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Lenz Koppelstätter

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Beschreibung

Verschwundene Kunstwerke, sture Bergbauern und ein grotesk inszenierter Mord: Der neue Fall führt Südtirols beliebtestes Ermittlerduo ins Passeiertal. Am Rande eines Waldes stehen Commissario Grauner und sein neapolitanischer Kollege Saltapepe vor der grausam zugerichteten Leiche eines Mannes. Im nahegelegenen Dorf hüllen sich die Bewohner in Schweigen. Niemand will den Toten, einen verarmten Maler, näher gekannt haben. Erst ein Kunstexperte liefert den entscheidenden Hinweis: Die Inszenierung der Leiche ist einem Gemälde Botticellis nachempfunden, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen gilt: Venere nei boschi, Venus im Wald. Während Saltapepe bis nach Florenz fährt, um mehr über die Geschichte des Gemäldes herauszufinden, ermittelt Grauner in den Tiefen eines Bergwerks. Als ein dunkles Grollen ertönt, ahnt er, dass er dieses Mal zu viel riskiert hat.

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Seitenzahl: 346

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Lenz Koppelstätter

In tiefen Seen

Ein Fall für Commissario Grauner

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Lenz Koppelstätter

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Lenz Koppelstätter

Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Südtirol geboren und auf¬gewachsen. Er arbeitet als Medienentwickler und als Reporter für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Geo Saison und Salon. Alle sieben Bände der Krimireihe um Commissario Grauner, »Der Tote am Gletscher«, »Die Stille der Lärchen«, »Nachts am Brenner«, »Das Tal im Nebel«, »Das Leuchten über dem Gipfel«, »Das dunkle Dorf« und »Bei den Tannen« waren ein großer Erfolg bei Lesern und Presse.

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Über dieses Buch

An einem Morgen im Juni werden Commissario Grauner und sein neapolitanischer Kollege Saltapepe ins Passeiertal gerufen: Ein Mann wurde ermordet, seine Leiche auf einer Wiese am Waldrand grotesk in Szene gesetzt. Im nahegelegenen Dorf hüllen sich die Be¬wohner in Schweigen. Hier, im Tal, spricht man nicht mit Leuten von außerhalb. Schon gar nicht mit Polizisten. Auch nicht mit die¬sen Geologen, die seit Wochen oben am Berg herumschnüffeln. Ein schrulliger Kunstexperte verrät den Ermittlern schließlich, dass die Inszenierung der Leiche einem Gemälde Botticellis nachempfunden ist: Venere nei boschi, Venus im Wald. Während Saltapepe bis nach Florenz fährt, um mehr über die Geschichte des Gemäldes heraus¬zufinden, ermittelt Grauner in den Tiefen eines Bergwerks. Als ein dunkles Grollen ertönt, ahnt er, dass er dieses Mal zu viel riskiert hat.

 

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum Buch

Prolog

Karten zum Buch

2. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

3. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

4. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

5. Juni

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Epilog

Danke

Leseprobe »Was der See birgt«

Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. In Bezug auf Ortsbeschreibungen nimmt sich der Autor Freiheiten heraus. Das Böse greift nach dem Schönen. Doch das Schöne ist unfassbar und frei.

Prolog

Je tiefer das Tal ist, in dem du lebst, desto beängstigender ist die Dunkelheit, die darin lauert. Je höher die Berge sind, die dich umzingeln, desto weniger dringt die Welt zu dir durch. Je dichter der Wald ist, desto dichter ist auch das Labyrinth in dir selbst, aus dem du irgendwann nicht mehr hinausfindest, auch wenn du es versuchst.

 

Georg Krawinkel richtete sich auf, löste die Finger von der klebrigen Theke. Er drehte sich um, schaute zu den Männern neben sich, in die glasigen Augen, die geröteten Gesichter. Zu den Männern an den Tischen, die aus dem Dorf, die Karten spielten, Speck in sich hineinstopften. Dann zu den Männern ganz hinten in der Ecke, den drei Fremden, die leuchtende Funktionskleidung trugen, wie sie sonst nur Touristen anhatten. Die Mineralwasser tranken. Wasser! In einem Gasthaus!

Er hatte sich genug Mut angetrunken. Er ging zu ihnen hinüber, er würde es jetzt tun, der Zeitpunkt war gekommen. Sonst würde bald etwas Schlimmes passieren. Ganz sicher. Sie blickten auf, zuckten zusammen. Er schluckte, ballte die Faust in der Hosentasche und zwang sich, weiterzumachen. Der Vater und der Großvater waren nie unsicher gewesen. Zumindest hatten sie es nie gezeigt. Ein Krawinkel hatte stark zu sein. Stark und gefürchtet.

Georg Krawinkel kniff die Augen zusammen, was ihn, so glaubte er, finsterer aussehen ließ, so wie sich solche Stadtmenschen, diese Studierten, einen bösen Talmenschen vorstellten.

»Lass es, Georg!«, vernahm er die Stimme des Wirts aus weiter Ferne. Es war zu spät. Nun konnte er nicht mehr zurück.

»So, so«, sagte er und er hörte seine Männer am Budl kichern, bald würden sie schallend lachen, »aus Bozen seid ihr also, Geologen seid ihr. Und ihr wollt uns erzählen, dass oben bei den Almen der Berg auseinanderbricht und uns unter sich begräbt, ha!«

Stühle wurden zurückgeschoben, er vernahm hinter sich ein unverständliches, tiefes Grummeln.

»Männer!«, war die Stimme des Wirts zu hören, beschwichtigend, mahnend.

Aber es war zu spät, das wusste der Wirt sicher selbst. Die Männer aus dem Dorf – und auch ein paar rüstige Weibsbilder – bildeten einen Kreis um den Tisch der Fremden. Der Wirt trat zur Eingangstür, neben der ein Telefon an der Wand hing, wie es wohl nur noch hier im Passeiertal benutzt wurde, weil der Handyempfang so schlecht war, weil es Orte gab, wie die Blaue Traube, wo es überhaupt kein Netz gab, nur dieses alte Telefon, in das der Wirt nun eine Zwei-Euro-Münze kullern ließ.

Der Krawinkel Georg bückte sich zu einem der Fremden hinab, fasste mit klobigen, dreckigen, von der Arbeit auf dem Feld gezeichneten Fingern in dessen Mineralwasser, nahm die Zitronenscheibe heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen, ließ sie samt Schale im dunklen Mund verschwinden, kaute darauf herum, verzog keine Miene, schluckte sie hinunter. Das hatte er in einem alten Gangsterfilm gesehen.

