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"Früher war es schlimm, in einer normalen Welt verrückt zu sein. Heute ist es umgekehrt." Was treibt einen Menschen zum Selbstmord? Einige spannende Erklärungsversuche findest du hier in diesem Abschiedsbuch. Tauche ein in die Psyche der anonymen Hauptfigur und durchlebe mit ihr schöne, skurrile Momente, Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, ernüchternde Niederlagen und brutale Rückschläge und versuche, die verlorene Seele zu verstehen. Als Kind erlebte sie ein Trauma, das sie nie wieder losließ und bis ans Ende verfolgte… Um Suizid zu begehen, braucht es Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Mut, sehr viele Tabletten oder nur einen kleinen Schritt – von einer großen Brücke!
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Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2023
Martin Wendel
Warum ich mich töten musste
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Widmung & Vorwort
(1) Bereit
(2) Wie alles begann
(3) Das Böse und das Gute
(4) Erste echte Mordgedanken
(5) Im Wald
(6) ES
(7) Jobsuche
(8) Eingefleischt
(9) In Zukunft?
(10) Pech in der Liebe
(11) Inhuman
(12) Erlösung
(13) Ins kälteste Wasser
(14) Der Schlachter ist da
(15) Bis zum bitteren Ende
(16) Noch nicht vorbei
Epilog
BONUSMATERIAL
Impressum neobooks
Martin Wendel
WARUM ICH MICH TÖTEN MUSSTE
Drehbuch- und Buchautor Martin Wendel wurde im späten 20. Jahrhundert auf dem Planeten Erde geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik und nutzt seine Kreativität und Fantasie, um unterhaltsame Geschichten zu schreiben, welche Menschen begeistern und Denkanstöße liefern. Seit Jahren versucht er, so nachhaltig und ressourcenschonend wie möglich zu leben.
Martin Wendel
WARUM ICH
MICH
TÖTEN MUSSTE
Drama-Mystery-Thriller
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Martin Wendel
Umschlag: © 2023 Copyright by Martin Wendel
Verantwortlich
für den Inhalt: Martin Wendel
www.martinwendel71.de
Druck: neobooks – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Warum ich mich töten musste ist insbesondere allen Müttern und Vätern gewidmet, die sich mit Liebe und Fürsorge um ihre Kinder kümmer(te)n und ihnen bei der Erziehung humane Werte vermittel(te)n. Und allen Menschen, die sich mit Empathie für ihre Zeitgenossen einsetzen und ein bewusst nachhaltiges und respektvolles Leben auf und mit unserem einzigartigen Planeten Erde führen. Und allen, die sich bewusst sind:
Der friedliche Fortbestand der Menschheit beruht nicht auf Gewalt und Terror, sondern Menschlichkeit.
Dieses Buch ist keine Biografie eines Superstars, welches allein wegen des bekannten Namens zum Bestseller wird. Es ist ein Lebenslauf, der zuerst zum Stillstand kam und dann in die falsche Richtung lief. Eine Geschichte eines gescheiterten Menschen, deren Schilderung zum Teil verstörend, beängstigend und schonungslos brutal ist und dennoch so viel mehr enthält.
Wichtig dabei ist ein Hinweis, den wir wahrscheinlich alle noch aus der Schule kennen: Der Autor ist nicht der Erzähler.
Und sei bitte nicht überrascht oder irritiert, wenn du an der einen oder anderen Textpassage direkt angesprochen wirst.
Viel Spaß und spannende Unterhaltung bei der Lektüre!
„Früher war es schlimm, in einer normalen Welt verrückt zu sein. Heute ist es umgekehrt.“
Eine finstere, eisige Nacht. Ich saß menschenseelenallein auf dem Brückengeländer der knapp 100 Meter hohen Talbrücke inmitten eines Waldgebiets. Weit unter mir das Rauschen des reißenden Flusses. Dieser bekam Nachschub von oben, dem heftig herunterprasselnden Regen. Und bald von einem leeren Menschenkörper. Ich war bereit zu gehen – oder besser – zu springen. Niemand konnte mich mehr davon abhalten.
Meine Füße baumelten in der Luft, ich rutschte Millimeter für Millimeter auf meinen Oberschenkeln weiter nach vorne, bis nur noch mein Gesäß mit dem dünnen Stahlgeländer Kontakt hatte. Der frostige Wind riss mich in Böen hin und her. Ich klammerte mich mit beiden Händen fest, löste zuerst meine linke, dann die rechte Hand.
Mein Leben hing von dem nächsten Luftzug ab. Es war ein wahnsinniges Gefühl. Absolut befreiend. Zu wissen, dass man es nicht mehr in der eigenen Hand oder auf der Arschbacke hat, wenn es zu Ende geht. Meine Gedanken waren völlig frei – jetzt, nachdem ich es zuvor tausendmal in meinem kranken Hirn durchgegangen war und durchgespielt hatte.
Mein Abschiedsbrief war geschrieben und befand sich hinter mir im Rucksack auf der gesperrten Straße. Genauso wie meine Memoiren, meine Autobiografie einer anscheinend völlig unbedeutenden Person. Es waren meine letzten Worte, in denen all meine Reue steckte. Meine Fehltritte, meine Missetaten. Danach würde jeder verstehen, warum ich diesen Schritt gehen musste. Und die Welt wäre ein Stück sicherer. Befreit von mir, von einem grauenvollen Monster. Ja, ich musste mir eingestehen, dass es so das Beste war. Dass ich nicht mehr so weiterleben konnte. Die Dämonen, die mich verfolgten, wurden immer stärker und schlimmer. Fast so schlimm wie die Dinge, die ich anderen angetan hatte. Ich hatte bis zuletzt noch die Hoffnung, dass es aufhört, dass ich aufhören und es kontrollieren könnte. Ich war nicht besessen von einem Teufel oder so einem religiösen Mythen-Schwachsinn. Viel schlimmer: Ich war einfach nur ich. Träumte von einem ganz normalen Leben, einer erfolgreichen Karriere und einem Menschen, den ich liebte und der dasselbe für mich empfand und mit dem ich gemeinsam meinen Traum leben konnte. Doch es war alles bloß ein beschissener Alptraum. Und der führte mich hierher.
Es folgt meine Reise in den Suizid. In die Südsee wäre mir lieber gewesen. Aber das war verdammt weit weg. Das hier ist mein Tagebuch in den Tod. Versuche zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Ein Rückblick auf all meine Erlebnisse, die mich an einen Scheideweg brachten. An einen Punkt, wo ich keinen Ausweg mehr sah. Dabei gab es auch wundervolle Momente, die ich für immer im Herzen mit mir trug. Doch sie waren in der klaren Minderheit und wurden besiegt von der Schwere der Trauer, Ohnmacht und Depression. Das einmalige Leben war kein Geschenk mehr, sondern eine Last.
Die schönen Dinge, unser wundervoller Planet, unsere Lebensgrundlage wird von einem menschengemachten Krebsgeschwür mit seiner Gier nach Wachstum vernichtet, Tag für Tag. Wenn keine Hoffnung mehr da ist, schwindet auch der Wille zu leben. Warum das alles? Für was? Für wen? Weiß nicht mehr, wie ich es ausdrücken soll, weil ich mir diese Worte bis zum Schluss aufgehoben habe und es gerade meine letzten Sätze sind, nachdem ich meine Lebens- und Leidensgeschichte geschrieben habe. Vielleicht kannst du im Folgenden nachvollziehen, wieso ich nicht mehr weiter wusste, keine andere Lösung mehr sah. Oder wo es Abzweigungen gab, die mich von dem Weg in die Sackgasse hätten abbringen können. Wo Felsbrocken, reißende Flüsse oder unüberwindbare Gletscher ein Weiterkommen verhinderten.
