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Vor 15 Jahren als kleine Kinder in einem Heim in Siebenbürgen wurden sie voneinander getrennt. Jan (20), damals von einem jungen Ehepaar adoptiert und wohl behütet in Deutschland aufgewachsen, macht sich nach einem tragischen Familienschicksal auf den Weg zurück in seine Heimat und auf die Suche nach seiner großen Schwester Flavia, die sich damals liebevoll um ihn kümmerte. Sie hingegen hatte nicht das Glück, der brutalen Gewalt der Heimaufseher zu entfliehen. Doch die Hoffnung, Flavia lebend wiederzusehen, schwindet auf der langen Odyssee voller Rückschläge. Nach all den Strapazen endlich am Zielort angekommen, erwartet ihn der nächste Schock: Das Heim wurde bereits vor Jahren abgerissen und durch etwas ersetzt, was seine schlimmsten Befürchtungen befeuert! Und Niemand hier im Lande Draculas scheint ihm helfen zu können. Er gibt die Suche nach dem fehlenden Stück seines Herzens dennoch nicht auf, bis er in die Fänge eines mysteriösen Fremden gerät und eine Spur zu einem Friedhof führt… Ein düsteres Drama um Geschwister- und Nächstenliebe, das aber auch skurrile, helle Momente der Hoffnung und Freude mit einer immensen Strahlkraft entfacht und dich in seinen Bann zieht!
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Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2023
Martin Wendel
N2
Mein Weg zu dir
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
(1) Im Hier und Jetzt
(2) Kindheit
(3) Schulzeit
(4) Schulabschluss
(5) geplante Abreise
(6) Abreise
(7) Auf dem Weg
(8) Entführt
(9) Erwachen
(10) Ernüchterung
(11) Frei
(12) Weiter geht’s
(13) Mitgenommen
(14) Planänderung
(15) Neue Hinweise
(16) Auf Wiedersehen
(17) Letzte Etappe?
(18) Auferstanden
(19) In Sicherheit?
(20) der nächste Morgen
(21) Erklärungen
(22) Antworten?
(23) Offenbarung
(24) Neue Hoffnung
(25) Dem Ziel so nah
(26) Am Ziel
(27) Wiedersehen?
(28) Wieder vereint
(29) So viel zu erzählen
(30) böse Überraschung
(31) Royaler Besuch
(32) Hammerzeit
(33) Auf der Spur
(34) Der Palast
(35) Im Traumschloss
(36) Der Tag davor
(37) Showdown
(38) Nach Hause
Epilog
Impressum neobooks
Martin Wendel
N2
Drehbuch- und Buchautor Martin Wendel wurde im späten 20. Jahrhundert auf dem Planeten Erde geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik und nutzt seine Kreativität und Fantasie, um unterhaltsame Geschichten zu schreiben, welche Menschen begeistern und Denkanstöße liefern. Seit Jahren versucht er, so nachhaltig und ressourcenschonend wie möglich zu leben.
Martin Wendel
N2
Drama
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Martin Wendel
Umschlag: © 2023 Copyright by Martin Wendel
Verantwortlich
für den Inhalt: Martin Wendel
www.martinwendel71.de
Druck: neobooks – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Dieses Werk – inspiriert von wahren Ereignissen – ist für:
alle Einzelkinder, die keine Geschwister haben,
für alle Einzelkinder, die gerne Geschwister gehabt hätten,
für alle Geschwister, die gerne Einzelkinder gewesen wären,
für alle Geschwister, die füreinander da sind,
für alle, die sich in andere Menschen hineinversetzen und gerne Bücher lesen,
für ALLE.
Bei deiner Lektüre wünsche ich dir spannende Unterhaltung und viele Emotionen!
Mein müdes, mit Schrammen von harten Schlägen gezeichnetes, dreckiges Gesicht starrt aus dem verschmierten Rest der Fensterscheibe eines alten, klapprigen Kleinbusses, der über eine unbefestigte Straße durch ein rumänisches Dörfchen rumpelt. Es ist eine ländliche Gegend und zusammen mit den vereinzelten, alten Steinhäusern und Holzhütten scheint die idyllische Landschaft noch im 19. oder frühen 20. Jahrhundert gefangen. Wenn hier ein Fahrzeug entgegenkommt, handelt es sich meist um eine Pferdekutsche. Und falls ich hier doch ein Auto sehe, steht es verrostet am schottrigen Wegesrand. Hier sind kaum Menschen. Da, ein alter Mann führt seine abgemagerte Kuh aus.
Ich schaue kurz rüber auf den einzigen Fahrgast außer mir und dem vollbärtigen Busfahrer. Die betagte, mittellose Dame sieht mich ebenfalls an und wirkt genauso ausgelaugt wie ich. Nur, dass es ihr Alltag ist. Zwei verlorene Seelen auf dem Weg ins Nirgendwo.
Meine dünne Kleidung, bestehend aus einem ehemals schneeweißen Baumwollshirt und bequemer schwarzer Jogginghose, ist schmutzig und zerrissen. Meine Füße semi-nackt, da sie in drei Nummern zu kleinen, alten, braunen Sandalen stecken, deren dünne Sohlen sich bereits auflösen. Meine asics-Lieblingsturnschuhe sind weg. Genau wie mir mein Reiserucksack mit meiner übrigen Kleidung, meinem Laptop und Geldbeutel samt Ausweisdokumenten geraubt wurde.
Nicht aufgebend, sondern angetrieben von meinem sehnsüchtigsten Wunsch, schreibe ich an diesem Nachmittag im Spätsommer mit einem halb abgebrochenen, stumpfen Bleistift in meinen zerfledderten Notizblock vor mir auf dem Schoß.
Mein Weg zu dir. Ich werde dich finden.
Aber erst mal zu mir:
Ich bin Jan, Rumäniendeutscher, und was folgt, ist meine Geschichte. Eine Reise in meine Vergangenheit, die mich viele Tränen kostete. Wie ich meine schreckliche, frühe Kindheit (über)lebte und im Alter von 5 Jahren nach Deutschland kam und von meiner Schwester getrennt wurde. Mit der Hoffnung im Herzen, sie eines Tages wiederzufinden, begann ich mein Abenteuer mit dem Ziel zurück in meine Heimat und stieß bisher auf Gewalt, Einsamkeit, Ernüchterung, Frust und den Tod. Um mir über all meine Erlebnisse und Gefühle klarzuwerden, musste ich sie hier in diesem Notizblock niederschreiben und hoffe, dass daraus ein starkes Buch entsteht und dich meine Story mit all ihren Ereignissen emotional mitreißt.
