Das dunkle Dorf - Lenz Koppelstätter - E-Book
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Das dunkle Dorf E-Book

Lenz Koppelstätter

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Beschreibung

Vendetta im verschneiten Südtirol. Rachsüchtige Mafiosi, ein toter Dorfpolizist und geheime Ermittlungen: In seinem sechsten Fall bekommt es Südtirols beliebtestes Ermittlerduo mit Italiens gefährlichsten Verbrechern zu tun. Es ist Mitte Januar, im verschneiten Grödental zittert immer wieder die Erde. Rund um das luxuriöse Winteridyll St. Christina gehen ungewöhnlich viele Lawinen ab. Doch Commissario Grauner hat keine Augen für dieses Naturspektakel. Auch als ein Toter in einer heruntergekommenen Villa gefunden wird, ermittelt er nur widerwillig. Denn seit Tagen ist seine achtzehnjährige Tochter Sara spurlos verschwunden. Als er erfährt, dass sein neapolitanischer Kollege Saltapepe untertauchen musste, weil der Mafiaboss Giorgio Garebani, den der Ispettore einst ins Gefängnis brachte, hinter ihm her ist, glaubt Grauner nicht mehr an einen Zufall. Gemeinsam mit seiner Frau Alba ermittelt er gegen alle Vorschriften – sie stürzen sich in einen Kampf, den sie eigentlich nicht gewinnen können, aber nicht verlieren dürfen.

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Lenz Koppelstätter

Das dunkle Dorf

Ein Fall für Commissario Grauner

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Lenz Koppelstätter

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Lenz Koppelstätter

Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Südtirol geboren und aufgewachsen. Er arbeitet als Medienentwickler und als Reporter für Magazine wie GEO Special, GEO Saison oder Salon. Die ersten fünf Bände der Krimireihe um Commissario Grauner, »Der Tote am Gletscher«, »Die Stille der Lärchen«, »Nachts am Brenner«, »Das Tal im Nebel« und »Das Leuchten über dem Gipfel«, waren ein großer Erfolg bei Leserinnen, Lesern und Presse.

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Über dieses Buch

Es ist Mitte Januar, Hochsaison im tief verschneiten Grödnertal. Betuchte Touristen aus aller Welt reisen in das luxuriöse Winteridyll Wolkenstein, um hier ihren Urlaub zu verbringen. Ausgerechnet jetzt wird ein Toter in einem Hotelzimmer gefunden. Obwohl das Opfer Gemeindepolizist war und somit beinahe ein Kollege, nimmt Commissario Grauner nur widerwillig die Ermittlungen auf. Er hat andere Sorgen: Seit Tagen ist seine achtzehnjährige Tochter Sara spurlos verschwunden. Als er erfährt, dass sein neapolitanischer Mitarbeiter Saltapepe untertauchen musste, weil der Mafiaboss Giorgio Garebani, den der Ispettore einst ins Gefängnis brachte, hinter ihm her ist, glaubt Grauner nicht mehr an einen Zufall. Gemeinsam mit seiner Frau Alba ermittelt er gegen alle Vorschriften – sie stürzen sich in einen Kampf, den sie nicht gewinnen können, aber nicht verlieren dürfen.

 

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Prolog

16. Januar

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

17. Januar

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

18. Januar

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

19. Januar

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Epilog

Danke

Leseprobe »Was der See birgt«

Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden – die Mafia nicht. Ist es ruhig um sie, ist sie stark. Sind wir laut, wird sie schwach.

 

In Bezug auf Ortsbeschreibungen nimmt sich das Buch Freiheiten heraus.

Prolog

Über jene, über die das Dorf am wenigsten weiß, redet es am meisten. Über jene, die kaum unter die Leute gehen, nicht ins Gasthaus, nicht in die Messe, jene, die keinem Verein angehören, auch nicht der Feuerwehr oder der Musikkapelle, jene, die nicht auf den Fußballplatz kommen oder auf die Skipiste, auch nicht in den Kegelklub, jene, die an der Theke nie einen ausgeben, sich nie einen ausgeben lassen. Wer nicht »ratscht«, wie die Südtiroler sagen, wenn sie plaudern, plappern, intrigieren, über den wird geratscht, geplaudert, geplappert, gegen den wird intrigiert.

Das ist heute so und so war es schon immer. Warum? Weil im Dorf jeder alles über jeden weiß, wissen will, wissen soll, wissen muss, weil ein Dorf nur so funktioniert, nur so funktionieren kann. Im Guten wie im Schlechten. Wer nichts weiß, bleibt außen vor. Wer nichts preisgibt, ebenso. Weiß ich nichts über dich, dann heißt das, ich interessiere mich nicht für dich. Du bist mir egal. Nichts wissen zu wollen ist ein Affront.

Man hat zu wissen, wie es dem Nachbarn geht, damit man ihm, wenn es ihm gut geht, gratulieren kann. Auch wenn ihm sein Glück viele, die an der Theke sitzen, heimlich neiden. Geht es dem Nachbarn schlecht, hat man sein innigstes Beileid auszudrücken. Auch wenn viele, die an der Theke sitzen, sich heimlich zuprosten, weil er bald bankrott sein wird, der Nachbar. Weil er sich verspekuliert hat, weil er das Stück Grund wird verkaufen müssen, das viele so gerne hätten, weil dort die Wiesen besonders saftig blühen, die Bäume des Waldes besonders kräftig sind.

