Warum Nicht Wir - Marcel Matenaers - E-Book

Warum Nicht Wir E-Book

Marcel Matenaers

0,0

Beschreibung

Matteo Hartley ist Englischlehrer, leidenschaftlicher Theaternerd, bekennender Kaffee-Snob – und überzeugter Single. Nicht weil er es liebt, sondern weil niemand je lange genug geblieben ist, um zu beweisen, dass es anders geht. Grayson Oliver ist charmant, engagiert, verheiratet. Mit einer Frau. Und Vater zweier kleiner Kinder. Obwohl Matteo weiß, wie man sich aus Schwierigkeiten heraushält: Nie zu viel riskieren, nie zu sehr hoffen – und auf gar keinen Fall Gefühle für verheiratete Kollegen entwickeln, verspricht das neue Schuljahr eins: Ein Theaterstück mit zu viel Drama – auf und neben der Bühne. Matteo weiß: Gefühle sind keine gute Idee. Grayson weiß: Manche Entscheidungen tun weh. Und trotzdem: Irgendwo zwischen Kletterpark und Coffee Shop, Freizeitpark und Lehrerzimmer könnte etwas beginnen, das eigentlich nie hätte passieren dürfen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



WARUM NICHT WIR

Marcel Matenaers

Texte: © Copyright by Marcel Matenaers

Umschlaggestaltung: © Copyright by Marcel Matenaers

Verlag:

Marcel Matenaers

Rohrerhof 18

56070 Koblenz

[email protected]

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin Kontaktadresse nach

EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Dieses Buch ist ein fiktiver Roman. Jegliche Ähnlichkeiten zu realen Personen oder Geschehnissen ist rein zufällig.

Das Werk wurde durch künstliche Intelligenz auf sprachliche Fehler überprüft.

Ein Roman

KAPITEL 1

Matteo Hartley stand barfuß im Flur seines Hauses, kaute auf einem kalten Toast herum und fragte sich, ob man in der Hölle eigentlich auch die Milch vergisst.

„James?“ Er drehte sich um, Toast in der einen, halboffene Umhängetasche in der anderen Hand. „Hast du die Milch vergessen?“ James – seine französische Bulldogge und inoffizieller Mitbewohner – sah ihn mit maximaler Gleichgültigkeit an, während er regungslos auf dem Teppich lag, als würde er jeden weiteren Montagmorgen aus Protest einfach aussitzen. Matteo war spät dran. Nicht sehr spät, nicht dramatisch – nur dieses typische Fünf-bis-sieben-Minuten-zu-spät, das sich wie eine Charaktereigenschaft anfühlte. Die Art von Verspätung, die man charmant nennen konnte, solange man gut aussah und sich entschuldigen konnte, bevor die Glocke ging.

Er trank den letzten Schluck kalten Kaffees direkt aus der Kanne, zog seine Schuhe halb im Hüpfen an, schlüpfte in den knautschigen Mantel, der eigentlich in die Reinigung gehörte – und griff zur Tür. Er zog sie auf, trat hinaus, drehte sich dann wieder um und sagte laut: „Schlüssel!“

James blickte ihn jetzt doch an. Matteo stand einen Moment lang einfach da, die Tür halb geöffnet, ein Schuh offen, der andere halbwegs zu – und versuchte sich zu erinnern, ob er den Schlüssel eingesteckt hatte. Dann fasste er in seine Manteltasche. Leer. Er fasste in die Tasche der Umhängetasche. Zwei Stifte, ein zusammengefalteter Elternbrief vom letzten Schuljahr, ein zerquetschter Müsliriegel, ein... Was war das? Ein einzelner Gummihandschuh?

Kein Schlüssel. „Nicht. Dein. Ernst.“ Er blickte durch den Spalt der Haustür, auf den Flurtisch, wo der Schlüsselbund – ganz offensichtlich – neben seiner Wasserflasche lag, und fragte sich, ob es ein Zeichen des Universums war. Oder ob das Universum einfach gar keinen Plan hatte und Menschen wie er der Beweis waren.

„Okay. Dann eben später mit der Katzenklappe kämpfen. Come on, James.“ James trottete nach draußen, sichtlich genervt, dass sein menschlicher Begleiter schon wieder nicht die Basics des Alltags beherrschte.

Der Weg zur Schule war kurz – Matteo konnte ihn im Schlaf gehen. Er hatte ihn hunderte Male gelaufen, bei Regen, Schnee, Hitze, mit halben Theaterkulissen unter dem Arm oder mit einem Kater vom Weinfest der Elternvertretung. Ashcroft Hall war seine zweite Heimat geworden. Kein glamouröser Ort, aber voller Geschichten – genau wie er es mochte. Die ersten Sonnenstrahlen krochen über die Dächer, als sie an den Vorgärten vorbeigingen, und Matteo sog die kühle Morgenluft ein. Er mochte diesen Moment des Tages. Die paar Minuten zwischen Kaffee und Chaos. Zwischen dem Wissen, wer man war – und dem Versuch, es für andere glaubwürdig darzustellen. In seiner Tasche vibrierte das Handy. Eine Nachricht von Harriet – Kollegin, Biologielehrerin, beste Freundin und Mutter von drei Katzen und einer Tochter.

Harriet:Frohes neues Schuljahr. Bin auf die neuen Kollegen gespannt. Der Direx meinte, einer sieht aus wie ein Poli>ker, die andere wie Nanny McPhee. Bin gespannt, ob er spricht wie einer und ob sie auch Warzen hat.

Matteo grinste.

Ma)eo:Ich hoffe, er sieht eher aus wie ein skandinavischer Thrillerheld mit trauriger Vergangenheit.

Harriet:Du meinst, blass und emo>onal blockiert?Ma)eo:Perfekt.

Er steckte das Handy weg, gerade als James abrupt stehen blieb und wie ein kleiner Panzer die Straße blockierte. Matteo bückte sich, lockerte die Leine. „Was ist es diesmal? Ein gefährlicher Grashalm? Ein geheimnisvoller Kieselstein?“ James schnüffelte beharrlich. Matteo ließ ihn, auch wenn er eigentlich keine Zeit hatte. Und keine Milch.

——

Ashcroft Hall wirkte an diesem Morgen größer, lauter und viel lebendiger als noch vor zwei Wochen, als Matteo das letzte Mal hier gewesen war, um vergessene Requisiten aus dem Theaterraum zu holen. Jetzt war es wieder ernst. Die Sommerferien lagen offiziell hinter ihnen, das Lehrerzimmer roch nach frisch aufgedruckten Stundenplänen und zu starkem Kaffee, und der Flur war erfüllt von den Rufen neuer Siebtklässler, die sich verirrt hatten, als wäre das Gebäude ein Labyrinth.

Matteo zog James mit sanftem Druck am Eingang vorbei – Hunde waren theoretisch nicht erlaubt, aber James war gewissermaßen Ausnahmeerscheinung. Er benahm sich besser als die meisten Schüler und war ohnehin bald wieder draußen, weil ihn irgendein Kollege zu einem Spaziergang entführen würde.

Im Eingangsbereich traf er sie - Harriet, unermüdlich, trocken-humorig, seit Jahren seine inoffizielle Seelenverwandte im Kollegium. Ihre Tochter war sechs, ihre drei Katzen hießen Kafka, Marie Curie und Beyoncé. Das sollte jedem vermutlich schon genug über sie verraten. „Na, lebendig zurückgekehrt?“ fragte sie, während sie ihre Tasse, inklusive Einhorn-Sticker, auf ihrem Kalendar balancierte.

„Ich hab meinen Haustürschlüssel vergessen, meine Milch war schlecht und ich hab den ganzen Morgen mit James diskutiert. Also: klassischer Auftakt.“ Harriet grinste. „Klingt nach dir.“

„Ich versuch's gar nicht mehr zu verbergen.“ Sie liefen den Gang entlang. Die vertrauten Geräusche, das Rufen der Schüler, das Poltern von Stühlen – alles fühlte sich vertraut an und gleichzeitig ein bisschen zu laut. Ein neuer Anfang, aber in alten Schuhen.

