Warum nur habe ich das getan? - Rudi Schreiner - E-Book

Warum nur habe ich das getan? E-Book

Rudi Schreiner

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Beschreibung

Jetzt habe ich mein Leben vor Ihnen ausgebreitet, und zwar ­genauso, wie ich es erlebt habe. Ich bin zwar wegen Mordes verurteilt, aber ich liebe Veronika noch immer. Mein Herz steckt voller tiefer Empfindungen für sie und es ist nicht das Herz eines Mörders. Ich bereue zutiefst, was ich im Rausch meiner Gefühle getan habe. Ich habe damit nicht nur meine geliebte Lebensgefährtin, son­dern auch mein altes Leben unwiederbringlich verloren und muss nun mein neues Leben ertragen. Von Reisen, Arbeit, Geld und Liebe kann ich nur träumen. Ich habe zwar die Hoffnung auf ein neues, erfülltes Leben noch nicht aufgegeben, aber die Zukunft ist ungewiss. Vielleicht hilft mir mein Buch, wieder Glück zu finden. Ich fühle mich noch nicht zu alt, um nochmals durchstarten zu können.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rudi Schreiner

Romy Lerchenberger

Warum nur habe ich das getan?

Rudi Schreiner

Romy Lerchenberger

Warumnurhabeichdasgetan?

Lebensgeschichte eines Mörders

R. G. Fischer Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2026 by R. G. Fischer Verlag

Sontraer Str. 13, D-60386 Frankfurt/Main

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Times

Herstellung: rgf/su

ISBN 978-3-8301-9349-4 EPUB

Zur Erinnerung an Rudi, der trotz aller Schicksalsschläge nie aufgegeben hat

Inhalt

Vorwort der Co-Autorin Romy Lerchenberger

Vorwort von Rudi Schreiner

Kapitel 1 Bevor der Krieg zu uns kam

Kapitel 2 Dann kam der Krieg auch zu uns

Kapitel 3 Der Krieg ist vorbei

Kapitel 4 Mein Vater kehrt zurück

Kapitel 5 Die Lehrzeit beginnt

Kapitel 6 Endlich 18 Jahre alt

Kapitel 7 Auswanderung nach Australien

Kapitel 8 Rückkehr nach Deutschland

Kapitel 9 Die erste große Reise – Amerika

Kapitel 10 Dann kam Veronika

Kapitel 11 Neuanfang mit Vroni

Kapitel 12 Auswanderung nach Mallorca

Kapitel 13 Reise nach Marokko

Kapitel 14 Umzug nach Cala Murada

Kapitel 15 Veronikas Tod

Kapitel 16 Verurteilung und Gefängnis

Nachwort von Rudi Schreiner

Nachwort der Co-Autorin

Vorwort der Co-Autorin Romy Lerchenberger

Ich habe Herrn Schreiner in meiner Eigenschaft als gesetzliche Betreuerin in einer Einrichtung für Haftentlassene kennengelernt. Vor unserem ersten Treffen war mir etwas mulmig, da ich nicht wusste, wer da auf mich zukommen würde. Es wurde mir gesagt, dass Herr Schreiner seine Lebensgefährtin ermordet habe und deshalb zu 16 Jahren Haft verurteilt worden sei. Wer also war dieser Mann? Wie würde er mir entgegentreten? Ich stellte mir einen verschrobenen alten Menschen mit hartem Gesichtsausdruck vor, der von meinem Erscheinen nicht begeistert wäre und mich das auch spüren lassen würde.

Ich wurde schließlich in sein Zimmer geführt und trat zaghaft ein. Darin saß ein Mann, der bei meinem Eintreten sofort von seinem Stuhl aufsprang und mit einem breiten Lächeln auf mich zukam. Sichtlich erfreut über meinen Besuch, schüttelte er mir die Hand und bot mir einen Platz in seinem winzigen Zimmer an. Er erkundigte sich kurz nach meinem Befinden und begann dann zu erzählen und zu erzählen … Er konnte spannend erzählen und dabei sowohl weinen als auch lachen, je nach Situation. Nach etwa 2 Stunden kannte ich seine abwechslungsreiche, bewegende und sehr beeindruckende Lebensgeschichte. Ich war überrascht von diesem Menschen und zweifelte an meiner Urteilsfähigkeit. Selten war mir ein so freundlicher, offener und charmanter Mensch begegnet. Wie war es möglich, dass ein derartiger Mensch einen anderen Menschen töten konnte? Erst viel später, nachdem ich die Lebensgeschichte des Herrn Schreiner bis ins Detail kannte und ihn auch als Menschen besser durchschaut hatte, verstand ich den psychologischen Hintergrund der Tat. Es wurde mir plötzlich bewusst, dass Herr Schreiner aufgrund seines Charakters, der schon in seiner Kindheit sichtbar wurde, nur auf diese Art hatte reagieren können.

Rudi Schreiner wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in München geboren. Er war ein außergewöhnlich hübsches und pfiffiges Kind. Er war mutig und fleißig und was er sich in den Kopf setzte, schaffte er auch. Von seiner Mutter wurde er deshalb heiß geliebt. Sie vergötterte ihren Sohn und konnte ihm keine Bitte abschlagen. Auch seine zahlreichen Onkel und Tanten ließen ihn ihre Begeisterung spüren. Rudi galt als Vorbild für seine Geschwister und für die zahlreichen Cousins und Cousinen. Bereits als kleiner Junge war er geschäftstüchtig, verdiente Geld und unterstützte die Familie. Bei seinen Freunden eroberte er sich die Anführerrolle. Durch seine Geschäftstüchtigkeit und seinen Wagemut brachte er es später zu beträchtlichem Vermögen. Bei den Frauen war er heiß begehrt, was er in vollen Zügen genoss. Lediglich sein Vater verweigerte ihm seine Liebe und sein Interesse. Rudi bestrafte ihn dafür mit Verachtung.

