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Der zweite Fall der Polizeireporterin Gianna Pitti am malerisch-mörderischen Gardasee Eine unbekannte Frauenleiche, ein Entführungsversuch und geheime Schriften Winston Churchills, die womöglich die Weltgeschichte verändern: Gianna und ihre Familie verstricken sich erneut in brisante Ermittlungen. Die junge Journalistin Gianna Pitti soll auf Bitten ihres Vaters Arnaldo, der zurück am See ist, einen Informanten am Ostufer treffen. Da scheint niemand zu sein. Doch dann sieht sie etwas im Wasser liegen. Eine Frauenleiche! Und: Ein Wagen fährt los. Wer sitzt darin? Der Mörder? Bei der Leiche findet Gianna eine CD-ROM-Hülle, darauf steht: Churchills Geheimnis. Gemeinsam mit ihrem Vater, ihrem Onkel, dem Marchese Francesco, und Chefredakteurin Elvira Sondrini versucht die Reporterin herauszufinden, was es mit der Toten und der leeren Hülle auf sich hat. In der Bibliothek der Familienvilla finden sie Aufzeichnungen von Giannas Urgroßvater, der seinerzeit einige Tage mit dem ehemaligen britischen Premier an der Baia delle Sirene verbrachte, dem wohl schönsten Flecken am See. Indes fallen in Malcesine Schüsse: ein Entführungsversuch eines britischen Historikers, der zu Winston Churchill forscht. Hängt der Vorfall mit dem Mord am Ufer zusammen? Wer ist die Tote? Und was hat es mit dem amerikanischen Ostküstenmillionär auf sich, der an der Baia delle Sirene einen baufälligen Ansitz gekauft hat? Langsam versuchen die Pittis, das Geflecht aus Verbrechen und politischen und historischen Geheimnissen zu entwirren – werden ihre Funde am Ende die Geschichte umschreiben?
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Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lenz Koppelstätter
Ein Fall für Gianna Pitti
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Über Lenz Koppelstätter
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zur Kurzübersicht
Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Südtirol geboren und aufgewachsen. Er arbeitet als Medienentwickler und schreibt Reportagen für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Salon. Seit 2015 erscheint bei Kiepenheuer & Witsch die Krimireihe um den Südtiroler Commissario Grauner, die sich großer Beliebtheit bei Leser:innen und Presse erfreut. 2024 startete erfolgreich eine zweite Reihe um Gianna Pitti am Gardasee.
zur Kurzübersicht
Eine unbekannte Frauenleiche, ein Entführungsversuch und geheime Schriften Winston Churchills, die womöglich die Weltgeschichte verändern: Gianna und ihre Familie verstricken sich erneut in brisante Ermittlungen.
Die junge Journalistin Gianna Pitti soll auf Bitten ihres Vaters Arnaldo, der zurück am See ist, einen Informanten am Ostufer treffen. Da scheint niemand zu sein. Doch dann sieht sie etwas im Wasser liegen. Eine Frauenleiche! Und: Ein Wagen fährt los. Wer sitzt darin? Der Mörder? Bei der Leiche findet Gianna eine CD-ROM-Hülle, darauf steht: Churchills Geheimnis. Gemeinsam mit ihrem Vater, ihrem Onkel, dem Marchese Francesco, und Chefredakteurin Elvira Sondrini versucht die Reporterin herauszufinden, was es mit der Toten und der leeren Hülle auf sich hat. In der Bibliothek der Familienvilla finden sie Aufzeichnungen von Giannas Urgroßvater, der seinerzeit einige Tage mit dem ehemaligen britischen Premier an der Baia delle Sirene verbrachte, dem wohl schönsten Flecken am See. Indes fallen in Malcesine Schüsse: ein Entführungsversuch eines britischen Historikers, der zu Winston Churchill forscht. Hängt der Vorfall mit dem Mord am Ufer zusammen? Wer ist die Tote? Und was hat es mit dem amerikanischen Ostküstenmillionär auf sich, der an der Baia delle Sirene einen baufälligen Ansitz gekauft hat? Langsam versuchen die Pittis, das Geflecht aus Verbrechen und politischen und historischen Geheimnissen zu entwirren – werden ihre Funde am Ende die Geschichte umschreiben?
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Barbara Thoben, Köln
Covermotiv: © Mauritius images/imagebroker
Karte zum Buch und Illustration als Abschnittstrenner: Oliver Wetterauer
ISBN978-3-462-30386-5
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Hinweise
Tag 1
Gianna
Der Marchese
Gianna
Elvira
Arnaldo
Der Marchese
Gianna
Arnaldo
Gianna
Elvira
Arnaldo
Gianna
Der Marchese
Arnaldo
Elvira
Gianna
Der Marchese
Gianna
Der Marchese
Gianna
Elvira
Arnaldo
Gianna
Tag 2
Gianna
Der Marchese
Arnaldo
Elvira
Der Marchese
Gianna
Der Marchese
Gianna
Elvira
Der Marchese
Gianna
Elvira
Gianna
Elvira
Der Marchese
Arnaldo
Der Marchese
Elvira
Gianna
Elvira
Der Marchese
Tag 3
Gianna
Der Marchese
Elvira
Gianna
Dank
Lösung des Rätsels
Ein Rezept der »San Vigilini« bzw. »rock cakes« aus den 1950er-Jahren.
Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. In Bezug auf Ortsbeschreibungen nimmt sich der Autor Freiheiten heraus.
Gianna war kein Listenmensch. Eigentlich. Sie hatte das Interview mit dieser Lebensberaterin im Wochenendteil des Messaggero di Riva, ihres Messaggero, mit müdem Lächeln gelesen. Listen würden das Leben aufräumen. Listen würden für Ordnung sorgen. Schlussendlich mehr Zeit verschaffen. Für einen selbst. Listen seien der erste Schritt. Zur Selbstfindung. Zeit sei Glück.
Sie sträubte sich dagegen, doch die Listenfrau ging ihr trotzdem nicht aus ihrem Kopf. Gianna, Gerichtsreporterin in Riva del Garda, dem märchenhaften Hafenstädtchen am Nordufer des Sees, wollte nicht so sein, wie diese Psychotante es empfahl, doch so, wie alles war, konnte es auch nicht weitergehen. Also hatte sie beschlossen, es auszuprobieren. Zumindest einen Monat lang. Musste ja niemand davon wissen. Es ging nicht mehr anders.
