend, der noch ziemlich ereignisreich werden sollte, aber bisher genauso öde wie immer gewesen war, verbrachte Chevie ihre letzten stressfreien Momente damit, sich lange im Spiegel zu betrachten und sich zu fragen: Mädel, wo soll das bloß hinführen?

Die Antwort lag auf der Hand.

Du weißt ganz genau, wohin das führen soll. Sitz deine Zeit als Kapselhüterin ab, und mit etwas Glück vergisst die Chefetage in den Staaten die Sache mit Los Angeles und gibt dir die Chance, eine echte Agentin zu werden. Du hast immer noch Freunde in Quantico.

Normalerweise mussten Agenten des FBI mindestens dreiundzwanzig sein, bevor sie die Dienstmarke tragen durften, aber Chevie hatte an einem Testprogramm teilgenommen, um die zunehmende terroristische Unterwanderung der Highschools zu bekämpfen. Eine handverlesene Gruppe von Staatsmündeln hatte ein Semester an der Akademie in Quantico verbracht und war dann undercover in verschiedenen Schulen eingesetzt worden, wo Sympathisanten vermutet wurden. Ihre Aufgabe war klar umrissen: nur beobachten – keine Einschleusung, keine Konfrontation. Chevie hatte sechs Monate in L.A. damit verbracht, eine iranische Familie zu observieren, von der das FBI annahm, dass sie in Kalifornien eine terroristische Zelle gründen wollte. Ihr Einsatz hatte mit einem öffentlichen Desaster geendet: Eines Abends hatte Chevie vor einem Theater in Los Angeles ihre erlernten Fähigkeiten dazu genutzt, einem betrunkenen Jugendlichen, der die Iraner bedrohte, die Waffe abzunehmen. Unglücklicherweise war der Jugendliche dabei verletzt worden, und obendrein hatte jemand das ganze Fiasko mit seinem Handy gefilmt. Daraufhin wurde das Testprogramm sofort beendet und Chevie nach London verfrachtet, damit der Untersuchungsausschuss des Senats nicht darüber stolperte, dass die verantwortliche Agentin der sogenannten »Hollywood-Centre-Affäre« noch gar nicht volljährig war.

Chevie absolvierte je dreißig Minuten Kardio- und Core-Training, dann übte sie vor dem Spiegel Schattenboxen, bis ihr Top und ihre Leggings schweißdurchtränkt waren. Sie war fit genug, um die besten zehn Prozent der Gesetzeshüter überall auf der Welt schachmatt zu setzen. Und sie konnte auf hundert Meter einen Apfel vom Baum schießen.

Sehe ich aus wie siebzehn?

Soweit Chevie es beurteilen konnte, sah sie noch genauso aus wie mit sechzehn. Mit ihren eins fünfundsechzig war sie ein bisschen klein für eine FBI-Agentin, aber sie war geschmeidig und schnell, hatte ein hübsches ovales Gesicht und glänzendes schwarzes Haar, das so typisch für die Amerikaner indianischer Abstammung war.

Ich werde diesen Einsatz durchstehen, dachte sie. So leicht werden sie Chevron Savano nicht los. Schließlich gibt es Schlimmeres als Langeweile.

Das war für eine ganze Weile ihr letzter Routinegedanke.

Riley hätte ums Verrecken nicht beschreiben können, was ihm geschah. Selbst wenn eine Bibel zur Hand gewesen wäre, hätte er nicht beschwören können, ob er lebte oder tot war. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander aus Angst und Verwirrung, und der zähe, unerschütterliche Wesenskern, der ihm durch die schrecklichen Jahre mit Garrick geholfen hatte, war spurlos verschwunden.

Seine Sinne wirbelten durcheinander wie die schlammigen Zuflüsse der Themse, und er verspürte eine heftige Übelkeit, die aber irgendwie in seinem Verstand saß und nicht in seinem Magen.

Ist das die Hölle?, fragte er sich. Hat der Teufel mich geholt?

Er befahl seiner Hand zu winken, aber nichts geschah, oder falls doch, konnte er es nicht sehen.

Über ihm war ein Licht, wie der Strahl einer Straßenlaterne. Obwohl Riley weder das Licht sehen noch feststellen konnte, wo oben war, wusste er instinktiv, dass es so war.

Gleich komme ich an, erkannte er.

Chevie stand vor dem Spiegel und sah zu, wie sich ihr Bild in zwei Teile spaltete. Einen winzigen Moment dachte sie, sie wäre verrückt geworden, doch dann erkannte sie, dass der Spiegel auf einmal einen Riss hatte, vom Boden bis zur Decke.

Das bedeutet Unglück, wahrscheinlich für mich.

Dann tauchten noch mehr Risse auf, schwarze Zackenlinien, die den Raum in lauter Einzelteile zerhackten.

Könnte es ein Erdbeben sein? Gibt es so was in London?

Immer wieder riss der Spiegel, mit einem Knallen wie von der Schusssalve einer Maschinenpistole. Doch die Risse machten am Ende des Spiegels nicht halt, sondern liefen weiter, über die Wände und die Decke. Als auch der glänzende Holzboden unter ihren Trainingsschuhen zersplitterte und in großen Brocken in die Eingangshalle darunter fiel, erwachte Chevie aus ihrer Erstarrung.

»Was zum Teufel …?«, rief sie aus und rannte im Zickzack zur Tür.