Durch diese ständige Bewunderung entwickelte sich Rudi Schreiner zu einem sehr dominanten Menschen. Er hielt sich für einzigartig. Wie sollte es nach all den Erfolgserlebnissen und der Bewunderung durch seine Umwelt auch anders kommen! Galt er doch als der Schönste, Geschäftstüchtigste, Mutigste und Fleißigste. Diese Eigenschaften besaß Rudi Schreiner auch allesamt, jedoch war er irgendwann zu einer realistischen Einschätzung seiner Fähigkeiten nicht mehr in der Lage. Kritik konnte er nicht mehr zulassen. Er sah die Menschen und ihre Bedürfnisse nicht mehr, sondern nur noch sich selbst. Dabei ging er davon aus, dass sein Handeln für alle nur das Beste sei. Er war schließlich der Gute, der Macher, der Geber. Die anderen Menschen, insbesondere seine Familie, sollten ihm dafür dankbar sein! Was wären sie denn ohne ihn! Das war seine volle Überzeugung.

Durch sein übersteigertes Selbstbewusstsein konnte Rudi es nicht zulassen, von seinem Sockel gestoßen zu werden. Es hätte sein Bild von sich selbst zerstört und damit auch ihn selbst. Deshalb konnte er es auch nicht ertragen, dass sich seine Lebensgefährtin mit einem anderen Mann einließ. Dass jemand anderes ihm vorgezogen wurde, war für ihn nicht tragbar, sodass seine Welt wieder richtiggestellt werden musste. Die Demütigung war zu groß. Und deshalb geschah schließlich das Unausweichliche …

Vorwort von Rudi Schreiner

Ich heiße Rudi Schreiner. Ich sitze hier seit meinem 72. Lebensjahr hinter Gefängnismauern und habe nun begonnen, ein Buch zu schreiben. Ohne Beschäftigung, ohne Struktur und ohne Sinn ist es für mich sonst nicht auszuhalten. Ich hatte bisher ein interessantes, erfolgreiches und ereignisreiches Leben. Ich steckte voller Energie und Tatendrang und ich liebte mein Leben. Dieses Leben habe ich in einem einzigen, kurzen und unüberlegten Moment zerstört. Mein Handeln, das ich mir lange Zeit selbst nicht eingestanden habe, ist mir unbegreiflich. Dadurch wurde mir alles genommen: meine Liebe, meine Freiheit, meine Selbstachtung. Ich wurde völlig ausgebremst, mein Vermögen eingezogen und meine Liebsten haben sich von mir entfernt. Da ich es nicht geschafft habe, mich umzubringen, muss ich mein Schicksal jetzt wohl aushalten. Aber ich versuche nun, mich durch das Schreiben abzulenken und vielleicht mit meinem Buch noch einmal erfolgreich zu sein. Es ist zumindest das Einzige, was ich im Moment tun kann. Ich hoffe immer noch, wieder in ein schönes Leben zurückkehren zu können, auch wenn ich schon alt bin. Ich möchte über 100 Jahre alt werden und ich hätte somit noch Zeit, wieder ein neues Leben in Freiheit zu beginnen.

Kapitel 1 Bevor der Krieg zu uns kam

Ich wurde im November des Jahres 1934 in München geboren. Dies war keine gute Zeit und ich musste früh selbständig werden, um im Leben zurechtzukommen. Außerdem brauchte man Fleiß, Mut und auch Ideen, um aus dieser Zeit heil herauszukommen.

Mein Vater wurde ebenfalls in München geboren. Er hatte studiert und war ein verwöhntes Muttersöhnchen, das alles bekam, was es wollte. Er war Ringer, Turner und Trainer. Wider Erwarten ging er aber schließlich als Angestellter zur Postbetriebskrankenkasse.

Meine geliebte Mutter wurde in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen geboren. Sie war ein sehr hübsches, aber angeblich auch schüchternes Mädchen.

Ich hatte drei Lieblingstanten, die ich in meiner Kindheit oft besucht habe. Das waren Tante Liesl aus Mittenwald sowie Tante Hedwig und Tante Amalia aus Garmisch. Dann gab es noch eine Tante in München und einen Onkel in Oberau.

Und da waren noch meine vier Geschwister, die alle älter waren als ich. Die älteste Schwester Angelika war sogar 12 Jahre älter. Dann kamen Ute, Karin und Laura.

Wir lebten damals in München-Giesing bei einer sehr lieben älteren Jüdin in einer schönen Wohnung. Die jüdische Dame war wie eine Oma für mich. Meine Eltern kauften dann aber ein Reihenhaus im Norden von München mit einem großen Garten. Es war eine Siedlung von 240 Siedlungshäusern und einer großen Anlage mit Spielplatz. Omi blieb allein in der alten Giesinger Wohnung zurück. Sie hat mir sehr gefehlt. Mama musste mir versprechen, dass wir sie oft besuchen würden.

Aber als wir sie 1939 dann schließlich besuchen wollten – ich war gerade einmal viereinhalb Jahre alt – machte sie nicht auf. Meine Mutter läutete bei der Nachbarin. Die sagte uns: »Die Gestapo hat sie abgeholt.«

Meine Mutter schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Heute weiß ich bloß noch, dass ich mit ihr geweint habe, aber nicht warum.

Ich fragte Mama: »Können wir sie dort besuchen?«

Sie erwiderte: »Dort, wo sie hingebracht worden ist, können wir sie nie mehr besuchen.«

Ich war sehr traurig. Meine Schwester Angelika und Mama mussten mich oft trösten.