Gianna saß nun, wie jeden Morgen, hoch über Torbole, schaute auf das Wasser hinab. Der große Sturm war vorübergezogen. Aber sie machte sich keine Hoffnungen, dafür lebte sie schon zu lange hier. Dafür kannte sie den See und seine Berge rundherum, seine Launen, seine Winde und seine sommerlichen Wetterkapriolen nur allzu gut. War ein Sommersturm abgeebbt, nahte bald schon der nächste. Auf Sonnenschein folgten dunkles Gewölk, Blitze, Sturm. So war es in den Sommern am See. So war es in ihrem Leben. Da konnte sie nichts machen.
Kopfhörer auf. Vasco sang von ein bisschen Hoffnung auf die große Liebe und dem Leben, dem gemeinen, das die Hoffnung zerstören würde. Früher oder später.
Gianna saß da, wie immer. Und doch war alles anders. Nicht unten am See. Da war alles wie altbekannt. Dunkelblaues Glitzern. Die Fähre, die von Malcesine hochzog, einen Streifen weißer Gischt hinterlassend, der sich langsam, unmerklich beinahe, auflöste. Nicht in Torbole und Riva, die langsam erwachten. Nicht über ihr. Das vertraute, beruhigende Kreischen der Möwen. Doch hinter ihr. Das Café in den Felsen war geschlossen. Die weißen Tischchen leer. Die Plastikstühle standen gestapelt an der Holzwand der Baracke. An einem flatterte noch ein Stück Absperrband der Polizei. Die zusammengebundenen Sonnenschirme danebengelegt. Kein Espressoaroma.
Drei Tage lang hatte Gianna an den Geschichten ihres Lebens geschrieben. Drei Tage lang war die kleine Zeitung, für die sie arbeitete, in aller Munde gewesen. An allen Kiosken, nicht nur hier in Riva und Torbole, nein, auch in Verona, Mailand, Rom, war sie als Erste ausverkauft gewesen.
Nun?
War wieder Ruhe eingekehrt. Um den See. Doch nicht in ihr. Ihr Vater, der Starjournalist aus Mailand, der ein Jahr lang verschwunden war, hatte sich gemeldet. Er lebte. Tatsächlich. Sie konnte es immer noch kaum glauben. Dachte manchmal, dass alles nur ein Traum war, aus dem sie plötzlich erwachen würde. Sie wollte ihn sehen. Ihn umarmen. Ihm gegen die Brust schlagen. Die Zeit zurückdrehen. Alles wieder wie früher – papà, mamma, Gianna. Eine ganz normale Familie.
Nichts mehr würde normal sein. Nie wieder. Das war ihr schon klar.
Gianna klammerte sich an dem fest, was bleiben konnte. Routine. So wichtig. Auch an den vergangenen Tagen, an denen sie frei gehabt hatte. Dreiunddreißig Liegestütze auf dem Teppich. Eiskalt duschen. Langsam bis dreiunddreißig zählen. Dann: Liste! Vielleicht half es ja wirklich. Vielleicht tat es ihr gut. Vielleicht würden irgendwann, bald, alle Punkte darauf durchgestrichen sein. Erledigt. Dann? Pures Glück?
Gianna holte ihr Handy hervor, Vasco sang nun vom Stehen an der Theke, ein Whisky, zwei Bier. Die Welt, die nervigen Dinge des Lebens, schienen für ein paar wenige Augenblicke weit weg.
Die Reporterin holte den Zettel, auf den sie letzte Nacht alles aufgeschrieben hatte, aus der Jackentasche. Auch einen Stift. Schreiben, nicht ins Handy tippen, hatte die Lebensberaterin in der Sonntagsausgabe empfohlen. Die reinigende Kraft des händischen Aufschreibens und vor allem des späteren Durchstreichens auf das innerste Ich wirken lassen. Sie zog eine Linie über die obersten Einträge.
Liegestütze.
Gemacht.
Kalt duschen.
Gemacht.
Die Katzen.
Gefüttert.
Vasco.
Lief.
Einen neuen Klempner suchen, da ihre Küche ob eines Wasserrohrbruchs immer noch einem Kriegsschauplatz glich, da sie seitdem bei Onkel Francesco in der Villa wohnte.
Nein, dafür hatte sie heute keinen Nerv. Zumindest vormittags nicht. Vielleicht am Nachmittag.
Wahrscheinlich, philosophierte sie nun in Gedanken vor sich hin, war das Wandeln auf Erden genau das, ein ständiges Verschieben der wichtig erscheinenden und doch so unwichtigen Dinge auf ein nahes Morgen, immer und immer wieder, bis man alt war, bis man starb, bis alles Unerledigte egal war. Bis man endlich Ruhe hatte. Für immer.
Weiter.
Papà!
Schon wieder landeten ihre Gedanken bei ihm.
Gianna öffnete WhatsApp. Las Vaters Nachricht. So als ob sie nach dem hundertsten Lesen etwas Neues darin entdecken würde. Sie hatten sich mehrmals hin- und hergeschrieben in den vergangenen Tagen. Er hatte ihr gesagt, da gab es diese neue Story, bei der sie ihm behilflich sein könne. Ein kleiner Auftrag für sein investigatives Online-Portal Spada & Penna.
Es gäbe da jemanden, der ihm einige Dokumente übergeben wolle. Am frühen Vormittag. Sie solle die Sache für ihn übernehmen. Er wäre noch in Mailand, würde jedoch später zum See kommen. Sie würden sich wiedersehen. Endlich!
Warum war er nicht sofort gekommen? Gab es etwas Wichtigeres als die eigene Tochter, die einen tot geglaubt hatte, schnellstmöglich wiederzusehen? Wohl kaum. Seitdem ihr Vater wieder aufgetaucht war, schien Gianna hin- und hergerissen. Ihn zu lieben. Ihn zu hassen. Und wenn sie ihn glaubte zu hassen, so war ihr gleichzeitig klar, dass dieser vermeintliche Hass auch nur kaschierte Liebe war.