Wer nicht redet, sich nicht blicken lässt, gehört nicht dazu, wird nie dazugehören. Sei ein Teil des Dorfes. Dann geht es dir gut. Bist du es nicht, hast du es schwer. Das besagt das Gesetz des Dorfes, es gilt in allen Dörfern, in Südtirol, in den Alpen, in Italien, wahrscheinlich auf der ganzen Welt, im tiefsten Dschungel, an den Ufern des Amazonas und auf den Gipfeln des Himalaja. Das Gesetz des Dorfes steht nirgendwo geschrieben, aber jeder kennt es.

Sein Nachbar, Cecconi, dieser Mann mit dem seltsam starren Gesicht, war ihm lange ein Rätsel gewesen. Nichts hatte er anfangs über ihn gewusst. Gar nichts. Das hatte ihn fuchsteufelswild gemacht, den Hinteregger Hans-Peter. So etwas hatte es noch nie gegeben. Bis dieser Mann mit seiner Ehefrau und seiner kleinen Tochter in das Haus nebenan gezogen war. Es hatte Wochen gedauert, bis sie das erste Mal miteinander gesprochen hatten.

 

Paolo Cecconi öffnete die Haustür, trat hinaus und blieb wie erstarrt stehen. All das konnte Hinteregger beobachten, weil er vom Wohnzimmerfenster aus, hinter der Gardine versteckt, die beste Sicht auf das Nachbarhaus und den Garten davor hatte. Er filmte das Geschehen mit der kleinen Handkamera, die ihm vor ein paar Stunden in die Hand gedrückt worden war.

Ja, er hatte gleich einen Narren an den Cecconis gefressen, an dieser ihm so mysteriös erscheinenden Familie. Nein, es hatte ihm keine Ruhe gelassen, dass er nichts gewusst hatte über sie. Er, der doch von allen alles wusste.

Vom Spritzbacher Sepp wusste er, dass der seine Frau, die geborene Santner Elma, grün und blau schlug, wenn er mit Schnaps in den Adern nach Hause kam. Immer in den Bauch schlug er sie, nie ins Gesicht, immer ins Gedärm, damit es niemand sah. Deshalb, so war sich der Witwer Hinteregger sicher, konnten sie auch keine Kinder kriegen, der Sepp und seine Elma.

Vom Pfaffstaller Rudolph wusste er, dass der sein Erbe im Casino in Salzburg verspielt hatte. Alles. Den Hof, die Viecher, die siebenunddreißig Kühe, die zwei Dutzend Schweine, die Hühner, auch die drei Traktoren. Einem Geschäftsmann aus Mailand gehörte der Hof nun, der wollte ein Hotel daraus machen, Luxusurlaub auf dem Bauernhof für gestresste Großstadtidioten.

Dass die Frau vom Voltinger Karl, die Serafine, immer donnerstags am späten Nachmittag im Wald spazieren ging, das wusste der Hinteregger auch. Spazieren. Pah! Feuerwehrmann Hinteregger, der früher auch Jäger gewesen war, hatte herausgefunden, dass die Serafine gerne abseits der Wege wandelte. Er hatte es mehrmals beobachtet, dieses Luder, das sich mit dem ledigen und zehn Jahre jüngeren Berghofer Stefan aus dem Nachbardorf traf. Er hatte gesehen, dass die beiden im Wald herumtollten, lachend, sich küssend, sich im Moos wälzten, sich auszogen, Haschisch rauchten, stöhnten, jauchzten, sich vergnügten.

Ja, das alles wusste Hinteregger, der sonntags dem Herrn Pfarrer bei der Predigt half, weil der Herr Pfarrer ja seit ein paar Jahren so sehr zitterte, dass er den gesegneten Wein verschüttete und die Oblaten zerbrach, sodass der Leib Christi zerbröselt auf den kalten Kirchenboden fiel.

Alles wusste er, Hinteregger, der dreimal am Tag betete, und sollte es tatsächlich etwas geben, das er nicht wusste, dann wusste es niemand. Und was niemand wusste, existierte nicht. Er hielt die kleine Handkamera näher ans Fenster, filmte weiter den Garten des Nachbarn. Flüsterte: »Es stimmt also, es ist wahr, es ist alles wahr. Oh Gott, unser Dorf, unser dunkles Dorf, es ist verloren.«

 

Cecconi stieg die Treppenstufen vor der Haustür hinunter, er schaute ungläubig die drei Gestalten an, die an seinem Gartenzaun standen. Zwei von ihnen trugen Motorradhelme und schwarze Ledermonturen, der dritte einen dicken Pullover, er hatte sich eine Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Der Mann mit der Mütze deutete aufs Haus, stolperte drei Schritte rückwärts. Verharrte. Die beiden anderen öffneten die Gartentür.

Schnee lag auf den Wiesen und den umzäunten Beeten, in denen sommers die Salatköpfe, Tomaten, Gurken und Radieschen reiften. Der Schnee fiel früh, hier am Berghang weit über dem Dorf, hier, wo Hinteregger schon seit seiner Kindheit wohnte und viele Sommer und Winter hatte kommen und gehen sehen. Hier, wo sein Vater gestorben, seine Mutter ums Leben gekommen und vor bald fünfzehn Jahren seine Frau vom Krebs dahingerafft worden war. Hier, wo er ganz allein gewesen war, nachdem seine Schwester ins Engadin ausgewandert war und wo es lange keine Nachbarn gegeben hatte, weil der alte Nachbarsbauer vor Jahren schon weggegangen war, runter ins Dorf, weil sich die Bauernarbeit hier oben nicht mehr gelohnt hatte.