„Der neue Kollege kommt heute, oder?“ fragte Matteo.

„Grayson, ja. Geschichte und Politik. Hat zwei Kinder. Verheiratet. Der Direx sagt, er sei...“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „…verlässlich.“

„Wie ein Rasenmäher.“ „Oder ein Taschenrechner. Ich hoffe, er ist nett.“ „Nett ist okay“, sagte Matteo. „Solange er nicht 'interaktiv' sagt, wenn er 'PowerPoint' meint.“ Bevor Harriet antworten konnte, wurde Matteo von einem Schüler abgefangen – Elftklässler, groß, ein bisschen verplant, trug ein Reclam-Heft und sah aus, als hätte er gerade erst erfahren, dass Schule wieder ein Ding ist.

„Mr. Hartley! Stimmt es, dass die diesjährige Theaterproduktion König Lear wird?“ Matteo verzog das Gesicht. „Wer sagt das?“

„Der Hausmeister.“

„Ich hab ihn gebeten, mir einen auffälligen Sitzplatz zu bauen. Das ist kein offizielles Statement. Es könnte auch ein Campingstuhl in Goldspray werden.“

„Aber es wird Lear, oder?“ Matteo zwinkerte. „Gib mir noch eine Woche. Dann wird der Wahnsinn öffentlich gemacht.“ Der Schüler nickte zufrieden und verschwand wieder. Harriet schüttelte den Kopf.

„Lear? Im Ernst? Du willst dich wirklich emotional zerlegen lassen?“ Matteo grinste. „Ich seh das als Reinigung. Wie ein innerlicher Frühjahrsputz mit Gewitter.“ „Du brauchst keine Reinigung. Du brauchst eine Woche ohne Menschen.“ „Also existenzieller Stillstand?“

„Ruhe.“ Matteo sah in den Flur, wo gerade neue Schüler mit zu großen Rucksäcken und hektischen Blicken vorbeihuschten. Er atmete tief durch. „Ich bin eh in meiner tragischen Phase. “

„Du bist immer in deiner tragischen Phase.“ Sie lachten – laut, offen, kurz – und das Schuljahr konnte beginnen.

——

Der Klassenraum roch nach Papier, Staub und neuem Anfang. Matteo hatte sich angewöhnt, am ersten Schultag keine langen Reden zu halten. Die Schüler waren müde, misstrauisch und leicht reizbar – wie Katzen im Regen. Es war besser, sie einfach anzusprechen, statt sie zu belehren.

„Okay“, sagte er, stellte seine Tasche auf den Tisch und klappte seinen Laptop auf, „lasst uns ein Spiel spielen. Es heißt: Wer von euch tut so, als hätte er über die Ferien heimlich gelesen?“ Ein leises Lachen ging durch den Raum. Zwölf Gesichter blickten zu ihm – manche offen, manche skeptisch, zwei mit Kopfhörern halb aus dem Ohr baumelnd. Der typische Querschnitt der elften Jahrgangsstufe. Matteo kannte sie. Oder glaubte es zumindest. Er tippte ein paar Wörter in das Smartboard und drehte sich wieder um.

„Wir steigen sanft ein. Ein Gedicht. Keine Angst, keine Interpretation zum Mitschreiben, kein Grammatikterror. Nur Lesen. Fühlen. Denken, wenn ihr mögt.“ Er projizierte die ersten Zeilen an die Wand. Es war ein Gedicht von Philip Larkin – nicht zu schwer, aber auch nicht nett.

Nicht harmlos.

They fuck you up, your mum and dad.

They may not mean to, but they do...

Ein paar Augenbrauen hoben sich. Zwei Schüler kicherten. „Ist das erlaubt?“ fragte ein Mädchen aus der zweiten Reihe – Amy, mit den sorgfältig geflochtenen Zöpfen und der durchsichtigen Federtasche.

„Solange ihr nicht antwortet, ja“, sagte Matteo. „Es ist Larkin. Und Larkin hat das Recht, euch an eure Eltern zu erinnern. Oder daran, dass auch große Dichter schlechte Tage haben.“ Ein Junge aus der letzten Reihe meldete sich halbherzig. „Ist das... also ist das Ironie? Oder einfach Wut?“ Matteo lehnte sich gegen den Tischrand. „Gute Frage. Vielleicht beides. Vielleicht ist Wut manchmal nur eine Form von Humor mit zu wenig Schlaf.“ Es entstand eine Stille im Raum. Keine unangenehme – eher so eine, in der kurz etwas wirkt.

„Was meint ihr: Würde man das heute noch so schreiben? Oder würden wir uns entschuldigen, bevor wir es veröffentlichen?“ Amy meldete sich wieder. „Ich glaub, heute würde man’s länger machen. Mehr Kontext geben. Mehr... Erklärung.“

„Weil wir Angst haben, falsch verstanden zu werden?“ Sie nickte. Matteo sah in die Runde. „Oder weil wir selber nicht wissen, ob wir’s ernst meinen. Mir ist jedenfalls wichtig, dass ihr euch traut, Dinge auszusprechen, die kein anderer ausspricht.“ Ein paar nickten, ein paar zuckten mit den Schultern. Der Junge aus der letzten Reihe hatte seinen Kopf zur Seite gelegt und starrte auf die Wand, als sähe er mehr als nur Text.

„Glauben Sie“, fragte er plötzlich, „dass man über etwas schreiben kann, das man nicht zugeben würde? Weil man sich dann in der Anonymität befindet?“ Matteo erstarrte nur eine Sekunde – ein Reflex. Dann lächelte er.

„Ich hoffe es. Sonst wären viele Bücher nie geschrieben worden.“Er stand auf, klickte zur nächsten Folie. Bevor er weitersprechen konnte, sprach der Schüler weiter: „Über was würden Sie schreiben, wenn keiner wüsste, dass sie der Autor sind?“ Er hielt einen Moment inne - die Blicke der neugierigen Gruppe auf sich gerichtet. Dann lächelte er. „Falls ich irgendwann mal ein Buch schreiben sollte, dann erzähle ich euch als erstes davon. Und bevor ihr weiter fragt – ja, wir machen dieses Jahr im Theater König Lear. Ja, es wird Drama geben. Ja, wenn ihr dabei sein wollt, müsst ihr Texte auswendig lernen. Und nein, niemand stirbt am Ende leise.“ Wieder ein Kichern, dieses Mal ein echtes. „Die Welt ist laut. Shakespeare war es auch.“

Er ging zur Tafel, schrieb langsam LEBEN – LIEBE – MACHT – WAHRHEIT untereinander. Dann drehte er sich um. „Das sind unsere Themen dieses Jahr. Der Rest ist Bonusmaterial. Oder Hausaufgabe.“ Es klingelte, schrill und endgültig. Die Schüler begannen zu packen, Papier raschelte, Rucksäcke wurden geschlossen, Hefte zugeschlagen. Als die letzte Schülerin gegangen war, stand Matteo noch einen Moment da, den Rücken zur Tür, den Blick auf das Gedicht gerichtet. Er murmelte leise, fast unhörbar:

„You may not mean to, but you do.“ Dann löschte er das Board, bevor noch jemand von seinen anderen Kollegen das Gedicht sah.

KAPITEL 2

Nach der Mittagspause war die Schule ruhiger. Die Schüler verteilten sich auf AGs, Freistunden und überraschend laute Diskussionen über Hausaufgaben, die sie angeblich schon stressen würden. Matteo saß mit Harriet an einem der Tische im Lehrerzimmer, die aussahen, als hätten sie schon mindestens drei Schulreformen überlebt.

Vor ihnen lagen eine halbleere Tupperdose, ein Kalender, zwei zerknitterte Elternbriefe und eine Liste mit möglichen Ausflugszielen für die Jahrgangsstufe 10.