Was soll’s! Hatte sie den journalistischen Eifer ihres Vaters geerbt? Sie hatte immer gedacht, dass es nicht so war. Dass sie nur mehr oder weniger aus Zufall ebenso Journalistin geworden war. Aber vielleicht gab es den schlussendlich doch nicht, diesen Zufall. Vielleicht war sie durch eine unsichtbare Hand dahin geleitet worden, wo sie heute war.
Hier, vor einem geschlossenen Café, dessen Besitzer Großmeister einer klandestinen Verbrecherbruderschaft gewesen war, den sie durch ihre Recherchen hinter Gitter gebracht hatte. Mit dem Auftrag ihres Vaters im Kopf, in einer halben Stunde, am Ostufer des Sees, dort, wo auf einem schmalen Wiesenstreifen wenige Fahrtminuten vor Malcesine die Paraglider landeten, diesen ihr unbekannten Informanten zu treffen, der ihr interessantes Recherchematerial übergeben sollte, saß sie hier.
Es war kurz nach acht. Eine Stunde noch. Sie beschloss, diesen einen Song von Vasco zu Ende zu hören. Sich dann auf die Vespa zu schwingen. Zuerst wollte sie wieder rüber nach Riva fahren, im Bistro am Jachthafen ein Cornetto essen, zwei Espressi trinken.
Nein, nicht drei, drei waren zu viel!
Dann würde sie das östliche Gardesana-Ufer hinabfahren. Durch die Tunnel, bis zur Wiese. Die Dokumente, von denen sie immer noch nicht wusste, was sie beinhalteten, würde sie annehmen. Schließlich Vater treffen. Ihm alles übergeben. Alles erfahren. Gemeinsam entscheiden, was für eine Geschichte das sein sollte. Wie sie sie publizieren sollten. Ihn wiedersehen. Das war ihr das Allerwichtigste. Ihn drücken, ihm gegen die Brust schlagen.
Papà!
Normalerweise verfluchte der Marchese die Welt, wenn der Knoten seiner abgewetzten Seidenkrawatte aus der neapolitanischen Krawattenmanufaktur Setarelli e Figli, gegründet 1778, von der bereits sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater ihre Krawatten bezogen hatten, nicht beim ersten Mal so saß, wie er es haben wollte.
Perfekt lässig. Mit Grübchen. Wie denn sonst?
Ganz sicher nicht so, wie bei seinem Bruder, der sich nichts aus Krawattentraditionen machte, der seine Krawatten, die er wohl in irgendeiner Mailänder Billigbekleidungskette kaufte, viel zu eng, viel zu klein, viel zu fest knotete.
Vor einigen Tagen hatte Giannas Onkel, Francesco Marchese Pitti-Sanbaldi, entschieden, dass er nicht wissen wollte, wo seine Vergesslichkeit herrührte. Er wollte nicht wissen, ob er nun dement war oder nicht. Er hatte die in einem Briefumschlag steckende Diagnose des Arztes, der ihn untersucht hatte, ungeöffnet ins Kaminfeuer geworfen.
Der Marchese hob das Kinn, steckte einen Finger zwischen den mit offener Klinge rasierten Hals und den weißen Hemdkragen, spannte den Stoff. Er schmunzelte zufrieden. Sekundenbruchteile der Genugtuung. Diese Sekunden waren es, die alles ausmachten. Diese Erkenntnis hatte sich in ihm im Laufe eines ereignisreichen Lebens gefestigt. Der Knoten saß perfekt. Gleich beim ersten Versuch. Das war ihm seit Wochen nicht mehr gelungen.
»Na bitte«, flüsterte er, der unumstößliche Optimist. »Alles gut. Keine Krankheit. Vielleicht höchstens so eine Art zwischenzeitliche Teilzeit-Demenz. Vorüber. Vorbei.«
Aus dem Flur war ein dumpfer Glockenschlag zu hören, der nicht zu Verdis Don Carlos drittem Akt gehörte. Es war die Klingel am Tor. Er war da. Jetzt schon? Zu früh, wie immer. Der Marchese konnte Überpünktlichkeit nicht leiden. Wer überpünktlich war, hatte keine Manieren. Wer keine Manieren hatte, hatte sein Leben nicht im Griff.
Er griff wahllos nach einem der zwei Dutzend Parfümfläschchen, die neben dem Waschbecken auf einem Schemel standen, besprühte sich, trat auf den Flur hinaus, seine Schritte hallten auf dem venezianischen Mosaikboden. Aus der Küche strömte Kaffeegeruch, vermischte sich mit dem Parfümduft.
Vorbei an den Ahnenbildern, die da hingen, von denen er nicht wusste, wer diese Leute waren, bei denen er sich jedoch zu jedem Einzelnen eine Familiengeschichte ausgedacht hatte, die er selbst im Halbschlaf von sich geben konnte.
Vorbei am Büffelfell, das da ebenso hing und von dem er stets erzählte, er habe es vom Stamm der Cheyenne geschenkt bekommen, als er Blutsbrüderschaft mit deren Häuptling Vóhko’xénéhe, was so viel wie Adlernase bedeutete, geschlossen hatte. Es beglückte ihn immer wieder, dass ihm ein jeder Villenbesucher diese an Absurdität kaum zu überbietende Schwindelei abkaufte.
Eigentlich hatte er das Fell nämlich während seines Studiums in Oxford bei einem tiefnächtlichen Pokerspiel einem betrunkenen und bekifften Literaturprofessor abgeluchst. Der hatte ein Full House in der Hand gehabt, der Marchese schwindelte ein Herzass aus dem Ärmel des maßgeschneiderten Manschettenhemds und präsentierte sein gewinnendes Four of a Kind. Was ja an sich schon eine erzählenswerte Geschichte war, aber nicht erzählenswert genug für seinen Geschmack.
Kurz vor der Eingangstür, zu deren Rechten sich der Knopf zum Öffnen des geschwungenen Eisentores der Villa befand, verlangsamte Giannas Onkel die Schritte. Überpünktliche sollte man warten lassen. Eine Minute. Mindestens.
Es klingelte ein zweites Mal.
Typisch Arnaldo, Brüderchen. Diese Ungeduld, diese Hetze. Der Marchese begann in Gedanken, die ersten Verse von Homers Ilias aufzusagen. Andere Menschen zählten einfach bis fünf oder zehn. Doch so etwas würde er niemals tun. Mit Homer erlangte diese eigentlich kindische Geduldsübung zumindest einen winzigen Schuss Erhabenheit.