»Wir äh, nein, nein, Sie übertreiben maßlos. Wir untersuchen«, stammelte der Mann und brach ab, als Krawinkel ihn am Funktionskleidungskragen packte und hochzog. Auch die beiden anderen Geologen standen nun auf, ganz langsam. Sie wurden gepackt, von hinten, zappelten in den dicken Armen der Bauern wie Borkenkäfer.

»Ihr untersucht’s hier gar nix, verstanden?«

Die Geologen nickten zitternd.

»Bei uns wird nichts untersucht. Wenn’s hier was zu untersuchen gibt, dann machen wir das schon selbst, ja?«

Krawinkel spürte, wie die Hitze des Weins in ihm hochstieg. Im Augenwinkel sah er, wie sich einer seiner Männer hinter den Wirt stellte, ihm den Hörer aus der Hand nahm und auflegte.

Stille, beinahe. Nur das Rauschen im Kopf. Das Geräusch der Schuhsohlen auf dem nassen Boden, wenn er sich bewegte. Kein Rufen, kein Zwitschern. Keine Stimmen, nein, auch die waren nur in seinem Kopf. Dunkelheit, absolute Finsternis. Kein Lichtschimmer, der unter einer Tür hindurchdrang, kein Handy, dessen Bildschirm aufleuchtete, kein Streichholz, das aufflammte. Nichts.

 

»Das war’s dann wohl«, sagte Grauner und lehnte sich an die feuchte Wand. Er schloss die Augen. Er überlegte, was nun noch zu tun war. Die letzten Dinge. Beten? An die Liebsten denken? Obwohl es kalt war hier unten, lief ihm der Schweiß den Rücken hinab. Er dachte immer, er würde das schaffen. Sterben ohne Angst. Was für eine lächerliche, naive Selbstüberschätzung. Grauner, du kleiner, zerbrechlicher Mensch.

Er beschloss, die Angst zuzulassen. Er weinte, schluchzte. Schrie. Der feuchte Fels warf die Worte zu ihm zurück. Nichts wurde besser dadurch, erschöpft ließ er sich auf die Knie sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Worte des Blinden geisterten ihm durch den Kopf. »Zehn Tage lang hörten sie ihr Klopfen. Danach hörten sie nichts mehr. Und als sie gefunden wurden, sahen sie die angenagten Lederschuhe. Und die abgenagten Fingerkuppen. Doch sie waren nicht verhungert, sie waren erstickt. Der Sauerstoff war ausgegangen.«

 

Auf allen vieren tastete er sich voran, schob den Kopf nach vorn, stieß mit der Stirn gegen den Fels, streckte die Zunge aus, leckte Tropfen ab, die dort hingen. Dann ließ er sich zu Boden sinken. Weg mit den fürchterlichen Gedanken. Her mit den schönen. Es war alles, was ihm blieb. Es war nicht so leicht. Er versuchte es. Eine Blumenwiese. Er und Alba, ein Bächlein, sie küssen sich. Das Krankenhaus von Bozen. Alba hält dieses schöne, kleine Stückchen Leben in den Armen. Sie sitzen zusammen in der Stube, er will Derrick schauen, Sara den neuen Harry Potter. Alba, hardimitzn, sie schlägt sich auf Saras Seite. Vorbei, oh Gott, vorbei.

2. Juni

1

Grauner nahm den staubigen, schimmeligen Geruch wahr, er schloss die Augen und ging einige Meter über den Flur Richtung Ausgang. Er kannte den Weg, er war ihn in den vergangenen Jahrzehnten Tausende Male gegangen. Er spitzte die Ohren, hörte die typischen Geräusche seines Commissario-Alltags: das Blubbern des Kaffeeautomaten, der den schrecklichsten Kaffee der Welt ausspuckte, da war sich der Commissario hundertprozentig sicher, dafür musste er nicht um die Welt reisen, was ihm ohnehin ein Graus wäre. Er hörte das Summen des Druckers, das Rattern des Faxgeräts, das gedämpfte Lachen aus den Büros der Kollegen von der Wirtschaftskriminalität.

Er öffnete die Augen wieder, ging die Treppen hinab, nickte dem Portier freundlich zu, stieß die Eingangstür auf. Dann stand er da im Innenhof, den Kopf wie ein Tier in die Höhe gereckt. Er schnupperte. Er war sich sicher, beobachtet zu werden. Die Polizisten drüben an der Kontrollschranke stießen sich vermutlich gerade an, grinsten sich zu, ahmten ihn nach, es war ihm einerlei.

Er nahm den Benzingeruch wahr, der sich in die frische Luft mischte, er hörte das Rauschen des Verkehrs drüben am Verdi-Platz, Autoreifen quietschten, Hupen, Hundegebell. Die Hunde bellten anders hier in der Stadt. Hysterischer. Er liebte diese ersten Feierabendminuten, das Gefühl, das sich in ihm ausbreitete. Die Vorfreude.

 

Grauner stieg in den Panda, reihte sich ein in den Wahnsinn des Feierabendverkehrs, bummelte gemächlich in Richtung Eisacktal, an der Autobahneinfahrt Bozen Nord bogen wie immer viele ab, nun kam er schneller voran, fuhr schließlich selbst ab, hinauf auf den Berg, die Serpentinen hoch, Fenster auf, Mahler an. Volle Pulle. Die Achte, die es ihm neuerdings angetan hatte. Das Finale! Der Chor! Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis, das Unbeschreibliche, hier ist’s getan …

Die Questura-Gerüche, die Stadtgeräusche, er ließ sie stets noch einmal auf sich wirken vor dem Losfahren, und wenn er dann nach Hause kam, erfasste ihn ein Glücksgefühl, das er kaum beschreiben konnte. Auch nach all den Jahren noch. Es war beinahe wie eine Droge. Er war süchtig danach. Die Sicht auf die Berge, den hellen Dolomitenfels, von der Abendsonne erleuchtet. Die frische Luft, der Wind, der in den Blättern der Kastanienbäume spielte. Es war ein heilsames Ritual, das langsame Leiserdrehen der Sinfonie, wenn er auf den Hof fuhr, das Muhen seiner geliebten Viecher, die bereits auf ihn warteten. Das Tätscheln der warmen Leiber, Margarete, brav, Annabella, ruhig. Das Einatmen des Stallgeruchs, dieses intensiven, würzigen, göttlichen Stallgeruchs.