Runtergehen, jeden Tag, arbeiten, ratschen, wieder hochkommen, ja. Aber runterziehen, unten leben, nein, das wollte Hinteregger nicht. Hier oben gehörte er hin. Er hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt. Doch dann, vor sechs Jahren, kamen die neuen, schweigsamen Nachbarn, die Cecconis.

 

Cecconi hob die Hand, zum Gruß, dachte Hinteregger, dann bemerkte er, dass die Bewegung eine abwehrende war. Dumpf, durch die dünnen Scheiben der alten Bauernhausfenster hindurch, hörte er seine Stimme. Flehend. Schreiend. »No, no, vi prego, dio, o dio, no!«

Dann vernahm Hinteregger, der das Dorfmuseum in Schuss hielt und das Dorfblatt mit blumigen Artikeln bestückte, ein Geräusch, das er noch nie zuvor vernommen hatte: eine Art Floppen, so als ob Tennisbälle auf einen gespannten Schläger träfen.

Flopp, flopp. Und etwas später noch einmal: Flopp.

Die beiden Gestalten in Motorradkluft waren auf Cecconi zugegangen, wortlos, entschlossen, sie hatten beide den rechten Arm gehoben, je eine Pistole mit Schalldämpfer in der Hand, abgedrückt, sich dann über den wortlos in sich zusammensackenden Mann gebeugt. Der eine hatte noch einmal die Hand nach vorne gestreckt, erneut abgedrückt. Cecconis Schädel war geplatzt.

Aus dem Haus waren Schreie zu hören. Marta, Cecconis Frau. Caterina, die Tochter.

Die beiden Killer liefen auf die Haustür zu, langsam, als gingen sie spazieren. Sie traten ein. Der Mann mit der Mütze hingegen blieb wie erstarrt vor Cecconis Leiche stehen.

Hinteregger hörte die Schreie noch einige Sekunden lang, dann verstummten sie.

Die beiden kamen wieder aus dem Haus, so langsam wie zuvor, sie gingen auf den Mann mit der Mütze zu, hoben die Pistolen erneut. Der Mann sank auf die Knie, er riss sich die Mütze vom Kopf, Hinteregger erkannte ihn, ja, es war alles wahr, es stimmte alles. Der Mann schrie schluchzend.

»Nein, nein, ich habe euch zu ihm gebracht, nein, oh Gott, nein, ihr habt mir versprochen …«

Flopp. Flopp.

Dann sank der Getroffene neben Cecconi ins Beet.

Stille.

Einer der beiden Killer nahm den Helm ab, der Kopf einer jungen blonden Frau kam zum Vorschein.

»Es ist alles wahr, es ist alles wahr«, wimmerte Hinteregger hinter der Wohnzimmergardine.

Die junge Frau spuckte auf die beiden Toten.

 

Hinteregger wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte. Die Hände vor dem Gesicht, so als ob Hände löschen könnten, vergessen machen könnten, was die Augen gesehen hatten. Irgendwann ließ er sie sinken. Als ein wenig Kraft in ihn zurückkehrte, flüsterte er ein Gebet.

Vater unser im Himmel …

Doch er schaffte es nicht, zu beten. Zu sehr tanzten seine Gedanken.

»Es stimmt, es stimmt alles …«, stammelte er. »Ich … unser Dorf ist verloren.«

Er schaute auf die kleine Kamera, die neben ihm lag, dann zur Tür. Würden sie auch zu ihm kommen? Eigenartigerweise überkam ihn ein Gefühl der Leichtigkeit bei dem Gedanken. Es würde schnell gehen, er hatte es ja gesehen. Flopp. Flopp. Flopp. Und Tod.

 

Sie kamen nicht. Er versuchte erneut, zu beten. Es gelang, irgendwie. Dann entschloss er sich, zu warten, bis es dunkel wurde, schließlich würde er tun, was getan werden musste. Was ein Christenmensch tun musste. Und dann würde er verschwinden.

16. Januar

1

»Versprich es mir!«, sagte Saltapepe und schaute Tappeiner tief in die Augen. Er hatte der Kollegin noch nie so tief in die Augen geschaut. Dabei war er gut darin, Frauen tief in die Augen zu schauen. Davon war er überzeugt. Er hatte bestimmt schon Tausenden Frauen tief in die Augen geschaut, noch nie war er es gewesen, der den Blick zuerst hatte senken müssen, der zuerst mit einem verschmitzten Lächeln hatte wegsehen müssen. Sein Trick: Er dachte an etwas ganz anderes, an die Aufstellung des letzten Spiels von Napoli. An die schönsten zehn Tore, die Diego Armando Maradona bei Napoli geschossen hatte. An die schönsten Hymnen, welche die Napoli-Tifosi zu Ehren ihres Vereins sangen.

Staje luntana da stu core, a te volo cu ’o penziero, niente voglio e niente spero, ca tenè a tte sempe a ffianco a me! Si’ sicura ’e chist’ammore, comm’i so’ sicuro ’e te …

Meistens war alles möglich, wenn Saltapepe einer Frau in die Augen schaute. Aber darum ging es jetzt bei Tappeiner ja nun wirklich nicht.

 

»Versprich mir, dass Grauner von alldem nichts erfährt, ja?«

Sie nickte, senkte den Blick. Saltapepe wandte sich ab und blickte den weißen Hang hinab, auf die präparierte, eisige Piste. Er schaute auf seine Knie, die schlotternd in viel zu weiten hellroten Hosen steckten, und dann auf seine Skier, mit denen er nun diesen Hang hinunterfahren sollte.