Das ist meine Autobiographie – im Alter von 20 Jahren.
Dann am besten mal von vorne, wie alles begann oder woran ich mich mit meinem massiv schmerzenden Brummschädel überhaupt noch erinnere…
Vor 15 Jahren – ich war also 5 – kauerte ich als kleiner Bub, damals noch als Ioan, auf dem Fußboden in den Armen eines älteren Mädchens. Wir waren allein in einer dunklen, stickigen Kammer eingeschlossen und zitterten vor Angst. Das Mädchen, das mich umklammerte und mein kleines Herz rasen spürte, war meine drei Jahre ältere Schwester Flavia.
Wir waren hier in einem Kinderheim in der Region Siebenbürgen als Rumäniendeutsche aufgewachsen. Was mit unseren leiblichen Eltern geschah, habe ich bis heute nie erfahren. Wir und der Großteil der anderen rund 45 Kindern wurden zweisprachig erzogen, wobei sich das Deutsch hier ein klein wenig von dem Hochdeutschen unterschied.
Von draußen hörten wir die knarzenden Bretter des Holzbodens. Die Schritte kamen näher und wir beide rutschten bis zur Rückwand der kleinen Kammer und hielten einander fest. Unter der Türschwelle durchbrach ein Schatten das hereinfallende Licht. Jemand war da.
Flavia und ich atmeten schnell aber so leise wie möglich.
Es war kein normales Heim – es war die Hölle!
Die Tür wurde aufgerissen. Das Licht blendete uns in der hintersten Ecke des Abstellraums, versteckt hinter einem Regal und Pappkartons.
Die Pflegerin (50) trat zusammen mit zwei etwa gleichalten Heimaufsehern ein, denen sie an der Tür Platz machte. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis sie uns ausgemacht hatten. Unter Tränen und heiserem Geschrei packten sie uns, rissen uns auseinander und zerrten uns aus dem Raum.
Wenige Minuten später rutschte klein-Jan auf Knien mit einem Lappen auf dem Boden des Badezimmers herum. Wischte Waschbecken, Badewanne und die Toilette. Blut, Schweiß und Tränen war nie passender.
Wir Kinder waren Sklaven. Wer das Klo putzen durfte, hatte sogar Glück! Es war nicht die Arbeit der Mädchen.
In einem großen Hinterzimmer saßen etwa zwei Dutzend und somit fast alle Mädchen des Heims auf Stühlen – nur in Unterwäsche gekleidet. Keines war älter als 10 Jahre. Sie alle wussten, was gleich geschah, was ihnen drohte. Manche wimmerten leise, andere wiederum waren ganz still, apathisch, waren geistig nicht mehr anwesend und innerlich leer, ausgezehrt.
Einer der Heimaufseher bewachte die Tür und öffnete sie, als es zweimal klopfte.
Ein Trio aus schick in dunklen Anzügen gekleideten Herren betrat den Raum und musterte sofort ein Kind nach dem anderen. Darunter auch Flavia.
Nach expliziter Begutachtung und Tuch- oder besser Hautfühlung suchten sie sich jeweils ein Opfer – pardon – Mädchen aus, nahmen es freundlich an der Hand und verließen mit ihm das Zimmer.
Ich werde kurz aus meinen über die Jahre verdrängten Gedanken gerissen, als der Kleinbus in der Jetztzeit mit mir und der älteren Frau über den unebenen Weg durch den Wald ruckelt. Damals war ich noch zu jung, um alles zu verstehen. Doch mittlerweile weiß ich, dass ich wohl bis zum Alter von 10 Jahren Karriere als Botenjunge für Drogen oder zum Bestehlen von Touristen gemacht hätte. Aber in diesem Augenblick weckt die Busfahrt schlimme Erinnerungen:
Es war an einem Morgen, vielleicht drei, vier Tage nachdem sie uns aus unserem Versteck in der Abstellkammer herausgezerrt hatten. Ich saß neben Flavia in einem ähnlich klapprigen Bus. Er war nur als Schulbus deutlich größer und hatte mehr Sitzplätze, da auch knapp drei Handvoll anderer Kinder mit an Bord waren. Hin und wieder durften wir raus. Vielleicht nur, um uns Hoffnung zu machen und um uns einzureden, dass es uns hier gefällt. Wir kannten nix anderes als die Mauern des Heims und uns wurde Tag für Tag eingetrichtert, dass es uns hier besser ginge als draußen in der kranken und grausamen Welt. Aber was war diese Welt überhaupt? Und wie konnte es noch schrecklicher sein? Die meisten von uns konnten es nie erfahren.
Flavia drückte meine Hand, die sie die ganze Zeit während der Fahrt hielt. Ich schaute zu ihr rüber und sie lächelte mich an. Sie sah seit langem wieder einigermaßen glücklich aus – wenn man die Umstände bedenkt. Sie stach mich damit an und so durchströmte auch mich das seltene Gefühl der Freude und Geborgenheit. Uns war es nicht erlaubt zu reden und so nickte sie runter auf meine Schuhe, die wieder einmal nicht geschnürt waren. Flavia schaute kurz, ob der Aufseher vorne beim Busfahrer, der ebenfalls ein Eingeweihter des Verbrechens an Kindern war, sie im Blick hatte.
Nein, er witzelte mit dem Fahrer und war somit abgelenkt.
Flavia und ich gingen auf Tauchstation. Sie lehrte mich, wie man Schuhe schnürt. Genauso wie sie es war, die mir nachts leise Geschichten vorlas, wenn ich nicht einschlafen konnte. Erst heute weiß ich es umso mehr zu schätzen, weil sie selbst noch ein kleines Kind war – und doch schon so stark. Sie war mein Vorbild, meine beste Freundin, meine Ersatzmutter, sie war alles! Und eben meine große Schwester.
Und ich war stolz und fühlte mich wie ein König, als es mir endlich gelang, zum ersten Mal meinen Schuh selber zu binden. Heute und von außen betrachtet, war es so etwas Banales und doch bedeutete es in jenen Momenten die Welt. Wir waren gezwungen, schnell erwachsen zu werden, wenn man das so nennen konnte. Ohne Flavia weiß ich nicht, wie und ob ich alles durchgestanden hätte.