Die Deckenleuchten begannen zu flackern, dann explodierten sie, und ein Gemisch aus Funken und Glasscherben regnete auf Chevie nieder. Durch die Fenster konnte sie sehen, wie sämtliche Straßenlaternen entlang der Bayley Street und rund um den Bedford Square ebenfalls explodierten. Von dort breitete sich die Dunkelheit weiter Richtung Covent Garden und Soho aus, als würde ein riesiges nächtliches Ungeheuer das Licht Bissen um Bissen auffressen.

Was ist mit dem Strom los? Orange weiß sicher Bescheid.

Doch Orange war unterwegs. Sie war zuständig.

Eine der schusssicheren Fensterscheiben zur Straße hin zerbrach und ließ die Geräusche der Außenwelt herein. Metall schepperte, als mehrere Autos auf der Tottenham Court Road zusammenstießen, und panische Schreie stiegen zu den dunklen Londoner Wolken auf, die nicht länger vom Lichtschein der Stadt erhellt wurden.

Was auch immer da los ist, angefangen hat es hier, erkannte Chevie.

Sie lief zum Wandsafe, tippte den Code ein und nahm ihre Glock 22 samt Schulterholster heraus, das sie mit einem zusätzlichen Riemen versehen hatte, damit es enger anlag. Mit geübten Griffen schnallte sie sich das Holster um und zog die Waffe.

Sie hielt die Pistole ausgestreckt mit beiden Händen, starrte konzentriert in die Dunkelheit und hoffte, dass nichts auftauchte, was sie zum Schießen zwang.

Ich weiß nicht mal, wie der Typ aussieht, der vielleicht aus der Kapsel kommt. Wenn ich den Zeugen erschieße, lassen sie mich nie mehr zurück nach Kalifornien.

Chevie lief über den Treppenabsatz, immer dicht an der Wand entlang. Um sie herum knirschte das Mauerwerk, und der Putz fiel in Brocken von der Wand.

Flackernd ging die Notbeleuchtung an und tauchte das Innere des Hauses in ein gelblich fahles Licht.

Gut, dachte Chevie. Jetzt sehe ich wenigstens, was passiert, obwohl hoffentlich nichts passiert.

Dann schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf.

Orange. Bestimmt gibt er mir die Schuld.

Chevie packte ihre Waffe fester, bemühte sich um Konzentration und wandte sich mit einer schnellen Drehung der Treppe zu. Vorsichtig ging sie die Stufen hinunter. Die Kellertreppe war relativ unversehrt, aber die Tür war nach außen gewölbt, und in der Mitte klaffte ein Loch, als wäre das Metall dort geschmolzen.

Was bringt denn eine Stahltür zum Schmelzen?, fragte sie sich, und die Antwort kam postwendend, als ein Blitzstrahl durch die glühenden Ränder des Schmelzlochs schoss und einen Teil der gegenüberliegenden Wand zerschmetterte.

Ach so, ein Blitz.

Chevie merkte, dass sie in die Hocke gegangen war, die Waffe auf die Tür gerichtet.

Prima Idee. Erschieß den Blitz einfach.

Sie wartete ein paar Minuten, bis es so aussah, als wäre die Blitzattacke aus dem Keller beendet, dann lief sie die verbliebenen Stufen hinunter.

Von der Tür war nur noch der Rahmen übrig, und die geschmolzenen Ränder waren bereits wieder erhärtet.

Mit einem Sprung, der Cord Vallicose, ihren Ausbilder in Quantico, mit Stolz erfüllt hätte, hechtete Chevie durch die Öffnung, rollte sich ab und landete mit der Waffe im Anschlag in der Hocke. Später würde sie merken, dass die scharfen Metallränder lange Kratzer auf ihrer ganze Seite hinterlassen hatten, aber in dem Moment spürte sie nichts.

Hinter der Tür lauerte keine offensichtliche Bedrohung, nur Staub und Zerstörung. Die WARP-Kapsel war aus ihrer Halterung gerissen und umgekippt, die Spitze zum Flur gerichtet. Für einen Unbeteiligten musste es so aussehen, als wäre ein kleines Raumschiff in das Haus eingeschlagen.

Was ungefähr genauso logisch ist wie das, was tatsächlich passiert: Eine seltsame Maschine zieht den Saft aus der Londoner Innenstadt.

Chevie schwor sich, dass sie Orange, wenn er zurückkam, so lange mit der Waffe bedrohen würde, bis er ihr erklärte, was dieses merkwürdige Siebzigerjahreding mit Zeugenschutz zu tun hatte.

Normalerweise erinnerte die Kapsel mit ihrem Retrodesign und der verblichenen Metalliclackierung sie an ein verstaubtes Ausstellungsstück in einem Science-Fiction-Museum, doch jetzt wirkte die Maschine höchst lebendig und funktionstüchtig – was auch immer ihre Funktion sein mochte. Die dicken Stromkabel an der Unterseite summten und knisterten wie elektrische Aale, und die Lämpchen von einem Dutzend Schalttafeln blinkten synchron in komplizierten Mustern.

Heute ist wohl der Tag, an dem dieser wichtige Mensch aus der Kapsel kommen soll – was natürlich völlig unmöglich ist.

»Sie da in der … äh … Kapsel!«, rief sie und kam sich ziemlich albern vor. »Kommen Sie mit erhobenen Händen raus.«

Niemand kam aus der Metallpyramide, aber eine Luke öffnete sich zischend und fiel dann mit lautem Poltern zu Boden. Aus dem Innern stiegen gespenstische Dampfwolken auf.

Na, das ist doch mal was Neues, dachte Chevie und vergewisserte sich mit dem Daumen, dass ihre Waffe entsichert war.

In der Kapsel flackerte jetzt ein orangerotes Licht, das seltsame tanzende Schatten an die Wand warf.