Er kam sich vor wie ein Kleinkind, das an einem Marathon teilnehmen sollte, kurz nachdem es die ersten Schritte gewagt hatte. Seine Beine machten nicht das, was er wollte, sie verhielten sich so, als wären sie fremdgesteuert. Er konnte sich das nicht erklären. Er! Ehemaliger Polizist einer Antimafia-Sondereinheit. Er! Sportlicher Typ. Mr. Cool. Warum, um Gottes willen, machte er sich hier so zum Affen?

Er straffte die Schultern. Ja, das musste jetzt sein. Er hatte es sich fest vorgenommen. Für das neue Jahr. Er, Claudio Saltapepe, ein Sohn Neapels, des Golfes, des Meeres, er, für den alles außer Fußball eigentlich kein richtiger Sport war, für den Berge nutzlose Gebilde waren, wollte Skifahren lernen. Er hatte es sich geschworen, unterm Weihnachtsbaum und dann noch ein zweites Mal beim Anstoßen um Mitternacht an Silvester.

Er war über die Weihnachtstage zu seiner Mutter gefahren, er war mit ihr durch die Stadt spaziert, er hatte mit ihr das Grab des Vaters und des Bruders besucht. Er hatte sich von ihr bekochen lassen, sie hatte so gut gekocht, dass ihm die Freudentränen gekommen waren. Penne all’arrabbiata. Pasta con le melanzane. Pasta con le zucchine e ai gamberi. Die Conchiglie waren selbst gemacht, der frische Knoblauch kam aus dem Hinterland Neapels, das Olivenöl von den Hügeln des Aspromonte, der Peperoncino aus Messina.

Wann er denn endlich zurückkommen werde, fragte ihn seine Mutter am zweiten Weihnachtstag nach einigen Limoncelli. So direkt hatte sie ihn das noch nie gefragt. Er sah die Tränen in ihren Augen. Er wandte sich zum Fenster. Die Lichter der Stadt waren blass, der weiße Mond leuchtete über den Dächern.

Er wisse nicht, ob und wann er zurückkommen könne, zurückkommen dürfe, sagte er schließlich. Er versuchte sogleich, wie schon so oft, sie zu überreden, ihn doch einmal in Südtirol besuchen zu kommen. Sie schüttelte nur den Kopf, trotzig. Er verstand die Reaktion. Ihn da oben zu besuchen, das wäre ja ein Eingeständnis, damit würde sie akzeptieren, dass er weg war. Für eine lange Zeit. Vielleicht für immer.

Sie hatte ihn fest gedrückt. Sie hatte ihm gesagt, ihm befohlen, dass er versuchen solle, glücklich zu werden, in dieser fremden Stadt da oben, in dieser fremden Region, die sie sich immer noch nicht so recht vorstellen könne. Wie konnten Menschen bloß in dunklen Tälern zwischen eisigen Bergen wohnen. So weit weg vom Meer.

Glücklich werden. Pah, Mamma, wenn das so einfach wäre. Doch er wollte es versuchen, er hatte es ihr versprochen. Der erste Schritt war, sich auf das Leben in Südtirol einzulassen. Voll und ganz. Und dazu gehörte hier oben nun mal, diese bedrohlichen Berge zu besteigen und ihre Hänge zu befahren. Er, Claudio Saltapepe, Poliziotto aus Neapel, wollte Skifahrer werden. Er hatte schnell verstanden, dass die coolsten Jungs in den Bergen die Skifahrer waren. Der Skifahrer war der Bademeister der Alpen.

Wollte er endlich die Frau seines Lebens finden – und das, so war er überzeugt, war die zweitwichtigste Voraussetzung, um glücklich zu werden –, hatte er als Skifahrer die besten Chancen. Gut Ski fahren zu können war hier, wie gut tanzen zu können. Frauen liebten Tänzer. Er wollte ein Schneetänzer werden. Doch bis es so weit war, wollte er sich keine Blöße geben. Vor niemandem, am allerwenigsten vor Grauner. Er konnte sich das Gesicht des Commissario vorstellen, sollte er ihn jemals so sehen. Das belustigte Lächeln. Saltapepe? Skifahren? Da fahren ja meine Kühe besser …

 

»Kein Wort zu Grauner, ja?«

Silvia Tappeiner, Grauners Assistentin, nickte. Er zählte in Gedanken bis drei, ging in die Knie, so, wie sie es ihm am Morgen gezeigt hatte. Er spürte, wie der Schnee die Skier losließ, wie sie sich bewegten. Er verlor das Gleichgewicht, er kämpfte dagegen an, er versuchte, den Oberkörper und die Schienbeine nach vorne zu bringen. Die Skier nahmen an Fahrt auf, Saltapepes Hirn verstand, was nun zu tun war, es gab Befehle an den restlichen Körper weiter: Stockeinsatz, Kurve nach rechts.

Der Körper reagierte nicht. Kurz fühlte der Ispettore sich wie ein Astronaut, der Schwerkraft entkommen, er sah den wolkenlos blauen Himmel, die schneebehangenen Tannen, dann nur noch weiß, kurz darauf krachte er mit dem Rücken auf die eisige Piste. Er krümmte sich, er war sich sicher, mehrere Knochen waren zertrümmert, wahrscheinlich war die Wirbelsäule entzweigebrochen, das war es jetzt wohl, Skiambitionen im Arsch, Karriere im Arsch, ganzes Leben im Arsch, Rollstuhl, wenn es gut lief, Flüssignahrung aus dem Strohhalm, wenn es schlecht lief.