Bei der Niederschrift meiner Lebenserinnerungen realisierte ich, dass mir das Schreiben gut tat. Dass es mir leicht fiel und dachte, dass ich eine gewisse Gabe habe, einigermaßen unterhaltsam zu schreiben. Möglicherweise hätte ich auf diesem Wege mehr Glück und Erfolg gehabt. Allein der Glaube daran fehlte mir. Schließlich hatte ich es versucht.
Liebe Mom & liebes Bruderherz,
als allererstes sollt ihr wissen: Ich liebe euch! Macht euch bitte keine Vorwürfe oder quält euch nicht mit der Frage, wie ihr es hättet erkennen oder gar verhindern können. Ihr habt keinerlei Schuld oder Mitschuld. Ihr wisst, dass ich ziemlich störrisch sein konnte. Und ich weiß, dass ich euch mit meinem letzten Schritt hier zutiefst verletze und ihr trauern werdet. Das tut mir unendlich leid und ich kann grad meine Tränen nicht zurückhalten. Aber ich konnte nicht mehr. Nach all den Jahren jeden Morgen mit dieser Leere im Herzen aufzuwachen und zu spüren, wie die Sehnsucht nach dem Ende des Schmerzes brutal und unaufhörlich anwächst. Ich hoffe, wünsche und bitte euch, dass ihr so glücklich wie möglich euer Leben genießt und euch hin und wieder an all die wunderbaren Momente mit mir erinnert, damit ich in euren Gedanken weiterlebe und für immer bei euch sein kann. Sobald es mir in diesem mysteriösen Jenseits möglich ist, schaue ich auf euch herab, um all das zu schätzen, wozu ich im Leben nicht mehr fähig war. In dieser Extremsituation fehlen mir gerade die passenden Worte und ich hoffe nur, dass ihr mir irgendwann verzeihen könnt. Und dass ihr lange gesund bleibt, bis wir uns irgendwann wiedersehen.
So lautete mein Abschiedsbrief, den ich an jenem schicksalhaften Tag niederschrieb.
Meine Wenigkeit war ja nicht allein, da sich in Deutschland im Durchschnitt täglich über 25 Menschen ihr Leben nehmen. Eine traurige Zahl, von der kaum jemand Notiz nimmt.
Wie denn auch, wenn eine goldene Regel in der Presse und in den Medien besagt, dass nichts über Suizide berichtet werden soll?
Doch für uns alle ist oftmals unverständlich, wieso manche Menschen Selbstmord begehen. Es bleiben viele Fragen, selbst wenn manchmal, wie auch in meinem Fall, ein Abschiedsbrief geschrieben wurde, ist es schwer nachzuvollziehen, wieso Suizid der allerletzte Ausweg war. Ob das die einzige Lösung für die geschundene, arme Seele sein sollte.
Ich bin tatsächlich an diesem Punkt angekommen, den ich selbst nie für möglich hielt. Ich sah immer das Positive und versuchte, die akkumulierenden schrecklichen Gedanken zu verbannen. Doch wenn dich die tiefe Depression einmal in ihre Arme nimmt, lässt sie dich nicht mehr los und es gibt irgendwann keinen Weg zurück aus der erdrückenden, erstickenden Umklammerung, aus der Dunkelheit. Wenn nur noch Negativität auf dich und dein zartes Selbstwertgefühl einschlägt. Du liegst allein und regungslos im Bett, starrst an die Zimmerdecke und dann stellst du dir diese eine Frage: Wieso das Ganze? Gefolgt von: Was ist der Sinn des Lebens? Krankheit, Krieg, Ungerechtigkeit, Hilflosigkeit, Resignation, Ignoranz, Gier, Korruption, menschgemachte Umweltzerstörung und Umweltvergiftung wie PFAS (unzerstörbare Chemikalien), die sich ebenso wie Nitrate von der Massenstierhaltung im Grundwasser anreichern und es verseuchen, Phtalate (Weichmacher) mit ihren schädlichen Auswirkungen. Ja, der Krebs lauert und wird dich holen. In mir wuchs der Hass auf die einfältigen, ungebildeten und sich nicht bilden wollenden Artgenossen, die mit ihrem sorglosen Verhalten dazu beitragen, dass die düstere Prognose für die Menschheit bald wahr werden würde. Dass das Anthropozän das letzte Zeitalter für uns Menschen sein würde, was irgendwie zynisch und kurios zugleich ist und im Meer mehr Plastik schwimmt als Fische. Gleichzeitig fing ich an, diese Leute zu beneiden, da sie einfach nur lebten, nichts hinterfragten und ihnen ihr Tun und die damit verbundenen Auswirkungen einfach scheißegal waren. Ich wünschte, ich hätte mein Hirn abschalten können und mich nicht in der Tristesse und Hoffnungslosigkeit verloren.
Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr.
Jedenfalls bekommst du im Folgenden einen Einblick ins Leben eines psychisch-gestörten, geisteskranken Menschen. Gute Unterhaltung!
Ich wuchs in einem kleinen Dorf in einer Vorstadtumgebung auf. War glücklich. Hatte eine tolle Familie: Zwei wunderbare Eltern und ein kleines Brüderchen. Sie bedeuteten mir alles. Dazu noch zwei Großeltern im selben Ort, zu denen ich immer nach dem Kindergarten und der Grundschule ging, während meine Mutter und mein Vater noch arbeiteten.
Bei Oma gab es immer leckeres Essen. Heute würde ich nicht mehr viel davon essen. Nicht nur wegen der hin und wieder im Essen aufgetauchten, welligen, schwarz-weißen Schäferhundhaare, die sie meinem Bruder und mir als „Lauch“ verkaufen wollte. So viel Lauch hatte sie nie in der Küche vorrätig und viele Gerichte kamen ohnehin auch ohne ihn aus. Zudem fehlte mir trotz kindlicher Fantasie die Vorstellungskraft, wieso der grünliche Lauch beim Kochprozess plötzlich seine Farbe ändern sollte. Jedenfalls wurde ich im Grundschulalter schon ein wenig sensibilisiert bezüglich des Essens. Als Kind machte ich mir damals jedoch noch keine Gedanken, was man aß. Dass viel zu viel Fleisch auf den Tisch kam. Es war einfach da und schmeckte verdammt gut. Ja, meine Oma konnte schon richtig gut kochen.
Im Großen und Ganzen hatten mein Bruder und ich eine geregelte und schöne Kindergarten- und Schulzeit. Wobei, stimmt nicht ganz: Im Kindergarten gab’s jeden Tag beschissen schmeckenden Kamillentee. Wir wurden quasi dazu genötigt, weil es kein normales Wasser gab. Mir war der Gedanke noch fern, meine weiße Plastiktasse einfach unter den Wasserhahn zu halten und so meinen Wasserhaushalt aufzufüllen. Wahrscheinlich, weil ich dann der einzige gewesen wäre. Ein Außenseiter, der nicht mit der Masse mitschwimmt oder den Tee nicht gemeinsam am Tisch mittrinkt. Ich ließ mir manchmal kreative Möglichkeiten einfallen, den lauwarmen Aufguss nicht zu trinken. Die subtilste Methode war es, ihn unbemerkt von der Aufsichtsperson und von den anderen Kindern unter den Tisch zu kippen. Auch wenn mir physikalische Gesetze damals noch fremd waren, bestand die Hoffnung, dass die Plörre sich schnell in Luft auflöste, sprich verdunstete. War das nicht der Fall, bekam jemand Ärger – wegen Inkontinenz. Ich war’s allerdings nicht, weil ich die Tasse möglichst weit weg von meinem angestammten Sitzplatz entleerte. Christian, tut mir leid. Obwohl, nein, tut mir doch nicht leid, schließlich hast du immer meine Lieblingsschaukel besetzt, mich viel zu viel genervt und ständig Streit gesucht. Da sollte man sich also nicht ins Hemd, in die Hose oder unter den Tisch machen.