Da drin ist irgendwas Lebendiges, erkannte Chevie.

Riley spürte, wie die Moleküle seines Körpers sich zusammensetzten und miteinander verbanden, bis seine Sinne wieder funktionierten.

Ich lebe, freute er sich. Doch dann umschloss ihn eisige Kälte, und seine Zähne begannen, heftig zu klappern.

In der Hand hielt er immer noch den Dolch, der in der Brust des ermordeten alten Mannes steckte. Ich kann nicht loslassen, merkte er. Meine Finger sind wie gelähmt.

Riley musterte seine Umgebung, wie Garrick es ihm beigebracht hatte. Er befand sich in einer Art Metallbehälter, an dessen kalten Wänden lauter bunte Lichter flackerten. Ich habe diesen Zaubermann zu seinen Leuten zurückgebracht, mit einem Messer im Körper und meiner Hand auf dem Griff. Dafür werden sie mich hängen.

Hau ab, drängte ihn sein Instinkt. Hau ab, bevor sie dich wegen Mord drankriegen oder – noch schlimmer – Garrick dich findet.

Doch die Kälte lähmte ihn, als läge ein schwerer Eisbrocken auf seinem Rücken, und Riley wusste, dass er, wie so viele Straßenkinder im Winter, bald einschlafen und dann sterben würde.

Chevie schlich geduckt auf die Luke zu, die Waffe weiter im Anschlag. »Kommen Sie mit erhobenen Händen raus!«, befahl sie erneut, doch wieder geschah nichts.

Wahrscheinlich dauerte es nur drei Sekunden, bis sie an der Luke war, aber Chevie kam es vor wie eine Ewigkeit. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen, während das Adrenalin durch ihren Körper floss, den Herzschlag beschleunigte und die Blutgefäße und Atemwege erweiterte. Sie sah, wie Funken aus den Leitungen trudelten, und die Dampfwolken schienen reglos in der Luft zu hängen.

Konzentrier dich, Spezialagentin, ermahnte sie sich. Da ist jemand in der Kapsel.

Drinnen ertönte ein Scharren.

Ist es ein Hund? Irgendein Tier?

Wie soll ich ein Tier warnen?

Plötzlich lief die Zeit wieder in ihrem normalen Tempo, und Chevie fand sich vor der Luke wieder. Aus der Öffnung schlug ihr Kälte entgegen, und die orangefarbenen Funken bewegten sich seltsamerweise aufeinander zu und schienen zu einer Form zu verschmelzen.

Ziele ich auf einen Geist?

Doch da war noch etwas anderes in dem engen Innenraum, ein zusammengekrümmter, zitternder Schatten.

»Keine Bewegung!«, rief Chevie mit ihrer strengsten FBI-Stimme. »Oder ich schieße!«

Eine schwache Stimme kam aus der orange funkelnden Wolke. »Ich kann mich gar nicht bewegen, Miss, ich schwör’s.«

Bevor Chevie sich fragen konnte, wieso der seltsame Akzent sie an Oliver Twist erinnerte, löste sich die Wolke auf, und dahinter kam ein Junge zum Vorschein, der sich über einen alten Mann beugte.

Der Junge lebte, aber der Mann nicht, was vermutlich an dem Messer lag, das aus seiner Brust ragte. Doch das war nicht das einzig Merkwürdige an ihm: Das Blut auf seiner Brust war gelb, und der eine Arm schien einem Gorilla zu gehören.

Denk jetzt nicht darüber nach. Mach deinen Job.

»Okay, Kleiner. Geh von dem toten … Ding weg.«

Der Junge blinzelte, um die Besitzerin der Stimme auszumachen. »Ich war’s nicht, Miss. Wir müssen hier weg. Er ist hinter mir her.«

Chevie traf eine blitzschnelle Entscheidung, streckte die Hand in die Kapsel und zerrte den Jungen am Kragen heraus. Dann hielt sie ihn mit der flachen Hand am Boden fest.

»Wer ist hinter dir her, Kleiner?«

Die Augen des Jungen waren weit aufgerissen. »Garrick. Der Zauberer. Der Tod höchstpersönlich.«

Na toll, dachte Chevie. Erst ein Halbaffe und jetzt der Tod höchstpersönlich, der außerdem noch Zauberer ist.

Plötzlich spürte Chevie, dass noch jemand im Raum war. Sie fuhr herum, doch es war nur Orange, der in all seiner grauen Pracht durch den Flur auf sie zukam.

»Das ist eine gute Taktik, um sich erschießen zu lassen, Orange. Was machen Sie hier überhaupt? Ich habe doch gar nicht den Alarmknopf gedrückt.«

Orange nahm seine verspiegelte Sonnenbrille ab und musterte die Verwüstung. »Nun, Agent Savano, als in halb London der Strom ausfiel, dachte ich mir, dass die WARP-Kapsel möglicherweise etwas damit zu tun haben könnte.«

Kurz bevor er die Luke erreichte, zögerte er. »Haben Sie hineingesehen, Chevie?«

»Ja, habe ich. Sterbe ich jetzt an Strahlenvergiftung?«

»Nein, natürlich nicht. Ist da … ein Mann drin? Ist mein Vater da drin?«

Oranges Vater? Das wird ja immer schräger.

Chevie sah hinunter auf den Jungen, den sie festhielt. »Da drin waren zwei Leute. Der Junge hier und ein Mann. Und ich hoffe sehr, der Mann ist nicht Ihr Vater.«

Aber so, wie der Tag bisher gelaufen ist, gehe ich jede Wette ein, dass der Affenmann tatsächlich Oranges Vater ist.