Ja, gleich würde er oben am Hof sein, die Kühe versorgen, ins Haus gehen, schauen, was es zum Abendbrot gab. Hoffentlich Spinatknödel, die hatte Alba schon lange nicht mehr gemacht. Er würde ihr einen dicken Kuss auf die Wange geben, sie würden sich mit den Knödeln vor den Computer setzen, sich über Zoom mit Sara und Mickey unterhalten. Die beiden wollten ihnen heute Abend die ersten Vorschläge für die Webseite zeigen, die ein befreundeter Webdesigner aus dem 2. Bezirk für sie entworfen hatte. Eine Webseite für den Graunerhof.

Nun, Grauner hatte nicht ganz verstanden, was daran so spannend sein sollte, aber egal, er freute sich, mit seiner Tochter und ihrem Freund zu sprechen, er wollte hören, dass es ihnen gut ging beim Studium in Wien, er wollte sich vergewissern, dass sie glücklich waren. War Sara glücklich, so war er es auch. So einfach war das Leben manchmal. Er lenkte den Wagen die Serpentinen entlang, sah zum Beifahrersitz, sein Handy blinkte. Tappeiner. Seine Assistentin. Er hielt am Straßenrand. Ahnte nichts Gutes. Seine Assistentin würde ihn nie ohne Grund anrufen, so kurz nach Feierabend.

Er nahm das Handy, drehte Mahler leiser, atmete noch einmal tief aus, bevor er abhob. »Ja?«

»Ein Anruf, Grauner.«

»Ja, und?«

»Ein eigenartiger Anruf, gerade eben.«

Er machte den Motor aus.

»Sag schon! Ein Mord?«

»Äh … ich weiß nicht.« Tappeiner klang verunsichert.

»Wie, du weißt nicht?«

»Eine Männerstimme. Anonym. Ich weiß, das war wahrscheinlich ein Spinner, Grauner, aber …«

Der Commissario blieb ganz ruhig. Ein Spinner. Sie hatten es in der Questura viel mit Spinnern zu tun. Mehr noch als mit Mördern. Weil es nun mal mehr Spinner gab als Mörder. Zum Glück. Sie riefen meistens an, diese Spinner. Selten kamen sie vorbei. Sie schimpften einfach los. Über irgendwas: eine Geschwindigkeitskamera, die sie geblitzt hatte. Bei der Fahrt zum Gasthaus und auf dem Nachhauseweg noch einmal. Ob es da Mengenrabatt gebe.

Sie beschwerten sich über die neue Alkoholobergrenze beim Skifahren. 0,5 Promille. Was haben sich diese Herren in Rom da schon wieder gedacht? Heiliger Alberto Tomba! Wie solle man diesen Skizirkus denn aushalten ohne ordentlichen Birnenschnaps im Blut?

Sie fluchten über das Kirchenglockengeläut sonntags in der Früh. Ob man das nicht verschieben könne. Auf mittags.

Sie klagten auch über die Paragleiter, die sich von den Bergen stürzten, diese Schirme, müssten die denn neonfarben sein? Das sei doch grässlich. Könne man das nicht verbieten? Weiß sei doch viel schöner. Und unauffälliger. Wären sie weiß, könnte man sie für flinke Wolken halten.

Meistens legte Grauner bei solchen Anrufen den Hörer hin, drehte eine Runde durch die Questura, ging aufs Klo, dann nahm er den Hörer wieder auf, sagte, er werde sich um die Angelegenheit kümmern, ja, ganz sicher, ja, höchstpersönlich, ja, das sei Chefsache, nein, er brauche keinen Namen, der Anruf werde automatisch registriert, er könne auf seinem Bildschirm sehen, wer da anrufe, Namen und Adresse, sehr gut, ah, da sehe er auch, dass da eine Anzeige vorliege gegen den Anrufenden, uiuiui, das sehe gar nicht gut aus. Da müsse er wohl bald mal die Kollegen vorbeischicken, da … Hören Sie mich noch? … Die Verbindung ist ganz schlecht, wir haben hier … Ah, verdammt, jetzt ist der Bildschirm schwarz, so ein Pech auch, können Sie bitte noch einmal in einer halben Stunde anrufen? Dann …

Aufgelegt. Problem erledigt.

»Ja und, was wollte der Spinner?«

Er hörte Tappeiners Atem am anderen Ende der Leitung. »Der Mann lallte, er war ganz außer sich. Er sagte, es werde einen Mord geben. Die Stimme klang außerdem dumpf, so, als hielte er sich die Hand oder ein Tuch vor den Mund.«

Grauner runzelte die Stirn. »Was genau hat er gesagt?«

»Er sagte: ›Es wird ein Mord passieren im Passeiertal. Hier in St. Leonhard. Oder irgendwo oben am Berg. Der Charly wird sterben. Sie müssen ihn finden. Ihn beschützen. Sonst … sonst wird wieder ein Unglück geschehen.‹ Das war’s.«

Grauner drehte die Musik ganz aus. »Charly? Welcher Charly?«

»Ich weiß es nicht.« Tappeiners Stimme klang nun beinahe verzweifelt. »Ich habe dem Mann gesagt, er soll mir seinen Namen nennen, er soll mir sagen, wer dieser Charly ist, wer ihn umbringen will.«

»Und?«, fragte Grauner.

»Nichts.« Tappeiner seufzte. »Aufgelegt.«

Grauner bedankte sich bei ihr. Bevor er auflegte, sagte er ihr noch, sie solle getrost nach Hause gehen, er werde sich um alles kümmern. Eigentlich wollte er sich um gar nichts kümmern. Ein Spinner, ganz sicher war es nur ein Spinner, murmelte er in sich hinein. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss, doch er fuhr nicht los. Er machte den Motor wieder aus. Saß stumm im Panda. Schaltete Mahlers Achte wieder an. Wie Felsenabgrund mir zu Füßen, auf tiefem Abgrund lastend ruht, wie tausend Bäche strahlend fließen, zum grausen Sturz des Schams der Flut …

Er starrte in den dunklen Wald, der hinter der Leitplanke und einer kleinen Wiese begann. Er hatte auf halbem Weg zwischen der Schlucht, in der der Eisack tobte, und seinem Dorf, über dem die Sterne weiß glitzerten, angehalten.

»Und wenn er doch recht behält, dieser Anrufer?«, fragte er in die Stille hinein, so als spräche er mit dem Panda.

Der Panda antwortete nicht.

»Was dann?«

Grauner nahm das Handy in die Hand, nein, es würde ihm sonst keine Ruhe lassen, er würde die ganze Nacht kein Auge zutun. Er googelte Charly und Passeiertal. Kein Treffer, der ihn weiterbrachte.

Er rief Alba an, sagte ihr, dass es länger dauern werde, dass er noch einen Einsatz habe, dass sie Sara und Mickey bitte vertrösten solle.