Nach dem Kindergarten und der Erlösung des täglichen Tee-Martyriums ging es in die Grundschule, immer noch im selben Ort, gerade mal 100 Meter vom Kindergarten entfernt. Auch hier gab es keine besonderen Vorkommnisse. Klar war am Anfang alles neu und man gehörte zu den Kleinsten und Jüngsten in der Schule. Aber die Zeit verging recht schnell und man gehörte plötzlich zu den Großen auf dem Schulhof, die die Hoheit hatten, in der Pause Fußball zu spielen, während die Jüngeren auf einen mit Bewunderung aufblickten. Ich will nicht prahlen, aber in der Schule war ich, glaub ich zumindest auch jetzt rückblickend, sehr beliebt. Sportlich war ich seit jeher.
Meine Eltern waren beide Leichtathleten, mein Vater sogar Deutscher Meister in der Jugend. Hatte wohl daher auch gute Gene mitbekommen.
Jedenfalls war ich ein Bewegungs- und Naturtalent und wurde fast jedes Mal als Erster ausgewählt, wenn es um Teambildung ging. Egal, ob im Handball, Fußball oder Hockey. Es war schön. Und trotzdem tat es mir leid, wie andere Mitschüler konsequent als Letzte gewählt wurden. Wie es darauf hinauslief, dass zwei, drei immer als Letzte auf der Bank übrig geblieben waren. Und jedem der „Wähler“ klar war, dass man am liebsten ganz auf sie verzichten wollte.
Diese Momente waren für mich die ersten Anzeichen von Empathie. Wo ich merkte, dass da was nicht stimmt. Wie ich mich wohl fühlen würde an deren Stelle? Unwohl. Noch schlimmer wurde es dann beim Spiel selbst. Die Unsportlichen waren zwar auf dem Spielfeld in der Turnhalle, doch nahmen sie wirklich daran teil? Wollten wir nicht alle gewinnen? Warum soll ich jemandem den Ball zuspielen, wenn ich weiß, dass er ihn sofort an den Gegner wieder verliert? So dachte doch jeder von uns. Ich will mich hier als damals unerfahrenes Kind nicht ausnehmen, aber ein bisschen stolz war ich schon im Nachhinein, dass ich versucht habe, meine oftmals gemobbten Mitschüler miteinzubeziehen. Ich verfügte damals bereits über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ich erinnere mich an ein konkretes Beispiel:
Wir spielten wie gewohnt zur großen Pause Fußball auf dem Hof. In einem Zweikampf hatte ich den Ball als letztes berührt, als er ins Aus kullerte. Das hatte allerdings außer mir niemand mitbekommen und gesehen. Ich nahm den Ball in die Hand zum Einwurf, wo auch schon meine Teamkameraden winkten, dass ich ihnen den Ball zuwerfen sollte. Ich übergab ihn jedoch meinem Gegenspieler, der überrascht war.
Einer meiner Mannschaftskollegen rief mir sauer zu: „Hey, was machst du?!“
„Ich war als letztes dran“, sagte ich.
„Na und? Das hat doch keiner gesehen“, antwortete er, schüttelte verärgert den Kopf, zeigte mir den Vogel und das Spiel ging weiter.
Das war für mich ein Moment, den ich bis heute nicht vergessen habe. Ich dachte mir bloß: Wir haben hier 20 Minuten Pause. Das ist nur ein normales Spiel ohne Chance auf Bundesligapunkte oder gar eine Chance auf den DFB-Pokal. Was soll’s? Das war der Augenblick, in dem ich realisierte, wie es um Ehrlichkeit bestellt ist. Und ich sah all die Fußballspiele im Fernsehen mit anderen Augen. All das FIFA FAIR PLAY Getue. Und auf dem Spielfeld, wo es um Millionen geht? Achte mal darauf, wie mittlerweile jeder Spieler die Hand hebt, wenn der Ball ins Aus geht, um dem Schiedsrichter zu signalisieren, dass er nicht als letztes an der Kugel war und er den Einwurf oder Eckball für sich reklamiert – und das obwohl es in vielen Fällen gar nicht stimmt und sowieso Kameras alles mitverfolgen. Ich fand es nur noch abartig und peinlich und konnte mir so etwas nicht mehr anschauen. Aber zurück zur Grundschule:
Ich kam mir manchmal vor, als ob ich der Einzige wäre, der wusste, dass es nur ein Spiel zur geistigen Erholung in der Pause war. Dass wir Spaß haben sollten. Und es ist nicht so, als ob ich nicht ehrgeizig gewesen wäre. Im Gegenteil, ich war verdammt ambitioniert, dort, worauf es ankam. Zumindest in dem Mikrokosmos, in dem ich damals lebte. Wo Sportfeste viel bedeuteten und es toll war, Pokale und Medaillen zu gewinnen und mit voller Stolz ins Regal zu stellen beziehungsweise an die Wand zu hängen.
Aber auch meine schulischen Leistungen konnten sich in der Grundschule noch sehen lassen. Klassenbester in Klasse 3 mit 9 x „sehr gut“ und 5 x „gut“. Ab da ging es allerdings bergab. Nicht steil, aber stetig. Die Erklärung dafür wäre zu einfach, es auf die Lehrer zu schieben. Und ich will auch keine Ausreden finden. Doch im Nachhinein ergibt alles irgendwie einen Sinn, jedenfalls sind es kleine Einzelteile des Puzzles. In der Grundschule bezeichnete mich unser Klassenlehrer einmal als „Besserwisser“. Ich war in der ersten oder zweiten Klasse, also ungefähr 8 Jahre. Damals dachte ich noch, das sei ein Kompliment gewesen, weil ich es ja schließlich besser wusste als meine Mitschüler. Meine Eltern berichteten mir, dass der Lehrer es auch nicht ernst gemeint hatte und erklärten mir, dass ich wohl zu rechthaberisch auftrat. Der Lehrer war streng aber konnte mich gut leiden. Meine Eltern erzählten mir auch, dass er viele Komplimente für mich hatte. Dass ich aufmerksam zuhörte und ihn mit meinen Augen quasi auffraß oder auszog. So oder so ähnlich war die Wortwahl, die ich damals etwas merkwürdig fand. Augenscheinlich war ich ein wissbegieriges Kind, das sich nach dem Schlussgong zur Oma stürzte und sich von seinem Taschengeld vorher noch eine kleine Tüte mit weißen Mäusen oder Cola-Schnüre kaufte.
Nach der Grundschule kam ich aufs Gymnasium. Zum ersten Mal musste ich mit dem Bus fahren. Es war alles neu. Noch früher aufstehen. Dann in die Landeshauptstadt und zwischendurch noch einmal umsteigen. Immerhin gingen – oder besser – fuhren zwei, drei meiner ehemaligen Schulkollegen auch zur neuen Bildungsstätte.
Doch mit der Zeit verblassten die Freundschaften zu meinen ehemaligen Grundschulfreunden. Musste ich vorher nie lernen, um gut zu sein, war es hier anders. Ich lernte weiterhin nicht und wurde auch nicht gut. Ich war es einfach gewohnt, stinkfaul zu sein. Dass mir alles zufliegt. Wieso soll ich jetzt plötzlich für die Schule lernen? Wo kommen wir denn da hin? Ich schwamm im Strom mit bis die Schleuse mich in der achten Klasse für ein Jahr nicht weiterließ. Also ein neuer Anlauf.