Chevie hatte Orange nie so ganz vertraut, aber in diesem Moment tat er ihr wirklich leid.

Macho-Nerds

Bedford Square, Bloomsbury, London. 1898

Albert Garrick saß zusammengesunken auf dem kalten Kellerfußboden, die Augen fest geschlossen, um das Bild der orangefarbenen Funken festzuhalten.

Magie – es gibt sie wirklich.

Ein revolutionärer Gedanke in diesem Industriezeitalter, in dem Logik und Vernunft vorherrschten. Doch es war schwer, den Glauben an das Gesehene zu bewahren, nun, da die Beweise dafür verschwunden waren. Es wäre viel einfacher, das Ganze als Einbildung abzutun, doch dazu war er nicht bereit.

Das ist eine Prüfung, erkannte er. Meine Nacht der Möglichkeiten ist gekommen, und ich muss in mir den Mut finden, diese Chance zu ergreifen.

Bisher hatte Garrick nur an Mord, Meuchelei und Marter geglaubt, an Dinge, um die er seine Finger schlingen und denen er das Leben nehmen konnte, konkrete, greifbare Dinge. Doch dies war etwas anderes, etwas Außergewöhnliches.

Magie.

Schon seit jeher faszinierte ihn die Magie. Als Junge hatte er seinen Vater ins Adelphi Theatre begleitet und aus seinem Versteck in den Kulissen zugesehen, wie sein alter Herr die Bühne fegte und vor den Künstlern katzbuckelte. Schon damals hatte ihn diese Unterwürfigkeit wütend gemacht. Und wofür hielten sich diese Leute, dass sie seinen Vater so verächtlich behandelten? Die meisten von ihnen waren Stümper, Nichtsnutze, eitle Fatzken.

Unter den Künstlern gab es eine festgelegte Hackordnung: Ganz oben standen die Sänger, dann kamen die Komiker, gefolgt von den hübschen Tänzerinnen, und die unterste Stufe bildeten die Zauberer und die Tiernummern. Fasziniert verfolgte der junge Albert Garrick die absurden Dramen, die sich jeden Abend hinter der Bühne abspielten. Diven bekamen Wutanfälle, weil sie in der falschen Garderobe untergebracht wurden oder die Blumensträuße am Premierenabend zu klein ausfielen. Albert sah, wie Ohrfeigen ausgeteilt, Türen zugeschlagen und Vasen an die Wand geschleudert wurden.

Ein besonders eitler Tenor, ein Italiener namens Gallo, fand, dass der Zauberer ihm nicht genug Respekt erwies, und beschloss, den Mann bei seiner Geburtstagsfeier im Coal Hole, einem Pub schräg gegenüber vom Adelphi Theatre, vor sämtlichen Gästen zu blamieren. Garrick verfolgte die Szene von einem Hocker am Kamin aus, und sie hinterließ einen so bleibenden Eindruck, dass er sie selbst jetzt, vierzig Jahre später, noch vor seinem inneren Auge sah.

Der Zauberer, der Große Lombardi, hatte die Statur eines Jockeys, klein und drahtig, mit einem Kopf, der zu groß für seinen Körper war. Sein schmales Oberlippenbärtchen und das streng mit Pomade zurückgekämmte Haar gaben ihm etwas Hochmütiges. Lombardi war ebenfalls Italiener, aber aus der südlichen Region Apulien, die für den Römer Gallo ein Bauernland war – was er auch gern und oft verkündete. Und da Gallo der Star des Hauses war, gingen alle davon aus, dass Lombardi die ständigen Sticheleien schweigend über sich ergehen ließ. Doch Gallo hätte wissen müssen, dass italienische Männer stolz sind und hinuntergeschluckte Beleidigungen wie Säure in ihren Eingeweiden brennen.

An jenem Abend schlenderte Gallo, nachdem er seine Gäste mit einer schwungvollen Darbietung des Trinklieds aus La Traviata erfreut hatte, auf den Zauberer zu und legte seinen fleischigen Arm um dessen schmale Schultern.

»Sagen Sie, Lombardi, stimmt es, dass sich die armen Leute in Apulien mit den Schweinen um die Rüben prügeln?«

Die anderen lachten und prosteten sich zu, was Gallo nur noch weiter antrieb.

»Nun, Signor Lombardi, dann erzählen Sie uns doch davon, wie die Frauen im Süden sich vor dem sonntäglichen Kirchgang das Rasiermesser ihres Mannes ausleihen.«

Das war zu viel: Mit einer schnellen Bewegung zog der schweigende Zauberer einen langen Dolch aus dem Ärmel und bohrte ihn Gallo von unten in den Hals. Doch statt Blut sprudelte nur eine Reihe leuchtend roter Taschentücher hervor. Gallo kreischte wie ein verängstigtes Kind und fiel auf die Knie.

»Was die Rasiermesser angeht«, sagte Lombardi und steckte seinen Spezialdolch wieder ein, »so scheint sich Signor Gallo geschnitten zu haben. Er wird es überleben … zumindest diesmal.«

Der Scherz ging auf Kosten des Tenors, der so gedemütigt war, dass er ohne Rücksicht auf seinen Vertrag am nächsten Morgen das erste Schiff nach Frankreich nahm und so dafür sorgte, dass er nie wieder in einem britischen Theater auftreten konnte.

Es war eine stilvolle Rache gewesen, geschmückt mit einem geistreichen Wortspiel, und der junge Garrick schwor sich: Eines Tages werde auch ich die Macht haben, mir auf solche Weise Respekt zu verschaffen.