Wenn ich abends nicht schlafen konnte, durfte ich immer zu meiner Schwester Angelika ins Bett schlüpfen. Angelika war jetzt 17 Jahre alt und sehr schön. Ich war auch hübsch, blond und lockig. Angelika hatte schon einen Freund. Er war Oberleutnant bei der SS. Als er uns besuchte, musste er sich bücken, um durch die Tür zu kommen. Er kam mir wie ein Riese vor. Später erfuhr ich, dass er 1,95 m groß war.

Dann kam die Nachricht im Radio: Krieg. Deutschland war in Polen einmarschiert.

Kurz danach widerfuhr unserer Familie ein großes Unglück. Es traf meine große Schwester Angelika. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich daran zurückdenke. Dieses Unglück hat mein junges Leben lange Zeit getrübt.

Angelika hatte in der Stadt als Strickerin gearbeitet, zusammen mit 12 weiteren Mädchen. Als Angelika eines Abends von der Arbeit heimkam und das Fahrrad in den Keller brachte, fiel sie mit dem Fahrrad die Treppe hinunter und verstauchte sich den Fuß.

Da befahl Papa: »Morgen bleibst du zu Hause!«

Aber meine Schwester ging trotzdem zur Arbeit. Nachmittags kam dann ein Beamter zu uns ins Haus. Er sagte zu mir: »Hol deine Mutter, ich muss sie sprechen.«

Meine Mutter fragte ihn: »Um was geht es denn?«

»Um Ihre Tochter, bitte setzen Sie sich. Ihre Tochter arbeitet doch in der Strickerei?«

»Ja, natürlich.«

»Dort im Hof, wo die 13 Mädchen gestrickt haben, ist ein großer Benzintank explodiert. Ihre Tochter und zwei weitere Mädchen sind noch am Leben, aber zehn Mädchen sind tot.«

Da fing meine Mutter an zu schreien: »Bringen Sie mich sofort zu ihr.«

»Frau Schreiner, beruhigen Sie sich!«

»Wie soll ich mich da beruhigen?«

»Sie können erst morgen zu ihr. Sie ist noch im Operationssaal.«

Meine Mutter nahm mich auf den Arm und rannte in der Küche hin und her. Sie sagte zu dem Mann, er solle jetzt gehen, denn sie wolle allein sein. Der Mann war auch sehr aufgeregt und durcheinander. Er gab meiner Mutter die Hand und meinte: »Ich hoffe, dass es nicht so schlimm ist, wie es aussieht.«

Als er fort war, brachte mich Mama ins Schlafzimmer. Wir legten uns ins Bett und weinten jämmerlich. Als meine drei Geschwister nach Hause kamen, kam es erneut zu einer schlimmen Szene.

Am nächsten Morgen waren wir sechs Familienmitglieder alle im Krankenhaus. Was ich da sah, werde ich mein ganzes Leben lang nie vergessen und es macht mir heute noch zu schaffen. Ich sah nur ihre Augen, der Rest von ihr war eingewickelt wie eine Mumie. Meine Mutter drückte mich an sich, dass es mir wehtat.

Die Schwester bat uns, Angelika nicht zu berühren. Sie hätte sonst noch mehr Schmerzen. In dieser nahezu unerträglichen Situation begann mein Vater plötzlich laut zu schimpfen: »Du hättest mit deinem verstauchten Fuß eben zu Hause bleiben sollen!«

Ich habe damals nicht begriffen, welche Ungeheuerlichkeit in diesen vorwurfsvollen Worten lag. Erst als ich erwachsen war, habe ich das verstanden und ich war unbeschreiblich wütend auf ihn. Wir durften nur eine halbe Stunde bleiben, weil Angelika dann eine Spritze bekam. Heute weiß ich, dass sie Morphium bekommen hat.

Am nächsten Tag gingen Mama und ich wieder ins Krankenhaus. Angelika konnte nur flüstern und undeutlich reden. Ich hätte mich so gern zu ihr ans Bett gesetzt und ihre Hand gehalten, aber das durfte ich ja nicht. Die Schwester ermahnte uns: »Sie darf nicht viel reden.« Meine Mutter hat aber sehr viel mit ihr gesprochen. An Einzelheiten kann ich mich jedoch nicht mehr erinnern.

Anschließend sprach meine Mutter noch mit dem Arzt. Ich musste im Flur sehr lange auf sie warten. Die Krankenschwester brachte mir in der Zwischenzeit eine Tafel Schokolade. Als dann meine Mutter zurückkam, liefen ihr die Tränen übers Gesicht und da ging es mir ebenso. Auf dem Heimweg traute ich mich nicht zu fragen, was der Arzt gesagt hatte. Erst als ich erwachsen war, erkundigte ich mich einmal danach. Der Arzt hatte ihr gesagt, dass es keine Rettung mehr für Angelika geben würde.

Am Sonntagfrüh kam Fred, Angelikas Freund, der Oberleutnant. Ich rannte ihm entgegen und rief: »Angelika ist etwas Schlimmes passiert!«

Er ließ mich los und schaute meine Mutter an. Die fing aber gleich an zu weinen. Deshalb fragte er meinen Vater, was passiert sei. Mein Vater erzählte ihm von der Explosion und den schlimmen Folgen. Fred setzte sich an den Tisch, die Hände vor dem Gesicht und fing zu schluchzen an. Mein Vater konnte das nicht mit ansehen und verließ die Küche. Fred nahm mich auf den Schoß und legte einen Arm um meine Schulter: »Nächste Woche muss ich an die Front, das wird mir helfen, darüber hinwegzukommen.«

Am nächsten Tag besuchten wir Angelika wieder und auch den darauffolgenden Tag, bis zum neunten Tag. Angelika war jetzt so schwach, dass sie uns nicht mehr wahrnahm und die Krankenschwester uns fortschickte. Als wir im Bus saßen, sagte Mama: »Angelika wird jetzt in Frieden sterben.« Dann drückte sie mich fest an sich.