Als ich mir in den letzten Tagen, bevor ich das hier schrieb, wiederholt die Frage nach dem „Bösen“ gestellt hatte, blitzte immer wieder folgende Erinnerung hoch:
Ich tötete schon damals, ohne dass es mir etwas ausmachte, ohne Reue. Genau kann ich’s jetzt nicht mehr sagen, aber ich schätze ich war höchstens 10 Jahre alt. Mein jüngerer Bruder und ich hatten im Wald mit einem kleinen Eimer Kaulquappen-Eier gesammelt und sie bei uns zu Hause in einen Waschkorb aus Plastik umgefüllt und dort aufwachsen lassen. Wir hatten ihnen ein Mini-Biotop gebaut aus Ästen und Steinen, wo sie Unterschlupf suchen konnten. Es war spannend, jeden Tag zu beobachten, wie die kleinen Froschvorstufen sich weiterentwickelten. Wie sie größer wurden, zuerst kleine Beine und dann Arme ausbildeten. Doch zu einem ausgewachsenen Frosch hatte es niemand dieser Babys geschafft. Ein paar sind wegen Überhitzung in der sengenden Sonne gestorben, nachdem ich vergessen hatte, den Behälter in den Schatten unter den Balkon zu stellen. Das war traurig und nicht schön. Umso schlimmer war der Tod der Übriggebliebenen und noch erschreckender war der Grund dafür. Sie wurden von Steinen erschlagen. Ich war es, der die über faustgroßen und kiloschweren Steine blindlings ins Wasser warf. Immer wieder und wieder. Getrieben von der Freude, wie das Wasser spritzte und der Frage, wie viele wohl danach noch lebten? Schließlich waren sie alle tot. Und im Laufe der Zeit bekam ich Schuldgefühle. Das war ein Erlebnis, an das ich mich für immer erinnern würde. Und wo ich mich im Nachhinein fragte: Warum??? Warum hab ich das getan? Und bis heute konnte ich die Frage nicht vollständig beantworten. Ich schäme mich noch heute dafür. Aber es war das erste Mal, dass ich mir dieser Brutalität, ja dieser sinnlosen Brutalität bewusst geworden bin. Klar kann man sagen, dass Kinder Dinge tun, über die und deren Auswirkung sie sich nicht bewusst sind, weil sie sich erst in ihrer fortschreitenden Entwicklungsphase befinden und menschliche Eigenschaften wie Moral erst erlernen müssen. Trotzdem ist es verstörend zu sehen, wie kleine Kinder Käfer oder Spinnen essen. Dass das westliche Menü aus anderen Proteinquellen besteht und mit Messer und Gabel gespeist wird, muss eben noch erlernt werden. Wobei zumindest getrocknete Insekten zunehmend eine entscheidende Rolle in der zukünftigen Welternährung spielen werden. Exzessive Viehwirtschaft wird unser Planet bald nicht mehr verkraften. Obwohl, unser Planet schon, die Menschheit darauf allerdings nicht – genauer gesagt.
Aber um wieder auf meine abartige Tötung der kleinen Amphibien zurückzukommen. Rückblickend betrachtet, war das wohl der erste Moment, in dem nicht mein Ich die Kontrolle über mein Handeln ausübte. Auch damals im Alter von zwei ganzen Händen wusste ich schon, was Werte wie Mitgefühl, Leid und Respekt bedeuten und diese auch zu verstehen und auszuüben. Nein, es musste einen anderen Grund geben.
ES war zum ersten Mal da. ES sollte immer wieder kommen. ES sollte mich bis heute begleiten. ES war die Dunkelheit. ES war ich. Mein anderes Ich.
Ich begab mich vor ein paar Jahren freiwillig in Therapie, ich war ungefähr Mitte 20. Nebenbei bemerkt: Heutzutage müsste ich über ein halbes Jahr warten, bis ich einen Termin beim Psychologen bekäme. Das ist ein riesiges gesellschaftliches Problem, das fast überhaupt nicht von unseren Politikern angegangen wird. Psychisch kranke Menschen werden hier absolut alleingelassen. Blamabel für so ein reiches Land. Zumal deren Anzahl in Zukunft noch stark ansteigen wird. Jedenfalls wollte ich wissen, was in meinem Kopf, meinem Gehirn vorgeht, schief läuft. Ich konnte meiner Psychotherapeutin natürlich nicht die ganze Wahrheit sagen. Ich wäre dann wohl sofort in einer Zwangsjacke abtransportiert und für immer weggesperrt worden. Ich hab ihr bloß immer wieder ein paar kleine Andeutungshappen hingeschmissen und bestimmte Ereignisse von mir selbst aus zensiert. Ich wollte mich schließlich nicht verraten, mich nicht komplett offenbaren. Hatte zu große Angst davor und wollte nur mal einen Einblick bekommen, was mit mir nicht stimmen könnte. Natürlich kann man dann den Sinn dieser Sitzungen hinterfragen. Am Ende bekam ich die Diagnose einer dissoziativen Störung und war noch einige Zeit in Behandlung. Verschriebene Tabletten schluckte ich nie. Ich realisierte schnell, dass es in meinem Fall keine Krankheit war, sondern eine Gabe. Ein besonderes Talent, das ich nutzen konnte, statt es mit Chemie zu vernebeln. Ich lernte damit umzugehen. Nahm Kollateralschäden in Kauf. Normalerweise ist bei solchen Charakterstörungen das Problem, dass man sein Alter Ego nicht kontrollieren kann. Dass man unabsichtlich Dinge tut, die man als wahres Ich nicht tun würde. So wie bei mir damals beim Kaulquappenmord. Doch bei mir kam alles anders. Es hatte plötzlich Vorteile, sich nicht mehr hinter allem verstecken zu müssen, sondern frei zu sein. Aber auch signifikante Nachteile, weshalb ich das hier überhaupt erst niederschreiben musste.
Was ist das Böse und das Gute? Wer ist gut und wer ist böse? Es sind vom Menschen geschaffene Worte und Werte mit viel persönlichem Auslegungsspielraum. Und dennoch kann man vieles in diesen beiden Kategorien verallgemeinert und vereinfacht sagen: Töten ist böse, Lieben ist gut. Rein objektiv betrachtet, gibt es da kaum Argumente, die dagegen sprechen. Gehen wir also mal ins Detail. Ein anschauliches Beispiel für alle Haustierbesitzer:
Die Liebe zu seinem Haustier sprengt oftmals alle möglichen Grenzen. Es fängt schon mit der Vermenschlichung der meistens Vierbeiner an – obwohl ich dabei Vögel, Schlangen, Echsen, Spinnen und Insekten nicht ausgrenzen möchte. Da heißt der kleine Fifi statt Hasso oder Bello mal eben Hermann, Sarah oder Klaus-Dieter. Haustiere werden von ihren Besitzern ja so gut wie immer als vollständiges Familienmitglied gesehen. Da spricht im Prinzip ja nichts dagegen. Im Gegenteil, wer sich ein Tier zulegt, muss sich auch darum kümmern und am besten sich vorab informieren, wie eine artgerechte Haltung aussieht, damit sich das neue Familienmitglied auch wohlfühlt und ein lebenswertes Leben genießen kann. Wie mit allem kommt jetzt der Punkt der Übertriebenheit. Übertriebene Liebe ist fast immer nur gutgemeint – nicht nur damit man sich selbst besser fühlt – aber leider leidet das Tier darunter. Bedeutet das, dass es böse ist, wenn man sein Tier mit ungesundem Zeugs vollstopft, damit es sich kaum noch bewegen kann und Gassigänge bereits zur Qual werden? Oder wenn Tiere, die von Natur aus viel Auslauf und Freiheit benötigen, einengende Knuddelorgien über sich ergehen lassen müssen? Aber ist das schon böse? Nein, das ist wohl nicht der richtige Begriff, weil es ja nicht beabsichtigt ist, wobei das Resultat für das Tier dennoch schlecht ausfällt. Wenn das über Jahre eingezwängte Tier nun mental durchdreht und sich nicht mehr zu wehren weiß als zuzubeißen, ist es dann Okay, es einzuschläfern, um das knuddelige und zu arg knuddelnde Kleinkind in der Familie zu schützen? Ist der Kläffer böse, weil er beißt oder ist es sein Halter, weil er sich nicht mit ihm artgerecht beschäftigt und ihn falsch erzogen hat? In ein Tierheim abschieben wäre eine „humanere“ Methode – zumindest für sein eigenes Gewissen. Denn, wenn der für Lebzeiten geschädigte Hund nicht mehr vermittelbar ist, ist er dennoch dem Tode geweiht.