Er öffnete WhatsApp, wollte seiner Tochter ein Herz schicken, aus Versehen schickte er eine Champagnerflasche und ein Pferd. Er rief den Staatsanwalt an. Im Hintergrund Gläsergeklirre, Gelächter. Er erinnerte sich, Belli war auf dem Willkommensempfang des neuen Regierungskommissars. Er informierte seinen Vorgesetzten kurz und knapp über den Anruf. Er hätte nicht voraussagen können, wie Belli reagierte. Vielleicht ein bisschen wütend. Weil er ihn wegen solch eines Spinners anrief. Oder total wütend. Weil er nicht bereits mit drei Polizeiautos, Blaulicht und Sirenen in Richtung Passeiertal unterwegs war.

Belli wollte, dass er hinfuhr. Grauner atmete auf. Belli wollte auch, dass er Saltapepe mitnahm. Was ihm gar nicht gefiel. Aber was sollte er machen? Er rief den Ispettore an. Der ging nicht ran.

2

St. Leonhard, verdammt. Grauner konnte immer noch nicht recht glauben, dass er nun hier war. Alles dunkel. Keine Straßenlaterne brannte. Es war Viertel nach zehn.

»Ma porca puttana!«

Der Commissario zuckte zusammen. Ispettore Saltapepe, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, hielt das Handy vors Gesicht, ganz nah, dann weiter weg, dann nach links, dann in die Höhe.

»Santo cielo, madonna mia, ti prego, non farmi questo. Pietà! Pietà! Santo Diego Armando Maradona! San Gennaro! Pietà! Aiuto! No, no, no. Non farmi questo. Vado in ginocchio. Sono un povero peccatore, lo so, lo ammetto, ma questo è una questione di vita o di morte, santissimi santi, no. Per favore, chiedo il vostro supporto, aiutatemi, aiutate un povero peccatore! Salvatemi da questo inferno!«

Saltapepe machte das Autoradio an, drehte an einem der Knöpfe. Von Sender zu Sender, es rauschte, nur ab und an ertönte Ziehorgelmusik. Er öffnete die Tür. Sprang hinaus. Lief wie ein erschrockener Marder über den finsteren Dorfplatz von St. Leonhard. Fluchte weiter. Grauner grinste anerkennend.

 

Als der Commissario bei ihm in Bozen vor der Tür gestanden hatte, hatte sich Saltapepe verwundert die Augen gerieben, dann protestiert. Grauner hatte an ihm vorbei in die Wohnung des Ispettore geschaut. Er hatte den Geruch von Knoblauch und Tomatensoße wahrgenommen. Das Wasser war ihm im Munde zusammengelaufen.

»Ich, äh, du … kommst etwas ungelegen«, sagte der Ispettore.

»Verstehe schon«, sagte Grauner und grinste. Klar, Frauengeschichten, dachte er.

Saltapepes Miene blieb ernst, er drehte sich um, zeigte ins Wohnzimmer, auf den Fernseher. »Ich kann jetzt hier nicht weg. Vorletzter Spieltag. Es geht um die Champions-League-Plätze.«

Der Commissario schaute überrascht. »Du musst«, sagte er.

»Das kannst du mir nicht antun!«

»Befehl von Belli.«

 

Sie hatten auf der Fahrt über die MeBo-Schnellstraße kein Wort gesprochen. Saltapepe hatte aufs Handy gestarrt, immer wieder stockte die Übertragung, dann lief sie wieder. Bei der Fahrt durch Meran schrie er so laut auf, dass Grauner beinahe in den Straßengraben gefahren wäre. Eins zu null für Neapel. Als sie das Dörfchen Saltaus passierten, schrie er noch einmal. Elfmeter für die Salernitana. Er kaute auf den Lippen herum, dann an den Fingernägeln. Eine Minute später wimmerte er. Elfer versenkt. Eins zu eins.

 

Nun hüpfte er also auf dem Dorfplatz von St. Leonhard herum. Grauner stieg aus. Ging zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Und?«, fragte er.

Der Ispettore schaute tatsächlich kurz auf.

»Kein Netz, gar kein Netz.«

»Ist doch …«

»Was? Egal? Nicht so wichtig? Grauner …« Saltapepe steckte das Handy weg. Drehte sich zum Commissario. Er sprach sehr, sehr langsam. »Ich weiß, Johann …«, Grauner konnte sich nicht daran erinnern, dass er ihn jemals Johann genannt hatte, »dass du vom Fußball nichts verstehst. Musst du nicht, muss man wirklich nicht. Manchmal denke ich mir, wie schön wäre die Welt, wenn es den Fußball nicht gäbe, wenn es unsere Mannschaft nicht gäbe, unser Stadion, es wäre alles … einfacher. Aber auch sinnloser. Der Fußball, Napoli, das ist ein Teil von mir. Würde es Napoli nicht geben, das wäre, vielleicht, ja, das wäre so, als hättest du deine Kühe, deinen Stall, deinen Hof nicht.«

Grauner nickte. Er begann seinen Kollegen zu verstehen.

»Ich war schon seit Jahren nicht mehr im Stadion, Grauner. Früher, in Neapel, war ich bei fast jedem Heimspiel da. Eine Fernbeziehung ist nicht einfach, ich weiß nicht, ob du jemals eine geführt hast, ich tue es gerade. Bei den Frauen mag es vielleicht anders sein, aber bei Napoli, da bin ich der treueste Hund, den du findest unter dieser Sonne, da kenne ich nichts. Ich habe, seitdem ich hier in dieses verfluchte Südtirol versetzt worden bin, kein einziges Spiel versäumt, ich habe jedes einzelne angeschaut, im Wohnzimmer, auf dem Handy, in der Bar dello Sport. Oder es zumindest im Radio verfolgt. Ich habe jedes einzelne Tor miterlebt, jedes Gegentor, jeden Sieg, jede Niederlage, bis …«, er packte Grauner, schüttelte ihn, »bis du heute Abend vor meiner Tür aufgetaucht bist und mir irgendetwas von einem Verrückten erzählt hast, von einem Mord, der hier stattfinden soll, in diesem … Wie heißt dieses Tal noch mal? Ist auch egal, ich habe genug von diesen Tälern, Grauner. Basta! Wie soll das weitergehen? Soll das mein Leben sein? Noch ein Tal, noch ein Mord? Ich … Napoli, wir spielen gerade – und was mache ich? Ich stehe hier in der Kälte. Ich werde mir das nie verzeihen. Ich lasse meine Elf im Stich gerade, ich …« Er stoppte abrupt. Starrte an Grauner vorbei in die Dunkelheit.