Jetzt hatte ich keine Angelika mehr, zu der ich, wenn ich nicht schlafen konnte, ins Bett schlüpfen durfte. Die kommende Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich wartete, bis meine Eltern ins Bett gegangen waren. Dann ging ich hinunter ins Elternschlafzimmer und fragte Mama, ob ich bei ihr schlafen dürfe.

Papa herrschte mich an: »Das fangen wir erst gar nicht an!«

Meine Mutter aber nahm mich bei der Hand und ging mit mir nach oben. Sie legte sich zu mir und wir weinten, bis ich eingeschlafen war. Meine Mutter kam nun jeden Abend zu mir ins Bett. Meine drei Geschwister schliefen nebenan. Sie haben natürlich mitbekommen, dass Mama immer bei mir war und haben mich gehänselt. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Mir war das egal.

Als der Tag der Beerdigung kam, holte Fred uns ab. Er hatte eine wunderschöne Uniform an, mit Orden an der Brust. Mein Vater muss ihn bewundert haben, denn er gab ihm sogar die Hand. Ich durfte auf Mamas Schoß vorne im Auto sitzen. Es freute mich, dass Papa hinten bei meinen Geschwistern Platz nehmen musste. Er verzog aber keine Miene. Es war ein großes Erlebnis für mich, denn es war das erste Mal, dass ich in einem Auto mitfahren durfte. Auf dem Friedhof waren schon fast alle Nachbarn aus unserer Siedlung versammelt und als der Sarg versenkt wurde, weinten viele. Ich bemerkte, dass mein Vater sogar den Arm um Mamas Schulter gelegt hatte. An der anderen Seite hatte Mami meine Hand. Ein Friedhofsbeamter hielt eine Ansprache. Wir waren alle sehr traurig. Aber bei der Heimfahrt habe ich sogar aufgehört zu weinen, weil mir das Autofahren so viel Spaß gemacht hat.

Fred musste sich dann verabschieden, weil er am nächsten Morgen an die Front musste. Sogar mein Vater nahm ihn in die Arme. Fred sagte noch: »Lebt wohl alle zusammen.«

Wir schauten ihm nach, bis er verschwunden war. Kurz bevor ich als Erwachsener nach Australien ausgewandert bin, habe ich mit Mama über Fred gesprochen. Mama meinte: »Fred ist bestimmt gefallen, denn es sind jetzt elf Jahre vergangen. Er hätte sich auf jeden Fall bei uns sehen lassen.«

Die kommende Zeit war sehr schlimm für Mami und mich. Wenn Mama im Keller die Wäsche wusch, weinte sie immer. Ich ging dann zu ihr hinunter und sie sang mir Lieder vor, die sie mit Angelika gesungen hatte. Und sie konnte auch wunderschön jodeln. Sie erzählte mir von den großen Bergen und dass sich das Jodeln hoch oben am Berg noch viel schöner anhöre. Sie versprach mir: »Wenn es keinen Krieg mehr gibt, fahren wir mit dem Zug nach Garmisch und steigen auf die Zugspitze. Und da jodele ich dir was vor.«

Als ich fünf Jahre alt war, wurde Papa auch eingezogen. Das war für mich sehr erfreulich, denn nun durfte ich in Papas Bett neben meiner lieben Mutter schlafen. Es begann eine schöne Zeit für mich. Wenn ich aufstand, waren meine Geschwister bereits in der Schule. Meine Mutter schickte mich dann meistens zum Bäcker, um zwei Hörnchen zu holen und wir frühstückten gemütlich. Manchmal bekam ich sogar Kakao.

Wir fuhren auch öfter in die Stadt zu Mamas Schwester. Von der Tante erhielt ich immer Süßigkeiten. Oft gingen wir auch in ein Café. Mama kaufte dann Kaffee und Kuchen und ich bekam eine Limonade. Meine Mutter liebte es, in ein Café zu gehen.

Ich streifte immer gerne durch die Gegend, um etwas Neues zu erleben. Bei uns gab es viele Möglichkeiten. Direkt hinter unserer Siedlung war die Flak-Kaserne, und in Richtung Wald war die SS-Kaserne. Der Bahndamm war auch in der Nähe. Wir schauten immer zu, wenn Lastwagen oder sogar Panzer verladen wurden. Einmal haben die Soldaten meinen Freund und mich auf einen Panzer gehoben und wir durften auch ins Innere klettern. Die Soldaten waren sehr nett zu uns. Einer fragte uns: »Werdet ihr auch Soldaten, wenn ihr groß seid?«

»Ja«, riefen wir begeistert.

Neben der SS-Kaserne war ein Truppenübungsplatz mit Schlammlöchern, durch die die Lastwagen und Motorräder fahren mussten. Der Spieß brüllte die Soldaten dann immer an, wenn diese stecken blieben. Es war sehr aufregend, dabei zuzusehen.

Einmal kam eine Kompanie an unserer Siedlung vorbeimarschiert. Ich marschierte neben den Soldaten her, denn ich war auch als Soldat eingekleidet, mit einer Pappdeckeluniform, einem Stahlhelm und einem Holzgewehr. Wir marschierten die lange Ingolstädter Landstraße nach Schwabing, bis zur Feldherrnhalle. Dort gab es eine große Musikkapelle. Ein Major sprach durch ein Megaphon und dann schrien alle: »Heil Hitler«, und die Kapelle spielte einen Marsch. Die Soldaten nahmen mich in ihre Mitte, klopften mir auf die Schulter und meinten, dass ich jetzt auch ein Soldat sei. Sie fragten mich, wo ich denn wohnen würde.