Dieser kleine Haustier-Exkurs soll nur mal aufzeigen, dass selbst die anscheinend einfachsten und deutlichsten Grundsätze ihren Anschein auch verlieren können. Die übertriebene Liebe zwischen Menschen kann natürlich noch toxischer und fataler sein, weil Kontrollzwang, extreme Eifersucht, Verlustängste etc. hinzukommen.
Der Einfachheit halber unterscheiden wir trotzdem lieber oberflächlich in Gut und Böse. Ich nehme mich selber da nicht heraus. Musste mir immer wieder diese Entscheidung vor Augen führen und abwägen. Um noch beim Hunde-Exempel zu bleiben und damit abzuschließen: Wie nah Gut und Böse beieinander liegen können, erkennt man daran: „Der böse Wolf“ und „Der beste Freund des Menschen“.
Es war noch während meiner Schulzeit, in der Oberstufe, also 12. und 13. Klasse. Noch ein paar Jahre bevor ich erstmals auf einem Psychologensofa Platz nahm. Noch gar nicht daran dachte, dass es soweit kommen könnte. Damit die gleich geschilderte Situation ein wenig greifbarer wird, gebe ich ihm einen Namen: Andreas. Andreas war ein Mitschüler von mir. Wir hatten die gleiche Leistungskurs-Option gewählt: Sport, Englisch, Biologie. Da wir an unserem Gymnasium die einzigen mit dieser Kombination waren, mussten wir für vier Bio-Stunden in der Woche die benachbarte Schule besuchen. Sie war in der City nur knapp einen Kilometer entfernt. Im Prinzip nicht allzu schlimm, bloß, dass man sich immer beeilen musste, um nicht zu spät zu kommen, da sich die Pausen der beiden Schulen ein wenig überschnitten. Vorab muss ich erwähnen, dass die zwei Jahre absolut vergeudete Zeit waren. Mein Abitur im Fach Biologie war der reinste Griff ins Klo: 00 Punkte in der schriftlichen Abschlussprüfung. Ich hatte nichts dafür gelernt und diese Note bereits eingepreist, um mich konzentrierter auf andere Fächer vorzubereiten. Witzig war es trotzdem:
Wir saßen bei der schriftlichen Prüfung im Klassensaal und hatten 5 Stunden Zeit, alle Aufgaben zu lösen. Der imaginäre Startschuss fiel und ich sah mir die Arbeitsblätter an. Manches kam mir irgendwie sogar bekannt vor. Als hätte ich da peripher was im Unterricht mitbekommen, als ich mit meinem Sitznachbar den routinemäßigen „Vier gewinnt“-Marathon spielte. Mein Nachbar war nicht der nervige Andreas, sondern ein dort ansässiger Schüler, an dessen stechenden Kifferatem ich mich allmählich gewöhnte. Er war ein ruhiger Kollege und schnitt wohl ebenso glanzvoll bei der Abiturprüfung ab wie ich, nebenbei bemerkt. Um wieder darauf zurückzukommen: Nachdem ich mir also die Aufgaben in der Prüfung angeschaut hatte und bei 90 Prozent keine Ahnung hatte, was das überhaupt sollte, erkannte ich plötzlich Bekanntes:
Die Evolutionslehre mit Darwin’schem Gesetz und so. Das hatte mich damals im Unterricht überraschenderweise sogar interessiert und musste meinen stoneden Banknachbar um eine „Vier gewinnt“-Pause bitten. Jedenfalls begann ich mit dem Ausfüllen des Abiturbogens, weil es mir unangenehm gewesen wäre, direkt aufzustehen und zu gehen. Wie hätte das denn ausgesehen? Ich wollte da nicht im Mittelpunkt stehen und meine fleißigen Schulkameraden nicht verunsichern. Also schrieb ich ein bisschen was zum Darwin und den Mendelschen Regeln, diesem Genetik-Gesetz mit den Erbsen und blickte dabei ständig auf die Uhr.
Wann wäre der richtige Zeitpunkt gekommen, aufzustehen und abzugeben? So, dass die Prüfer dachten, dass ich nicht nichts wusste, sondern einfach nur verdammt schnell war und mich gut vorbereitet hatte? Spätestens da bemerkte ich erst richtig, wie wichtig es für mich war, zu wissen, was andere über mich denken. Irgendwie hatte ich immer so ein Gefühl, dass auf mich besonders genau geschaut wurde. Lehrer nahmen mich oft im Unterricht an die Reihe, obwohl ich mich kaum gemeldet hatte. Für mich war das immer so, als würden sie mich testen oder bloßstellen wollen. Ich konnte es nicht einordnen. Bis heute stellte ich mir die Frage, haben die etwas in mir gesehen? Dass ich zu mehr in der Lage war, als meine Noten das aussagten? Keine Ahnung. Vielleicht auch nur Paranoia.
Um erneut auf die Abi-Prüfung zurückzukommen: Ich musste einschätzen, wann der richtige Zeitpunkt der Abgabe war. Heute wäre mir das total egal, was andere über mich denken. Die Zeit verging einfach nicht und ich erlaubte mir nochmal die anderen Fragen anzuschauen und in meinem Gesicht huschte ein Grinsen auf. Hatten wir das wirklich im Unterricht durchgenommen? So’n chemischer, Biomolekular-Quatsch mit Mol, bin ich hier überhaupt richtig? Ich sah wieder auf die Uhr. Mittlerweile war fast eine Stunde voller Langeweile rum. Ein schüchterner Blick in die Umgebung, nicht dass die beiden Prüfer noch denken, ich würde abgucken wollen. Das wäre eine Unterstellung und absolut lächerliche Vorstellung. Alle schrieben eifrig, sogar mein für diesen Tag auf Gras-Entzug gesetzte Sitznachbar, diesmal Sitzhinterbar. Hatte er etwa doch fürs Abi gelernt? Es hätte mir auffallen müssen, da er bei „Vier gewinnt“ meistens gegen mich verloren hatte und wohl doch vom nervigen Lehrer vorne an der Tafel abgelenkt worden war. Verräter war mein erster Gedanke. Aber das war nur als Witz gedacht, weil es mir völlig wumpe war. Andreas, der alte Streber schrieb auch fleißig, ein paar Reihen vor mir. Und als ich den fülligen Andi so beobachtete, war ich irgendwie froh, dass ich ihn doch nicht getötet hatte und ich ihn in wenigen Sekunden nie wieder im Leben sehen musste. Aber dazu komme ich gleich. Erstmal noch die Pointe zur Abi-Klausur. Ich zählte den Countdown für die erste volle Stunde der Prüfung und packte dann meine Sachen zusammen und ging mit den Unterlagen nach vorne. Natürlich blieben mir die Blicke meiner Mitabiturienten nicht erspart. Es war ein langer Gang nach vorne zum Prüfer-Pult.
Und die Prüferin staunte nicht schlecht und blickte auf die Uhr. „Sie sind aber früh fertig“, flüsterte sie.
„Ich habe ja auch abgestuft“, antwortete ich trocken und leise, grinste und ging.
Für eine abgestufte Bio-Prüfung waren statt der fünf schließlich nur drei Stunden eingeräumt. War dennoch flott und auch die Prüferin musste schmunzeln. Lag vielleicht auch an den mäßig gezeichneten Karikaturen, die ich im Prüfungsbogen verewigte. War jedenfalls so eine schöne und typische Situationskomik, bei der man einfach dabei sein musste, um sie zu verstehen.