Flavia, die anderen Kinder und ich tobten ausgelassen im flachen Gewässer eines wunderschönen Waldsees und waren tatsächlich glücklich. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen es uns nach kurzer Adaption gelang, loszulassen. Frei zu sein. Und in dieser kurzen Zeit verdrängten wir alle, dass der Horror zurückschlagen würde. Hart.
Der Heimaufseher lehnte gemeinsam mit dem Fahrer am Bus und beobachtete vom Ufer aus das Treiben im Hintergrund. Sie pafften Zigaretten und es schien ihnen sogar zu gefallen, uns Freiraum zu geben und uns nicht ständig mit Rohrstöcken zu drangsalieren und zu misshandeln.
Wir bekamen bei unserem Geplansche nicht mit, wie sich zwei große, schwarze Limousinen dem Bus näherten und dort am Ufer unter den Bäumen stehen blieben. Insgesamt entstiegen vier in schwarz gekleidete Männer den Edelkarossen.
Am selben Tag, es war inzwischen Nacht, befanden wir uns auf der Heimreise zurück ins Heim. Ich saß in Flavias Arm. Die so seltene heitere Stimmung von vor wenigen Stunden war wie weggeblasen und wich wieder dem Grauen, da wir realisierten, dass der Bus auf der Rückfahrt nur noch halbvoll war. Wir verloren Freunde, die wir nie wieder sahen. Meine größte Angst war, dass wir eines Tages als Geschwisterpaar voneinander getrennt würden. Ich wusste nicht, was ich ohne Flavia machen würde. Wie ich mein tristes, kleines Leben ohne sie weiterleben könnte.
Als ich kurz zu ihr aufblickte, ohne dass sie es bemerkte, sah ich auch ihre Sorgen in ihren leeren Augen, die starr geradeaus gerichtet waren.
Sie wog ihren kleinen, müden Bruder sanft hin und her und strich mir sachte durchs strähnige, zerzauste und inzwischen getrocknete Haar. Auch, wenn es unumgänglich war und zur Routine werden musste, die eigenen Gefühle zu ersticken, um das tägliche Martyrium zu überstehen, wusste sie, dass es mir gut tat. Dass ich dennoch ihre Nähe und Liebe spürte. Sie war immer für mich da. Sie – nur SIE – war meine einzige Hoffnung.
Eines Abends saßen wir mit den anderen Heimkindern im Speisesaal an den Tischen und aßen trockenes Brot mit Obst und Gemüse aus der Umgebung. Nein, wir fraßen! Mit bloßen Händen ohne Besteck schlangen wir wie Tiere unser Futter herunter, da wir nicht wussten, wann wir wieder solch ein Festmahl genießen würden. Es gab oft tagelang nur abgestandenes Regenwasser aus dreckigen Pfützen – zur Strafe, wenn wir wieder nicht produktiv genug waren. Sauberes Wasser aus der Leitung war unsere Belohnung. An diesem Abend hatten wir die Ehre. Natürlich war es eine Erleichterung unsere ausgezehrten Körper mit den nötigen Nährstoffen zu versorgen. Dennoch war es der Auftakt zu einem bösen Omen. Vor allem, da wir in den darauffolgenden Tagen noch frischeres, gesünderes Essen bekamen und wir sogar mit Messer, Gabel und Löffel ausgestattet wurden. Wir wurden zivilisiert aus einem bestimmten Grund: Um den Schein zu wahren. Dass all das normal sei.
Es kam der nächste Abend und mit ihm ein silberner Kombi, der die Einfahrt des Heims hinauffuhr und vor den massiven, eisernen Toren anhielt.
Ein junges Pärchen entstieg dem Vehikel: Johanna (28) und Paul (30) schauten sich um und machten gemeinsam ein paar Schritte zur Pforte. Dort wurden sie bereits von der dürren und sonst so strickten und kaltherzigen Heimleiterin (55) überfreundlich und herzlichst empfangen und hereingebeten.
Und dann schien die Zeit gekommen zu sein.
Ich lag zusammen mit den anderen Insassen meines Alters im dunklen Schlafzimmer mit etlichen Hochbetten, als ich von draußen auf dem Flur die zum Teil fremden Stimmen hörte. Die Tür öffnete sich und ich zuckte reflexartig kurz zusammen, obwohl ich damit gerechnet hatte.
Die Heimleiterin schaltete das fahle Licht der einzigen Glühbirne im Raum an.
Dennoch drehte ich mich lieber weg, um nicht geblendet zu werden – oder schlimmeres. Ich hörte die Heimleiterin flüstern, um nicht alle Mitbewohner in diesem Zimmer zu wecken.
Sie trug eine Akte in ihren Händen und führte das junge Elternpaar in den Raum.
Ich erinnere mich nur noch, wie ich betete und hoffte.
Doch dann ging alles schnell. Unter heiserem Geschrei und schlimmsten Weinen wurde ich im Schlafanzug am Arm von der Heimleiterin aus dem Zimmer über den Flur gezerrt. Sah die Gesichter von Johanna und Paul zum ersten Mal – verschwommen wegen der Tausend Tränen. Erkannte, dass sie sich sichtlich unwohl in dieser Situation fühlten. Sie hielten meine Unterlagen aus der Akte in den Händen.
Bei strömendem Regen und in tiefster Nacht wurde ich in Johannas Armen aus dem Heimkomplex zum Wagen getragen und von ihr getröstet.
Doch ich weinte und wimmerte noch immer.
Paul verabschiedete sich von der Heimleiterin und eilte ebenfalls zum Auto.
Bevor ich mit meiner neuen Mutter hinten auf dem Rücksitz Platz nahm, erhaschte ich einen ganz kurzen Blick hoch zu einem Fenster, wo ich sie zum letzten Mal sah:
Flavia. Wie sie unter Tränen oben an das verschlossene Fenster hämmerte und mitansehen musste, wie ihr kleiner Bruder sie verließ. Für immer!
Es brach mir mein Herz, wie ich sie weinen sah. Wir wussten, dass es eines Tages passieren würde. Und auch ich wusste, dass es ihr Herz brach, mich gehen zu sehen. Doch ich wusste auch, dass sie zugleich froh war, dass ihr Brüderchen wohl eine bessere Zukunft haben würde als wenn er hier bliebe.
Oder von den Männern in schwarz mitgenommen würde.
Flavia klammerte sich an den Fensterrahmen und erkannte, wie die roten Rücklichter des Wagens immer kleiner wurden. Sie wurde von der Heimleiterin an der Hand genommen und weggerissen.