„Ich sage: botanischer Garten“, sagte Harriet und klopfte mit dem Stift auf den Tisch, wobei sie wie eine Richterin wirkte, die ihr finales Urteil verkündete. „Lernen über Ökologie, Pflanzenvielfalt, Photosynthese. Plus: Sie können sich verlaufen, und wir bekommen 20 Minuten Ruhe.“

Matteo starrte auf das Wort Seilpark in seiner eigenen Schrift. „Ich sage: Kletterwald. Vertrauen, Gruppendynamik, Höhenangst als Metapher für das Leben.“

„Du willst nur sehen, wie Mr. Reynolds aus der Mathe-Fachschaft in einem Klettergurt aussieht.“

„Ich weigere mich, das zu dementieren. Aber der fährt ja gar nicht mit.“ Sie lachten, und in dem Moment ging die Tür auf. Ein Mann trat ein – nicht besonders laut, nicht besonders auffällig. Er trug ein schlichtes Hemd, eine leicht zerknitterte Stoffhose und hatte diesen Ausdruck im Gesicht, den Menschen tragen, wenn sie das Lehrerzimmer betreten, aber innerlich noch die Landkarte suchen. Sein Blick wanderte über die Tische, blieb kurz an James hängen, der dösend neben Matteo lag, dann an Matteo selbst, der sich ein wenig verurteilt fühlte, weil er die Regel, dass keine Hunde in der Schule erlaubt waren, seit drei Jahren missachtete.

Graue Augen. Etwas suchendes darin. Ein höfliches, etwas überfordertes Lächeln. Wie der Bachelor in der ersten Episode, der nicht wusste, wo er mit so viel weiblicher Überforderung umgehen sollte.

„Entschuldigung... ich bin auf der Suche nach Raum 4B oder einem Schüler namens… äh… Marcus McFletcher? Geschichte, fünfte Stunde, aber ich... bin falsch abgebogen, glaube ich. “ Seine Stimme war ruhig, leicht rau, ein bisschen zu höflich für diesen Flur. Harriet stand auf. „Sie sind Grayson, richtig? Der Neue.“

„Ja. Grayson Oliver. Ich bin noch dabei, mich zurechtzufinden. Wie man sieht.“ Sein Hemd hatte etwas von den Pfadfindern und machte tatsächlich einen eher langweiligen Eindruck. In der rechten Hand hielt er eine Banane.

Matteo stand jetzt auch. „Sie sind hier gelandet, wo alle früher oder später landen: im Bermuda-Dreieck der Schularchitektur. 4B ist nicht im Haupttrakt, obwohl alle anderen B-Räume hier sind. Sie müssen durch den Hof, dann die Treppe neben dem Musikraum hoch – nicht die mit den bunten Stufen, die andere. Klingt falsch, ist aber richtig.“ Er realisierte, dass seine Erklärung die Sache wohl nur noch schlimmer machte. Grayson lächelte schmal. „Könnten Sie mir das vielleicht zeigen? Ich habe die leise Befürchtung, dass ich sonst in einer Rumpelkammer lande.“ Matteo warf Harriet einen Blick zu, der ungefähr sagte: Ich hol später wieder das Kletterpark-Argument raus – dann griff er nach seiner Tasche.

„Klar. Ich hab gerade sowieso Freistunde. Kommen Sie mit. Und passen Sie auf James auf – der ist der wahre Direktor hier. Mein Name ist übrigens Matteo Hartley.“ Grayson sah auf den Hund hinunter, lächelte, dann wieder zu Matteo. Kurz – ein Sekundenbruchteil zu lang, als ob die Keine Hunde Regel die einzige Regel war, die er schon kannte, bevor sie gemeinsam auf den Flur traten.

Die Tür fiel leise hinter ihnen ins Schloss. Der Flur roch nach alten Turnbeuteln, Möbelpolitur und dieser seltsamen Mischung aus Aufbruch und Müdigkeit, die in Schulen irgendwie immer in der Luft hing. „Also“, sagte Matteo, während er langsam losging, „erste Regel bei uns: Glaub nie den Raumschildern. Zweite Regel: Wenn du einen Schüler nach dem Weg fragst, hast du eine fünfzigprozentige Chance, am Ende im Kunstraum zu landen.“

Grayson – in seinem Hemd, schwarze Ledermappe unter dem Arm, der leichte Zug um die Lippen eines Mannes, der höflich blieb, obwohl er am liebsten fluchen würde – lächelte wieder. Dieses Lächeln hatte etwas Unsicheres, Ehrliches.

„Ich war mir so sicher, dass ich richtig gelaufen bin“, sagte Grayson, wobei er leicht errötete. „Aber anscheinend gibt es zwei Treppenhäuser mit identischen Schildern. Oder der Schüler hat mich mit Absicht in die Flasche Richtung gesendet.“

„Und drei Raumpläne, die sich widersprechen“, sagte Matteo. „Ich sag’s immer: Diese Schule ist ein pädagogisches Escape Room.“

„Ich merke schon, hier läuft alles nach einem versteckten Plan, den man sich erst nach ein paar Jahren zusammenreimen kann.“

„Willkommen bei Ashcroft Hall“, sagte Matteo, und es klang ein bisschen wie: Willkommen im Abenteuer. Sie gingen die breite Haupttreppe hinauf, vorbei an den ersten Schülergruppen, die mit Handys in der Hand und unauffälligen Energy-Drinks in Jackentaschen über Hausaufgaben diskutierten. James tappte hinterher, als sei er Teil des Lehrpersonals.

„Also Geschichte und Politik?“ fragte Matteo, dem nicht klar war, wie man diese beiden Fächer gleichzeitig unterrichten konnte - nein, wollte. „Ja. Und ein bisschen Physik, wenn Not am Mann ist. Was unterrichtest du?“

„Englisch und Theater. Theater hauptsächlich am Nachmittag. Das erklärt auch, warum ich meistens wie ein ungeduldiger Regieassistent durch die Flure renne.“ Grayson lachte leise. Eine Stimme, die im Raum blieb, ohne ihn zu erdrücken. „Theater“, sagte er. „Klingt… lebendig. “ „Das ist ein Euphemismus für chaotisch, aber danke.“

Sie bogen in den schmaleren Flur ab, der direkt zum Nebentrakt führte. Die Wände waren hier mit vergilbten Aushängen tapeziert: Schulausflüge, Mathe-Wettbewerbe, der „Poetry Slam“ vom letzten Jahr. Eine merkwürdige Werbung für ein Studium über Kakteen im Polarbereich. Gab es sowas überhaupt? Matteo öffnete eine schwere Glastür für ihn und fragte dann, beiläufig, „Bist du neu in Milton Keynes?“ Grayson schüttelte den Kopf.

„Nein, ich wohne schon ein paar Jahre hier. Aber die letzten Jahre habe ich an einer staatlichen Schule unterrichtet. Jetzt war mal ein Tapetenwechsel nötig.“

„Verständlich“, sagte Matteo. „Manchmal braucht man neue Tapeten, bevor man selbst Risse bekommt.“ Grayson nickte. Er wirkte, als hätte er den Satz nicht nur gehört, sondern gespeichert. Matteo betrachtete ihn ein wenig genauer. Sein Bart, der irgendwo zwischen drei und fünf-Tage Bart einzuordnen war, hatte einen leichten Rotstich.