Es kostete ihn sechs Monate Überredungskunst und Hilfsdienste, doch schließlich willigte der Große Lombardi ein, Albert Garrick als Lehrling anzunehmen. Das war sein Zugang zu einer neuen Welt.

Jetzt saß Garrick in der Todeskammer des schicksalsträchtigen Hauses am Bedford Square und dachte an seinen Schwur zurück.

Eines Tages werde auch ich diese Macht haben.

Und nun war dieser Tag endlich gekommen.

Garrick tauchte die Fingerspitzen in die kleine Blutlache auf der Bettdecke und sah zu, wie die zähe Flüssigkeit an seinen langen blassen Fingern hinunterrann. Das Muster erinnerte ihn an die Kriegsbemalung der Indianer in Buffalo Bills Wildwestspektakel, das er sich gemeinsam mit Riley angesehen hatte.

Es werden Männer mit Waffen kommen, dachte er und malte sich mit dem Blut des Toten Streifen auf die Wangen.

Und dann werde ich mir ihre Magie und Macht nehmen.

Bedford Square, Bloomsbury, London. Heute

Spezialagentin Chevie Savano fühlte sich ziemlich unterinformiert. Sobald sie den merkwürdigen Jungen in der Zelle eingesperrt hatte, stürmte sie zurück in den Kapselraum, entschlossen, sich Agent Orange vorzuknöpfen. Doch ihre Entrüstung versiegte, als sie ihren Partner erblickte, der vor der Luke kniete und voller Trauer den Toten im Innern betrachtete.

»Das ist … mein Vater«, sagte er, ohne aufzublicken. »Er muss bereits tot gewesen sein, oder zumindest fast, als er in das Wurmloch eintrat. Der rapide Energieverlust würde die vielen Mutationen erklären.«

Chevie hatte nicht damit gerechnet, Wörter wie Wurmloch und Mutationen jemals außerhalb eines Films zu hören.

»Sie müssen mir alles erzählen, Orange.«

Orange nickte oder vielleicht sank sein Kopf auch nur noch tiefer. »Natürlich, ich weiß. Aber zuerst müssen wir dafür sorgen, dass die Spuren beseitigt werden. Ich weiß nicht, was mein Vater dort zurückgelassen hat. Rufen Sie die hiesige Zentrale an und sagen Sie denen, sie sollen uns ein spezielles Aufräumkommando schicken. Wahrscheinlich ist es nicht nötig, aber ich muss zurück und nachsehen.«

»Zurück? Wohin? Was ist das für eine Kapsel? Eine Art Zeitmaschine? Wenn wir so eine Technologie hätten, wäre das doch längst rausgekommen.«

Orange lachte trocken. »Es gibt Tausende von Websites über geheim gehaltene Technologien. Auf zweien stehen sogar Baupläne der Kapsel. Aber die Leute glauben, was sie im Apple Store sehen, nicht was irgendwelche abgedrehten Verschwörungstheoretiker ihnen erzählen.«

»Es ist also eine Zeitmaschine?«

Die Fragerei ging Orange allmählich auf die Nerven. »In gewisser Weise, ja. Ich setze Sie auf eine höhere Informationsstufe. Sehen Sie sich meinen Ordner im internen Netzwerk an. Das Passwort ist HGWELLS. In einem Wort, nur Großbuchstaben. Da steht alles, was Sie wissen müssen.«

Chevie war schon halb auf dem Weg nach oben, als ihr einfiel, warum ihr das Passwort bekannt vorkam.

H. G. Wells. Die Zeitmaschine.

Eine Zeitmaschine?, dachte sie. Das ist doch verrückt.

Aber andererseits auch nicht verrückter als ein Gorillaarm und gelbes Blut.

Chevie rief im Londoner Büro an, um das Aufräumkommando anzufordern, und wurde fast eine Viertelstunde lang hin und her verbunden, bis sie den Namen von Agent Orange ins Spiel brachte; danach stellte man sie direkt zur Spezialabteilung durch, und ihr wurde zugesichert, dass spätestens in einer Stunde ein Team vor Ort sein würde. Sie hatte kaum aufgelegt, da brach ein Trupp der Londoner Feuerwehr die Reste der Haustür auf, offenbar fest entschlossen, sich mit seinen Äxten quer durchs Haus zu hacken. Ein Dutzend schwarz beanzugte Muskelmänner vom FBI schickten den Trupp höflich, aber bestimmt nach Hause und sperrten dann das Gelände rund ums Haus ab, bis das Aufräumkommando kam.

Sobald Chevie sich vergewissert hatte, dass alles unter Kontrolle war, erklärte sie der verspiegelten Sonnenbrille des Chefmuskelmanns, sie ziehe sich jetzt für zehn Minuten in die Einsatzzentrale zurück. Das reicht hoffentlich aus, um rauszukriegen, was zum Henker hier eigentlich los ist.

Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass die Ereignisse dieses Abends sie nicht groß aus der Bahn warfen. Sie war schon immer ziemlich stressresistent gewesen, aber diese Geschichte war etwas anderes. Hier lief irgendwas Science-Fiction-Mäßiges. Anscheinend war die Welt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Konzentrier dich, ermahnte sie sich, und lies die Akte.

Oranges Ordner war schon seit ihrer Ankunft am Bedford Square im Verzeichnis des internen Netzwerks gewesen, aber bisher hatte sie nie Zugang dazu gehabt. Chevie verspürte ein nervöses Kribbeln, als sie mit dem Cursor auf das Icon fuhr.