Ich wünschte bloß, ich hätte mich von Flavia richtig verabschieden können. Auch, wenn es in diesem Fall kein „richtig“ gab. Es war falsch. Alles war falsch!
Wir haben einander geschworen, aufeinander aufzupassen. Flavia wusste, dass es mein größter Wunsch war, sie so schnell wie möglich wieder zu besuchen, sie abzuholen.
Dicke Regentropfen prasselten nieder und schlugen aufs Autodach ein.
Nach gefühlt stundenlangem Weinen lag ich zitternd, kraftlos und verträumt in Johannas Arm, die mir Trost zusprach und mich wie Flavia zart hin und her wog. Mit dem Unterschied, dass mir in diesem Moment nicht die vertraute, einzigartige, unersetzliche Liebe in mein kleines pochendes Herz fuhr.
Ich dachte damals nicht, dass es 15 verdammte Jahre dauern würde, bis ich mich auf den Weg machte. 15 lange Jahre, an denen ich jeden scheiß Tag an sie gedacht habe. Mit jedem scheiß Tag wuchs die Angst, dass die Spuren der Erinnerung verschwimmen. Die Angst, sie nie wieder zu finden, sie nie wieder zu sehen. Nie mehr lebendig.
Auf der Fahrt durch die Finsternis versuchte ich wach zu bleiben, mir die Umgebung, den Weg einzuprägen, um so schnell wie möglich zurückzukehren. Doch die bleierne Schwere zerrte an meinen Augenlidern und so sehr ich auch dagegen ankämpfte, glitt ich irgendwann ins Reich der Träume ab. In der Hoffnung aus dem Alptraum meines bisherigen jungen Lebens aufzuwachen. Ich träumte davon, dass es irgendwo da draußen eine gerechte Welt geben würde. Dass irgendwo da draußen in der Menschheit auch Menschlichkeit existierte. Doch was ist das für eine Welt, die so eine Entführung gut heißt? Wo würde ich hingebracht?
Als ich allmählich wieder zu mir kam und die Augen öffnete, war es bereits hell. Ich lag noch immer in Johannas Armen, die nun selbst zu schlafen schien. Als ich aus dem Autofenster blickte, schrak ich auf. Mit hoher Geschwindigkeit rasten wir über die asphaltierte Autobahn, welche ich zuvor nicht kannte. Und noch vieles mehr würde ich bald kennenlernen müssen. Die Felder und Bäume ringsum der Fahrbahn schossen nur so vorbei. Im Hintergrund riesige Windräder und Häuser, die eng beieinander standen. Dörfer, Orte, Städte. So sah es also aus außerhalb des Heimgemäuers. Ich verspürte jedoch kein Heimweh – nur Flaviaweh. All die neuen optischen Eindrücke musste ich erst verarbeiten. Ich zuckte erneut zusammen, als auf der Landstraße links von uns ein laut donnernder Sportwagen vorbeischoss. Das bemerkte auch Johanna und wurde wach. Sie blickte sich kurz um und wir sahen einander an.
„Da vorne machen wir mal Halt und eine kurze Pause“, sagte Paul und wir bogen auf einen Rastplatz im Wald ab.
„Willst du was essen?“, fragte mich Johanna und griff nach hinten in den spatiösen Kofferraum und zog eine Kühltasche hervor.
Ich schwieg und schüttelte den Kopf.
„Wir haben belegte Brötchen, hartgekochte Eier, Kekse zum Knabbern und hier – etwas Süßes“, versuchte sie mich mit Gummibären zu ködern und zu überzeugen.
Ich blieb jedoch stur und trotzig, obschon der längst vergangene Appetit allmählich wiederkam.
„Wir vertreten uns mal kurz die Beine und danach ruhen wir uns ein bisschen aus. Die Hälfte ist geschafft“, teilte Paul mit.
Widerwillig spazierte ich an Johannas Hand über den Waldweg, während Paul im Auto blieb und fehlenden Schlaf noch von der Hinreise nachholte.
Ja, ich wollte davonlaufen. Einen günstigen Moment nutzen. Nur wohin? Zu meiner eigenen Überraschung hinderte mein noch junger, kindlicher Verstand den Drang. Und so blieb es vorerst bei einem Willen.
Es dämmerte bereits, als ich mich zu einem hartgekochten Ei mit Salz durchrang und wir uns auf den weiteren Weg machten. Mit der Nacht brach auch die Müdigkeit über mich herein. Bis zum nächsten Morgen, als die Sonne aufging.
„Oh, wir sind gleich zuhause“, sprach Johanna leise, worauf auch Paul vorne in den Innenspiegel schaute und zustimmte.
Es war nicht mein „zuhause“. Es war fremd. Ich hatte Angst.
Kurze Zeit später rollte der Kombi durch einen ruhigen Vorort, der mir dennoch wie eine triste, graue Betonwüste vorkam. Wir hielten an einem zweistöckigen Einfamilienhaus an und Paul schaltete den Motor ab. „So, geschafft.“
Wir stiegen aus dem Auto und Johanna nahm mich an der Hand und führte mich durch den Vorgartenpfad zur Haustür, die sich wie von Geisterhand öffnete. Die Geisterhand gehörte allerdings doch nur einer Oma (über 60), die aus dem Haus trat und das von der langen Fahrt müde gewordene Trio begrüßte. Zusammen mit einem kleinen Jungen: Andreas (6), der knapp ein Jahr älter war als ich und ebenso schüchtern wie ich wirkte und sich an Omas Hosenbein klammerte. Er taute auf, als er von seinen Eltern in Empfang genommen wurde und wir alle einander vorstellten. Nur, dass ich noch immer kein Wort herausbrachte.
Ich verlor meine Schwester und hatte plötzlich einen Bruder?
Andreas war zurückhaltend und hielt mir dann seine rechte Hand hin und musterte mich.
Zögerlich streckte ich ihm auch meine entgegen, als er sie wieder wegzog – und mich umarmte. Für einen kleinen Moment, zuckte ich erneut zusammen, da ich darauf – wie auf alles zuvor – nicht vorbereitet war. Doch ich spürte rasch, dass es gut tat. Sein Herz schlug genauso schnell wie meines. Schon in diesem flüchtigen Augenblick realisierte ich, dass wir einander ähnlich sind. Da war gleich eine gewisse Vertrautheit, die es für mich ein wenig leichter machte.