Als ich aus dem mir auch nach zwei Biologie-Jahren fast fremden Schulgebäude ging, fiel eine Last von meinen Schultern. Geschafft. Vorbei. Nie wieder Bio. Nie wieder Andreas. Andreas war eine nervige, fette Klette. Es tut mir leid, das so offen sagen oder besser schreiben zu müssen. Ich habe nichts gegen Kletten. Und auch nichts gegen korpulente Menschen. Aber er hatte eine aufdringliche, penetrante, laute Art an sich. Oh, Mann. Wenn ich nur jetzt schon wieder daran denke… Ich hatte so oft versucht, allein und unbemerkt ohne ihn an die andere Schule zu spazieren, einfach mal 5 Minuten bei dem Fußmarsch abschalten. Doch irgendwie hatte er den sechsten Sinn. Nein, es lag wohl eher daran, dass er die Stunde vorher eine Freistunde hatte und so über genügend Zeit verfügte, seinem Opfer – also mir – aufzulauern. Im Nachhinein tut es mir auch leid, ihn nicht einfach darauf angesprochen zu haben. Ich hatte damals noch nicht den Mumm, ihm ins Gesicht zu sagen, dass er mich mit seinem monoton langweiligen Gelaber tierisch nervt und er gefälligst andere Schüler vollfaseln soll. Neben fehlendem Mut brachte ich es aber auch nicht übers Herz, seine Gefühle zu verletzen. Schließlich war auch schon in den 90ern und 2000ern Mobbing oder Bodyshaming auf neudeutsch weit verbreitet. Und so wartete er immer schon vor meinem Klassenraum auf mich, um mich auf dem schweren Weg zu begleiten. Welche Möglichkeiten hatte ich denn? Mich im Klassenraum zu verstecken, bis er von selbst ging? Hatte ich sogar einmal probiert. Konnte sogar meine Englischlehrerin davon überzeugen, dass sie ruhig gehen könne und den Raum nicht abzusperren brauche. Nach diesem überraschenden Coup streckte Andreas seinen dicken Dickschädel in den Raum und sah mich, weil ich nicht rechtzeitig auf Tauchstation unter den Tisch ging. Einmal dachte ich schon aus dem Fenster zu springen. Waren nur zwei Stockwerke und zumindest im Frühling und Sommer hätte das gepolsterte Gebüsch meinen Verzweiflungsfall ein wenig bremsen können. Andreas war nicht zu bremsen und ich war mir nicht mehr sicher, ob meine Andeutungen nicht klar genug waren. „Sorry Andi, geh schon mal vor, ich muss noch aufs Klo.“ „Oh kein Ding, ich geh besser auch noch.“ Da war’s dann plötzlich verdammt schwer tatsächlich müssen zu müssen. Unangenehme Situation. Zum Glück wollte er nicht das gleiche Pissoir benutzen oder sich mit mir dieselbe Kack-Kabine samt Klostuhl teilen.
Ich hielt mich oft noch nach dem Gong in der Pause mit meinen Schulfreunden im Obergeschoss an der Heizung auf – wir waren ja jetzt die coolen Oberstufenschüler und mussten nicht mehr raus auf den Schulhof.
Der Aufenthaltsraum war von den ganz obercoolen Rauchern und Kiffern besetzt, weshalb die Luft dort auch nicht so ganz frisch war und es mich dort nie wirklich hinzog. Der Gestank kam aus der Atemluft ganz tief aus den verstopften Bronchien der sich schwärzenden Lunge – weil Rauchen und Kiffen war ja drinnen verboten, wohlgemerkt.
Auf jeden Fall konnte ich noch so ein wichtiges Gespräch mit meinen Schulfreunden vortäuschen, Andreas war immer mit von der Partie und übernahm auch gleich die Smalltalk-Runde. Dadurch machte ich mich bei meinen Kumpels und Kumpelinen auch nicht gerade beliebter.
Klar, du denkst jetzt vielleicht, warum ich mich so dranstellte? Von außen ist das ziemlich easy zu sagen. Aber als Beteiligter eine Qual. Selbst, als ich mir beim Sport meinen Fuß gebrochen hatte und ich mit Krücken zur anderen Schule latschen musste, wich mir Andreas nicht von der Seite. Nett, könnte man meinen. Nett wäre gewesen, wenn er mir angeboten hätte, meinen schweren Rucksack zu tragen. Stattdessen watschelte er neben mir mit seiner Laberfresse und mit seinem stinkenden Döner mit extra viel Knoblauch her und fühlte sich bei meinem maladen Zustand bestätigt und beharrte drauf, dass er deswegen kein Sport treibe. Sport ist Mord.
Und da ist das Wort: Mord. Der Gedanke kam mir tatsächlich in den Sinn. Ich malte mir aus, wie schön es wäre ohne die Nervensäge. Und es wäre doch schon irgendwie machbar. Wenn ich mal wieder aufs Klo muss und er mit mir geht und niemand anders da ist… Ein kurzer Schnitt mit dem Klappmesser durch die Kehle. Und selbst da war die Fantasie schon zu viel. Ein übelst anstrengender Versuch die viel zu kleine Klinge durch das dicke Schwabbelfleisch des aus- und wenig einladenden Trippelkinns zu kämpfen. Und falls es doch irgendwie funktionieren würde, wie könnte der drei Zentner schwere Haufen beseitigt werden? Ich war mir im Klaren, leicht wird das Unterfangen nicht – und einfach auch nicht. Ich müsste ihn wohl in einem Stück aufm Klo liegen lassen. Bei den Ermittlungen wäre ich direkt der erste Tatverdächtige wegen Zeugenaussagen der anderen Schüler: „Die beiden wurden immer zu zweit gesehen und waren wohl Best Friends.“ Ja, also warum lag ich nicht ausgeblutet solidarisch neben Andreas? Hätte ich auch noch Schuldgefühle haben müssen, oder so was. Ich konnt’s drehen und wenden, wie ich wollte. Da musste ich durch. Und im Endeffekt habe ich es überstanden – allerdings zu welchem Preis? Was wirkte da auf meine Psyche ein und wie groß war das Zahnrädchen „Andreas“ im Getriebe der instabilen Maschine? Eine Maschine, die nicht mehr zu kontrollieren war.
Mittlerweile denke ich schon manchmal nach, was aus Andreas geworden ist. Ihm ist es mit Sicherheit besser ergangen als mir, sofern er nicht doch noch mit Sport angefangen hat. Und wenn ich ihn jetzt wiederträfe, würde ich ihn in den Arm nehmen und mich bei ihm entschuldigen, dass ich so abweisend zu ihm war – wiewohl er davon nichts mitbekam oder sich nichts anmerken ließ. Vielleicht mochte er mich einfach sehr und das war eben seine Art, es zu zeigen. Abschließend bleibt jedenfalls festzuhalten, dass ich in der Schule nicht zu einem Mörder geworden war. Weder gegenüber einer anderen Person, noch suizidal. Es brauchte dazu mehr als zwei Jahre extreme Genervtheit und wäre außerdem auch keine Premiere gewesen…
Als Kind war ich ein kleiner Entdecker und Abenteurer. In der Freizeit vollzogen mein Bruder und ich unser „Ninja-Training“. Wir wuchsen mit Filmen rund um die speziell ausgebildeten Kämpfer des alten Japans auf, die uns unser Vater vorspielte, wenn er Urlaub hatte und unsere Mutter noch auf der Arbeit war.
Wir kletterten auf Bäume im nicht weit entfernten Wald, suchten uns Stöcke aus, die schön gerade waren, damit wir unsere imaginären Feinde besiegen konnten. Oder spitzten die Stecken an, um auf Jagd zu gehen, um Hasen und Eichhörnchen zu erlegen. Dazu kam es allerdings nie, auch weil Buchecker etwas leichter zu fangen waren und wir uns lieber auf die Rolle der Sammler verständigten. Wir versteckten uns vor vorbeifahrenden Autos, weil wir uns einbildeten, sie seien Dinosaurier, die uns angreifen wollten. Jurassic Park und der 90er Jahre Dino-Hype ließ grüßen. Vielleicht war das aber auch mit ein Grund, weshalb wir als Kinder nie in gefährliche Straßenverkehrssituationen gerieten. Zudem wurden wir von unseren Eltern wohl erzogen, unter anderem, dass man nach links und rechts schaut, bevor man die Straße überqueren möchte oder nicht einfach die Autotür aufreißt, um auszusteigen.