Was werde ich darin finden? Wenn es Zeitreisen wirklich gibt, warum dann nicht auch Aliens oder Vampire? Ich will auf keinen Fall eins von diesen FBI-Mädels werden, die irgendwelche Missgeburten jagen. Die hinken hinterher nämlich immer.

Als Chevie den Ordner öffnete, stellte sie überrascht fest, dass sich darin über zweihundert Dateien befanden, alphabetisch geordnet. Sie änderte die Anzeige, sodass sie nach Datum sortiert waren, und klickte dann eine mit dem Namen »Projekt Orange – Überblick« an. Dann begann sie zu lesen, wobei sie sich zwang, langsam zu lesen und wirklich jedes Wort aufzunehmen. Nach zwanzig Minuten absoluter Konzentration lehnte sie sich in ihrem Bürostuhl zurück und hielt sich mit einer Hand den Mund zu, damit ihr kein hysterisches Kichern entfuhr.

Das ist doch wohl ein Witz, oder?, dachte sie. Dann nahm sie die Hand vom Mund und brüllte Richtung Tür: »Das ist doch wohl ein Witz, oder?«

Orange war unten in dem kleinen Krankenzimmer. Er hatte seinen Vater aus der Kapsel herausgezerrt, ihn auf eine Liege verfrachtet und seinen Leichnam bis auf den Kopf mit einem weißen Laken bedeckt. Als Chevie hereinkam, wusch er gerade die Stirn des alten Mannes sanft mit einem Schwamm.

»Was glauben Sie, warum der Junge Ihren Vater getötet hat?«

»Ich weiß es nicht. Auf dem Video vom Timekey ist nicht viel zu erkennen. Der Junge taucht plötzlich wie aus dem Nichts auf. Wahrscheinlich ist er ein Dieb.«

»Ein Dieb aus der Vergangenheit. Was machen wir mit ihm?«

Orange drückte den Schwamm aus, bis seine Knöchel weiß wurden. »Auch das weiß ich nicht. Bisher hat noch nie jemand einen Menschen aus der Vergangenheit mitgebracht. Wir könnten ihn erschießen – ich habe eine Waffe.«

»Tolle Idee. Ist alles okay mit Ihnen, Orange? Vielleicht sollte ich die Leitung der Aktion übernehmen?«

Orange lächelte ironisch, und Chevie dachte nicht zum ersten Mal, dass ihr Partner zwar etliche verschiedene Arten von Lächeln hatte, aber keines davon sehr glücklich wirkte.

»Das wird nicht nötig sein, Agent Savano. Mir geht es bestens.«

»Aber das da ist Ihr Vater.«

»Nur dem Namen nach. Ich habe diesen Mann schon sehr lange nicht mehr gesehen. Meine Familie ist das FBI.«

»Puh. Ich glaube, das ist das Traurigste, was ich je gehört habe.«

Wieder ein Lächeln, diesmal wehmütig. »Da könnten Sie recht haben.«

»Soll ich Sie weiter Agent Orange nennen?«

»Nein. Nennen Sie mich ruhig Professor Smart. Oder einfach Felix.«

»Professor Felix Smart. Sohn des vermissten schottischen Quantenphysikers Charles Smart. Sie haben dieselbe Nase.«

»Aber zum Glück nicht dasselbe Blut. Bei gelbem Blut schlagen die Sicherheitsscanner am Flughafen immer Alarm.«

Chevie ignorierte seinen schwachen Versuch, komisch zu sein. »Was ist mit Professor Smart senior passiert? So weit bin ich in den Unterlagen nicht gekommen.«

Felix Smart betrachtete das Gesicht seines Vaters, während er sprach. »Er fand heraus, dass Einsteins Quantentheorie im Wesentlichen stimmte und dass er ein transversibles Raum-Zeit-Wurmloch stabilisieren konnte, indem er exotische Materie mit negativer Energiedichte verwendete.«

»Ich dachte mir schon, dass irgendwann jemand daraufkommen würde«, sagte Chevie ohne eine Miene zu verziehen. Doch dann hätte sie am liebsten die WARP-Kapsel aktiviert, um fünf Sekunden in der Zeit zurückzugehen. Wie gefühllos, einen Witz zu reißen, während der Vater ihres Chefs tot und mutiert dort vor ihnen lag. »Können wir vielleicht anderswo darüber reden?«

»Natürlich.« Felix Smart ging mit ihr hinaus in den Flur und begann zu erzählen. »Die Universität von Edinburgh finanzierte meinen Vater ein paar Jahre, dann wechselte er zu einer größeren Forschungsstelle in London, die mit Harvard zusammenarbeitete. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits beim FBI in Washington. Als ich erkannte, dass Vater kurz vor einem Durchbruch stand, überredete ich meinen Chef, sich die Sache mal anzusehen. Die Forschungsabteilung des FBI war begeistert von dem Konzept, überschüttete meinen Vater mit Geld und ich wurde zum Projektleiter ernannt. Schon sehr bald gab es konkrete Ergebnisse. Zuerst haben wir Kameras und Tiere rübergeschickt. Dann Todeskandidaten.«

Chevie war nicht schockiert. Sie wusste, dass es im vergangenen Jahrtausend durchaus üblich gewesen war, Verurteilten so einen Deal anzubieten: Sie stellten sich als Versuchsperson zur Verfügung und dafür wurde ihnen die Todesstrafe erlassen. Die Regierung hatte schon alles Mögliche an Gefangenen ausprobiert, von Gummimunition bis zu Telepathiepillen.