Er rutschte immer schneller, er sah einen seiner Skier über ihn hinwegfliegen. Gut, dachte er, noch schlimmer. Kein Rollstuhl, kein Strohhalm, gar nichts mehr. Tod. Er schloss die Augen. Wollte es einfach geschehen lassen. Dann stoppte er plötzlich wie durch Gottes Hand. Er spürte, wie Schnee ihm in die Handschuhe, in den Kragen, in die Nasenlöcher kroch. Kalter, kitzelnder Pulverschnee.

Er vernahm ein leises Rauschen, dann eine Melodie. Wie aus einer anderen Welt, sie wurde immer lauter. Sein Handy klingelte. Doch er wagte es nicht, sich zu bewegen.

»Claudio, alles gut?«

Er spürte ein Ziehen an der Windjacke.

Silvia.

Was sollte die blöde Frage.

Er versuchte, zu antworten, aber kaum öffnete er den Mund, füllte dieser sich mit Schnee.

»Claudio, dein Handy.«

Er versuchte, sich zu drehen, keine Chance.

»Wo hast du es?«

»Nnn dr Jjjknntasch.«

»Was?«

»Ndddsch.«

Er spürte ihre Hände, die an ihm zerrten. Er war sich sicher, noch nie in seinem Leben so unromantisch von einer Frau berührt worden zu sein. Er nahm alle Kraft zusammen, drehte sich um, öffnete die Augen, die Wangen brannten, der Schnee klebte an den Wimpern, er sah die Welt wie durch dickes Milchglas. Er sah, dass sie sein Handy in der Hand hielt.

»Ja?«

Er stemmte sich hoch.

»Nein, Grauner. Ich bin’s, Silvia.«

Er versuchte, aufzustehen.

»Claudio? Nein, der … nein, ich probiere grad, dem das Skifahren …«

Er beschloss, ihr diesen Verrat nie zu verzeihen, nie wieder mit ihr zu reden.

»Nein, der ist ein hoffnungsloser Fall.«

Sie grinste, zwinkerte ihm zu. Dann versteinerte sich ihre Miene.

»Ein Toter? In Wolkenstein?«

Plötzlich war aller Schmerz vergessen. Saltapepe hielt den Atem an.

»Wir kommen sofort.«

2

Grauner legte auf. Ging aus dem Stall auf den Hof, lief zum Haus hinüber. Es schwirrten zu viele Dinge in seinem Kopf herum, um sich jetzt auch noch darüber Gedanken zu machen, warum seine Assistentin Silvia Tappeiner und sein Kollege Ispettore Claudio Saltapepe gemeinsam Ski fuhren.

Ein Toter in Wolkenstein. Er rief nach Alba. Das Bauernhaus hoch über dem Eisacktal war groß und verwinkelt, Alba hatte ihm schon vor Jahren nahegelegt, er solle sie doch anrufen, wenn er sie nicht finde, sie habe das Handy immer bei sich. Aber er weigerte sich. Das Rufen hatte sich bewährt. So machte man es in allen großen verwinkelten Bauernhäusern Südtirols. So hatte man es immer schon gemacht. So hatte schon sein Vater seine Mutter in den Stall gerufen, wenn eine Kuh kalbte. So rief auch Alba ihn, wenn die Knödel fertig waren.

Ein Toter. In Wolkenstein. Im Grödnertal. Jetzt in der Hochsaison. Jetzt, wo die Reichen und Schönen aus aller Welt in dem teuersten und exklusivsten Tal Südtirols weilten.

Er konnte sich schon vorstellen, was da jetzt los war. Da, wo die Reichen und Schönen waren, wo es glitzerte und funkelte, wimmelte es auch von Boulevardjournalisten. Und jetzt, im Januar, glitzerte und funkelte es ganz besonders in Gröden, jetzt schäumte da der Champagner, die Geldscheine saßen locker.

Grauner hatte nichts gegen Touristen. Wenn sie still, brav und andächtig die Berge hoch- und wieder runterkletterten, ertrug er sie. Wenn sie jedoch laut waren, vulgär und tollpatschig, dann hasste er sie. Gröden! Früher war er da oft Ski gefahren, seiner Tochter Sara hatte er es dort beigebracht. Immer in den Wochen vor Weihnachten, wenn die Pisten noch nicht so überfüllt waren. Doch keine zehn Kühe hätten ihn nun, Mitte Januar, in das nur durch eine tiefe Schlucht zugängliche Tal im Osten Südtirols bringen können. Aber nun musste er hin. Ein Toter. In einem Hotel. Erschossen. Viel mehr hatte er dem aufgeregten jungen Polizisten am anderen Ende der Telefonleitung nicht entlocken können.

»Alba, wo bist du?«, rief er noch einmal. Lauter.

»Hier!«, schallte es von irgendwoher.

Das Echo warf das Wort in alle Himmelsrichtungen.

»Hier, hier, hier.«

Grauner liebte Alba immer noch wie am ersten Tag, nein, irgendwie – so unwahrscheinlich es sein mochte – liebte er sie von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, mit jedem grauen Haar sogar noch mehr.

»Wo hier?«, schrie er erneut.

»Kartoffelkeller.«

Endlich hatte sie es kapiert. Das Navigieren durch Gebrüll verlangte Präzision. Sonst funktionierte es natürlich nicht. »Hier« brachte gar nichts. »Hier, im Keller« wäre aber auch zu wenig gewesen. Das Haus hatte drei Keller. Den Kartoffelkeller, in dem Alba neben dem Gemüse auch ihre unzähligen Marmeladen-Einweckgläser verstaute, den Weinkeller mit den großen Holzfässern und einen Gerätekeller, wo alte Sensen, alte Melkgeräte, alte Fahrräder, alte Traktorteile, eine Werkbank und altes Werkzeug standen.