Und um mich herum waren alle glücklich. Die Oma herzte die Eltern und strich auch mir über die Wangen. Gemeinsam betraten wir mein neues Heim.
Ich war nun in einem fremden Land meiner vermeintlichen Vorfahren, die ich nie kennenlernte und die mich aus welchen Gründen auch immer in dieses schreckliche Heim abgeschoben haben. Ich war in Deutschland und hatte eine neue Familie. Wenigstens musste ich keine neue Sprache erlernen, was mir die Eingewöhnungszeit erleichterte. Zu Beginn sträubte ich mich gegen eine Eingewöhnung, da ein sehr wichtiger Teil von mir in Rumänien zurückblieb. Ich löcherte meine Adoptiveltern nach Flavia und wollte, dass auch sie hier aufgenommen würde. Ich verstand nicht, wieso das nicht möglich gewesen sein sollte. Mit der Zeit erfuhr ich, warum ich hier gelandet war. Bei Andis Geburt gab es Komplikationen und Johanna und Paul konnten keine eigenen Kinder mehr bekommen. Und so wurde ich zu ihrem sehnlichst gewünschten zweiten Sohn und Andis Brudergeschenk. Wie sie auf die Adresse des Heims kamen, hab ich bis heute nicht rausgekriegt. Meine Geschichte geht im Zeitraffer weiter und springt drei Jahre vor – in die Grundschule.
Der Kombi parkte in einer Reihe von anderen Fahrzeugen, deren Besitzer ihren Nachwuchs zur Schule brachten. Paul öffnete den Kofferraum und reichte Andi und mir unsere Schulranzen. Er verabschiedete seine beiden Söhne, inzwischen 8 und 9 Jahre, und schaute ihnen stolz hinterher, als sie in einem Wettrennen zum Eingang stürmten.
Meine Schulzeit begann holprig. Meine Neu-Eltern sahen sehr oft das Büro des Schuldirektors von innen, da ich häufig in Raufereien verwickelt war. Als zurückhaltender Junge fiel ich leicht anderen unerzogenen und verwöhnten Bengeln zum Opfer, die meinten, sie könnten sich alles erlauben. Im Kontrast zu denen durchlief ich allerdings bereits die richtig harte Schule und war nicht gewillt, dass mich die Schreckensszenarien aus der Vergangenheit wieder einholten und lernte mich zu verteidigen.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich eingelebt hatte. Doch ich war mit vollem Einsatz und Eifer dabei. Wollte so schnell wie möglich lesen und schreiben lernen, um Briefe an Flavia zu schicken.
Wieder einmal wälzte ich mich mit einem streitsuchenden Mitschüler auf dem Boden des Schulhofs herum. Der Auslöser des Ringkampfes lag neben uns im Dreck: Mein belegtes Pausenbrot!
Streit ums Pausenbrot. Ziemlich trivial, ich weiß. Doch es ging um viel mehr. Es war von meiner Mama und mit Liebe gemacht. Darum ging es. Außerdem erinnerte ich mich wieder, wie froh ich damals im Heim war, wenn ich einmal am Tag was zu essen bekam. Ich hab den Scheißer auch vorher höflich gewarnt, doch er wollte nicht hören.
Ich drehte ihn auf den Rücken und gewann die Überhand, als der Freund meines Gegners von hinten auf mich sprang und meinte, sich einmischen zu müssen. Er würgte mich und versuchte mich hoch zu zerren.
Im Heim war ich es gewohnt, um mein Essen kämpfen zu müssen. Auch, wenn ich gelernt habe, es zuerst mit Worten zu versuchen – manche kapieren’s einfach nicht anders.
Mein zweiter Angreifer schnürte mir weiter die Luft ab und warf mich zur Seite mit Schwung zu Boden und trat mit seinem Bein auf meinen Brustkorb und hielt mich so unten. Derweil raffte sich auch mein Ursprungsgegner auf und beide schauten triumphal auf mich herab. Bestärkt, sich für seine ehemals bevorstehende Niederlage rächen zu müssen, krempelte Streithahn #1 seinen Ärmel hoch und holte zum finalen Schlag in meine Visage aus.
Ich ahnte schon, dass heute Nachmittag wieder meine Eltern vorsprechen müssten – aber diesmal…
… sah ich die beiden über mir mit einem gewaltigen Ruck wegfliegen!
Mein Bruder Andi sprang ins Getümmel und stürzte sich auf die beiden. Er schubste sie weg und stellte sich schützend vor mich, während ich mich langsam aufrappelte.
Auf Andi war Verlass. Ein kurzer Blick zwischen uns, ob alles okay war, genügte und er drohte den beiden Rüpeln, die bloß einander zunickten, sich umdrehten und das Weite suchten, in der Hoffnung ein leichteres Pausenbrotopfer zu finden.
Das war mein letzter Streit in der Schule.
Andi hob mein Sandwichtoast auf und sah es sich an – total verdreckt. Als ich es nehmen wollte, schmiss er es in die Hecke des Schulhofs – die Ratten freuten sich darüber bestimmt mehr als über das Gift, das die Schulleitung eine Woche zuvor verteilt hatte – und packte seins aus dem Ranzen.
Wir setzten uns auf eine Holzbank und er teilte mit mir sein Sandwich. Wir ahnten nicht, dass sich die Raufbolde von hinten durchs Gestrüpp anschlichen und sich ihre Niederlage nicht eingestehen wollten. Sie fielen über uns her und die Rauferei ging in die zweite Runde. Nach unfairer Hinterrücks-attacke wenigstens jetzt zwei gegen zwei. Okay, DAS war nun wirklich mein letzter Streit in der Schule. Und nur so nebenbei: Wir haben gewonnen.
Wir wurden beste Freunde und echte Brüder.
Nachts saßen wir oft in unserm Kinderzimmer zusammen unter der Bettdecke und lasen mit der Taschenlampe heimlich Gruselgeschichten. Die Tür öffnete sich und Johanna spitzte in den Raum. Sie tat so, als ob sie uns unter dem Hügel im Bett nicht sähe und watschelte suchend im Raum umher. Als sie am Bett angelangt war, riss sie die Bettdecke hoch und wir alle drei erschraken und lachten. Sie setzte sich zu uns, nahm uns die Taschenlampe ab und erzählte uns zur Abwechslung zur Horrorlektüre eine kleine Wohlfühlgeschichte, damit wir überhaupt einschlafen konnten. Danach nahm sie mich an der Hand und brachte mich fünf Schritte weiter in mein Bett am Fenster des Schlafzimmers, wo sie mich zudeckte.