Der Commissario drehte sich um und erschrak. Eine Gestalt hatte sich aus den Schatten gelöst und kam auf sie zu. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, schwarzer Hut mit breiter Krempe, schwarzer Talar, nur am Hals blitzte ein weißes Stück Kragen hervor. Ein Geistlicher. Ein Priester. Ein junges, fast bübisches Gesicht. Der Dorfpfarrer wohl, vermutete Grauner, dessen Herzschlag sich langsam wieder normalisierte.

Die Schuhe des Mannes klapperten auf den Pflastersteinen. Er stoppte zwei Meter vor den Ermittlern. Senkte den Kopf leicht zum Gruß, faltete die Hände, sprach: »Gottes Segen sei mit euch. Sagt, was macht ihr hier mitten in der Nacht?«

»Wir, äh … Herr Pfarrer, wir sind hier, weil …« Der Commissario wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Im Augenwinkel sah er, dass der Ispettore entschlossen nach vorne trat.

»Padre, gut, dass wir Sie treffen. Sagen Sie, ist eines Ihrer Schäfchen vielleicht gerade gestorben? Also, genauer gesagt, abgemurkst worden?« Er blinzelte, drehte sich zu Grauner. Öffnete theatralisch die Arme. »Siehst du, nix. Also, lass uns wieder nach Bozen fahren.«

Der Commissario atmete schnaubend aus, sah zum Geistlichen, der keine Anstalten machte, Saltapepes Frage zu beantworten. Er konnte es ihm nicht verübeln. »Hochwürden«, sagte Grauner. »Kennen Sie einen gewissen Charly? Gibt es einen Charly in Ihrer Gemeinde? Oder einen Karl, den alle Charly nennen?«

Der Mann verzog keine Miene, schüttelte nur bestimmt den Kopf. »Charly«, sagte er dann, »nein, einen Charly gibt es hier nicht.«

3

Grauner konnte nicht schlafen. Im blassen Licht des Mondes, das durch das Fenster fiel, hob und senkte sich Albas Brustkorb. Sie schnarchte leise. Er griff nach dem Handy auf dem Nachtkästchen, öffnete die WhatsApp-Nachricht, die Sara ihm vorhin geschrieben hatte. Er verstand sie noch immer nicht ganz, obwohl er sie schon ein paarmal gelesen hatte. Kein Vorwurf. Obwohl er den lange geplanten Videotermin hatte sausen lassen.

Sara und Mickey waren seit Wochen damit beschäftigt, einen Businessplan auszuarbeiten, um die Zukunft des Graunerhofs zu sichern. Sie hatten viel vor, zu viel für Grauners Geschmack. Aber er hatte sich geschworen, sie machen zu lassen. Und nur, wenn es zum Äußersten käme, und auch dann nur in Absprache mit Alba, milde einzugreifen. Sich an ein Credo Gustav Mahlers zu halten: Sie sind jung. Ich bin alt. Sie haben wohl recht.

Pferde! Super Idee, Papa!, hatte sie geschrieben. Eigentlich wollte ich dich schon längst darauf ansprechen. Bin so erleichtert, dass der Vorschlag von dir kommt. Weg mit den Kühen. Kühe waren gestern. Unser Hof wird ein Pferdehof! Schmatz. Dicken Kuss. Liebe dich!

Plötzlich, mitten in der Nacht, ging ihm ein Licht auf. Er verstand, was er angerichtet hatte. Er hatte ihr ein Pferdekopf-Emoji geschickt. Und sie hatte das falsch gedeutet, völlig falsch. Er stöhnte, legte das Handy auf das Nachtkästchen, das Licht des Bildschirms erlosch. Finsternis.

Pferde! Das würde er nicht überleben. Er hatte sich das alles anders vorgestellt. Ja, es musste sich etwas verändern auf dem Hof. Die Milch brachte nichts mehr ein. Sara und Mickey hatten Ideen, durchaus gute Ideen, er konnte sich mit vielem anfreunden, mit anderem zumindest arrangieren.

Sie wollten den Hof übernehmen – nach und nach, parallel zum Studium. Ihn ganz neu aufziehen. Mit einem Streichelzoo, mit Schafen, Ziegen, aber auch mit peruanischen Lamas und tibetanischen Yaks. Mit Schweinen, für die im Internet Patenschaften übernommen werden konnten. Sie wollten Erdwärme nutzen, Solarzellen auf dem Dach installieren. Keine Kachelofenwärme mehr, da hatte er schon schlucken müssen.

Ein neuer Graunerhof sollte entstehen: Mit Instagram- und TikTok-Profil. Sie wollten einen großen Gemüsegarten anlegen, voller alter Sorten, mit Japanischer Weinbeere, mit Gelber Bete, mit Glückskleeblüten, mit Senfkohl, mit chinesischem Elefantenknoblauch, mit Mexikanischer Minigurke, mit Hörnchenkürbis, mit Purple-Dragon-Karotte, mit Knollenfenchel, mit Afrikanischer Parakresse, mit Teltower Rübchen, mit Hirschhornwegerich, mit Austernkraut, mit Erdbeerspinat, mit Kaiserin-Sissi-Tomate, mit Süßdolde, mit Kerbelrübe, mit Würzsilie, mit Braunschweiger-Blut-Zwiebel, mit Golden-Butter-Zucchini.

Alles schön, alles sicher gut. Aber ohne Kühe? Was würde mit seinen Kühen geschehen? Er wagte nicht einmal, daran zu denken. Er drehte sich zu Alba. Rüttelte an ihrer Schulter.

»Johann, was …«, stöhnte sie schlaftrunken.

»Alba! Steh auf! Pack deine Sachen zusammen, wir fahren nach Wien. Wir müssen das stoppen, das geht zu …« Der Bildschirm seines Handys leuchtete auf. Das Gerät vibrierte. Die Questura rief an. Um Viertel vor fünf.

»Charly«, flüsterte er. »Also doch.«

3. Juni

1

Der Commissario sah nach oben, wo sich ein weißer Streifen zwischen das dunkle Grün und das leuchtende Blau gezwängt hatte. Bald würden erste Strahlen zu sehen sein, dann würde die Sonne hinter den bewaldeten Hügeln emporsteigen.

Er zwang sich, den Blick zu senken. Er stand auf einer Wiese, etwas außerhalb des Dorfes, die sanft bis zu den ersten Bäumen des Waldes anstieg. Weiter hinten entdeckte er ein einsames Bauernhaus, zu dem die Wiese wohl gehörte. Mit einem alten schwarzen Schindeldach, die einzelnen Holzstücke waren mit großen Steinen beschwert. Die Wiese war nicht gemäht, Gräser und Blumen wuchsen auf ihr, blaue, gelbe, violette, rote, weiße Farbtupfer in einem Meer aus Grün. Nelken, Skabiosen, Wiesensalbei, Flockenblume, Schafgarbe, Hahnenfuß.