Ich entgegnete ganz stolz: »Neben der SS-Kaserne.«

Sie bekamen ganz große Augen, denn ich war gerade fünf Jahre alt geworden und mein Zuhause war 7 km entfernt. »Kannst du denn noch so weit laufen? Und weiß deine Mutter davon?«

»Nein, meine Mutter weiß nichts, aber ich schaffe das schon.« Als ich dann tatsächlich wieder zu Hause ankam, sah ich meine Geschwister schon vorm Haus stehen. Sie liefen mir entgegen und berichteten mir, dass die halbe Siedlung bereits nach mir suchen würde. Dann kam eine Nachbarin nach der anderen und alle schimpften, weil ich davongelaufen war. Als letztes kam meine Mutter, nahm mich in die Arme und sagte: »Jetzt habe ich dich wieder, du Lausbub.« Sie bedankte sich bei den Nachbarn. Wir gingen nun ins Haus und Mama forderte mich auf: »Jetzt raus mit der Sprache.«

Als ich mit dem Erzählen fertig war, sagte Mama zu den Mädels: »Ihr habt einen tollen Bruder.«

Da stellte ich mich voller Stolz vor meine Geschwister hin und sagte: »Ich bin stärker als ihr.«

In diesem Sommer 1940 war ich oft in der SS-Kaserne. Meine ältere Schwester Karin arbeitete dort im Büro. Sie hatte einen Freund, der hieß Gerd und war Fahrer eines Feuerwehrautos bei der SS. Ich durfte oft mitfahren, bis es ihm seine Vorgesetzten verboten haben.

Ich brauchte auch im Jahr 1940 noch nicht zur Schule zu gehen, weil ich erst im November sechs Jahre alt wurde. Darüber war ich sehr froh, weil mir das Rumstromern wichtiger war. Meine Mutter meinte: »Das ist gut so, nächstes Jahr bist du etwas reifer und tust dich leichter.«

Heute bin ich meiner lieben Mutter sehr dankbar für all ihr Verständnis. Sie hat mich auch nie geschimpft und mir immer vertraut.

Ich ging jetzt sehr oft zum Truppenübungsplatz zu den Soldaten. Das machte mir mehr Spaß, als in der Sandkiste zu spielen. Meine Freunde durften ja nicht mitkommen. Ich habe sehr viel mit den Soldaten geredet und heute glaube ich, dass ich von ihnen mehr gelernt habe, als in der Schule. Sie haben mir von fernen Ländern und Kulturen erzählt, von andersartigen Menschen und von anderen Pflanzen und Tieren.

Ich sagte zu ihnen: »Wenn ich groß bin, will ich da auch hin.« »Vielleicht schaffst du das, wenn wir nicht vorher im Krieg umgekommen sind«, erwiderten die Soldaten.

Dann kamen die großen Erfolge der deutschen Wehrmacht. Frankreich wurde besetzt. Mama hörte immer die Nachrichten im Radio, und wenn Hitler redete, meinte Mama: »Jetzt schreit er wieder, der Irre.« Sie fügte dann schnell hinzu: »Du darfst niemandem sagen, dass ich so denke, sonst schicken sie mich ins Gefängnis. Und Papa darfst du auch nichts verraten, denn der schwört auf Hitler.«

Im Sommer durfte ich zu meiner Tante und meinem Onkel nach Oberau ins Gebirge. Das liegt ca. 10 km vor Garmisch. Die Familie hatte zwei Mädchen und einen Buben. Der Bub hieß Klaus und war ein Jahr älter als ich. Ich habe viel mit Klaus gespielt. Ich durfte sogar mit Klaus für zwei Wochen auf eine Alm zu einer Sennerin. Dort mussten wir auf die Kühe aufpassen und in der Almhütte beim Kochen helfen.

Meine Mutter kam später nach und blieb noch eine ganze Woche mit mir dort. Wir machten schöne Wanderungen in den Bergen und sie zeigte mir Rehe, Hirsche und noch viele andere Tiere. Wenn ich daran zurückdenke, war das wohl die schönste Zeit meines langen Lebens.

Als wir wieder in München waren, zog es mich gleich wieder zu den Soldaten. Diese erzählten mir auch, dass eine sehr große Stadt in Frankreich, die Paris heiße, von Bomben und Granaten fast zerstört worden sei. Das tat mir wirklich leid.

Im November wurde ich sechs Jahre alt. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich Schusser (Murmeln) bekommen habe. Wir hatten einen strengen Winter mit viel Schnee.

Im Frühjahr 1941, als der Schnee geschmolzen war, war ich sofort wieder am Truppenübungsplatz. Ein paar von den Soldaten versprachen, mir zu schreiben, wenn der Krieg vorbei sei. Leider habe ich nie mehr etwas von ihnen gehört.

Im Sommer 1941 musste ich dann leider in die Schule. Die Schultüte konnte mir auch keine Befriedigung verschaffen.

Und dann kam mein Papa nach Hause, weil er verwundet worden war. Zuerst kam er ins Lazarett und anschließend durfte er seine Verwundung drei Wochen zu Hause auskurieren. Das passte mir überhaupt nicht, denn jetzt musste ich wieder in meinem Zimmer schlafen. Er war auch gar nicht nett zu mir. Wir mussten wieder ganz sittsam am Tisch sitzen und die Hände auf den Tisch legen, bis wir auf seinen Befehl hin essen durften.