Ich weiß, spätestens ab der Grundschule ist es vielen Jungs peinlich, noch von seiner Mama ins Bett gebracht zu werden. Für mich war’s einfach nur klasse – geliebt zu werden.
Johanna küsste mir auf die Stirn und ging dann rüber zu Andi, der sich – wie die vielen anderen Jungs – verschämt wegdrehte, um der ach so fiesen Knutschattacke zu entgehen. Er war es eben gewohnt, seit frühester Kindheit eine fürsorgende Mutter zu haben, die ihn liebte.
Johanna verabschiedete sich und löschte das Licht.
Ich hatte Glück, dass mein Leben so wurde, wie es für jedes Kind sein sollte.
Ich starrte an dem leuchtenden Nachthimmel an der Zimmerdecke vorbei aus dem Fenster auf den echten hellen Vollmond, dessen reflektiertes Sonnenlicht meine Tränen auf den Wangen zum Glänzen brachten.
Und trotzdem: Ich dachte jeden Tag an Flavia. Dass sie nicht dieses Glück hatte.
Auch, wenn meine Eltern mich liebten, muss ich ihnen bis heute vorwerfen: Sie haben mir versprochen, Flavia zu besuchen. Ich hab sie immer wieder darum angefleht. Nächte durchgeweint. Doch es kam nie dazu.
Plötzlich lag jemand neben mir im Bett. Er umarmte mich und sprach mir Mut zu. Andi hatte wohl mein Schluchzen gehört.
Andi und ich waren unzertrennlich.
Einige Jahre später: Ich war inzwischen 12 Jahre und saß bei einer Klassenarbeit.
Ich hab’s aufs Gymnasium geschafft. Obwohl ich mit meiner Vorgeschichte nicht dafür geschaffen schien.
Der hagere Klassenlehrer (55) tigerte zwischen uns hochkonzentrierten Schülern umher und schaute über seine Lesebrille neugierig über unsere Schultern.
Andi war ein Vorzeigeschüler mit Bestnoten. Er bekam sogar eine Auszeichnung bei einem literarischen Schülerwettbewerb für eine spannende Kurzgeschichte. Da zahlten sich unsere heimlichen Lesemanöver unter der Bettdecke wohl aus. Er war eine Klassenstufe über mir und half mir, wenn immer Hilfe von Nöten war – also in bestimmten Fächern oft.
Der Klassenlehrer blieb hinter mir stehen und sah mir beim Lösen der Matheaufgabe zu. Das war nicht gerade konzentrationsfördernd und machte mich nervös. Als er mir weiterhin seinen Atem – wenigstens kaute er Pfefferminzkaugummi – in meinen Nacken hauchte, drehte ich mich genervt zu ihm um und bat ihm meinen Füller zum Schreiben an, falls er mir noch dichter auf die Pelle rücken wollte.
Der Lehrer schmunzelte, lehnte dankend ab und suchte sich sein nächstes Opfer.
Ich hingegen war eher Mittelmaß bis schlecht. Oft hibbelig wurde mir attestiert, ADHS würde wohl passen. War geistig abwesend und flüchtete mich oft in Tagträume. Dass Andi die Idee zu seiner Kurzgeschichte von mir hatte, würde mir sowieso keiner glauben. Also ließ ich ihm gönnerhaft den Ruhm und Erfolg. So wurde ich zum Vorzeigesportler der Familie. Und in der Tat verdanke ich meinen sportlichen Leistungen, dass der Notendurschnitt nicht ganz so mies ausfiel und ich’s Abi später überhaupt geschafft hab.
Eines Morgens saß ich im überfüllten Wartebereich des Sozialamts und starrte müde runter auf meine gezogene Nummer in den Händen.
Ich hatte die Schule geschwänzt, um irgendetwas über mich und meine Herkunft zu erfahren, was mir helfen würde, meine Schwester wiederzusehen.
Mit einem kurzen Gong erschien meine Nummer 071 mit einem zugewiesenen Sitzplatz auf der Anzeigetafel.
Ich checkte nochmal schnell das Kärtchen, stand auf und betrat das Großraumbüro durch die massive Glastür.
Drinnen angekommen machte ich meine blondgelockte und hornbebrillte Sachbearbeiterin (60) am Fenster aus, die sich noch schnell eine Praline zwischen die Kauleisten schob. Sie bemühte sich gar nicht erst ihre Skepsis zu verbergen, als dieser junge Teenager mit Schulranzen auf sie zukam.
Ich öffnete meinen Geldbeutel, zeigte meinen Ausweis vor und hoffte, dass die Dame irgendetwas damit anfangen konnte. Während sie zögerlich und widerwillig meinen Kinderpersonalausweis entgegennahm, kramte ich auch noch ein paar Adoptionsunterlagen aus meinem Rucksack, die ich von zu Hause gestohlen hatte. Ich fragte sie, was sie benötigte und an wen ich mich noch wenden könnte, um mehr über mich und meine Herkunft zu erfahren.
Sie schüttelte ihren überschminkten Kopf und gab mir meinen Pass und die Unterlagen zurück.
Niemand konnte und wollte mir weiterhelfen.
Sie wollte mich bloß noch verabschieden, nachdem ich meine Sachen im Ranzen verstaut hatte und setzte noch so was Ähnliches wie ein mitfühlendes Lächeln auf.
Enttäuscht und bockig blieb ich vorerst mit verschränkten Armen sitzen.
Die Beamtin griff zum Hörer und ich ahnte, dass sie nicht ihre Oma anrufen wollte.
Bevor es noch Unannehmlichkeiten mit dem breiten Security-Gorilla da im Flur gab, sprang ich auf und stapfte mit gesenktem Haupt aus dem Großraumbüro.
Es war zutiefst frustrierend und zu Hause…
… gab es einen gewaltigen Anschiss!
Neben Andi saß ich eingeschüchtert auf der Couch im Wohnzimmer, als Johanna am Schrank lehnend zusah, wie Paul im Raum herumtigerte und mich zur Rede stellte.
Klar, sie meinten es nur gut und machten sich Sorgen.
Weil ich einen Tag nicht in der Schule war und erst spät nach Hause kam?
Was soll ICH da sagen?!