Göttin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß der Heroen, sie selbst zur Beute machte den Hunden und den Vögeln zum Fraß – Zeus’ Ratschluss ging in Erfüllung –, seit die beiden zuerst sich in Streit und Hader entzweiten …[1]
»Komm rein«, sagte er so beiläufig, als habe er Arnaldo gestern erst gesehen, so als nerve es ihn, dass er nun schon wieder vor der Tür stand.
Dabei war ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem ihn durchaus ab und an die Möglichkeit in Gedanken übermannt hatte, er könne ihn nie wiedersehen. Er könne tatsächlich tot sein. So ein Gedanke, den man von Bruder zu Bruder niemals denken mochte. Den man nicht zulassen mochte, solange noch Hoffnung bestand. So lange man seinen Leichnam nicht gefunden hatte.
»So früh?«
»Ich war früh wach, bin einfach losgefahren. Vor dem Mailänder Rushhour-Chaos. Kaum Verkehr.«
Der Marchese brummte nur.
»Gianna?«, fragte Arnaldo schnell.
»Schon außer Haus.«
Nun brummte Arnaldo, sie brummten beide gleich. Wie schon Vater gebrummt hatte. Und Großvater.
»Was gibt es Neues, Arnaldo?« Francesco fragte ihn das so beiläufig, als ob der Bruder grad erst vom Espressotrinken in einer der Bars unten in der Altstadt von Riva zurückgekommen wäre, wo die Fischer und die Geschäftsleute und die Hausfrauen und die Büromenschen den allerneusten Klatsch austauschten, den Klatsch, der noch nicht einmal im Messaggero stand.
Arnaldo Marchese Pitti-Sanbaldi trug grauschwarzen Dreitagebart. Durchaus gepflegt, er wirkte beinahe wie ein ehemaliger Börsentrader, der vor einiger Zeit alles hinter sich gelassen, ein kleines Start-up gegründet hatte. Und irgendwie war es ja auch beinahe so.
Arnaldo trat über die Türschwelle der Villa, in der auch er aufgewachsen war. Er schaute sich in alle Richtungen um, beugte sich zu seinem Bruder hin; der Marchese ließ in der Schwebe, den Bruchteil einer Sekunde lang, ob er das Angebot einer Umarmung annehmen würde. Dann packte er sein Gegenüber bei den Schultern, drückte ihn herzlich, fest, viel fester, als der Bruder mit seinen kraftlosen Journalistenärmchen und Journalistenfingerchen ihn je zu drücken vermocht hätte.
Arnaldo hatte die Hälfte seines Namens schon als junger Journalist abgelegt, sich in der Namenszeile seiner Artikel stets nur Arnaldo Pitti genannt, um sich möglichst von der Adelsvergangenheit seiner Familie loszusagen, um möglichst auf eigenen Beinen zu stehen, um, wie er immer sagte, lieber als zwei Zeilen für die Namenszeile, eine Zeile mehr für den Text selbst zur Verfügung zu haben. Eine Zeile mehr für den Inhalt, für die Wahrheit.
Die Wahrheit!
Francesco konnte darüber stets nur schmunzeln. An die Wahrheit glaubte er nur selten. Er glaubte daran, dass man sich im Leben an ein paar wenige moralische Grundlinien zu halten hatte, die ihm und seinem Bruder von Vater und Mutter mitgegeben worden waren. Wenn man das schaffte, war das schon viel. Genug. Er hielt die Ablehnung aller Zugehörigkeit zu einem der ältesten, einst nobelsten, heute etwas verarmten Adelsgeschlechter am See für eine affige Geste, wohlfeil.
Sie stritten, er und Arnaldo, eigentlich seit immer schon. Es war jene Art des Streitens, zu dem nur Geschwister fähig waren. Streit, in den Trank unzerstörbarer Liebe getunkt.
Nun schaute Francesco seinem Bruder in die Augen, versuchte den zu eng gebundenen Krawattenknoten zu ignorieren, hatte Arnaldos Worte im Ohr, die er, der Moralist, schon als Pubertierender an ihn gerichtet hatte.
»Papas Porsche, Francesco, die Villa, das Geld, das ist alles nicht gerecht, dass wir das besitzen. Eigentlich sollten wir das alles nicht haben.«
Francesco schmunzelte, packte Arnaldo bei den Schultern, schob ihn an sich vorbei in den Flur, schwelgte weiter im Damals.
»Wie recht du hast, Arnaldo«, hatte er ihm geantwortet. »Ich bemühe mich ja eh, den Wagen zu Schrott zu fahren. Alles Geld mit vollen Händen auszugeben. Gib mir noch ein paar Jahre, dann ist außer der Villa alles weg.«
Er hatte geschmunzelt, damals. Arnaldo hatte gekocht – vor Wut. Nein, die Ebene für ein bisschen Sarkasmus hatte ihm immer schon gefehlt.
»Wir sollten alles den Armen geben«, hatte Arnaldo Jahre später, als ihnen beim Notar ihr Erbe eröffnet wurde, gefordert. Und es sich dann doch anders überlegt.
Francesco schenkte den Obdachlosen in der Altstadt zu Winterbeginn stets Handschuhe, Mützen, Schlafsäcke, zu Weihnachten ein paar Flaschen Wein aus dem Keller. Zuletzt eine Kiste vom edelsüßen Château d’ Yquem,Premier Cru Supérieur. Arnaldo hatte seinen Teil des Erbes lange Jahre nicht angerührt.
Nicht, als er am See zum Chefredakteur des damals noch gewinnbringenden Messaggero del Garda aufgestiegen war.
Nicht, als er nach Mailand übersiedelte, sich zur Edelfeder des großen Corriere della Sera mauserte.
Bis er vor einem Jahr spurlos verschwunden war. Scheinbar entführt, ermordet. Von Gianna hatte der Marchese erfahren, worin sein Bruder das Geld schlussendlich investiert hatte: in Spada & Penna.