Dann verlangte Papa, dass Mama Spinat koche. Spinat mochte ich gar nicht. Mama, die meine Abneigung kannte, versuchte Papa das Gericht auszureden. Aber es half nichts. Am nächsten Tag nach der Schule gab es den Spinat. Bereits nach dem ersten Löffel musste ich würgen. Ich lief zur Toilette und da flog mir auch schon der Teller samt Spinat hinterher. Ich war von oben bis unten vollgekleckert. Als ich wieder zurück in die Küche kam, hob meine Mutter gerade die Scherben auf und schimpfte Vater wegen des schönen Tellers. Sie hatte doch extra das Sonntagsgeschirr genommen.

Mein Vater schickte mich aufs Zimmer: »Mach deine Hausaufgaben und bleib auf dem Zimmer, bis ich dir erlaube, es zu verlassen.«

Als es dunkel war, kam Mami zum Gutenachtkuss. Sie erklärte mir: »Weißt du, Papa hat im Krieg so viel mitgemacht und ist deshalb so aggressiv. Du musst ihm verzeihen.«

Ich aber entgegnete voller Wut: »Das ist mir egal, ich mag ihn trotzdem nicht.«

Tröstend meinte Mama: »Dein Papa ist ja bald wieder fort.«

Das war mir ein echter Trost.

Ein paar Tage später war meine Schwester Laura beim Essen an der Reihe. Sie ekelte sich vor Zwiebeln. Meine Mutter achtete natürlich darauf, dass keine Zwiebel auf Lauras Teller kam. Aber sie musste ein kleines Stück übersehen haben. Laura versuchte, es heimlich hinter ihrem Teller zu verstecken, aber Papa sah immer alles. Er gab ihr eine Ohrfeige und stopfte ihr die Zwiebel in den Mund. Sie erbrach das ganze Essen.

»Ich bin froh, wenn du wieder fort bist«, schimpfte meine Mama.

Er verlor kein Wort und verließ die Küche.

Viel später, als ich schon erwachsen war, fragte ich Mutter einmal, warum sie es bei Vater so lange ausgehalten habe.

»Weißt du«, meinte sie, »früher war er sehr nett zu mir, aber nach jedem Kind ist es schlimmer geworden. Jetzt seid ihr bald alle aus dem Haus, da wird er wieder anständiger zu mir sein. Und es ist jetzt zu spät, um ein neues Leben zu beginnen. Ich bin mit 57 Jahren einfach zu alt dafür.«

Ich erinnere mich noch gut, dass Papa mich nicht ein einziges Mal gefragt hat, wie es mir in der Schule gefalle. Und bei den Hausaufgaben hat er mir auch nie geholfen. Er hat immer nur gelesen und Radio gehört. Ich war froh, als er wieder einrücken musste und ich wieder in seinem Bett schlafen durfte.

In der ersten Klasse hatte ich eine nette Lehrerin, die mich sehr mochte. Ich kam oft zu spät zur Schule, wenn ich unterwegs etwas Interessantes gesehen hatte. Dann war das Portal schon zugesperrt. Das war für mich die Gelegenheit, zum Truppenübungsplatz zu laufen. Zum Mittagessen war ich dann aber wieder pünktlich zu Hause. Die Lehrerin sah gutmütigerweise darüber hinweg.

Im November wurde ich sieben Jahre und dieser Winter war sehr langweilig für mich.

In den Sommerferien aber durfte ich wieder für vier Wochen zu meinen Tanten nach Garmisch-Partenkirchen und Mittenwald fahren. Mama blieb auch eine Woche mit mir in Mittenwald, bevor sie wieder nach Hause fuhr. In Mittenwald wohnte meine Tante Liesl mit ihrem Mann und ihren neun Kindern. Es waren drei Buben und sechs Mädchen zwischen 8 und 17 Jahren. Die Kinder nannten mir alle ihre Namen. Es dauerte aber einige Zeit, bis ich sie mir merken konnte. Sie sagten mir auch die Namen der Berge rings herum, aber die hatte ich schon bald wieder vergessen.

Die Tante zeigte uns den Garten und das Haus. Im ersten Stock waren ein großer Raum mit sechs Betten für die Mädchen und ein etwas kleinerer Raum mit drei Betten für die Buben. Ich war begeistert!

Tante Liesl schlug mir vor: »Komm nächstes Jahr in den Ferien zu uns, dann stelle ich noch ein Bett dazu.«

Da schrien all die Kinder vor Begeisterung: »Bitte komm zu uns«, und wir hüpften alle im Kreis herum.

Nachdem meine Mutter wieder zurück nach München gefahren war, ging es für mich weiter nach Garmisch. Dort freundete ich mich mit einem Buben an. Er hieß auch Klaus und die Eltern hatten einen Bauernhof. Ich half immer den Stall auszumisten, die Schweine, Hühner und Gänse zu füttern, die Eier einzusammeln und für die Bäuerin einzukaufen. Der Bauer hatte eine Werkbank und viele Werkzeuge. Das war für mich äußerst interessant. Wir fuhren auch mit dem Traktor aufs Feld. Der Bauer mähte dort das Gras mit einer Sense und rechte es anschließend auf einen Haufen. Ich fühlte mich wie im Paradies. Klaus erzählte mir, dass ihm sein Vater im letzten Winter Skier aus Zaunbrettern gezimmert habe. Und dass er schon ein bisschen das Skifahren gelernt habe.

»Das möchte ich auch gern«, rief ich begeistert.