Grauner beobachtete eine Grille, die von einem Grashalm auf den nächsten sprang, dann entdeckte er eine zweite. Vorboten des anbrechenden Tages. An manchen Stellen hatten die Männer in den weißen Schutzanzügen die Blumen und Gräser platt getreten. Hinter dem Holzzaun standen die Menschen aus dem Dorf. Starrend, tuschelnd.

 

Zwei Mitarbeiter der Scientifica, wie die Spurensicherung in Südtirol hieß, kamen auf den Commissario zu, sie trugen einen leeren Leichentransportsack, einer der beiden räusperte sich. »Dürfen wir?«, fragte der andere.

Grauner nickte langsam. Es sträubte sich zwar alles in ihm, aber er musste die Szenerie noch einige Sekunden auf sich wirken lassen. Er wusste aus Erfahrung, dass ihn das Bild des Toten während der Ermittlungen begleiten würde. Als junger Kommissar hatten ihn diese Bilder bis in seine Träume verfolgt, hatten ihn schweißgebadet aus dem Schlaf aufschrecken lassen. Und er ahnte, dass es diesmal nach langer Zeit wieder passieren könnte.

Er hatte schon viele grausame Tatorte gesehen. Aber so etwas noch nie. Schwindel packte ihn, er atmete konzentriert drei Mal langsam ein und aus. Dann ging es wieder. Einigermaßen.

»Commissario …«

Grauner nickte und trat beiseite. Die beiden Männer legten den Leichensack ab, die Schatten wanderten die Wiese hoch, die Sonne war nun über den Hügel gekrochen. Sie wärmte Grauners Gesicht, sie leuchtete sanft auf das Dorf, St. Leonhard, auf die Männer und Frauen, die hinter dem Zaun standen, die Polizisten, die Spurensicherer, auf Saltapepe und Tappeiner, Staatsanwalt Belli, der soeben eingetroffen war, auf den Chef der Spurensicherung, Max Weiherer, der auf die um ihn versammelten Mitarbeiter einredete, auf das Auto des Weißen Kreuzes, auf den Polizeihubschrauber, den Polizeiwagen, auf den Toten und all die merkwürdigen Dinge, die vor Grauner im Gras lagen.

 

Der Tote war nackt. Dreitagebart, schulterlanges rötliches Haar. Sommersprossen. Helle, wässrig blaue Augen. Fünfzig Jahre alt vielleicht. Die Finger voller Farbe. Gelb, blau, rot. Schnitte im Oberkörper, die Haut hing in Fetzen herab. Schnitte im Bauch, aus dem Teile des Darms quollen. Schnitte im Gesicht, den Wangen, der Nase, dem Mund. Aufgeplatzte Lippen. Ein Auge fehlte, ein Ohr ebenso, an der Stirn war der Schädelknochen zu sehen. Überall war Blut. Um den Kopf hatte jemand einen Kranz aus Blumen gebunden. Im Gras neben dem leblosen Körper: tote Vögel. Spatzen. Schwalben. Äpfel. Birnen. Eine Plastikpuppe, ebenso nackt. Zwei Flügel eines Schwans. Blut auf dem weißen Gefieder. Eine Sense. Die Klinge rostig, auch an ihr klebte dunkles Blut. Das war wohl die Tatwaffe, mutmaßte Grauner, doch was hatte es mit dem Rest auf sich?

Der Commissario wandte sich ab.

 

Es war der Besitzer der Wiese gewesen, ein gewisser Thomas Tretter, der mitten in der Nacht die Polizei alarmiert hatte, so viel wurde Grauner schon vorhin, gleich bei der Ankunft, mitgeteilt. Oder vielmehr, nein, das war nicht ganz richtig. Dieser Tretter hatte wohl mitten in der Nacht an die Tür des Pfarrhauses gleich neben der Kirche geklopft, der Pfarrer hatte ihm aufgemacht. Das hatte er später den Polizeikollegen erzählt. Tretter habe dem Pfarrer mitgeteilt, dass da ein nackter, entstellter Toter auf seiner Wiese liege. Der Pfarrer sei mit dem Bauern zum Bürgermeister gegangen, gemeinsam hätten sie entschieden, die Dorfcarabinieri zu verständigen.

Das war, Grauner wusste das, üblich in den hintersten Südtiroler Taldörfern. Zuerst wurde die Dorfautorität benachrichtigt, bevor man sich an irgendeinen Carabiniere wandte, der womöglich erst seit ein paar Jahren unter ihnen weilte.

Die Carabinieri waren daraufhin zur Wiese gefahren. Einer von ihnen hatte in der Kaserne in Bozen angerufen, dort hatte man die Staatsanwaltschaft informiert. Belli wurde aus dem Schlaf geholt, er ließ die Questura anrufen, die sollten Grauner wecken, er sollte mit seinem Team schnellstmöglich ins Tal kommen.

Schnellstmöglich! Grauner hatte mittlerweile erfahren, dass vom Auffinden des Toten bis zum Anruf auf seinem Handy rund anderthalb Stunden vergangen waren. So viel verlorene Zeit. Er versuchte, sich nicht zu ärgern, aber es gelang ihm nicht.

Am Rande der Wiese traf Grauner auf Saltapepe, Tappeiner und Weiherer. Der Commissario lehnte sich gegen das morsche Holz des Zauns.

»Was ist mit dem Bauern, der den Toten gefunden hat, diesem Tretter?«

Tappeiner nickte hinüber in Richtung Dorf, dessen Dächer nun in der Morgensonne glitzerten.