„Und, schon ein bisschen eingelebt?“ fragte Matteo. „Sagen wir so – ich hab den Kaffeeautomaten gefunden und meinen Stundenplan verstanden. Alles andere ist noch in der Orientierungsphase.“

„Das klingt nach dem normalen ersten Tag. Manchmal dauert der drei Wochen.“

„Und deine Familie?“, fragte Matteo leicht, um die Stille zu füllen, nicht weil er neugierig war. „Meine Frau und ich...“ – ein winziger Atemzug zu lang – „wir haben zwei Kinder. Drei und sechs. Der Große kommt jetzt in die erste Klasse.“

„Wow. Das ist... mittendrin, oder?“ „Mitten im Chaos, ja.“ Grayson lächelte. „Er ist gerade in der 'Warum'-Phase. Ich hab gestern zwanzig Minuten erklärt, warum die Sonne nicht runterfällt.“

„Und? War er überzeugt?“ „Er hat genickt – und dann gefragt, ob die Sonne eigentlich auch pink sein kann.“ Matteo lachte, echt und offen. „Meine Kollegin Harriet – die mit dem Einhorn-Kaffeebecher – hat auch eine Tochter. Ich glaub, sie hat mal gesagt, dass Kinder eigentlich wie Gedichte sind, die man nie ganz entschlüsseln kann.“ Grayson schien darüber kurz nachzudenken. „Das ist schön. Und ein bisschen beängstigend.“

Sie gingen jetzt den schmaleren Gang hoch, vorbei an der Tür zur Musikabteilung. Die Treppe mit den bunten Stufen kam in Sicht – die Matteo bewusst ignorierte. „Nicht da lang“, sagte er schnell. „Da landet man im Textilraum. Oder im Jenseits.“ Grayson nickte. „Gut zu wissen. Ich bin noch dabei, die kleinen Gesetzmäßigkeiten hier zu lernen.“

„Das wichtigste Gesetz: Frag immer die Englischlehrer. Wir kennen alle Geheimgänge.“ Sie gingen die richtige Treppe hoch, eine ausgetretene, unscheinbare Treppe, die so oft übersehen wurde, dass sie Matteo fast wie ein Insiderwitz vorkam. „Ihre Frau arbeitet auch hier in der Nähe?“, fragte er, so beiläufig wie möglich. „Nein, sie ist Ärztin. Schichtdienst, also... etwas kompliziert mit der Organisation. Aber wir kriegen’s hin.“

Natürlich ist sie Ärztin, dachte Matteo. Perfekt, geordnet, rettet Leben. Und er macht Geschichte.

„Klingt... beeindruckend“, bemerkte er nur. Jeder, der einen solchen Beruf ausübte, lag in Matteos Gunst ganz weit oben. Er selbst empfand schon eine relativ große Überforderung dabei, eine Gruppe von Teenagern unter Kontrolle zu behalten. Wenn er auch noch Leben retten musste, im wahrsten Sinne des Wortes, und nicht nur dann, wenn Jenny aus der 8a mich immer so komisch anguckt, dann würde seine Grundnervosität durch die Decke gehen. Grayson zuckte mit einem Schulterlachen. „Oder einfach nur laut.“ Sie hielten vor einer Tür mit leicht abgeblätterter Nummer. 4B. Endlich. Grayson atmete hörbar aus. „Ich glaube, ich schulde Ihnen einen Kaffee.“

„Ich nehme Tee. Und bleib dabei, dass ich keinen Zucker will, aber mich später ärgere.“ Sie sahen sich an, kurz, fast schon zu lange für einen ersten Tag. „Danke, Matteo“, sagte Grayson, und es klang nicht wie ein belangloses Wort.

Matteo nickte. „Bis später, Grayson.“ James schnüffelte an der Tür, als wolle er die Stunde mitschreiben. Matteo drehte sich um, ging den Gang zurück – und hörte die Tür hinter sich leise ins Schloss fallen.

——

„Also?“ Harriet saß mit einem Keks zwischen den Fingern an ihrem Platz, als Matteo wieder ins Lehrerzimmer trat. Ihr Blick war fest auf ihn gerichtet, mit diesem ganz bestimmten Ausdruck: nicht wertend, nicht boshaft – einfach neugierig wie eine Katze in einer offenen Schublade.

„Was 'also'?“ Matteo stellte seine Tasse ab, griff nach James' Leine, wickelte sie auf und ab wie ein nervöser Jongleur. „Na – der Neue. Grayson. Was war los? Hat er sich verlaufen? Hat er dir schon seine politische Haltung erklärt? Oder dich gefragt, ob du ihn duzen willst?“ Matteo setzte sich und blies die Luft durch die Lippen. „Er hat einen Raum gesucht.“

„Das klingt dramatisch.“ Harriet hob eine Augenbraue. „Es war Raum 4B. Und er war auf dem Weg dorthin ungefähr fünfmal im falschen Trakt.“

„Verständlich. Ich war im ersten Monat jede zweite Woche aus Versehen im Kopierraum eingeschlossen.“ „Das erklärt einiges.“ Matteo trank einen Schluck Tee. Es war zu heiß. Er tat so, als hätte er es nicht gemerkt. Harriet lehnte sich vor. „Also? Wie ist er so?“

„Normal. Ruhig. Freundlich. Sagt bitte und danke, fragt nach dem Weg, hat eine nette Art, über seine Kinder zu sprechen.“ „Ah – Kinder also.“ Sie tippte mit dem Keks auf den Tisch. „Wie viele?“ „Zwei. Drei und sechs.“

„Uff. Kleine. Dann ist er also... verheiratet?“ Matteo nickte. Harriet ließ sich theatralisch in ihren Stuhl zurückfallen, als hätte er ihr gerade mitgeteilt, dass das Schulcatering nur noch Sellerie anbietet. „Ach, wie schade. Ich hatte kurz Hoffnung, dass wir mal wieder einen halbwegs ansehnlichen Kollegen haben, der nicht gleichzeitig eine riesige Familienkutsche fährt.“ „Du könntest ihm ja trotzdem deine botanischen Ausflugspläne schmackhaft machen.“

„Und mir dabei ansehen, wie er im Lehrerzimmer Bilder seiner Kinder zeigt? Nein danke. Ich bin zu jung für solche inneren Zusammenbrüche.“ Matteo schmunzelte. „Du bist 33. “ „Genau. Das ist das gefährlichste Alter. Man ist alt genug, um ironisch über sich selbst zu sprechen, und jung genug, um’s zu meinen.“ Sie nahm einen letzten Bissen vom Keks, deutete dann mit der Krümelhand auf ihn. „Aber ich sag’s dir gleich: Wenn er sich als heimlicher Theaterliebhaber entpuppt, musst du mir einen Kaffee ausgeben.“

„Deal.“ Sie prosteten sich mit ihren Tassen zu. Matteo sah kurz aus dem Fenster, ließ den Blick in den Hof schweifen, wo die Schüler langsam wieder aus den Klassen strömten. Ein neuer Lehrer. Ein neuer Name. Ein neuer Mensch in den gewohnten Gängen. Nicht mehr. Nicht weniger.

KAPITEL 3

Der Pub hieß The Hollow Tree, obwohl es in der ganzen Straße keinen einzigen Baum gab – hohl oder sonstwie. Dafür hatte er Bänke mit durchgesessenen Kissen, dunkles Holz, das nach Geschichten roch, und eine Lampe über dem Stammtisch, die bei jedem Windstoß aus dem undichten Fenster leicht flackerte. Matteo liebte diesen Ort. Nicht, weil das Bier besonders gut war oder die Weinauswahl anspruchsvoll, sondern weil es ein Ort war, an dem niemand jemand sein musste, der er nicht war. Harriet saß schon da, als Matteo ankam. Sie hatte die Haare hochgesteckt, einen Wollpulli an, der zu groß war, um nicht Absicht zu sein, und tippte auf ihrem Handy, während vor ihr ein Glas Weißwein wartete. „Du bist spät“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Ich hatte noch ein tiefenpsychologisches Gespräch mit James über die Natur des Futternapfs.“

„Hat er gewonnen?“ „Er hat geschnaubt und sich demonstrativ ins Wohnzimmer gelegt. Also ja.“ Matteo setzte sich, ließ sich in die Bank fallen, griff nach der Karte. „Ich nehm das Gleiche wie immer“, sagte Harriet. „Burger ohne Gurke, aber mit dieser Chili-Mayonnaise. Und Pommes, nicht den blöden Salat.“

„Ich liebe dich für deine Prinzipien.“

„Also, wie war euer erster Tag?“ fragte Leo, der sich gerade den Reißverschluss seiner Jacke am Bierglas abwischte. „Drei Siebtklässler dachten, ich sei eine Praktikantin“, sagte Sam. „Ich hab's einfach nicht korrigiert.“

„Weise“, meinte Harriet. „Verwirrung ist eine exzellente Machtstrategie.“

„Ich habe gesehen, wie ein Schüler versucht hat, einen Apfel mit einem Geodreieck zu zerschneiden“, sagte Nadia. „Ich wollte eingreifen. Aber dann hab ich gedacht: Vielleicht ist das einfach der Lauf der Dinge.“ Alle lachten. Matteo nahm einen Schluck von seinem Bier, ließ den Blick durch den Pub wandern. Die Tische waren halb voll. An der Bar standen zwei Rentner mit Hüten, als kämen sie gerade vom Derby. Eine Frau in einem grauen Mantel spielte allein am Spielautomaten in der Ecke.