»Dann komm doch nächstes Weihnachten wieder!«

Nachmittags liefen wir oft zum Casino. Dort waren immer sehr feine Leute. Klaus erklärte mir: »Hier sammle ich immer Zigarettenkippen für Papas Pfeife. Viele Leute werfen die Zigaretten schon weg, wenn sie nur halb geraucht sind. Bevor die Leute sie austreten, schnappen wir sie uns.«

Der Monat war viel zu schnell vorbei. Als ich mich am Bahnhof verabschiedete, gab mir die Bäuerin noch einen Brief für Mama mit. Klaus schrie mir noch nach: »Im Winter sehen wir uns wieder.« Ich winkte, bis ich sie nicht mehr sah.

Endlich war ich dann am Hauptbahnhof in München. Meine Mama wartete schon auf mich. Ich lief direkt in ihre Arme. Zu Hause kamen mir meine Geschwister entgegengerannt und drängelten: »Erzähl schon!«

Danach redeten sie auf Mama ein: »Wir möchten auch in den Urlaub.«

Mama winkte ab: »Das können wir uns leider nicht leisten.«

Daraufhin riefen meine Schwestern entrüstet: »Rudi verwöhnst du und uns nicht!«

»Ihr seid ja schon groß, aber Rudi ist noch so klein«, entgegnete Mama.

Da merkte ich, dass meine Geschwister furchtbar böse auf mich waren. Und als Mama aus dem Zimmer war, stürzten sich meine Schwestern sofort auf mich. Ich schrie wie am Spieß. Mama kam zwar gleich wieder zurück, aber da hatte ich schon einige Schläge einstecken müssen. Jetzt wusste ich, dass mir in Zukunft einiges bevorstand. Und so kam es auch. Insbesondere Laura hasste mich jetzt.

Zwei Monate später musste Ute zum BDM (Bund Deutscher Mädchen) nach Berchtesgaden. Das war dasselbe wie die Hitlerjugend bei den Buben. Wir begleiteten sie zum Bahnhof. Dort waren bereits sehr viele Mädchen in ihrem Alter und drei Heimleiterinnen. Ein bisschen tat mir Ute leid, weil sie nun von zu Hause fortmusste.

Es kam der November und ich wurde acht Jahre alt. Ich zankte und raufte mich immer öfter mit Laura. Aber ich war jetzt schon so stark, dass ich mit Laura, die zwei Jahre älter war als ich, fertig wurde. Ich habe sie immer bei ihren langen Haaren gepackt und zu Boden geworfen. Sie packte mich natürlich auch bei den Haaren. Bei meinen kurzen Haaren hatte sie jedoch Pech, und so war ich immer der Stärkere.

Jetzt waren es nur noch ein paar Wochen, bis ich über Weihnachten zu Klaus nach Garmisch fahren durfte. Kurz vor Weihnachten begannen die Ferien und Mama brachte mich zum Hauptbahnhof.

»Im Rucksack ist ein Geschenk für dich und eines für Klaus. Packt es aber erst am Heiligen Abend aus. Und ein Brief für die Eltern von Klaus ist auch dabei. Jetzt wünsche ich dir einen schönen Urlaub und schöne Weihnachten und sei bitte höflich und artig.«

Tante Hedwig und Klaus warteten schon am Bahnhof auf mich. Es war ein herzliches Wiedersehen. Klaus hörte nicht mehr auf, mir die Hand zu schütteln.

Am nächsten Tag ging ich mit Klaus und seinem Schlitten, der vorne Hörner zum Lenken hatte, zum Berg. Dort mussten wir erst einmal eine Stunde den Schlitten hinaufziehen. Bergab war es dann eine rasante Fahrt und in einer Kurve hat es uns hinausgetragen und vom Schlitten geschleudert. Das war ein Spaß! Wir waren fast ganz im Schnee vergraben. So etwas Tolles habe ich in München nie erlebt.

Am Tag darauf fertigte mir der Papa von Klaus wie versprochen auch Skier an. Er hatte zwei Bretter, ein Stück Blech und einen Lederriemen. Aus diesen einfachen Mitteln baute er mir die Skier.

Wir übten dann zuerst an einem flachen Hang. Da ging es recht gut. Wenn ich zu schnell wurde, ließ ich mich einfach zur Seite fallen. Bögen fahren konnte ich nicht, weil ich in den Schlaufen zu wenig Halt hatte. Klaus konnte besser fahren. Er hatte in der Zwischenzeit aber auch gekaufte Skier mit einer Kandahar-Bindung bekommen, die man vorne und hinten feststellen konnte. Ich bewunderte sein Können und wollte sofort, dass er mir das auch beibringe.

Er aber meinte: »Da brauchst du zuerst solche Skier wie die meinen.«

»Vielleicht kauft Mama mir welche?«

Vormittags halfen wir immer auf dem Bauernhof und nachmittags gingen wir zum Ski- oder Schlitten fahren.

Am Heiligen Abend halfen wir den Christbaum schmücken. Dann tauschten wir die Geschenke aus. Klaus bekam eine bestickte Lederhose und ein besticktes Hemd.

Seine Mutter ermahnte ihn: »Diese Lederhose darfst du aber nur sonntags tragen.«

Ich bekam von Mama eine Mundharmonika und Klaus bekam eine Flöte. Er freute sich und bedankte sich ganz herzlich. Wir fingen gleich an zu spielen, aber es hörte sich nicht gut an.

Jetzt waren es nur noch wenige Tage, dann war der Urlaub vorbei. Ich habe mich ungern von Garmisch-Partenkirchen getrennt, aber ich musste ja wieder in die verdammte Schule gehen.

Nun ging es zurück nach München.

Im Zug kauerte ich mich auf der Bank zusammen, um ein bisschen zu schlafen. Aber damals gab es nur Holzbänke und die waren sehr hart.