SP, das sagenumwobene, anonyme Portal, das in den vergangenen Jahren für Aufsehen im italienischen Journalismus, in Politik und Wirtschaft, in der Halbwelt und in Mafiakreisen gesorgt hatte. Unbestechlich, unabhängig, kaum zu beeinflussen, kaum auszulöschen, weil niemand wusste, wer und wie viele Personen dahintersteckten. Ein Team aus Journalisten, ein geheimer Geldgeber.
SP, das vor wenigen Tagen einen alten, geheimen, verbrecherischen Machtbund am See ausgehoben hatte. Mit der Hilfe des Marchese, Giannas und Elvira Sondrinis, der Chefredakteurin des Messaggero.
Francesco holte den Kaffee und zwei gefüllte, mit Fasanen- und Blumenmustern verzierte Keramiktassen aus der Küche, die Brüder setzten sich ins Wohnzimmer, auf die Couch, auf und vor und hinter der sie als Kinder schon Bandit und Carabiniere gespielt hatten. Natürlich war Arnaldo der Gesetzeshüter gewesen.
Nun schaute dieser sich um, suchte offenbar nach Veränderungen, seitdem er zum letzten Mal hier gesessen hatte. Es war alles beim Alten. Francesco mochte Veränderungen nicht besonders, sie machten ihn nervös, sie ließen ihn nachts nicht schlafen. Er wurde jeden Tag älter, das war ihm Veränderung genug.
Francesco beugte sich nach vorne zu seinem Bruder, von ganz nah sah er, dass dessen Augen tief in den Höhlen lagen, sie wirkten müde, tot beinahe.
»Brüderchen, du steckst also hinter Spada & Penna – raffiniert. Und jetzt kommst du aus der Deckung, um die Lorbeeren für deine Heldentaten einzusammeln. Um deinen Ruhm zu genießen, um …«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein.«
Francesco stand auf, ging zum Glasschrank, in dem einige Spirituosen und Tumbler-Gläser standen, er holte einen etwas verstaubten Rum aus Trinidad and Tobago hervor. Seitdem er sich vorgenommen hatte, vor dem Mittagessen keinen Wein mehr zu trinken, gab er ab und an einen Schluck Rum in den Kaffee. Er stellte alles auf das Tischchen vor dem Sofa, schenkte einen Fingerbreit in eine der beiden Tassen, überlegte kurz, schmunzelte, schenkte einen zweiten Fingerbreit in die zweite Tasse, schob sie seinem Bruder hin, der schob sie wieder weg.
»Es ist neun Uhr morgens, Francesco!«
Der Marchese schaute auf seine zerkratzte Cartier mit dem zerfransten Lederband.
»Was ist schon Zeit?«
»Ich wollte dich sehen«, fuhr Arnaldo den philosophischen Einwurf ignorierend fort, »und Gianna. Und Carla. Und …«
»Und Elvira«, beendete Francesco den Satz. Er wusste längst, dass sein Bruder jahrelang eine Affäre mit der Chefredakteurin des Messaggero gepflegt hatte. Carla hatte sicher geahnt, dass es eine andere gab. Spätestens seitdem Arnaldo vor Jahren beschlossen hatte, nach Mailand zu ziehen, Karriere zu machen, Carla und Gianna zurückzulassen, hatte die Ehe ohnehin nur noch auf dem Papier Bestand.
Carla, um die Francesco sich in der ersten Zeit rührend gekümmert hatte, war längst über ihren Gatten hinweggekommen. Sie traf sich mit einem Neuen. Patrick. Historiker. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität in Trient. Siebzehn Jahre jünger als sie. Etwas verhuscht, struwwelige Frisur, Sandalenträger – aber nun gut.
Den Marchese freute es, er hatte seine Schwägerin lange schon nicht mehr so strahlend gesehen. Er hoffte nur, auch Gianna würde sich für sie freuen. Seitdem Arnaldo verschwunden war, herrschte Funkstille zwischen Tochter und Mutter. Was nicht gut war, auch wenn Gianna den neuen Freund alles andere als goutieren würde.
Der Marchese selbst war ihm bislang nur einmal begegnet. Carla hatte ihn zum Frühstücken mitgebracht. Der Sandalenträger hatte sich als etwas nerviger Streber entpuppt. Als der Marchese ihm ein Gespräch über Napoleons Russlandfeldzug anbot, referierte der Mann beinahe eine halbe Stunde lang. Ein klein bisschen erinnerte er ihn tatsächlich an Arnaldo aus früheren Jahren.
Warum Carla nur immer an solche Typen geriet, warum sie sich nie einen wir ihn angeln konnte, fragte sich Francesco zunächst, um dann zur Conclusio zu kommen, dass es so einen wie ihn nun einmal höchst selten gab. Vielleicht, wenn er ganz genau drüber nachdachte, sogar nur ein einziges Mal.
Beziehungsprobleme!
Francesco Marchese Pitti-Sanbaldi kannte sie, hatte sie jedoch nicht. Worüber er recht froh war. Frauen hatte er genug gehabt, nun reichte es ihm. Seit Langem schon. Spiaggia,eine seiner beiden Katzen, streifte um sein Hosenbein, er kraulte ihr den Rücken.
»Und … was?«, fragte er und nahm einen Schluck vom caffè corretto.
»Ich bin hier, um euch zu sehen, aber auch weil ich … äh, weil … eine kleine Recherche am See. Und … ich möchte dich …«
Arnaldo lehnte sich erneut nach vorne, schaute seinem Bruder tief in die Augen.
»Ich müsste dich fragen, ob …«
»Ja?«
»Ich brauche …«
Stille.
»Du brauchst …«
Nun flüsterte er. »Ich brauche deine Hilfe.«
Mamma mia, Brüderchen! Francesco hütete sich, das, was er weiter dachte, laut auszusprechen, er wollte keinen Streit, nicht heute, nach einem Jahr Funkstille. Arnaldo, ist es so schwer, den großen Bruder, der dich immer lieben wird, um Hilfe zu bitten?
»Was kann ich für dich tun?«
Arnaldo lehnte sich scheinbar erleichtert zurück, atmete tief aus, schaute zur Kaffeetasse. Hatte er für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich überlegt, den Kaffee doch zu trinken? Er, den der Marchese höchstens zu Silvester einmal an einem halben Glas Champagner hatte nippen sehen.