»Die Tests waren ziemlich erfolgreich. Es gab ein paar Abweichungen, meistens auf dem Rückweg, aber weniger als ein Prozent, also im wissenschaftlichen Sinn akzeptabel. Dann hatte jemand den Geistesblitz, wichtige Zeugen in der Vergangenheit zu verstecken.«

Chevie hob den Zeigefinger. »Moment, könnten Sie das bitte noch mal wiederholen? Nur damit ich sicher bin, dass ich das richtig verstehe.«

»Selbst ein hochrangiger Mafioso wie John Gotti kann niemanden ausschalten lassen, der sich im neunzehnten Jahrhundert befindet, oder? Also haben wir die Zeugen mit einem Betreuer in die Vergangenheit geschickt und sie dann zum Prozess wieder zurückgeholt.«

»Das FBI macht also Zeugenschutz in der Vergangenheit?«

»Ja. Soll ich es noch mal sagen?«

»Nein. Ich hab’s verstanden.«

»Natürlich war das Ganze wahnsinnig teuer, und die Energie, die für eine einzige Reise nötig war, reichte aus, um ein kleines Land mit Licht zu versorgen. Außerdem waren diese Zeugen schon immer ein großes Sicherheitsrisiko, und die Prozesse zogen sich oft endlos hin. In den fünf Jahren, in denen WARP tatsächlich aktiv war, haben wir nur vier Zeugen in verschiedene Zeiten zurückgeschickt. Ein paar hohe Tiere vom FBI meinten, die Regierung würde dabei einen schlechten Deal machen, deshalb drängte Colonel Clayton Box, ein begeisterter Anhänger von Spezialeinheiten, darauf, man könne die Technik ja auch für verdeckte Operationen nutzen.«

»Sie meinen Mordkommandos?«

»Genau. Stellen Sie sich vor, wir könnten in die Vergangenheit reisen und Terroristen ausschalten, während sie noch auf die Highschool gehen. Meinem Vater gefiel diese Vorstellung nicht, und trotz all meiner Versuche, ihn zu beruhigen, wurde er immer paranoider. Er witterte überall Verschwörungen und war überzeugt, dass man ihm seine Erfindung stehlen wollte. Deshalb verschwand er eines Morgens einfach in die Vergangenheit und nahm alle programmierten Timekeys und die Zugangscodes mit. Mein Vater hätte jederzeit zurückkommen können, wenn er gewollt hätte, aber wir konnten nicht zu ihm. Nicht ohne die ganzen Algorithmen und Codes, die er in seinem Gedächtnis gespeichert hatte. Er hatte sich für die Kapseln eine eigene Sprache ausgedacht und sie damit programmiert, und ohne ihn funktionierte WARP nicht. Mein Vater war der Schlüssel, und wir haben es in all den Jahren nicht geschafft, die Maschinen zu knacken. Wir haben Terry Carter verloren, den wichtigsten Zeugen in einem riesigen Bestechungsprozess. Und seinen Bewacher natürlich auch. Ganz zu schweigen davon, dass an diversen Wurmloch-Hotspots WARP-Kapseln im Wert von mehreren Millionen Dollar vor sich hin rosten. Die Ironie des Ganzen ist, dass Colonel Box und sein gesamtes Team bei einem Einsatz waren, als mein Vater in die Vergangenheit flüchtete. Box und seine Männer sind nie zurückgekommen, sodass keine Gefahr mehr besteht, WARP zu missbrauchen.«

Chevie brauchte eine ganze Weile, um diese Sintflut an Informationen zu verarbeiten. Dann stellte sie eine heikle Frage: »Das gelbe Blut und der Gorillaarm sind also zwei von Ihren ›Abweichungen‹?«

Felix Smart blieb ruhig, als wäre es etwas vollkommen Normales, einen toten Vater mit Affenteilen zu haben. »Das Risiko von zwei Abweichungen war äußerst gering. Bei einigen der Verurteilten traten Wurmlochmutationen auf. Nach Vaters Theorie verfügten die Zeittunnel über ein Gedächtnis, und manchmal geriet der Quantenschaum durcheinander. Moleküle vermischten sich. In neunundneunzig Prozent der Fälle kehrten unsere Testpersonen ohne nennenswerte Mutationen zurück. Aber es gab auch schon mal einen zusätzlichen Arm, außersinnliche Wahrnehmung oder einen Dinosaurierkopf.«

Chevie hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Einen Dinosaurierkopf?«

»Ja. Verrückt, nicht? Ich glaube, es war ein Velociraptor. Aber wir konnten es nicht überprüfen.«

»Ist der Dinosaurier gestorben?«

Felix Smart runzelte die Stirn. »Streng genommen hat er Selbstmord begangen. In ihm war noch genug von dem Wissenschaftler, um zu begreifen, was passiert war; also schnappte er sich eine Waffe und schoss sich in den Kopf. Eine Riesensauerei.«

Chevie merkte, wie sich eine Art Jetlag-Gefühl in ihrem Verstand ausbreitete.

Das ist ein leichter Schock, erkannte sie. Mein Gehirn glaubt kein Wort von dem, was es da hört. Aber was soll’s, ich spiele einfach mit, ist ja sowieso bald vorbei.