 

Er fand Alba zwischen den Regalen, bei der Zwetschgenmarmelade. Sie reihte die Gläser akkurat aneinander. Er beobachtete sie ein paar Sekunden lang, bevor er sich räusperte. Er war sich sicher, würde er nachmessen, würde er keine zwei Gläser finden, die nicht auf den Millimeter genau zwei Zentimeter voneinander entfernt standen. Er war sich sicher, würde er mit der Hand über sämtliche Oberflächen fahren, würde nicht ein Staubkorn an den Fingern kleben bleiben.

»Was ist? Ist … ist Sara … ?«

»Nein, immer noch nicht.«

Der Anruf aus der Questura hatte ihn für kurze Zeit vergessen lassen, wie sauer er auf seine Tochter war. In letzter Zeit war sie erstaunlich friedlich gewesen, sie hatten sich endlich wieder gut verstanden. Er hatte gedacht, ihre rebellische Phase wäre überstanden. Für immer. Er hatte auf Alba gehört, sie hatte recht behalten – wie fast immer. Sie hatte ihm gesagt, er solle Sara mehr Freiheiten lassen. Die Zügel lockern. Je mehr er ihr verbiete, desto mehr werde sie rebellieren. Sie könne doch gar nicht anders. Sie sei schließlich in der Pubertät.

Er hatte verständnislos den Kopf geschüttelt. Pubertät, die hatte er nicht durchmachen müssen, als er jung war. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Ja, als er sechzehn war, hatte er sich die großen Fragen des Lebens gestellt. Das schon. Was ist das, das Leben? Was soll das? Warum bin ich als Mensch geboren? Und nicht als Kuh? Warum bin ich hier in den Bergen geboren und nicht in einer Stadt? Ist es wirklich meine Bestimmung, Bauer zu sein?

Diese Fragen hatten an ihm genagt, daran erinnerte er sich, im Sommer auf der Alm hatte er oft zum Himmel geschaut und den lieben Gott um Rat gefragt. Der antwortete nicht. Außer manchmal mit Gewittergrollen. Also fragte Grauner die Kühe nach dem Sinn des Lebens. Sie glotzten ihn nur stoisch an, manchmal muhten sie. Da verstand er. Er verstand, dass er die Welt nicht verstehen musste. Dass es reichte, wenn er sich darin zurechtfand, grob das Gute vom Bösen unterscheiden konnte und die ganz großen Fragen einfach unbeantwortet ließ. Mochten andere erforschen, was hinter allem steckte, Grauner beschloss für sich, dass er dieses Wissen nicht brauchte, um glücklich zu sein.

 

Vor ein paar Jahren, als Sara vierzehn oder fünfzehn war, in der Zeit, als sie Mickey kennengelernt hatte, war sie manchmal tagelang nicht nach Hause gekommen. Damals hatte sie stets nur kurze SMS-Nachrichten geschrieben, dass sie bei Freunden übernachten werde. Immer wieder war sie betrunken gewesen. Ihre Kleider hatten nach Rauch gerochen. Sie hatten sich heftig gestritten, immer wieder. Auch weil Grauner diesen Mickey anfangs nicht gemocht hatte. Es war ihm nicht gelungen, ihr Vernunft beizubringen. Je mehr er es versucht hatte, desto weiter hatte sie sich von ihm entfernt.

Doch das verstand er erst, als alles besser wurde. Als sie und Mickey sich zu fangen schienen. Als Grauner und Mickey Freunde wurden. Sara und er kamen sich wieder näher. Doch vor zwei Wochen schien alles wieder von vorne loszugehen. Ihre Kommunikation bestand ausschließlich aus kurzen WhatsApp-Nachrichten. Dass sie bei Mickey übernachte. Dabei hatten sie und Mickey versprochen, sich in Zukunft mehr um die Kühe zu kümmern. Seit drei Tagen hatten Alba und er kein Lebenszeichen mehr empfangen. Sie riefen Sara immer wieder an. Sie hob nicht ab. Meldete sich nicht zurück. Auch Mickey nicht.

»Ich muss weg«, sagte er, während sich Alba wieder den Marmeladen widmete.

»Heute? An einem Sonntag?«

»Es gibt einen Toten.«

Kurz herrschte Stille im Keller, so als ob seine Worte alle anderen Geräusche verdrängt hätten.

Grauner mühte sich die alten, krächzenden Kellertreppen hoch, seine Knie schmerzten. Er spürte, dass er älter wurde. Träger. Immer öfter spürte er das, immer deutlicher. Er trat ins Licht des Wintervormittags hinaus.

3

Der Flur des dritten Stocks der Villa Wolkenstein war mit einem langen, dunkelroten Teppich ausgelegt. Es roch nach einer Mischung aus kaltem Schweiß, Staub und Küche. Die Wände schienen schon eine ganze Weile nicht mehr gestrichen worden zu sein. Sie waren mehr grau als weiß, schimmelgelb an manchen Stellen. In unregelmäßigen Abständen hingen alte Fotografien zwischen den dunklen Holztüren.

Bilder von Wolkenstein, wie es einmal gewesen war. Der Dorfplatz voller Kutschen. Männer, die ausnahmslos Hüte trugen. Ein altes Gasthaus. Holprige Skipisten. Vereiste Dolomitengipfel. Schlepplifte. Posierende Skifahrer.