„Und du, Matteo?“ fragte Samira. „Irgendwas Besonderes heute?“

„Ich hab den neuen Kollegen durch die Schule geführt“, sagte er. „Oh – Grayson“, sagte Leo. „Den hab ich auf dem Parkplatz gesehen. Sah aus, als würde er das GPS in seiner Seele verloren haben.“

„Er hat nach 4B gesucht“, sagte Matteo. „Ich habe einen Ehrenkodex, Menschen vor Raum 4B zu retten. Wer da einmal falsch abbiegt, endet im Biologiekeller und denkt, es sei ein Escape Room.“ Harriet lachte. „Ich mochte ihn.“

„Du mochtest, wie er aussieht“, korrigierte Matteo.

„Das ist der Anfang jeder erfolgreichen Arbeitsbeziehung.“ Nadia rollte mit den Augen. „Ich wette, er ist einer von denen, die die ganze Zeit Notizen machen und dann nie was sagen. Ich fand, er wirkte etwas… steif?“

„Ich wette, er hat gute Handschrift“, sagte Sam. „Solche Leute haben immer gute Handschriften.“

„Und zwei kleine Kinder“, warf Harriet ein, und alle sahen kurz zu ihr. Nicht aus Neugier. Einfach, weil die Info so plötzlich kam. „Ah. Familienmensch“, sagte Leo. „Wir sollten eine Wette machen“, schlug Nadia vor. „Wie lange es dauert, bis er merkt, dass die Kaffeemaschine nur funktioniert, wenn man ihr gut zuredet.“

„Oder bis er merkt, dass der Hausmeister heimlich Gedichte schreibt“, sagte Matteo. „Und die unter der Aula an die Wand klebt.“

„Stimmt das?“ fragte Sam.

„Natürlich nicht“, sagte Matteo. „Aber es wäre schöner, wenn doch.“ Die Getränke kamen. Das Essen folgte. Irgendwann war der Tisch voller halbleerer Gläser, überfüllter Teller und dieser Mischung aus Stimmen, Lachen und Pausen, in denen man sich nicht unangenehm fühlte. „Also, Neujahrsvorsätze“, sagte Harriet irgendwann, mit halb vollem Glas und funkelnden Augen. „Wie jedes Jahr. Was wollt ihr dieses Schuljahr anders machen?“

„Ich will nicht schreien“, sagte Leo sofort. „Also. Weniger.“ Er grinste.

„Ich will weniger Formulare ausfüllen“, sagte Nadia. „Ich unterschreibe dieses Jahr nur noch mit meinem Initial und einem wütenden Smiley.“

„Ich will in keiner Konferenz einschlafen“, fügte Sam hinzu. „Aber ich weiß schon, dass ich’s nicht schaffe. Das nehme ich mir jedes Jahr vor.“ Matteo lehnte sich zurück. Er mochte diese Abende. Nicht, weil man sich nahe war, sondern weil man sich nicht verstecken musste. Alle wussten, wie es war. Wie man manchmal gegen Windmühlen kämpfte, die Schüler hießen. Wie ein Satz aus einem Aufsatz einem die Woche retten konnte. Wie man sich selbst irgendwo zwischen Lehrplan, Kopfschmerzen und einem Teenager mit Weltschmerz verlor – und wiederfand.

Er hob sein Glas. „Ich will dieses Jahr... öfter das sagen, was ich wirklich meine. Ohne fünf Umwege drumherum.“ Harriet sah ihn kurz an. Nicht neugierig. Einfach wach. „Guter Vorsatz“, sagte sie. Und stieß mit ihm an.

——

Die Teller waren geleert, die Gespräche verlangsamt. Es war die Stunde nach dem Hunger, nach dem ersten Lachen, wenn man sich nicht mehr vorstellen musste, sondern einfach war. Der Lärmpegel im Pub war weicher geworden – nicht leiser, aber gedämpft, wie durch einen unsichtbaren Vorhang aus Bier, Kerzenlicht und Müdigkeit. Matteo saß jetzt halb seitlich auf der Bank, die Arme ausgestreckt, das Glas locker in der Hand. Harriet spielte mit dem Strohhalm in ihrem Weißwein, als überlege sie, ob sie das Glas noch austrinken oder adoptieren sollte.

„Ich habe heute eine Nachricht von einer Mutter bekommen“, sagte Nadia. „Per E-Mail. Betreff: Sophie hat Bauchschmerzen, aber sie ist sehr tapfer. Text: Sie wollte, dass Sie das wissen. Das war alles.“

„Ich liebe sowas“, sagte Harriet. „Das ist ja fast Lyrik.“

„Ich hab mir überlegt, ob ich zurückschreibe: Ich bin stolz auf Sophie. Ich auch.“ Sam kicherte. „Ich hatte heute einen Schüler, der meinte, Was ist der Unterschied zwischen Mozart und Harry Styles? Ich habe gesagt: Die Kleidung. Er war nicht zufrieden.“

„Ich hatte einen, der behauptet hat, Shakespeare sei ein Algorithmus“, warf Matteo ein.„Was hast du gesagt?“ „Dass das nur jemand sagen würde, der noch nie Liebeskummer hatte.“ Die Gruppe lachte leise. Leo gähnte und stützte den Kopf auf die Hände. „Weißt du, was ich dieses Jahr lernen will? Dass es okay ist, nicht alles zu können. Ich hab neulich realisiert, dass ich seit zehn Jahren so tue, als hätte ich den Durchblick. Und eigentlich... weiß ich oft auch nicht mehr als meine Zwölftklässler.“

„Ich hab das Gefühl, dass ich immer mehr spiele, als dass ich wirklich lehre“, sagte Nadia. „Manchmal steh ich da vorne und denke: Wenn jetzt jemand fragt, was ich eigentlich wirklich glaube, dann hab ich keine Antwort. Nur eine gute PowerPoint.“ Matteo sah kurz auf. Irgendwas daran traf ihn.

„Vielleicht ist das okay“, sagte er. „Vielleicht geht’s nicht darum, Antworten zu haben. Sondern darum, da zu sein, wenn jemand fragt.“ Alle schwiegen kurz. Nicht schwer, nicht unangenehm. Einfach still.

„Na toll“, sagte Harriet dann, „jetzt fühl ich mich, als wäre ich in einem Schwarz-Weiß-Film mit melancholischer Jazzmusik.“

„Du bist in einem Pub mit einem Biolehrer, der seinen dritten Bierdeckel kaut“, sagte Leo. „Stimmt.“ Sie grinste, streckte sich. „Aber ernsthaft – kennt ihr das, wenn ein Schuljahr anfängt, und ihr denkt: Was, wenn ich diesmal einfach... anders wäre?“

„Anders wie?“

„Weniger ironisch. Oder ehrlicher. Oder mutiger. Irgendwas, was nicht nach Gewohnheit riecht.“ Sam nickte langsam. „Ich hab neulich gedacht: Ich will nicht mehr so tun, als würde ich alles mit Humor nehmen. Manchmal nervt mich der Unterricht. Oder ich hab keine Lust, über Gefühle zu reden. Und dann lächle ich halt. Ich will damit aufhören.“

„Du lächelst schön“, bemerkte Leo und blickte Sam an, „aber nicht immer echt.“ Matteo nippte an seinem Bier, sah dann Harriet an. Sie schaute gerade zum Fenster hinaus, wo die Laterne draußen ein leises Muster auf das Glas warf.