Inzwischen dünkt mir, als wenn das heute sogar die wenigsten Erwachsenen beherzigen, da sich jeder selbst der Nächste ist und die anderen schließlich aufpassen sollen. Die Welt dreht sich zwar, jedoch oftmals nur noch um das eigene Ego selbst.
Eines Tages, ich war etwa 12 Jahre alt, fuhr ich am späten Nachmittag mit meinem Mountainbike allein in den Wald. Mein Bruder war krank und draußen herrschte bestes Frühlings- und Spielwetter. Es war ein schicksalhafter Tag, der ein Puzzleteil, eine Etappe auf dem Weg zu diesem Schreiben und ein einschneidender und entscheidender Eintrag in meinem Lebenslauf werden sollte. Es war eine dunkle Zeit, an der auch meine Eltern zerbrachen, wie ich später herausbekommen hatte. Mit meinem Rucksack bepackt, radelte ich durch das Waldgebiet und erreichte ein umzäuntes, abgesperrtes Gebiet. Dahinter befand sich das Areal einer ehemaligen Müllhalde und einer Kohleabbaustelle. Nach der Stilllegung vor etlichen Jahren hatte sich der Wald sein Gebiet zurückerobert und von den menschlichen Einflüssen war kaum noch etwas zu erkennen. Alle giftigen Altlasten waren begraben und würden sich erst in ein paar Jahrzehnten durch Erosion wieder an die Erdoberfläche bahnen.
Weiter weg vom Waldpfad, hinter Büschen versteckt, gab es ein Loch im Zaun, das auch Wild nutzte, um ins und aus dem Sperrgebiet zu gelangen. Drinnen war ungestörte Natur pur und nachdem ich mein Fahrrad durch den Zaun geschoben hatte, fuhr ich weiter über den unebenen Trampelpfad über eine Wiese und machte nach gut 100 Metern an einem kleinen, abgelegenen Weiher Rast, wo mein Bruder und ich oft Steine übers Wasser flitschen ließen oder uns Duelle lieferten, wer am weitesten warf oder die größten Wasserfontänen und Wellen mit den dicksten Felsbrocken entstehen ließ. Diesmal saß ich einfach nur am Ufer und genoss die Stille. Das war außergewöhnlich für ein hyperaktives Kind, wie ich es war. Doch ich empfand es als beruhigend und wunderte mich über mich selbst. Das sanfte Vogelgezwitscher aus der Ferne und der Wind, der die frischen, grünen Blätter rascheln ließ. Der ätherische Duft der Bäume. Für einen Moment dachte ich an nichts mehr und war einfach nur im Hier und Jetzt. Es war wie ein Zustand in Trance. Ließ mich auf den Rücken in die Wiese fallen und bot eine willkommene Einladung für die blutsaugenden Zeckenbiester. Das war mir in diesem Moment egal und verlor mich in den wenigen Schleierwolken am azurblauen Himmel. Ich schloss die Augen und war kurz vorm Wegdriften ins Land der Träume, als es hinter mir laut knackte. Zuerst dachte ich an ein Eichhörnchen, einen Hasen oder eine sehr dicke Amsel. Ich blieb liegen, blieb bei mir. Plötzlich brachen weitere Äste, es schien noch näher zu sein. Diesmal raffte ich meinen Oberkörper reflexartig auf und drehte mich um.
Was, wenn es ein Fuchs ist? Womöglich mit Tollwut ausgestattet. Oder ein schwarzer Panther? Kein Witz, zur damaligen Zeit war so eine Großkatze aus dem Zoo in der Landeshauptstadt ausgebrochen und es wurde angenommen, dass er sich in die umstehenden Wälder zurückzog. So ein 12-jähriges Menschenfrischfleisch wäre bestimmt eine schöne Abwechslung im Speiseplan.
Es war allerdings kein schwarzer Panther, sondern etwas anderes Dunkles da im Dickicht, einen halbwegs soliden Steinwurf schräg hinter mir. Ich konnte nicht erkennen, was es war und kniff meine Augen, die sich nach meiner Ruhephase erst wieder an das helle Tageslicht gewöhnen mussten. Urplötzlich durchströmte mich pure Angst. Instinktiv war ich jetzt auf eine Flucht vorbereitet und realisierte, dass mein Fahrrad ungefähr auf dem halben Weg zum Gestrüpp lag, wo ich diesen unbekannten Beobachter vermutete.
Nicht nur eine ausgebüxte Wildkatze, sondern auch ein vermisster Junge – zugegeben nicht direkt bei uns im Ort, aber im Umland – sorgte zu dieser Zeit für Unruhe und Sorgen in der Bevölkerung. Und ich bekam jetzt ein schlechtes Gewissen, dass ich an diesem Tag allein aufgebrochen war, ohne meinen Eltern etwas zu sagen. Ich wusste, dass sie mich wegen der Gefahr durch Mensch und Tier nicht hätten allein gehen lassen. Jetzt war ich allein und es raschelte wieder, die Büsche bewegten sich – im Gegensatz zu mir, der noch immer paralysiert auf dem Boden hockte. Das musste sich allerdings ändern und ich setzte mich auf, damit ich wenigstens sofort lossprinten konnte, im Falle, dass – was?
Ich richtete mich weiter auf, ließ meinen starren Blick nicht vom Gebüsch und blieb erst mal stehen, weiter abwartend. Überlebensgedanken schwirrten in meiner Denkmurmel. Sollte ich ins Wasser fliehen? Am Ufer entlang davon rennen und wenn ja, in welche Richtung? Wäre natürlich situationsabhängig. Würde ich vielleicht einen Baum hochklettern, falls es ein wilder Keiler ist?
Und so harrte ich aus. Dann bemerkte ich, wie still es auf einmal war. Alle Vögel waren verstummt, Wind war weg. Die Ruhe war nicht mehr angenehm, sondern beängstigend. Die Ruhe vor dem Sturm. Ich stand weiter nur da, gefühlt noch eine Minute, in angespannter Fluchtposition, meine Oberschenkelmuskeln zuckten schon. Was sollte ich machen? Ich konnte nicht ewig warten. Und wenn es dunkel werden würde, hätte ich noch mehr Schiss. Und die Dämmerung brach allmählich herein. Es waren noch über fünf Kilometer Waldweg bis nach Hause zurück ins Dorf.
Das war das erste Mal, dass ich daran dachte zu sterben. Wie würde es sich anfühlen? Wie würden sich meine Eltern fühlen? Ich verdrängte die schrecklichen Gedanken und musste handeln. In kleinen Schritten bewegte ich mich auf mein Bike zu. Wenn ich es erst mal erreicht habe, bin ich damit schneller als zu Fuß. Auch, wenn das erst auf dem relativ ebenen, schmalen Waldpfad der Fall wäre. Sekunden und ein paar behutsame Tippelschritte später lag das Rad zu meinen Füßen. Weiter ohne meinen Blick vom Gebüsch abzuwenden, schob ich meinen rechten Fuß unter die obere Rahmenstange meines Mountainbikes und hob es langsam an, ohne mich dabei bücken zu müssen. Dann ging alles schnell:
Ich schnappte mit beiden Händen die Lenkergriffe und schwang mich auf den Sattel, trat in die Pedale und war froh, dass ich bei meiner Ankunft am Weiher einen nicht allzu großen Gang eingelegt hatte, sodass ich schnell auf Tempo kam. Ich strampelte wie die Hölle und schoss vorerst am relativ ebenen und harten lehmbodigen Ufer entlang, da mich das fast kniehohe Gras zu sehr ausbremste. Dann bog ich auf die Wiese und auf den kleinen Trampelpfad, durch die Hecke und zwängte mich durch das Loch im Zaun. Nach gut hundert Metern gelangte ich auf den eigentlichen Waldweg zurück. Ich hörte nichts mehr, außer meinen keuchenden Atem, der mir aus der brennenden Lunge schoss und die ratternde Kette, die jetzt hoffentlich nicht auseinander flog. Ich erreichte den Waldpfad und die extreme Anspannung löste sich für einen Augenblick. Ein kurzer Ausdruck der Erleichterung und Freude huschte in mein Gesicht. Ich hatte es geschafft. Dachte ich.