Ich wollte in dem Moment allein sein. Hatte mich im Wald versteckt, war auf einen Baum geklettert und weinte.
Nachdem nun Paul seine Standpauke gehalten hatte, nahm Johanna zuerst neben mir Platz, dann meine Hand und mich anschließend in ihren Arm und drückte mich tröstend.
Sie konnten mich verstehen, dass ich Flavia vermisst habe. Aber sie wollten gleichzeitig auch, dass ich damit abschließe. Mein altes Leben hinter mir lasse.
Doch das würde und konnte ich niemals. Nicht, bis ich meine Schwester auch im Arm halten würde.
Ich riss mich aus der gutgemeinten Umarmung meiner Mutter und rannte aus dem Zimmer, an Paul vorbei, der sich gerade auf seinem Sessel niederließ.
Meine Eltern schauten sich fragend an, wussten, dass das keine Lösung war.
An diesem Abend hätten sie sich fast dazu durchgerungen, ihr Versprechen doch noch einzulösen.
Johanna ging zum Sideboard und öffnete eine Schublade. Sie nahm eine Akte heraus und schnappte sich das Telefon von der Station.
Andi, der alles genau beobachtet hatte, stand von der Couch auf und folgte mir Richtung Kinder- und Schlafzimmer.
Ich starrte aus dem Fenster, als Andi – höflich wie eh und je – zuerst klopfte und nach meinem griesgrämigen „Ja“ die Tür öffnete und zu mir kam.
Er blieb neben mir am Fenster stehen, legte seinen rechten Arm um meinen Hals.
Andi nahm mich in Schutz, hatte Verständnis. Er schwor mir noch in dieser Nacht zu helfen.
Ein paar Stunden später, es war nach Mitternacht, verließen wir beide unser Kinderzimmer und schlichen im Schlafanzug und in völliger Dunkelheit durch den Flur. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten auf Zehenspitzen vorbei an der halb geöffneten Tür des Elternzimmers und dann die Treppenstufen hinab runter in den Flur.
Im Wohnzimmer angekommen harrten wir aus und schlossen unsere Augen, als Andi, der ein wenig voraus ging, das Licht anknipste. Wir öffneten nach ein paar Sekunden die Augen, als wir nicht mehr so geblendet waren.
Andi hatte sich die Schublade mit den relevanten Unterlagen eingeprägt und ging schnurstracks zum Sideboard und zog sie auf. Ein kurzes metallisches Quietschen erschrak uns beide und wir hielten inne. Wir lauschten, ob sich oben etwas regte. Nach einigen Sekunden nickten wir einander zu und waren uns sicher, dass unsere Eltern nicht geweckt wurden. Behutsam zog Andi die Schublade weiter auf und nahm die Papierblätter heraus. Gemeinsam mit mir studierte er die Seiten und dann wurden wir tatsächlich fündig: Die vermeintliche Adresse des Heims!
Ich schnappte mir sofort einen Stift von der Ablage und ein Blatt Papier aus dem Einzugsfach des Druckers, der darauf stand und begann zu notieren.
Wir fanden unseren allerersten Anhaltspunkt!
Andi zeigte auf eine Telefonnummer und sah mich fragend an.
Ich zögerte keine Sekunde, schnappte mir das Telefon und wählte. Egal, wie spät es war.
Noch bevor ich alle Nummern eingetippt hatte, hörte ich eine vertraute Stimme von der Wohnzimmertür, die Andi und mich zusammenzucken ließ. Erwischt!
Paul stand im Türrahmen und sah uns kopfschüttelnd und vorwurfsvoll an.
Wenige Minuten später lag ich rücklings im Bett und starrte wieder einmal an den unveränderten Sternenhimmel an der Zimmerdecke. Fragte mich, ob und was meine Eltern zu verbergen hatten? Warum konnten sie mich nicht verstehen?
Ich malte mir aus, wie es Flavia wohl erging und ob es ihr wohlerging. Wie sie jetzt in ihrem Alter aussah? Ob sie auch schon abgeholt wurde? Von den bösen Männern in schwarz? Ob sie auch so viel Glück hatte wie ich? Ob ich sie dann überhaupt je wiedersehen würde?
Und wieder sollten Jahre vergehen…
In der Aula des Gymnasiums stand ich mit 19 Jahren auf der großen Bühne. Gemeinsam mit meinen Schulfreunden wurde ich für mein bestandenes Abitur geehrt. Die Rektorin (55) überreichte mir das Zeugnis der Hochschulreife.
Andi und meine Eltern saßen auch im Publikum und waren stolz auf mich.
Wie zuvor erwähnt, ich hab’s geschafft. Und das war der Tag, dem ich so entgegen gefiebert hatte und an dem ich wusste: Jetzt isses soweit! Ab jetzt konnt’ ich weg.
Andi und ich hatten bereits einen Plan.
Und wir hatten inzwischen jeweils ein eigenes Zimmer.
Ich betrat Andis Raum und sah, wie er am Laptop saß und sich fleißig auf Google Maps Infos einholte.
Im Gegensatz zu mir bekam Andi ein Auto zum Abi. Okay, seine Noten waren ja auch besser – egal, wir wollten heimlich mit seinem Auto zu nem echten Road Trip aufbrechen. Dafür war der koreanische Kleinwagen allemal gut.
Ich setzte mich zu meinem Bruder und schaute ihm über die Schulter und erkannte auch den Zettel mit der Adresse des Heims wieder, die ich damals vor mittlerweile acht Jahren aufgeschrieben hatte. Andi hatte das Papier damals rechtzeitig vor unserem Vater versteckt.
Wir waren vorbereitet, wenn man es so nennen kann. Wir wussten immer noch nicht, ob die Anschrift überhaupt stimmt. Doch was soll’s? Wir würden uns einfach durchfragen, klar!
Wir waren auf jeden Fall bereit und in uns beiden stieg die Vorfreude bis ins Unermessliche. Ein unglaubliches Brudergefühl, das mich an mein Bruder-Schwester-Gefühl erinnerte. Unseren Eltern verrieten wir nichts von der geplanten Reise. Es sollte eben einfach ein kleiner gemeinsamer Road Trip werden.
Die einzige, die auch eingeweiht war, betrat jetzt Andis Zimmer und fand zwei determinierte Brüder vor. Alissa (21) war Andis langjährige Freundin und anfangs nicht davon begeistert, dass wir zwei ganz allein ins Land von Dracula reisen wollten. Wir hätten sie ja auch gerne mitgenommen, aber sie hatte eine Praktikumswoche bei einem neuen Bio-Engineering-Unternehmen an der Uni. Außerdem fühlte es sich sowieso eher als so ’ne Bro-Mission an.