„Du willst doch eh wissen, was Grayson für einen Eindruck gemacht hat“, sagte er plötzlich. Sie drehte sich langsam zu ihm um, tat unschuldig. „Wer, ich? Nein. Ich interessiere mich ausschließlich für seine pädagogische Methodik.“

„Natürlich.“

„Also gut“, sie grinste. „Was denkst du?“ Matteo zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Er wirkt... still. Aber nicht aus Unsicherheit. Mehr so, als würde er innerlich an etwas arbeiten. Oder nachdenken, während er zuhört.“

„Mysteriös. Aber auch irgendwie langweilig.“

„Nein. Kein Schauspiel. Eher... leise Aufmerksamkeit.“

„Klingt fast poetisch. Hast du ihm das gesagt?“

„Ich hab ihm den Weg gezeigt. Das reicht für den ersten Tag.“ Harriet sah ihn einen Moment an. Ernst. Und dann hob sie das Glas. „Auf neue Kollegen. Und auf das, was man nicht sofort versteht.“ Die anderen stießen mit an, der Moment löste sich wieder ins Halblicht auf. Es war spät genug, dass niemand mehr übers Morgen nachdachte, aber früh genug, dass man sich nicht erklären musste, wenn man noch blieb. Matteo sah an seinem Glas vorbei, dachte an die Schule, an die Stunde mit den Gedichten, an den Moment im Flur, als Grayson ihn angesehen hatte, als sei er sich selbst nicht ganz sicher, was er suchte. Aber das sagte er nicht.

——

Es war fast halb zehn, als sich die Tür vom Hollow Tree erneut öffnete. Ein Windstoß zog durch den Raum, ließ Papierdeckel tanzen, bevor sie langsam wieder zur Ruhe kamen. Matteo blickte nur aus dem Augenwinkel zur Tür – und war kurz überrascht, als er Grayson erkannte. Dunkler Mantel, eine Mappe unter dem Arm, leicht zerzaustes Haar vom Wind. Er trat zögerlich ein, sah sich kurz um, dann bemerkte er die Gruppe am Tisch. Harriet war die Erste, die ihn richtig erkannte.

„Na sowas – Grayson! Bist du auf der Suche nach Raum 4B?“, rief sie halb scherzend. Er lachte leise und kam näher. „Nein, keine Fluchtversuche heute. Ich sollte eigentlich meinen Bruder hier treffen – wir wollten noch ein Bier trinken. Aber er hat sich eben gemeldet, sitzt schon im Zug auf dem Heimweg. Ist wohl einfach los, ohne Bescheid zu sagen.“

„Brüder.“ Harriet schüttelte den Kopf. „Und jetzt? Nach Hause? Oder willst du noch bleiben?“ Grayson zuckte mit den Schultern. „Ich will nicht stören.“

„Ach Quatsch. Setz dich kurz. Wir machen gerade Schuljahresvorsätze, ganz harmlos. “ „Wirklich?“ Er wirkte belustigt. „Ist das... eine Ashcroft-Tradition?“

„Ein bisschen wie Lehrer-Yoga. Man schwört sich was, hält es zwei Wochen, dann gibt man sich Kuchen.“ Leo rutschte zur Seite, schob ihm ein Glas Wasser hin. „Setz dich. Du musst eh irgendwann erfahren, wie seltsam Harriet ist.“ Sie zeigte ihm den Mittelfinger. Grayson nahm Platz, leicht zögerlich, aber ohne Unbehagen. Die Gespräche liefen weiter, es war keine große Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet – eher das normale Interesse, das man einem neuen Kollegen entgegenbringt.

„Und, was hast du dir für dieses Schuljahr vorgenommen?“ fragte Nadia nach ein paar Minuten. Grayson überlegte kurz, dann sagte er: „Ich versuche, dieses Jahr etwas weniger zu planen. Ich neige dazu, alles vorausdenken zu wollen. Vielleicht ist es Zeit, den Dingen mehr Raum zu geben.“

„Mutig“, meinte Leo. „Ich versuche das seit sieben Jahren und hab es bisher jedes Mal wieder verplant.“ Sie lachten. Sam wollte wissen, wie alt seine Kinder waren, Nadia fragte, ob er wirklich gern Politik unterrichte, Harriet deutete halb ernst, halb scherzend an, dass er sich auf den alljährlichen Weihnachtsbasar besser mental vorbereiten sollte.

Matteo hörte größtenteils zu, beantwortete ein paar Zwischenfragen, aber ließ Grayson einfach Teil der Runde sein. Es war nichts Besonderes daran. Kein Moment, der hängen blieb. Nur ein neuer Kollege, der zufällig den gleichen Pub kannte wie sie. Nach etwa zwanzig Minuten sah Grayson auf sein Handy und schüttelte leicht den Kopf.

„Na gut, ich mach mich auf den Weg. Mein Bruder ist wohl schon fast zuhause – und ich hab noch einen Wäscheberg, der nicht auf mich gewartet hat.“

„Wie unhöflich von ihm“, sagte Harriet. „Danke, dass du kurz geblieben bist.“

„Danke euch. Schön, euch so kennenzulernen – ohne Lehrerzimmerbeleuchtung.“ Er verabschiedete sich höflich, nickte einmal in die Runde, und verschwand dann wieder durch die knarrende Tür in die Nacht hinaus.

Keiner sagte etwas Bedeutungsvolles danach. Nadia holte sich noch ein weiteres Bier, Samira zeigte ein peinliches TikTok eines Schülers. Harriet erzählte von einem peinlichen Date, das sie mal mit einem Grundschullehrer hatte, der lieber über Bastelmaterialien redete als über das Leben. Matteo lachte mit, aß noch ein paar kalte Pommes, hörte halb zu – und dachte an nichts. Und das war gut so.

——

Der Wind hatte nachgelassen, als Matteo und Harriet den Pub verließen. Die Straßenlaternen warfen gelbes Licht auf den nassen Asphalt, und irgendwo roch es nach kalter Erde und verbranntem Toast – vielleicht aus einem offenen Küchenfenster, vielleicht aus Erinnerung. Sie liefen nebeneinander her, ohne Eile. Der Abend war lang gewesen, aber nicht schwer. Eher wie eine Decke, die man sich zu zweit über die Schultern legt. „War gut heute“, sagte Harriet nach einer Weile, ohne aufzusehen.

„Ja“, sagte Matteo. „Ich hatte schon fast vergessen, wie normal sich das anfühlen kann. Reden. Lachen. Ohne Ironiepflicht.“ Harriet schnaubte. „Ironie ist mein Grundnahrungsmittel. Aber ja. Ich weiß, was du meinst.“

Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Die Häuser wurden niedriger, dichter aneinandergeschoben. Die Art von Vorstadt, die bei Nacht leiser atmete. „Und?“, fragte Matteo dann, leise. „Wer passt auf Ava auf?“ Harriet lächelte. „Meine Schwester. Sie liebt es. Hat sich extra freigenommen, damit sie ihr Disney+ Passwort benutzen darf und Ava um halb zehn noch ‘ne heiße Schokolade bekommt.“

„Also Verwöhnprogramm Deluxe.“

„Absolut. Ava wollte eigentlich mitkommen, wenn sie gewusst hätte, dass du da bist.“

„Warum? Weil ich ihren Namen immer dramatisch ausspreche, wenn ich sie sehe?“

„Nein“, sagte Harriet. „Weil du ihr bei der Einschulung gesagt hast, dass sie später entweder Astrophysikerin oder Pizzabäckerin werden kann – je nachdem, worauf sie mehr Lust hat. “ Matteo lachte leise. „Das klingt nach mir.“

„Du bist wahrscheinlich der einzige Erwachsene, der sie ernst nimmt, ohne sie zu analysieren.“ „Weil sie mich an mich erinnert. Als Kind. Nur mit besserem Selbstbewusstsein. “ Harriet war einen Moment lang still. Dann: „Ich wünschte manchmal, ich wär mehr wie du. In der Klasse. Oder auch so. Du machst das alles immer mit so einer... Echtheit.“

„Du meinst, ich improvisiere durch mein Leben?“

„Ja“, sagte sie. „Aber mit Stil.“ Sie lächelten sich an, kurz, im Vorbeigehen an einer Hecke, an der ein Fahrrad halb umgekippt lehnte. Irgendwo bellte ein Hund. Oder ein Fuchs schrie – Matteo war nie ganz sicher bei diesem Geräusch.