 

Grauner hatte eine Ewigkeit für die Strecke gebraucht. Bereits auf der Staatsstraße des Eisacktals war der Verkehr dicht gewesen, vor dem Tunnel in Waidbruck, der ins Grödnertal hineinführte, hatte die Blechlawine stillgestanden.

Er stellte das Blaulicht auf das Dach seines Panda, was er nur ungern und selten machte. Er nahm die Gegenspur. Am Sonntagvormittag, das wusste er, fuhr kaum jemand talauswärts. Sonntags wollte die halbe Welt hinein, in die Berge, auf die Pisten.

Die Schlucht beeindruckte ihn immer wieder. An manchen Stellen schien der moosbedeckte Fels, von dem Schmelzwasser tropfte, über der Fahrbahn zusammenzuwachsen. Mancherorts war es so dunkel, als wäre die Sonne schon untergegangen.

Wenn sich die Schlucht endlich weitete und zum Tal wurde, tat sich vor den Autofahrern ein winterliches Dolomitenpanorama auf. Das helle Gestein, der glitzernde Schnee. Der hellblaue, wolkenlose Himmel. Ein bisschen zu schön – selbst für Grauners Geschmack. Fast schon kitschig.

 

Er sah am Ende des Flurs zwei Polizisten vor einer Tür stehen. Sie nickten, reichten ihm ein paar Einwegschuhe aus Plastik, wichen zur Seite, Grauner trat ein. Was er sah, ließ ihn kurz erstarren. Ihm war klar, er würde dieses Bild nie wieder vergessen können. Plötzlich – auch wenn er wusste, es war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit dafür – prustete es laut aus ihm heraus. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.

Mit Tränen in den Augen blickte er entschuldigend zu Staatsanwalt Dr. Martino Belli, der weiter hinten im Zimmer neben einigen Polizisten und zwei Spurensicherern stand und die Lachattacke mit einem bösen Gesichtsausdruck missbilligte. Dann schaute er kurz zu Tappeiner, die sich die Hand vor den Mund hielt, dann wieder auf Saltapepe, den er nur in Designerjeans, Designersneakers, Designerpullover und Designerlederjacke kannte. Nun steckte der Ispettore in dicken, silbernen Plastikboots, in einer viel zu weiten hellroten Skihose und einer gelben Jacke mit blauen Blitzen darauf. Seine sonst akkurat nach hinten geleckten Haare hingen ihm in Strähnen in die Stirn.

»Was kann ich dafür, wenn die in diesen Skiverleihläden null Auswahl und Geschmack haben!«, zischte der Ispettore.

Als er zur Seite trat und zum Bett zeigte, hörte Grauner schlagartig auf zu lachen.

Vor dem Bett lag ein toter Mann. Er trug abgewetzte Lederstiefel, dunkelblaue Jeans, einen grauen Pulli. Durchs Fenster, von dem aus die Dolomitengipfel und die Skipisten zu sehen waren, schien die Sonne auf das schneeweiße Gesicht. Der Mund stand offen, die Augen starrten ins Leere. Auf der Stirn klaffte eine Wunde.

Grauner beugte sich über den Mann. Musterte ihn. Mancher Tote wirkte erschrocken. Dieser hier nicht. Er wirkte vielmehr, als schliefe er nur. Lächelnd. Grauner war klar, dass der Gedanke irrsinnig war, aber der Tote schien zufrieden. Wissend. Siegessicher.

»Ein Schuss. Aus nächster Nähe. Der fiel um und war tot.« Max Weiherer, der Chef der Spurensicherung, stellte sich neben Grauner und zeigte auf den Ermordeten. »Gestorben ist der mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch nicht hier in diesem Raum. Null Schmauchspuren um ihn herum, überhaupt kein Blut im Zimmer.«

»Sieht nach Profiarbeit aus«, murmelte der Commissario.

Der Spurensicherer nickte. »Also ich sag mal so, den hat sicher keiner erschossen, der zum ersten Mal eine Pistole in der Hand gehalten hat.«

»Kaliber?«

»Gemach, gemach. Lass meine Leute in Ruhe arbeiten, heute Abend bekommst du den Report.«

Grauner musterte das Zimmer. Das Bett war gemacht. Der Kleiderschrank an der Wand stand offen. Nichts darin. Er ging zur Badezimmertür. Weder auf der Badewanne noch auf dem Waschbecken stand etwas. Keine Zahnpasta, keine Zahnbürste. Überall Staub. Dieses Zimmer wirkte, als hätte es schon sehr lange niemand mehr benutzt.

»Wer ist dieser Mann?«, fragte er weiter.

Staatsanwalt Belli trat an ihn heran, er legte ihm die Hand auf die Schulter und ging ein paar Schritte mit ihm von den anderen weg. Grauner schaute etwas verwirrt, so kannte er den Staatsanwalt nicht. Belli flüsterte, der Commissario hatte ihn noch nie flüstern gehört. So klang seine sonst schrill krächzende Stimme recht angenehm, wie die eines Radiomoderators.

»Hier«, sagte Belli und fasste sich in die Jacketttasche, zog etwas hervor, hielt es Grauner hin. Ein abgewetzter, verblichener Personalausweis in einer Plastiktüte.

Auf dem Foto wirkte der Tote sehr viel jünger, fast wie ein Teenager.

Klaus Höller, stand unter dem Foto.

Nato il / Geboren am: 14/3/1988

A / in: Brixen

Residente a / Wohnhaft in: Wolkenstein

Stato civile / Familienstand: ledig

Professione / Beruf …

Grauner fuhr sich übers Gesicht.

»Er ist …«

Belli nickte.