»Es geht um ein paar Familiensachen, bei denen du besser Bescheid weißt als ich. Von denen dir Vater oder tatsächlich auch Großvater vielleicht einmal mehr erzählt hat.«
Natürlich wusste Francesco bei Familiensachen besser Bescheid als Arnaldo. Weil der als Kind Vaters und Großvaters Geschichten nie gelauscht hatte, stattdessen bereits als Vierzehnjähriger lieber in Dauerschleife Journalistenfilme geschaut hatte. All the President’s Men. Immer wieder. Citizen Kane. Noch viel öfter.
Der Marchese konnte das nicht verstehen. Den einzigen Film, den er mehr als einmal gesehen hatte, war Lawrence von Arabien. Den dafür sicher über hundert Mal.
»Und diese, äh, Familiensachen, haben die etwas mit deiner neuen Recherche zu tun, lieber Arnaldo?«
Der jüngere Bruder biss sich auf die Lippen, presste die knappe Antwort so dazwischen hervor, als ob er sie lieber nicht gesagt hätte.
»Ja.«
Francesco nahm seine Tasse, realisierte, dass sie leer war, griff nach Arnaldos, leerte sie nun ebenso.
»Du weißt, Brüderchen, ich bin ein Freund der Abenteuer. Aber erst mal würde ein Päuschen ganz guttun. Dir übrigens auch, du siehst aus wie ein Gespenst. Vorschlag: Wir packen ein paar Sachen in den Porsche und düsen los. Den Stiefel runter. Bologna, Florenz, Maremma, Rom, Neapel, Capri.«
»Urlaub?« Arnaldo schüttelte den Kopf.
Urlaub, was für ein Unwort, dachte sich Francesco. »Weltenbummeln«, sagte er.
Arnaldo kniff die Augen zusammen. »So wie früher.«
Francescos Augen strahlten. Hatte er ihn? »Ja, so wie früher, Brüderchen.«
Arnaldos Miene verfinsterte sich. »Hör mit diesem Brüderchen auf, ja!?«
Es war wie immer. Plötzlich war er da, der schwelende Streit, durch irgendein falsches Wort, einen falschen Ton, durch die Hintertür hereingetreten, nur schwer wieder wegzubekommen. Es würde sich nie ändern. Nun würde jede weitere falsche Bemerkung, jede weitere falsche Geste, auch wenn sie gut gemeint war, missverstanden werden. Arnaldo! Warum war er bloß so empfindlich? Francesco hoffte, das würde im Alter besser werden. Bei ihm selbst war es nie ein Problem gewesen. Empfindlichkeit? Hatte er keinen Nerv für.
»Mir hat dieses gemeinsame Rumgefahre früher schon kaum Spaß gemacht, diese Hitze! Dieser Sonnenbrand.«
Wie konnte man nur drauf sein, eine Porschefahrt in den Süden nicht leiden zu können, wegen ein bisschen Hitze, wegen zu viel Sonne.
Zu viel Sonne!
»Bin ja damals schon nur mitgekommen, um auf dich aufzupassen.«
Er klang nun tatsächlich wie ein patziger Teenager, dabei war er nun auch schon dreiundfünfzig.
Francesco stand auf. Er ging um das Tischchen herum, stellte sich hinter sein Brüderchen, legte ihm die Hände auf die Schultern. Arnaldo reagierte nicht.
Der Marchese hätte es dabei belassen sollen, aber er konnte nicht anders. Es war wie damals, als sie noch Jugendliche waren. Es würde immer so sein. Er wusste genau, was zu tun war, um ihn zu ärgern.
Er knetete ihm leicht die Schultern, dann fester. Arnaldo schlug seine Hände weg.
»Worum geht es denn?«, fragte Francesco so nett wie nur möglich.
Arnaldo erhob sich nun ebenso, drehte sich zu ihm hin. »Keine Sorge, ich denke, es ist nur eine harmlose Sache.«
Francesco hob eine seiner beiden buschigen Augenbrauen. Sein Friseur bot ihm stets an, sie zu stutzen, doch er weigerte sich, auch wenn sie an Tagen mit viel Luftfeuchtigkeit oftmals tief über seinen faltigen Schlupflidern hingen. Er mochte seine Augenbrauen so, wie sie waren. Und seine Schlupflider auch.
»Unter einer Bedingung«, sagte er nun, griff nach der Rumflasche, stellte sie in die Vitrine zurück.
»Ja?«
»Lass Gianna da raus.«
Arnaldo antwortete nicht.
»Sie ist nicht so wie du, Arnaldo.«
Immer noch keine Antwort.
»Lass sie aus dem Spiel!«
Arnaldo griff nach seiner mittlerweile leeren Kaffeetasse, roch daran, verzog das Gesicht, stellte die Tasse wieder hin. Nun spürte Francesco die Wut in sich brodeln. Was glaubte er denn, wer er war? Tauchte hier auf. Nach einem Jahr. Besuchte ihn in der Familienvilla, die ihn nie interessiert hatte. Trank den Rum nicht, der ihm angeboten wurde, fair enough. Aber musste diese verzogene Miene sein, dieses Zeichen der Abschätzung?
»Lass sie!«
»Meine Tochter ist eine ausgezeichnete Journalistin. Das hat sie bewiesen. Sie kann in meine Fußstapfen treten. Sie kann eine große Journalistin werden.«
»Und wenn sie das gar nicht will? Sie ist schlau und gut, so wie du, ja. Aber sie interessiert sich nicht für die Karriere, für Ruhm. Da ist sie ganz anders.«
Arnaldo runzelte die Stirn.
»Lass sie aus dem Spiel!«, insistierte Francesco.
»Zu spät, großer Bruder, zu spät.«
»Nun sag endlich, worum geht’s?«
Arnaldo sprach.
Francesco Marchese Pitti-Sanbaldi begleitete seinen Bruder zur Tür. Er übersah nicht, konnte nicht übersehen, wie der im Gehen erneut alles musterte. Die Bilder an der Wand, das Büffelfell; wie Arnaldo es sich nicht verkneifen konnte, missbilligend den Kopf zu schütteln. An der Schwelle umarmten sie sich.
»Du machst es?«, fragte Arnaldo erneut.