Ich kümmerte mich um den Proviant, Kleider und Ausrüstung und rechnete durch, was wir alles brauchen und wo wir unsere Zwischenstopps einlegen würden. Mein Rucksack war bereits fast völlig gepackt.
Schließlich sollten wir in drei Tagen unsere Tour starten…
Ein Tag vor der geplanten Abreise war alles soweit.
Andi hatte inzwischen auch seine sieben Sachen beisammen. Doch irgendwie verhielt er sich merkwürdig. Wenn immer ich ihn bat, endlich seinen Kleinwagen zu checken, wich er aus und vertagte es auf später. Es kam sogar zu einem Streit, weil er die Wichtigkeit und Bedeutung für mich offensichtlich nicht erkannte. Ölstand, Reifendruck, voller Tank, funktionierendes Navi – wobei es damit dort im abgelegenen Hinterland eh schwierig werden würde – Risiken sollten minimiert sein. Schließlich lagen gut 1.800 Kilometer vor uns. Durch Österreich, Ungarn und dann nach Rumänien.
Ich hätte ahnen müssen, dass er einen anderen Plan hatte. Denn an jenem Tag brach er morgens mit Freundin Alissa auf. Wieso, verriet er mir nicht. Irgendwas Dringendes. Er war wortkarg – sonst nicht seine Art.
So saß ich allein in meinem Zimmer und hatte ein mulmiges Gefühl. Irgendwie spürte ich, dass es Schwierigkeiten geben würde. So eine Art siebter Sinn. Es trübte die riesige, über Jahre angestaute Vorfreude.
Ich wollte, dass alles perfekt wird. Wenn es allerdings jetzt schon vor der Fahrt Probleme und Unstimmigkeiten geben würde, was stand uns in dem fremden Land bevor?
Ich checkte noch einmal meinen großen Reiserucksack, als mein Smartphone auf dem Tisch läutete. Ein Blick aufs Display verriet: Andi hatte wohl Schuldgefühle. Nach kurzem Zögern nahm ich das Gespräch entgegen.
Er teilte mir mit, dass er sich umentschieden hatte. Dass ich allein fahren müsste. Gerne könnte ich auch seinen kleinen Hyundai nehmen. Er sagte, dass es ihm leid tue und hoffte auf mein Verständnis.
Ich war erst mal geschockt und enttäuscht. Dachte zuerst, er wollte mich übelst veräppeln.
Andi und ich spielten uns gegenseitig gerne Streiche. Auch, wenn er der Meister der Verarschung war – das hier würde wirklich zu weit gehen.
Er laberte irgendwas mit der Verleihung seines Stipendiums und dass es wichtig wäre und bla, bla, bla, ich konnte dem Heuchler sowieso nicht mehr zuhören.
Ich weiß aber noch ganz genau, dass ich dreimal nachgefragt hatte, ob das wirklich sein Ernst war. Ja, war es. Noch genauer erinnere ich mich an die Worte, die ich für ihn hatte. Es ging nicht um Blumen. Und noch weniger werde ich vergessen, wie der laute, metallische Knall passierte und ich zurückschreckte. Wie ich ins Smartphone sprach und keine Antwort mehr von ihm kam. Es war totenstill und plötzlich riss die Verbindung ab.
Hatte keine Erklärung, was gerade geschehen war. Außer, dass es sich nicht nach einem Streich anhörte.
Am späten Abend saß ich mit den Eltern und unter gemeinschaftlichen Tränen an Andis Bett im Krankenhaus und bekam eine Ahnung, was sich Stunden zuvor abspielte:
Andi hatte mit Alissa einen Termin bei einer Mietwagenfirma. Sie wollten mich überraschen und einen für den Trip angemessenen Wagen abholen. Ein robustes, geländetauglicheres SUV. Obwohl wir beide diese dicken Dinger nicht mochten, weil sie für den Alltagsgebrauch in Deutschland unnötige Spritfresser waren, schien Andi der Überzeugung zu sein, dass sein Kleinwagen ungeeignet war. Stichwort: Keine Risiken!
Auf dem Heimweg steuerte Alissa den Mietwagen. Erstens, um Andi zu entlasten, weil er die nächste Zeit mit mir im Wechsel einige Fahrstunden hinter dem Lenkrad verbringen würde. Und zweitens, damit Andi meine Reaktion mitsamt der Wutausbrüche am Telefon besser genießen konnte. Auch vernünftig, da man als Fahrer mit dem Handy am Ohr im Straßenverkehr seine Mitmenschen gefährdet.
Genau wie überhöhte Geschwindigkeit!
Ein Raser schoss innerorts mit über 130 Km/h bei Rot über die Kreuzung und nahm Alissa und Andi die Vorfahrt. Er torpedierte die Fahrerseite so, dass selbst das tonnenschwere SUV sich fünfeinhalbmal überschlug und fast 60 Meter weiter die Straße entlang am Stamm einer Winterlinde auf dem Dach zum Liegen kam.
Alissa hatte keine Chance. Sie war sofort tot, wenn man das als Trost sieht. Die Front des anderen SUVs bohrte sich durch das Fahrzeug und zermalmte ihren zierlichen Körper. Ihre Organe zerplatzten und kein Knochen ihres Skeletts blieb heil. Ihr Kopf, ihre Leiche war nicht mehr als Mensch wiederzuerkennen.
Ein grausamer Anblick, dem sich ihre Eltern stellen mussten.
Alissa, ein liebevoller, sympathischer Mensch, der die Welt ein wenig besser machen wollte, wurde völlig unnötig aus dieser brutalen Welt entrissen. Eine glückliche Familie den Trümmern der Trauer hinterlassen.
Und dieses schlimme Schicksal, diese Bestrafung sollte sich in den nächsten Wochen und Monate weiter fortsetzen. Auch dank unserer hochgelobten Justiz…
Ich hielt sanft Andis gebrochene Hand, als unsere Eltern für einen Moment das Patientenzimmer verließen, um draußen frische Luft zu atmen.
Sein Körper war übersät mit Verbänden, hatte zwei Infusionsflaschen anhängen und bekam Schmerzkiller.
Ich traute meinen Augen nicht, als er die seinen langsam und behutsam öffnete.