Mama holte mich vom Bahnhof ab. Auf der Heimfahrt erzählte sie mir: »Laura ist unausstehlich geworden.«

Als wir zu Hause waren, tat Laura so, als ob ich gar nicht da sei. Ich existierte für sie nicht mehr. Aber nach ein paar Wochen sprach sie mich doch plötzlich an und meinte: »Wenn ich in den Sommerferien mit euch nach Mittenwald zu Tante Liesl kommen darf, bin ich dir nicht mehr böse. Das kannst du Mama erzählen.« Mama meinte dazu: »So ein kleines Luder, sie hat sich nicht getraut, mir das selbst zu sagen. Ich muss sie wohl auch mitnehmen, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit ihr. Ute ist ja Gott sei Dank in Berchtesgaden.«

In diesem Winter musste ich viel Schnee schaufeln. Der Schnee häufte sich so hoch auf, dass nicht einmal Mama durch das Fenster in den Garten schauen konnte. Die Schule war für mich eine Katastrophe. Ich wäre viel lieber bei den Soldaten gewesen. Aber im Winter ließ mich meine Mama nicht zu ihnen und so musste ich mich mit meinen Schulkameraden begnügen. Wir machten Schneerollen und bauten Schneemänner. Aber das war mir schon alles zu kindisch. Bei den Soldaten war es mir tausendmal lieber.

Das Halbjahreszeugnis war wieder einmal sehr schlecht. Nur im Zeichnen hatte ich eine Eins. Mama schimpfte mich nicht und sagte nur: »Du musst dich in Zukunft mehr anstrengen. Im Schreiben machst du viel zu viele Fehler.«

Dann kam das Frühjahr. Der Schnee verschwand und ich durfte nachmittags wieder zu den Soldaten. Ich durfte zusehen, wie die Soldaten Flakstellungen und Bunker bauten und der Zug am angrenzenden Bahndamm riesige Kanonen brachte. Das alles interessierte mich sehr.

Und bald standen auch schon wieder die Schulferien vor der Türe, in denen ich mit Mama und dieses Mal auch mit Laura wieder nach Mittenwald zu meiner Tante fahren durfte. Am Tag vor der Abreise war ich sehr aufgeregt und als wir im Bett lagen, plapperte ich ununterbrochen.

»Sei endlich still und lass mich schlafen!«

Ich lag aber noch lange wach. Als Mama mich weckte, sprang ich aus dem Bett und rannte in die Küche zum Waschen. Meine Schwester kam dazu und war sogar freundlich zu mir. Wir packten unsere Rucksäcke und Mama ihren Koffer und gingen zum Bahnhof.

Als wir am Bahnhof in Mittenwald ankamen, war fast die ganze Familie von Liesl Schoger am Bahnsteig versammelt. Wir wurden gar nicht mehr fertig vor lauter Begrüßungen. Die Leute schauten uns neugierig nach.

Tante Liesl meinte dazu: »Morgen weiß ganz Mittenwald, dass ich Besuch habe.«

Ein paar Tage später ging ich mit Lorenz und seinem Bruder Martin zum Bergsteigen. Die Tante weckte uns ganz früh und wir liefen bei stockfinsterer Nacht los. Den Weg beleuchteten wir mit einer Taschenlampe. Es war ein beeindruckendes Erlebnis. Ich hatte zum ersten Mal ein Fernrohr in der Hand und erschrak, wie groß die Gämsen darin zu sehen waren. Ich schaute lange durch das Fernrohr, bis Lorenz es mir wegnahm.

Als wir nach einer Rast auf einer urigen Hütte zurückkamen, wurden wir von der ganzen Kinderschar stürmisch begrüßt.

Am nächsten Tag wollte Lorenz an den Weiher zum Fischen. Wir zogen also mit einer Angelrute aus Bambus und einer Dose Würmer los. Am Weiher warteten wir sehr lange auf einen Fisch. Das war mir bald zu langweilig. Wir schauten ja ständig nur auf das Wasser und auf den Korken. Erst nach einer langen Zeit biss endlich ein Fisch an. Lorenz packte ihn, entfernte den Angelhaken und schlug ihm mit einem Stein auf den Kopf. Ich erschrak heftig.

»Man muss ihn töten!«

»Das kann ich aber nicht!«

»Dann nimm jetzt einen Wurm aus der Dose und mach ihn am Haken fest.«

Ich war empört: »Das kann ich auch nicht, mir graust vor Würmern.«

»Mit dieser Einstellung kannst du nie zum Fischen gehen. So kann ich dich nicht mehr mitnehmen.«

Deshalb machten wir am nächsten Tag lediglich einen Dauerlauf zum Weiher und dann um das ganze Dorf herum. Das war mir viel lieber! Ich wollte mich bewegen und nicht nur herumsitzen. Als wir wieder zu Hause ankamen, waren wir total verschwitzt. Die Tante schickte uns zum Brunnen: »Zieht das Hemd aus und wascht euch. Dann kommt zum Essen!«

An einem der restlichen Tage unternahmen wir nochmals eine schöne Bergwanderung, dieses Mal zusammen mit meiner Mutter. Meine Mutter löste dabei ihr Versprechen ein und jodelte mir etwas vor. Außerdem machte ich mit Lorenz in dieser bergigen Gegend noch eine anstrengende Fahrradtour. Wir waren ganz allein auf den Straßen, denn damals gab es noch kaum Autos.

Mama hatte mir in der Zeit in Mittenwald einen roten Pullover gestrickt. Dafür bekam sie ein Busserl von mir. Anschließend ging ich mit Lorenz in den Garten. Lorenz runzelte die Stirn und sagte »Du bist doch bald neun Jahre und gibst deiner Mama immer noch ein Busserl? Da würde ich mich schämen.« Ich glaube, ich wurde feuerrot im Gesicht. Aber ich stand dazu und meinte, dass ich meine Mama eben sehr gern habe.