»Ich mache es. Ich werde am Nachmittag in der Bibliothek nach allem suchen. Komm am Abend wieder, ja?«
Arnaldo trippelte nervös von einem Bein aufs andere.
»Schaffst du es nicht früher?«
Francesco fuhr sich über die Seidenkrawatte. »Unmöglich. Heute ist doch Mittwoch, oder?«
Arnaldo nickte.
»Mittwochs bade ich Spiaggia und Lago. Aber zuvor muss ich in der Altstadt neues Katzenshampoo besorgen, einen Espresso trinken, zwei Turista-per-sempre-Rubbellose kaufen. Auf den Fischmarkt gehen, frisches Brot und Felchen kaufen, außerdem beim Tabacchino den Messaggero holen, dann wieder nach Hause spazieren, den sugo aufsetzen, der muss sechs Stunden köcheln. Du willst doch etwas Ordentliches essen heute Abend, oder nicht?«
Der Marchese dachte gar nicht daran, eine Antwort abzuwarten.
»Nach einem leichten Mittagessen, ich denke an ein, zwei getoastete Weißbrotscheiben mit Olivenpastete, einen erfrischenden Fenchel-Rucola-Kirschtomatensalat, Parmesanscheiben darüber gerieben, Balsamico, einen Schuss Olivenöl, dazu ein Gläschen vom Lugana, der noch im Kühlschrank steht, brauche ich meinen Mittagsschlaf. So bis halb vier. Meistens. Manchmal auch bis sechs. Dann …«
»Ist gut, Francesco!«, ging Arnaldo dazwischen.
»Du siehst, ich bin ausgelastet.«
Arnaldo blickte zu Boden, etwas verlegen.
»Bitte!«
Sekunden der Stille, das nur vom Kindergeschrei des nahen Spielplatzes an der Uferpromenade und von Möwengekreische gestört wurde. Dann nahm Francesco das Kinn seines Bruders, hob es hoch, schaute ihm wieder tief in die Augen.
»Komm mittags wieder. Ich schaue, was ich bis dahin finden kann.«
Der Marchese wartete, bis der jüngere Bruder das Eisentor erreicht hatte, an deren Spitze das Messingschild mit dem Familienwappen hing. Ein Zitronenbaum vor gekreuzten Schwertern, kaum zu erkennen unter dem vielen Möwenkot.
… sie selbst zur Beute machte den Hunden und den Vögeln zum Fraß – Zeus’ Ratschluß ging in Erfüllung –, seit die beiden zuerst sich in Streit und Hader entzweiten …[2]
»Verdammt«, flüsterte er. Wer hatte sich noch mal mit Achilleus entzweit? Das gab es doch einfach nicht. Es wollte ihm einfach nicht einfallen.
So war ihr der See am liebsten. Nicht windstill. Aber auch nicht stürmisch. Die Oberfläche kein Spiegel. Kleine Wellen, Schaumkrönchen obendrauf. Die Sommersonne über den Monte Baldo hervorgekrochen, doch noch etwas schüchtern ihre Strahlen einsetzend, noch nicht stechend, eher milde das Gesicht streichelnd.
Der kleine Wiesenstreifen ein paar Kilometer vor Malcesine, dessen Burg, auf einem Felsen thronend, am Horizont aus dem Morgendunst herausstach, war ein beliebter Treff zum Surfen. Doch um diese Uhrzeit war noch niemand mit Brett zu sehen.
Nachmittags, wenn der kräftige Südwind, der Ora, von der Pianura Padana heraufziehend das Wasser des Sees zu höheren Wellen anhob, reihten sich die Autos und Motorini am Straßenrand aneinander.
Nun stand da nur Giannas Vespa, etwas abseits ein schwarzer Jeep Renegade. Auf der östlichen Straßenseite nahe des Berghanges befand sich ein verwaister Campingplatz. Auf einer etwa zweihundert Meter entfernten Parkbucht standen noch ein paar weitere Wagen, ein weißer Fiat Cinquecento, ein schwarzer Mercedes, ein grüner Oldtimer, ein Jaguar, wenn sie sich nicht irrte.
Die Journalistin saß im Gras, wartete. Anfangs dachte sie, einer der Wagen würde dem Informanten gehören, den sie treffen sollte, demjenigen, von dem sie nicht wusste, wer er war, wie er aussah, nur, dass er ihr eine CD-ROM übergeben sollte. Etwas eigenartig fand sie das. Aber mehr hatte ihr ihr Vater beim Hin- und Herchatten auf WhatsApp nicht mitteilen wollen.
Noch nicht. Erst, wenn sie sich heute später treffen würden, wollte er sie vollends in die Story einweihen. Vielleicht hätte sie sich doch nicht auf das Ganze einlassen sollen, einfach so.
CD-ROM! Wer benutzte denn noch so was, wunderte sich Gianna, schaute aufs Handy, es war zwei Minuten nach neun. Der Informant verspätete sich.
Gianna wusste von Freunden, dass der starke Nachmittagswind manchen recht unerfahrenen Surfer manchmal dahin trieb, wohin er gar nicht wollte, dass er dann gezwungen war, anderswo an Land zu gehen. Sich von dort abholen ließ. Seinen Wagen erst tags darauf abholte. So jemandem gehörte dieser Jeep wohl. Die weiter entfernten Wagen an der Parkbucht konnten Wandersleuten gehören, die früh hoch zum Monte Baldo aufgebrochen waren, dachte sich die Journalistin, checkte noch einmal die Uhrzeit, bald zehn nach.
Wo blieb der Mann bloß?
Sie blickte wieder auf den See hinaus, zu den drei Enten, die sich vom Wasser tragen ließen. Beinahe schweifte sie gedanklich ab, dachte an die Zeit zurück, als sie ein Kind war. Als Glück eine Selbstverständlichkeit zu sein schien. Sie und mamma und papà. Die Pittis, eine ganz normale, glückliche Familie. Drachen fliegen lassen im Wind, der vom Süden her kommt. Flache Kieselsteine suchen. Sie übers Wasser hüpfen lassen. Papa war eine Katastrophe. Wenn der mal vier schaffte, war das schon gut. Mama hielt den Rekord. Mit vierzehn. Gianna hatte einmal elf geschafft.