„Weißt du“, sagte er, „manchmal hab ich Angst, dass ich zu viel improvisiere. Dass irgendwann jemand merkt, dass ich eigentlich nie einen Plan habe. Nur gute Reaktionen.“

„Willkommen im Club.“ Sie gingen ein paar Schritte in Stille. Die Straße war dunkel, nur ihr Atmen und das Knirschen der Schuhe auf feuchtem Pflaster. „Ich wollte dich noch was fragen“, sagte Matteo dann, etwas zögerlich. „Hm?“

„Wärst du... wütend, wenn ich irgendwann mal aufhöre, das hier zu machen? Schule. Unterricht. Den ganzen Zirkus.“ Harriet blieb nicht stehen. Aber ihr Gang wurde langsamer. „Warum sollte ich wütend sein?“

„Weil du mich dann vermissen würdest. Und ich dich.“ Sie dachte kurz nach. „Ich wäre nicht wütend. Nur traurig. Aber nur, wenn du gehst, ohne was anderes zu machen. Ohne Grund. Wenn du einfach... verschwindest.“

„Ich verschwinde nicht.“

„Ich weiß. Aber ich kenn dich lang genug, um zu wissen, dass du manchmal innerlich gehst, bevor du’s äußerlich tust.“ Matteo schwieg. Das war einer dieser Sätze, die nicht als Vorwurf gemeint waren, aber trotzdem einen trafen. „Danke, dass du da bist“, sagte er leise. „Danke, dass du meine Tochter inspirierst, Pizza zu lieben.“ Sie lachten wieder. Alles war gut. Für diesen Moment. An der nächsten Kreuzung blieben sie stehen.

„Ich geh links weiter“, sagte Harriet. „Klar. Sag Ava, sie soll mir nächste Woche von ihrer Lieblingsplanet erzählen.“

„Wenn du Pech hast, bastelt sie dir ein Planetensystem aus Knete.“

„Ich hoffe es.“ Sie umarmten sich kurz. Nichts Großes. Einfach Schultern, die sich berührten, Hände, die kurz verharrten. Vertrautheit in fünf Sekunden. Dann ging Harriet in die eine Richtung, Matteo in die andere. Der Weg zu seinem Haus war ruhig. Die Fenster ringsum waren dunkel. Nur vereinzelt war Licht hinter Vorhängen zu sehen – Fernseher, Nachtlampen, Leben. Als Matteo die Haustür aufschloss – diesmal mit Schlüssel –, hörte er schon das Schnauben hinter der Tür.

James. Die Bulldogge lag in ihrer Ecke, sah ihn an, als wolle sie sagen: Na, hat die Welt dich ausgespuckt oder dich wieder liebgewonnen? Matteo zog den Mantel aus, stellte die Tasche ab, warf die Schlüssel in die Schale und ging in die Küche, wo noch das leere Wasserglas vom Morgen stand. Er füllte es, trank, starrte einen Moment aus dem Fenster. Keine Gedanken, keine Pläne. Nur dieser Moment. James tappte in die Küche, rieb sich an seinem Bein, schwer und warm und vertraut.

„Komm, Großer“, sagte Matteo leise. „Abendrunde?“ James gähnte, schnaufte – und blieb einfach sitzen. „Verständlich“, murmelte Matteo. Er schaltete das Licht aus.

KAPITEL 4

Das Lehrerzimmer war voll – voller Stimmen, Brotdosen, gedämpftem Lachen, Kaffeeduft und der stillen Hoffnung, dass irgendjemand nicht nach einem Vertretungsslot fragen würde. Matteo saß mit Harriet an dem großen Tisch am Fenster, eine Liste zwischen ihnen, zerknüllt, durchgestrichen, mit Kaffeeflecken übersät. Daneben lagen zwei Ausdrucke vom Busunternehmen, ein halb gegessenes Käsebrot und Harriets Stirn, die inzwischen fast auf der Tischplatte auflag.

„Ich sage Botanischer Garten“, wiederholte sie zum vierten Mal. „Pädagogisch sinnvoll, kein Verletzungsrisiko, Toiletten in Reichweite.“

„Ich sage Kletterpark“, konterte Matteo. „Teamarbeit, Selbstüberwindung, eine echte Erinnerung fürs Leben.“

„Eine Gehirnerschütterung ist auch eine Erinnerung fürs Leben.“

„Du bist so dramatisch.“

„Ich? Du willst mit 14-Jährigen auf 12 Meter hohe Plattformen steigen, als wären sie alle seelisch stabil und trittsicher.“

„Es gibt Sicherungsseile.“

„Und trotzdem keine Sicherung für mein Nervenkostüm.“ Leo saß am Nebentisch und kaute auf einem Apfel, als hätte er beschlossen, sich nicht einzumischen. Aber sein Grinsen verriet, dass er jedes Wort hörte. Grayson war auch da – in seinem üblichen, unaufgeregten Look: helles Hemd, Pulli darüber, ein Stift in der Brusttasche. Er saß mit einem offenen Laptop vor sich und tippte leise irgendetwas, während er einen Tee umrührte.

„Könnt ihr nicht einfach beides machen?“ fragte Leo beiläufig. „Halb Tag Klettern, halber Tag Pflanzen.“ Harriet warf ihm einen Blick zu. „Weil die Strecke dazwischen nur ungefähr zwei Stunden Busfahrt ist.“

„Ach so. Ja, dann nicht.“ Grayson sah kurz auf, lächelte in die Runde. „Ich nehme an, das ist der berühmte Ashcroft-Ausflugskonflikt?“ „Berüchtigt“, sagte Matteo. „Jedes Jahr die gleiche Debatte. Ich will was mit Bewegung, Harriet will was mit... Chlorophyll.“

„Ich will was mit gesundem Menschenverstand“, sagte sie. Matteo sah sie herausfordernd an. „Dann musst du woanders hinziehen.“

„Na wunderbar.“ Harriet ließ sich in den Stuhl fallen, die Arme verschränkt, der Ton gespielt genervt, aber mit einem leichten Schmunzeln.