»Der liegt beim Dorfarzt. Auch der Pfarrer und der Bürgermeister sind bei ihm. Er hat ein paar Beruhigungstabletten bekommen. Und Schnaps. Er müsste jetzt ansprechbar sein. Hoffe ich.«

Grauner drehte sich zum Spurensicherer. »Ist der hier ermordet worden? Oder wurde die Leiche hergeschleppt?«

Weiherer hob eine Augenbraue. »Es sieht alles danach aus, dass der Fundort auch der Tatort ist. Denn das fehlende Auge, das fehlende Ohr und Teile des Dickdarms der Leiche wurden ebenfalls auf der Wiese sichergestellt.«

Die kleine Gruppe lief den Zaun entlang bis zu einem Holztor, das von einem Polizisten bewacht wurde. Er öffnete das Tor und nickte ihnen zu, als sie auf den Weg traten, auf dem das halbe Dorf zu stehen schien und sie anstarrte. Grauner hörte ein leises, beinahe schüchternes Hüsteln. Er drehte sich um, der Ispettore und Tappeiner taten es ihm gleich. Er schaute in das Gesicht einer alten Frau. Ein gebrechliches, gebücktes Mütterlein, dem eine schwarze Strickdecke um die Schultern hing. Die Frau zitterte, wohl vor Aufregung. Wie Gletscherspalten durchzogen tiefe Falten ihre dunkle, ledrige Haut, doch die eisblauen Augen wirkten beinahe kindlich. Ihre verzottelten grauen Haare waren dick wie Stroh. Sie war wunderschön.

Nur Frauen, die ihr ganzes Leben zwischen den Bergen verbracht hatten, sahen so aus. Nicht wie Fremdkörper inmitten der Natur, sondern wie ein Teil von ihr. Seemenschen, hatte ihm Saltapepe einmal gesagt, Männer und Frauen, die ihr Leben lang aufs Meer hinausgefahren waren, sähen genauso aus wie die Menschen hier oben auf den Höfen. Grauner konnte das nicht beurteilen, aber es mochte stimmen.

»Hören Sie, alte Frau«, sagte Saltapepe kaugummikauend, »Sie …«

Die Frau zuckte zurück.

Grauner legte die Hand auf Saltapepes Arm. Er beugte sich zu der Alten hinab.

Sie sprach krächzend, unverständlich.

»Was?«, sagte Grauner, und ging etwas in die Knie, um sie besser verstehen zu können. Ihre dünnen dunkelroten Lippen bewegten sich, sie hatte keine Zähne im Mund.

»Dieses Bild habe ich schon einmal gesehen«, sagte sie.

Sie zeigte auf die blühende Wiese, wo die Spurensicherer die Leiche in den Transportsack hoben.

»Was meinen Sie?«, fragte Grauner.

Sie schaute zu ihm auf. Schloss kurz die Augen.

»Dieses Bild habe ich schon einmal gesehen. Das habe ich schon einmal gesehen«, wiederholte sie.

Der Commissario drehte sich unbeholfen um. Tappeiner verstand, sie berührte den Arm der Frau, legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Kommen Sie«, sagte sie, »ich bringe Sie weg. Wo wohnen Sie denn?«

Die Frau runzelte die Stirn, ließ sich aber von Grauners Assistentin wegführen.

»Wie heißen Sie denn?« Sie entfernten sich langsam.

»Ich bin die Barbara.«

»Ich bin die Silvia.«

»Ich bin die Dorfälteste«, hörte Grauner die Frau noch sagen. »Das hier habe ich schon einmal …« Der Rest des Satzes ging unter, da in diesem Moment die Rotoren des Hubschraubers ansprangen. Die Spurensicherer hievten den Leichensack über den Zaun, Wind kam auf, blies Staub in die Gesichter der Umstehenden, zerrte an den Jacken, ließ die nahen Tannen und Fichten wogen, drückte das lange Gras der Wiese zu Boden.

»Das hier habe ich schon einmal gesehen«, wiederholte Grauner murmelnd.

2

Nein, man musste nichts von Fußball verstehen. Wirklich nicht. Ganz ehrlich, Saltapepe war es sogar lieber, wenn einer nichts von Fußball verstand. Damit kam er zurecht. Er selbst fand ein Leben ohne Fußball zwar sinnlos, aber bitte.

Menschen, die nichts von Fußball verstanden und demzufolge auch nicht über Fußball reden wollten, tolerierte er. Andere waren schlimmer.

Die Viertschlimmsten waren beispielsweise die, die nach Lust und Laune den Verein wechselten. Die Drittschlimmsten waren jene, die nur bei Welt- und Europameisterschaften Fußball schauten. Die dann schrien und weinten und drei Sekunden später schon alles vergessen hatten, das lustige Fan-Utensil, meist ein Partyhut in Nationalfarben, noch auf dem Kopf. Die Zweitschlimmsten waren die, die aus Süditalien kamen und zur Juve aus dem Norden hielten, weil die meist gewann. Die Allerschlimmsten waren aber die, die zu gar niemandem hielten, die einfach gerne schönen Fußball schauten, wie sie sagten, keinen Catenaccio, sondern Tiki-Taka, die dann von Fußballballett und falschen Neunen faselten. Idioten!

Alles Idioten, auch dieser Mann, der ihm nun gegenüberstand und ihn angrinste.

 

Sie waren mit Grauners Panda zum Dorf hinabgefahren. Sie hatten in der Bäckerei nach dem Haus des Dorfarztes gefragt, es befand sich auf der anderen Seite des kleinen Platzes.

Der Bauer, der den Toten gefunden hatte, lag auf einem Krankenbett, drei Männer standen um ihn herum. Den einen kannten sie bereits. Es war der Pfarrer, dem sie in der Nacht begegnet waren. Er war noch genauso blass wie vor wenigen Stunden, wirkte im Licht aber deutlich jünger. Blondes Haar. Er nickte ihnen zu und brummte: »Hochwürden Paul Windisch.«

Der Mann im weißen Kittel war der Dorfarzt. Der dritte Mann, der einen kleinen Bierbauch vor sich hertrug und in Bergschuhen, Jeanshose und einer neongelben Trainingsanzugsjacke steckte, drückte allen die Hand. »Kofler, Sebastian Kofler, der Bürgermeister bin ich.«

»Saltapepe, kein Südtiroler, oder?«, sagte er, als die Ermittler sich vorgestellt hatten.

Der Ispettore nickte und ärgerte sich sofort darüber.

»Mailand? AC oder Inter?«, fragte Kofler weiter.

Saltapepe schluckte. Ihm war noch immer ein bisschen übel. Ihm waren Tote abends lieber, morgens schlugen sie ihm immer auf den Magen. Besonders, wenn jemand auf so bestialische Art hingerichtet worden war. »Ich bin Neapolitaner«, sagte er schließlich.

»Ah, Napoli«, schrie der Mann beinahe. »Echt blöd gelaufen gestern Abend, nicht?« Er schien tatsächlich eine Antwort zu erwarten, quasselte aber nach einigen Sekunden weiter, als er kapierte, dass er keine erhalten würde. »Ausgerechnet Insigne. Ein weiterer Elfer. In der dreiundneunzigsten Minute. Es wäre das 2:1 gewesen. Der sichere Champions-League-Platz. An die Latte! Bitter, ganz, ganz bitter. Also Maradona hätte den gemacht. Bitter! Für euch. Gut für uns …«

Saltapepe runzelte die Stirn.