Die Journalistin fuhr mit den Händen über die Grasstoppeln, die sie kitzelten. Das Gefühl auf der Haut brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Die Wasseroberfläche bäumte sich leicht auf, senkte sich wieder, die Wellen erhoben sich, senkten sich. Da, links, wogte ein schwarzer Schatten, verschwand nicht.
Nein, das war keine Welle, was war das bloß?
Gianna kniff die Augen zusammen. War das Müll? Eine Plastiktüte? Nein, das war Leder, das war …
Die Journalistin sprang auf, lief zum Ufer vor, dorthin, wo die Wiese endete, wo das Wasser über dunkle Kieselsteine krabbelte, sie zum Klimpern brachte, sich wieder, wie von einem unsichtbaren Magnet gezogen, zurückzog. Gianna machte noch ein paar Schritte, spürte, wie sie im Kies tiefer rutschte, wie das Wasser sich in den Stoff ihrer Sneakers fraß.
Das war … das … ein Mensch! Da lag ein Mensch im Wasser.
Ja, jetzt erkannte Gianna es genau. Die dunkelrote Lederjacke. Die braunen Haare, das Gesicht nach unten.
Noch bevor Gianna überlegen konnte, was sie tun sollte, handelte ihr Instinkt. Er war in entscheidenden Momenten schneller als ihr Verstand, was bisher in ihrem Leben nicht immer nur geholfen hatte. Aber sie konnte es nicht ändern. Es war, als stünde sie in solchen Momenten neben sich.
Es war so gewesen, als sie bei der Maturaprüfung ihrer unerträglichen Geschichtslehrerin mit deren nicht auszuhaltendem Mundgeruch gegenübergesessen hatte. Dottoressa Marianna Margin hatte sie nach ein paar Details der Versailler Friedensverhandlungen gefragt. Margin wusste, dass Gianna keine Ahnung davon hatte. Sie wollte einfach nur ihre Macht nutzen, sich dafür rächen, dass Gianna sich die vergangenen fünf Jahre geweigert hatte, ihren autoritären Unterrichtsstil für gut zu befinden.
»Gegenvorschlag!«, hatte Gianna damals, als ihr Instinkt wieder einmal schneller war als ihr Verstand, herausposaunt. »Sie erzählen mir was von diesen Verträgen. Ich erzähle ihnen was über das neue Album von Vasco Rossi.«
Sie hatte die Maturaprüfung bestanden. Knapp. Und auch nur, weil ihr Musiklehrer ein guter Freund ihres Onkels Francesco war, mehr Mozart, Liszt, Beethoven zugetan als ihrem Helden, aber dennoch mit einem guten Sinn für Humor gesegnet. Er hatte sich inbrünstig für sie eingesetzt.
Gianna streifte die Sneakers von den Füßen, warf sie hinter sich, ihren dünnen Trenchcoat ebenso, sie watete in den See hinein, schüttelte sich, dann versuchte sie, die Kälte zu ignorieren, was eigenartigerweise tatsächlich gelang. Schnell erfasste das Wasser ihren Bauch und ihr ausgewaschenes Vasco-Shirt von der Tour zum Album Il mondo che vorrei.
Die Enten flogen erschrocken davon, die ersten Flügelschläge berührten noch das Wasser, dann stiegen sie ein Stück in den hellblauen Himmel empor.
Gianna schwamm, die Jeans sog Wasser auf, die kräftigen Armschläge brachten sie dennoch voran. Gianna erreichte die rote Lederjacke, das Haarbüschel, plötzlich schien sie zu realisieren, wo sie war, was sie da tat.
Sie schrie.
Sie hätte später nicht sagen könne, ob laut oder stumm. Zitternd griff sie mit der linken Hand nach den Haaren, spürte den Schädel, umklammerte ihn, packte mit der rechten Hand die Kleidung, zog, der schwimmende Körper drehte sich, das Haar fiel nach hinten, ein Gesicht tauchte aus dem Wasser auf.
Die Augen offen. Scheinbar ins Leere starrend. Die blasse Haut mit verschwommener Schminke bestrichen. Die Oberlippe aufgeplatzt. Die Reporterin schüttelte den Körper, so als ob noch die Möglichkeit bestünde, ihn wachzurütteln. Ihn ins Leben zurückzurütteln. Doch das war sinnlos. Die Frau war tot. Ertrunken.
Langsam begann Giannas Hirn wieder zu funktionieren, gewann Überhand über die Automatismen des Instinkts.
Sie zog an der Jacke, zog sie samt der Leiche schwimmend mit sich. Ein paar kräftige Armzüge in Richtung Ufer, dann stellte sie sich aufrecht hin, spürte mit den Zehenspitzen den Seegrund, noch drei Züge, dann konnte sie problemlos stehen, sie watete, zog die Tote an Land, legte sie neben ihre Sneakers und ihren Trench auf den weißen Kies, den das viele Wasser in der Kleidung sofort dunkel färbte. Das Wasser und das …
»Blut«, flüsterte Gianna, die erst jetzt sah, dass die eigentlich weiße Bluse der Frau mit blassroten Flecken versehen war, außerdem zerrissen; im Bauch war ein tiefer Schnitt, das Gedärm quoll hervor. Sie war nicht ertrunken, schoss es der Journalistin durch den Kopf.
Sie war erstochen worden. Oder erschossen? Ermordet!
Gianna schaute wieder in das Gesicht der toten alten Frau, sie schätzte sie auf Anfang siebzig, an einem der Ohren hing ein goldener Ring mit grünem Stein, das andere Ohrläppchen war eingerissen. Sie hob die Lederjacke an, griff in die Taschen, nichts. Kein Portemonnaie.
Ihre Gedanken rasten. Was war nun zu tun? Die Polizei war zu rufen. Gianna kannte diese Frau nicht, sie hatte sie niemals zuvor gesehen. Sie hatte sie zufällig gefunden. Natürlich war die Polizei zu rufen, was sonst?
Das letzte Mal als Gianna angesichts eines Ermordeten glaubte, nicht mit der Polizei kooperieren zu müssen, lieber auf eigene Faust zu recherchieren, hatte ihr das zwar den Scoop ihres Lebens beschert. Sie hatte einen illegalen, kriminellen Geheimbund ausgehoben, war dabei aber um ein Haar selbst getötet worden.