„Okay“, sagte sie. „Ich geb’s zu. Ich hab heute früh eine Mail bekommen. Ava hat einen Zahnarzttermin genau an dem Tag, und meine Schwester ist da auf Fortbildung. Ich kann nicht mitfahren.“ Matteo starrte sie an. „Du hast mich zehn Minuten lang wegen des Kletterparks gequält, obwohl du gar nicht mitkommen kannst?“

„Natürlich. Es geht ums Prinzip.“ Leo lachte. „Unterschätz nie eine Biologin mit im Vorhinein festgelegten Prinzipien.“

„Und ich bin auch raus“, sagte Leo und warf seinen Apfelrest in den Mülleimer. „Ich hab an dem Tag Sportfestaufsicht mit den Jahrgängen 7 bis 9. Wenn ich den Termin tausche, hassen mich alle, inklusive mir selbst.“

Matteo lehnte sich zurück. „Na toll. Bleib ich also mit 24 hormonellen Pubertieren allein zwischen Seilen hängen.“ Eine kleine Pause entstand. Dann drehten sich Harriet und Leo gleichzeitig zu Grayson. Grayson, der bis dahin still gewesen war, hob langsam den Blick. „Ich…?“ Harriet lächelte. „Du bist sportlich. Du bist neu. Du hast noch nicht 'Nein' gesagt. Das reicht als Qualifikation.“

Grayson lachte leise. „Ich muss das mit meiner Frau klären. Sie hat Schichten im Krankenhaus, wir teilen uns die Kinderbetreuung.“

„Natürlich“, sagte Matteo sofort. „Nur wenn’s passt. Ich mein—es ist kein Zwang. Ich krieg das auch irgendwie hin. Notfalls mit Adrenalin und Kletterhelm.“ Grayson sah kurz auf den Ausflugszettel. Dann nickte er langsam. „Aber an sich würde ich gerne. Klingt nach einem echten Erlebnis.“

„Das ist das Wort, das Matteo auch immer benutzt“, murmelte Harriet. „Erlebnis. Klingt harmloser als organisiertes Chaos in schwindelerregender Höhe.“ Matteo grinste. „Wenn du’s so verkaufst, klingt’s nach Abenteuerroman.“

„Wenn du’s leitest, wird es einer.“ Grayson zog sein Handy aus der Tasche, tippte eine kurze Nachricht. Dann: „Ich geb dir heute Nachmittag Bescheid. Wenn ich's geregelt kriege, bin ich dabei.“

Matteo nickte. „Klar. Kein Stress. Danke.“ Grayson blätterte einen Moment in seinem Notizbuch, riss schließlich einen kleinen Zettel ab – kariert, sauber, wie alles an ihm – und schob ihn über den Tisch.

„Magst du mir deine Nummer aufschreiben? Dann kann ich direkt Bescheid sagen, und du kannst weiter planen.“ Matteo griff automatisch nach dem Stift in seiner Brusttasche, schrieb die Nummer hin, ohne groß nachzudenken. Als er fertig war, schob er den Zettel zurück. Grayson nahm ihn, faltete ihn einmal, steckte ihn ein. Kein großer Blick. Kein Lächeln mit Bedeutung. Nur ein kurzer, freundlicher Moment zwischen zwei Menschen, die sich zu helfen versuchten.

Dann drehte sich Grayson wieder zu seinem Laptop, Leo seufzte laut über eine E-Mail von der Schulleitung, und Harriet murmelte halb in ihren Kaffeebecher: „Ich hoffe, der Bus hat eine gute Federung.“

——

Der Nachmittag war still. Kein Schulgeläut, kein Trubel, kein verrutschtes Arbeitsblatt, das durch den Raum wehte. Nur das leise Ticken der Küchenuhr und James, der auf seinem Kissen schnarchte, als wolle er die Welt durch Geräusche polstern.

Matteo saß am Küchentisch, Laptop geöffnet, Tasse Tee längst kalt geworden. Neben ihm lagen zerknitterte Ausdrucke, ein Textmarker, eine leere Müslischale, und irgendwo unter einem Buchdeckel: sein Handy. Entweder musste er sich bald ein neues Gehirn wachsen lassen, um sich zu erinnern, wo er seine ganzen Sachen abstellte, oder er müsste sich ein System überlegen, in dem jeder Gegenstand seinen eigenen Platz hatte.

Er hatte sich vorgenommen, heute endlich mit dem Theatertext anzufangen. Lear – sein ambitionierter Plan für die Abschlussproduktion. Die Schüler hatten ihn halb begeistert, halb verstört angesehen, als er es angekündigt hatte. „Alt, laut und tragisch“, hatte er gesagt. „Genau wie unsere Schulpolitik.“

Jetzt saß er vor dem geöffneten Skript, der Cursor blinkte unentschlossen in der dritten Szene, und Matteo starrte auf den Satz:

Doch alles, was ich bin, ist weniger als nichts.

Er las ihn nochmal. Und nochmal. Dann klickte er auf „Einfügen“ und schrieb darunter: [PAUSE]

Eine elegante Flucht aus dem Moment.

Er stand auf, ging zum Fenster, sah hinaus in den kleinen Garten, wo die Wäsche im Wind zitterte, obwohl sie schon trocken war. September hatte diese eigenartige Unentschlossenheit – kein richtiger Sommer, kein richtiger Herbst. Nur Übergang. Matteo ging zurück zum Tisch. Der Tee war wirklich kalt. James schnarchte immer noch. Er griff nach dem Handy. Schaute nicht wirklich drauf. Nur dieses kurze, reflexhafte „Ist was da?“

Nichts. Natürlich nichts.

Er schob es wieder unter das Notizbuch. Machte sich innerlich einen Punkt: Hör auf zu warten. Dann schrieb er weiter. Drei Zeilen. Ein Halbsatz. Eine Bühnenanweisung.

Lear steht. Alles still. Nur der Regen bleibt.

James röchelte im Schlaf. Matteo sah ihn kurz an. „Du weißt auch nicht, wie man Gefühle parkt, oder?“ Der Hund hob ein Ohr, klappte es dann wieder runter. Draußen wurde das Licht langsam wärmer. Spätnachmittag. Der Moment, in dem alles weich wird, aber nichts entschieden ist. Matteo stand auf, streckte sich, ging zum Kühlschrank, öffnete ihn, schloss ihn wieder.

Dann vibrierte das Handy. Ganz kurz. Ein Ton. Er griff fast zu schnell danach. Einfach. Nur. Organisation. Er war Lehrer. Er musste planen können.

Grayson Oliver – stand da. Ein Anruf. Kein Text.

Er hob ab. „Hallo?“

Graysons Stimme klang ruhig, ein bisschen gedämpft – vielleicht durch Wind, vielleicht durch Zögern. „Hey. Matteo. Ich hoffe, ich stör nicht.“

„Nein, gar nicht. Ich... arbeite gerade.“ Das klang professionell. Nicht wie: Ich starre auf ein leeres Word-Dokument und tue so, als sei das kreativ.

„Ich wollte dir nur Bescheid sagen – es klappt. Ich hab's mit meiner Frau geregelt. Ihre Schicht fängt später an, meine Schwiegermutter ist am Ausflugstag bei den Kindern. Ich bin also dabei.“ Matteo lächelte. Mehr, als er vorhatte. „Das ist super. Wirklich. Danke.“

„Kein Problem. Ich dachte, ich ruf an, statt zu schreiben. Irgendwie fühlt sich das... klarer an.“

„Ist es auch.“ Kurz war es still. Nicht unangenehm. Nur still.

„Brauchen wir für den Ausflug noch irgendwas? Vorbereitungsmäßig?“

„Ich schick dir morgen das Formular. Plus: eine Packliste. Die Schüler kriegen auch eine. Und wir. Nur damit wir alle wissen, dass wir nicht in Sandalen klettern sollen.“ Grayson lachte leise. „Guter Hinweis. Ich bin nicht der Typ, der in Sandalen klettert. Oder überhaupt in Sandalen.“

„Noch sympathischer.“ Noch ein kleiner Moment. Kein Druck.

„Na gut“, sagte Grayson schließlich. „Ich wollte nur kurz durchgeben, dass du mit mir rechnen kannst.“

„Mach ich. Und danke nochmal.“

„Gern. Bis morgen.“ „Bis morgen.“

Der Anruf endete. Das Handy blieb kurz noch in Matteos Hand. Dann legte er es langsam auf den Tisch, neben den Zettel mit Bühnenanweisungen. Er sah auf den Bildschirm. Der Satz blinkte noch immer:

Lear steht. Alles still. Nur der Regen bleibt.

Er klickte daneben. Löschte „Regen“. Schrieb stattdessen: Wind. Dann lehnte er sich zurück, sah zu James.

„Okay“, sagte er. „Vielleicht wird’s ja was.“ Der Hund grunzte. Matteo nahm die Teetasse, ging zum Fenster, sah noch einmal raus. Und der Wind bewegte die Wäsche – nicht wie etwas, das nicht weiß, wohin. Sondern wie etwas, das in Bewegung ist.

——