»Jetzt schaffen wir es hoffentlich, am letzten Spieltag an euch vorbeizuziehen. Ich bin Juventino. Seit ein paar Jahren. Früher war ich Milanista, als da noch die Holländer gespielt haben, aber aus Protest gegen den Berlusconi bin ich zur Juve gewechselt, die spielen auch einfach den schöneren Fußball. Aber am liebsten schaue ich natürlich die Weltmeisterschaften. Zu wem halten Sie denn da? Ich immer zu Kamerun, wenn sie dabei sind. Sonst zu Deutschland, die sind ja immer dabei. Ich will …«

Saltapepe war sicher nicht der abergläubischste aller Neapolitaner unter diesem Himmel, aber das musste er auch nicht sein, um zu wissen, dass er und nur er am Lattenschuss schuld war. Weil er nicht vor dem Fernseher gesessen hatte, weil er nicht, wie sonst immer beim Elfmeter, die Hände gefaltet und ein schnelles Vaterunser gebetet hatte.

Und jetzt auch das noch. Ein Südtiroler Talbürgermeister, der Juventino war. Wie um Gottes willen kam der auf die Idee, Juventino zu sein? Es war wie eine Seuche. Beinahe überall waren diese Juventini. Aber hier, am Ende der Welt, hätte Saltapepe sie nicht vermutet. Er bemerkte, dass der Mann noch immer redete.

»… immer Tore sehen, Tore, Tore, Tore! Ich habe eine kleine Schalsammlung und ein signiertes Trikot von Roberto Baggio, als der noch bei Brescia …«

»Können wir mit ihm sprechen?«, unterbrach der Ispettore ihn.

Der Mann im weißen Kittel trat zur Seite. Thomas Tretter, der Bauer auf dem Krankenbett, wirkte müde, die Haare hingen ihm nass ins Gesicht. Er begann zu erzählen, mit schwacher Stimme, aber so hastig, als wollte er so schnell wie möglich alles loswerden. Er habe in den frühen Morgenstunden den Hund bellen hören. Das passiere schon mal, da in jenen Stunden manchmal Rehe an den Waldrand kämen. Nein, nein, wegen der Rehe belle der Hund nicht, sondern wegen der Wölfe, die dann meist nicht weit seien.

Er sei dann, so erzählte Tretter weiter, irgendwann, als das Bellen nicht aufhörte, runter zu seinem Schäferhund, habe ihn losgebunden, das Viech sei knurrend zur Wiese gehastet, er hinterher. Beinahe gestolpert sei er über den Toten und den ganzen Krempel, der da gelegen habe. Deshalb seien sein Pyjama und der Schafwollmantel, den er nur schnell übergeworfen hatte, auch voller Blut.

»Das sage ich Ihnen gleich, ich habe sie auch nicht gewaschen, weil, das würde mich ja nur noch verdächtiger machen, oder?«

Er schaute fragend zum Bürgermeister. Der zuckte die Achseln, beide schauten sie zu den Ermittlern.

Saltapepe schwieg, er wusste, dass Grauner jetzt übernehmen wollte. Sie hatten lange gebraucht, um sich aufeinander einzuspielen. Ein paar Jahre sogar. Nun ging’s. Nun waren sie, das hätte er früher vehement verneint, ein gutes Team. Sie übernahmen abwechselnd die Rolle des bad cop, so wie Weltklasse-Mittelfeldspieler, die, aus Spaß und um den Gegner zu verwirren, mitten im Spiel die Position wechselten.

Und dann war da ja noch Tappeiner. Sie hielt sich im Hintergrund, doch im entscheidenden Moment trat sie nach vorne. Und brauchte oftmals nur wenige Worte, um ihr Gegenüber in Erklärungsnot zu bringen. Saltapepe war froh, dass sie dabei war. Es waren einige Monate vergangen, seitdem sie beide … Ja, was war da eigentlich geschehen? Er wusste es immer noch nicht. Er schaute zu ihr, sie schaute weg. Grauners Stimme riss ihn aus den Gedanken.

Der Commissario versuchte, all die Informationen und Eindrücke, die in der vergangenen Stunde auf ihn eingeprasselt waren, zu ordnen. Es passte ihm ganz gut, dass der Ispettore meist derjenige war, der das Gespräch einleitete. Er fand nicht, dass er es besonders gut machte, aber es verschaffte ihm etwas Zeit, die Gesprächspartner erst einmal zu beobachten. Diese Männer wussten etwas, das ganze Dorf wusste etwas, was ihnen, den Ermittlern, verschwiegen wurde. Da war er sich sicher.

Dorf-Omertà. Wie gut kannte er das. Er sprach das Wort nie aus, weil Saltapepe sich über ihn lustig machen würde. Grauner, Omertà, das Schweigen allen Schweigens, das gibt es hier nicht. Auch wenn die Menschen in den Tälern verschlossen sind. Sizilien ist das hier noch lange nicht. Grauner wusste nicht, wie es in Sizilien war, er war bei Gott froh, hier in Südtirol zu ermitteln. Hier, in den Dörfern und Tälern, ließ sich die Omertà durchaus durchbrechen, man musste nur wissen, wie. Ein Dorf, ein Tal, das war eine Schicksalsgemeinschaft. Wenn da einer von außen kam, hielten die Menschen zusammen. Blieb man aber lange genug dort, offenbarten sich uralte Konflikte. Grauner räusperte sich. Er hatte den Männern geduldig zugehört, nun war es genug.

»Haben Sie Kinder?«, fragte er den Bauern.

Der Mann schaute überrascht. »Einen Sohn, Anton«, sagte er dann.

»Spielt der kleine Anton mit Puppen?«

»Anton ist einunddreißig, der hilft lieber im Stall mit.«

»Und Ihre Frau, flicht die gerne Blumenkränze?«

Der Bauer schüttelte den Kopf.

Grauner brummte, er ahnte, dass das alles zu nichts führte. »Schwäne, haben Sie Schwäne?«

»Kühe, Schweine, Hühner, einen Hahn, einen Hund, zwei Katzen, aber Schwäne? Nein, keine Schwäne«, sagte Tretter.

»Und die Vögel, die Schwalben und Spatzen fallen bei euch im Tal einfach so vom Himmel herab?« Der Commissario sah den Mann unverwandt an.

Tretter, der Bürgermeister und der Arzt hoben und senkten beinahe synchron die Schultern. Der Pfarrer verharrte still. Schaute verlegen zu Boden.