»Und wie geht’s jetzt weiter, Orange – äh, Professor?«

Bevor Felix antworten konnte, ertönte der SMS-Ton seines Handys. Er nahm das flache silberne Ding aus der Tasche und las die Nachricht. »Das Aufräumkommando ist da. Also klonen wir als Nächstes den Timekey meines Vaters, damit er uns dorthin zurückbringt, wo mein Vater sich versteckt hatte. Wir schauen, ob dort noch irgendwelche Notizen sind, und beseitigen sämtliche Spuren. Wir wollen ja nicht, dass irgendjemand die Zeichnungen meines Vaters findet und hundert Jahre zu früh einen Superlaser oder irgendwas in der Art entwickelt. Sie bleiben hier und überprüfen die Videoaufzeichnungen auf dem Original-Timekey.«

Chevie sah ihrem Chef nach, der die Treppe hinauf verschwand. Er war wieder im Einsatzmodus, und das nicht mal eine Stunde nachdem er den Leichnam seines lange vermissten Vaters entdeckt hatte.

Kalter Fisch, dachte sie.

Riley lag in der Zelle auf einer niedrigen Pritsche. Er hielt sich die Hände vor das Gesicht und ballte sie zu Fäusten, damit sie aufhörten zu zittern.

Ich bin in einer anderen Welt, war sein erster Gedanke. Sein zweiter war: Garrick. Er ist hinter mir her, darauf verwette ich mein letztes Hemd.

Riley versuchte, an etwas anderes zu denken.

So weit er zurückdenken konnte, hatte er nie einen Freund gehabt, und so hatte er gelernt, sich selbst aufzumuntern. Doch in seinen Träumen sah er manchmal einen hoch aufgeschossenen Jungen mit roten Haaren und breitem Lächeln, und er hatte sich angewöhnt, in Gedanken mit diesem Jungen zu reden, wenn er Trost brauchte.

Immerhin lebe ich noch, stimmt’s, Ginger? Und vielleicht ist dieses Gefängnis ja weit weg. Weit genug, dass nicht mal Garrick mich findet.

Doch Riley glaubte selbst nicht daran, ganz gleich, wie oft er es wiederholte.

Er versuchte, nicht mehr an Garrick zu denken, aber das war nicht leicht, denn Garricks Visage war das größte Bild in seinem Kopf.

Dann denk halt an was anderes.

Wie wär’s mit dem gelben Blut, das dem Alten aus der Pumpe gelaufen war? Und hatte er nicht auch einen Affenarm gehabt? Oder dieses schamlose Mädchen, das in schwarzen langen Unterhosen herumlief. Das hier war wirklich eine verwirrende neue Welt, und die Zelle sah auch ziemlich merkwürdig aus.

Aber jede Zelle hat eine Tür, und jede Tür hat ein Schloss.

Garricks Worte.

Und daran war unzweifelhaft etwas Wahres. Riley zwang sich, aufzustehen und die wenigen Schritte zur Tür zu gehen. Wenn das hier tatsächlich ein Gefängnis war, musste es auch eine Möglichkeit geben, daraus zu fliehen, so wie Edmond Dantès in Der Graf von Monte Christo – einem von Rileys Lieblingsbüchern – aus dem Château d’If geflohen war.

In den letzten Jahren waren Bücher Rileys große Leidenschaft geworden, und sie hatten ihm durch die langen, einsamen Stunden in dem Theater in Holborn geholfen, wo er und Garrick ihren Unterschlupf hatten. Garrick verschwand oft für mehrere Tage, und bei seiner Rückkehr erwartete er eine saubere Wohnung und eine warme Mahlzeit. Und wenn er dann in der Küche saß, die Knie unter die Tischplatte geklemmt und einen Teller heißen Rindereintopf vor sich, schwenkte er mit königlicher Geste den Löffel – das Zeichen, dass Riley mit seinem abendlichen Unterhaltungsprogramm beginnen sollte. Woraufhin der Junge seinen Herrn mit einer Zusammenfassung des jeweiligen Romans erfreute, den zu lesen er beauftragt worden war.

Schön lebendig, mein Sohn, sagte Garrick oft. Gib mir das Gefühl, dass ich selbst in diesen Seiten stecke.

Und dann dachte Riley: Ich bin nicht Ihr Sohn. Und: Ich wünschte, ich wäre in diesen Seiten.

Anfangs, als Garrick auf diese Idee gekommen war, hatte Riley nicht nur das Erzählen, sondern sogar die Bücher selbst gehasst, doch Die Abenteuer des Sherlock Holmes hatten alles geändert. Das Buch war einfach zu spannend, um es zu verabscheuen. Riley konnte Arthur Conan Doyle ebenso wenig hassen wie seine Eltern, an die er sich nicht erinnerte. Dabei rief Garrick ihm immer wieder ins Gedächtnis, dass sie ihn in einem Mehlsack am Geländer des Arbeitshauses von Bethnal Green aufgehängt hatten, wo er, der große Zauberer, ihn gefunden und vor den Kannibalen des Elendsviertels gerettet hatte.

Jetzt könnte ich gut einen Rat von Mister Holmes gebrauchen, dachte Riley, während er mit dem Fingerknöchel an die Tür klopfte. Ein genialer Detektiv wäre genau die richtige Medizin – oder ein Einbrecher.

Die Zellentür entsprach der üblichen Gefängniseinrichtung: schwerer Stahl mit einem Fenster, gerade groß genug, dass ein mittelgroßer Hund hindurchgepasst hätte, wäre es nicht verglast gewesen.

Oder ein Entfesselungskünstler.

Riley war sicher, dass er sich durch das Fenster zwängen konnte, wenn er einen Weg fand, die Scheibe herauszukriegen.

Garrick hat mich schon durch engere Löcher gezwungen.

Doch die Scheibe war an allen Seiten fest mit dem Stahl verbunden, und sie war sauber gewalzt, ohne Wellen oder Blasen.

Die Leute hier verstehen was von Glas, musste Riley zugeben. Vielleicht das Schloss?