Ein lauter, greller Schrei hinter mir hallte durch die Baumkronen. Er klang nicht böse, nein, er war angsterfüllt. Es war der Schrei eines Kindes.
Die Freude war sofort verflogen und ich radelte weiter.
Wieder ein Hilferuf, der abrupt verstummte. Ich fuhr dennoch weiter. Wollte erst mal meinen eigenen, kleinen Arsch retten. Doch der Schrei fuhr mir ins Mark und ins Gewissen. Was sollte ich tun? Ich sollte helfen. Aber wie? Mobiltelefone gab’s Anfang und Mitte der 90er zwar schon, aber waren noch nicht en vogue bei den meisten und nicht weit verbreitet. Und wenn doch, hätte ich es im Rucksack gehabt. Apropos Rucksack. In diesem Moment fiel mir ein und auf, dass ich ihn in all meiner Panik und Hysterie am Weiher zurückließ. Jetzt nicht wichtig, dachte ich im ersten Moment. Im zweiten allerdings: Da war unter anderem mein Geldbeutel drin. Dabei war das ersparte (Taschen)Geld darin nicht so wichtig. Es waren meine Personalien! Mein Kinderausweis und so’n Zeugs. Man hätte mich und meine Familie finden können. Als Zeuge wäre ich in Gefahr. Als Zeuge von was? Was ist mit dem Kind passiert?
Ich reduzierte mein Tempo, bremste ab und kam zum Stehen. Ich musste zurück. Irgendwas in mir befahl mir, dass ich umkehren musste. Selbst, wenn es noch so irrational war. Ich musste helfen. Die Frage stellte sich nicht, ob es unterlassene Hilfeleistung wäre – mit 12 Jahren. Klar, man sollte sich zuerst in Sicherheit bringen und von dort Hilfe holen oder die Polizei alarmieren. Aber das wäre womöglich viel zu spät. Ich war jetzt hier. Alle Angst war plötzlich weg. Es war nicht mehr ich selbst, der auf dem Waldweg stand und sich nach hinten umschaute.
ES hatte die Kontrolle übernommen. Ich ließ ES zu. Aus mir wurden wir. Und so trat mein Körper in die Pedale und drehte um. All unsere Sinne waren jetzt scharf gestellt. Wir fuhren zurück, durch das Dickicht und durch den Zaun in die Sperrzone. Wir lauschten und spähten und warteten einen Moment. Wir ließen das Fahrrad versteckt im Gebüsch zurück und schlichen uns durch das Gestrüpp in Richtung des freien Felds, wo ich rastete. Wir nahmen Deckung hinter dem Stamm einer großen Eiche und blickten hinaus Richtung Weiher, suchten meinen Rucksack. Er musste irgendwo da liegen. Im noch eingedrückten Gras. Doch so sehr wir uns auch streckten, wir konnten ihn nicht sehen. Er war weg. Und spätestens jetzt war klar, wir waren in Gefahr. Für einen kurzen Augenblick dachte ich wieder an Flucht. ES hinderte mich. ES machte mir Mut. Wir suchten nach Waffen, um uns zu verteidigen und noch mehr – um anzugreifen! Das Ninja-Training machte sich jetzt bezahlt. Der geschulte Blick erkannte sofort einen perfekt handhabbaren Stock mit dem richtigen Maß und Gewicht. Aus einstigem Abenteuerspiel wurde jetzt bitterer Ernst. Mit dem circa 60 cm langen und 4 cm im Durchmesser dicken Knüppel, der einem Baseballschläger ähnelte, in der Hand, streiften wir durchs Unterholz. Unser Blut pulsierte in den Adern. Bereit, wenn es hart auf hart kommt.
Plötzlich ein metallisches Quietschen mit einem unmittelbar folgenden dumpfen Knall. Es hörte sich an, wie das heftige Zuschlagen einer Holztür. Wir waren nicht weit davon entfernt. Und da war sie, gute 20 Meter vor uns. Eine braune Holzhütte, schätzungsweise 4 x 6 Meter mit einem einzigen kleinen Fenster von unserer Seite aus gesehen.
Für einen Bruchteil einer Sekunde wieder ein greller Schrei. Dann sofort wieder Stille. Das Kind ist da drin! Das war jetzt sicher. Und mit ihm sehr wahrscheinlich auch unser Rucksack mit einem Taschenmesser, das ich jetzt zusätzlich gerne zur hölzernen Hiebwaffe gehabt hätte.
Wir schlichen uns geduckt Schritt für Schritt näher an die Tür ran, außer Sichtweite des Fensters. Als wir sie erreichten, hockten wir uns hinter das Scharnier und lauschten an den Brettern. Wir hörten zuerst nichts mehr, dann schwaches Gewimmer. Auf einmal Schritte, die lauter wurden und dann flog die Tür auf. Ein Junge, 16 Jahre, kam herausgestürmt. Ich wich gerade so der Tür aus und hockte daneben, schmiegte mich an die Bretterwand. Der Junge lief, mich nicht wahrnehmend, schnurstracks weiter Richtung Gebüsch und Weiher, hielt sich seine Hände vors Gesicht, vor den Mund.
Wir waren für einen Moment in Schockstarre, als wieder leises Geflenne aus der geöffneten Hütte drang. Nachdem der Teenager aus unserem Sichtfeld verschwunden war und wir nur noch im Hintergrund die verstörenden Geräusche seines Gekotzes vernahmen, machten wir zwei Schritte zur geöffneten Tür und waren bereit, einen kurzen Blick hineinzuwagen. Es blieb nicht bei einem kurzen Blick.
Wir sahen einen weiteren Jungen an der Rückwand der Hütte kauern. Er war circa zwei Jahre jünger als ich, also wie mein Bruder um die 10, hatte einen verdreckten, braunen Stofffetzen um seinen Mund und Nacken gewickelt.
Jetzt erblickte er mich. Sah mich an mit seinen geröteten Augen, aus denen Tränenbäche seinen Wangen hinabrannen.
Und wir sahen plötzlich wie die Verstörtheit in seinem Blick einem Moment der Hoffnung wich.
Er machte keine Anstalten aufzustehen, zu mir zu rennen. Sein Blick wandte sich von mir ab, ging von ihm aus gesehen rechts nach oben. Die schiere Angst in seinen Augen kam zurück. Er sah ihn kommen. Und ich jetzt auch. Zumindest seinen Rücken.
Ein Mann mit Halbglatze trat zu dem Jungen, schaute auf ihn herab. In seiner rechten Hand eine Axt.
Wir konnten nicht glauben, was wir da sahen. Wir wussten, dass wir etwas tun mussten und wir richteten uns auf. Unser Griff um den Stock wurde fester und fester. So auch der des Mannes um den Griff seiner Axt.
Der Junge schrie sich die Seele aus dem Leib, gedämpft durch das feuchte Tuch.
Der Mann hob seine martialische Waffe und wir mussten jetzt handeln. Die lauten Schreie des Jungen würden unsere Schritte auf dem Holz verdecken und wir würden den Mann mit unserem Knüppel niederstrecken. Und so rannten wir los, stürmten auf den Mann zu. Dieser holte aus. Uns kam der Moment wie in Zeitlupe vor, die wenigen Schritte wie Kilometer. Wir sahen, wie die massive Axt runterkrachte und plötzlich war alles SCHWARZ.
Blackout. Ich war weg. Wie in einem zensierten Film fehlte die brutale Szene, wurde herausgeschnitten. Es waren wohl bloß wenige Sekunden gewesen, als ich wieder zu mir kam und mich dem schrecklichen Ausmaß der Gewalt stellen musste. Ich erkannte nur, dass es zu spät war. Und dann schoss mir die unzensierte Originalfassung ins Hirn und ich durchlebte die nur scheinbar ausgelöschten letzten Sekunden von ES wieder.