»… einer von uns«, beendete der Staatsanwalt den Satz.

Professione / Beruf: Gemeindepolizist

Der Commissario rieb sich die Stirn. Dorfpolizist. Natürlich waren Dorfpolizisten keine richtigen Kollegen. Sie hatten keine Polizeilaufbahn hinter sich, sie waren nicht der Staatsanwaltschaft unterstellt, sie waren keine Poliziotti di Stato, sie waren Gemeindemitarbeiter, vom Bürgermeister und vom Gemeinderat eingestellt. Sie durften ihre Waffe nur im Dienst tragen, niemals mit nach Hause nehmen, sie durften den Verkehr regeln und, wenn es ihnen die Carabinieri erlaubten, Alkoholkontrollen vornehmen. Meistens aber wachten sie nur darüber, dass die Kinder mittags gut über die Straße kamen, und ermahnten unverbesserliche Dorfbewohner, nicht im Parkverbot zu stehen.

Viele Carabinieri und Poliziotti di Stato machten sich lustig über Dorf- und Stadtpolizisten, Grauner machte das nie. Dorfpolizist, das war das Letzte, was er sein wollte. Lieber noch Reiseleiter auf einem Kreuzfahrtschiff. Aber er respektierte sie. Er wurde stets in fremde Dörfer gerufen, wenn es einen Toten gab. Zu fremden Menschen. Der Dorfpolizist hatte es jeden Tag mit Freunden und Bekannten zu tun. Er musste Strafzettel an seine ehemaligen Mitschüler verteilen. Eine undankbare Aufgabe.

»Einer von uns«, flüsterte Grauner und war froh, dass Belli das Feingefühl besessen hatte, den Toten so zu nennen.

Einer von uns.

Er drehte sich wieder zu den anderen um. Trat ein paar Schritte auf Tappeiner und Saltapepe zu. Zum Lachen war ihm nicht mehr zumute.

»Was wissen wir?«, fragte er knapp.

Seine Assistentin räusperte sich. Eigentlich hatte sie hier am Tatort nichts zu suchen. Und doch schaffte sie es immer wieder, Teil des Ermittlungsteams zu sein. Grauner störte es nicht. Er schätzte es insgeheim sogar. Sie war gut, und wer gut war, der durfte mitermitteln.

»Frühmorgens ging ein Anruf bei den örtlichen Carabinieri ein. Es war ein Mann, er sagte, dass in einem der Zimmer der Villa Wolkenstein ein Toter liegt. Das war’s. Zwei Carabinieri fuhren her und fanden ihn.«

Grauner war etwas verwundert. Die Carabinieri aus dem Ort waren als Erste am Fundort der Leiche gewesen, trotzdem beauftragte Belli ihn und sein Team der Polizia di Stato nun mit dem Fall. Den Carabinieri in Bozen würde das nicht gefallen, aber, nun gut, der Staatsanwalt setzte bei Ermittlungen in den Dörfern, in den Tälern, nun mal gerne auf ihn. Weil er kein Stadtmensch war, weil die Täler und die Dörfer sein Terrain waren.

»Der Mann ist Dorfpolizist hier im Ort. Der war doch nicht … äh … Gast im Hotel, oder?«, fragte er weiter.

Tappeiner schüttelte den Kopf.

Kurz lugte Grauner zu Saltapepe, der sich immer alles auf einem kleinen Notizblock notierte. Grauner vermied es, sich Notizen zu machen. Notizen machten das Hirn faul, davon war er überzeugt.

»Es ist ein Rätsel, wie der Mann hier ins Zimmer gekommen ist«, fuhr Tappeiner fort, »es gibt leider keine Überwachungskameras im Haus. Auch niemand vom Personal will etwas gesehen haben.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Sind die Hotelgäste schon befragt worden?«

»Da sind wir dran«, antwortete Saltapepe. »Ist aber grad nicht so einfach. Fast alle sind irgendwo auf den Pisten unterwegs.«

»Meine Herren …« Weiherer hatte sich erneut dazugestellt, er bedeutete ihnen allen, das Hotelzimmer nun zu verlassen.

Die Polizisten gingen bereits in Richtung Tür. Grauner schaute sich noch ein letztes Mal um, bevor er sich ihnen widerwillig anschloss. Er verließ den Tatort nur ungern, auch wenn er Weiherers Wunsch verstand und respektierte. Je länger sie alle hier herumstanden, desto höher war die Gefahr, dass Spuren kontaminiert wurden. Doch auch für ihn war diese Zeit am Tatort direkt nach der Tat enorm wichtig. Er versuchte, sich alle Details genau einzuprägen, dann trat er auf den Flur hinaus.

Sie nahmen die Treppen hinunter ins Foyer des Hotels. In der Eingangshalle der alten Jugendstilvilla war wenig los. Die meisten Gäste waren offenbar tatsächlich oben am Berg. Ein älteres Pärchen trank Kaffee draußen auf der Veranda. Hinter dem Empfangstresen schwatzten zwei junge Damen. Die eine hatte braunes, schulterlanges Haar. Blasse Haut. Die andere schwarzes, kurzes. Einen dunklen Teint.

Grauner ging auf sie zu. Sie beachteten ihn nicht. Erst als er sie ansprach, schauten sie auf.

»Grauner. Polizia di Stato.«

Sie starrten ihn an. Die Braunhaarige etwas ängstlich, so schien ihm. Die Schwarzhaarige freundlich.

»Der Hoteldirektor …«, begann Grauner.

»Der Besitzer, Herr Meyerle? Der ist außer Haus«, sagte die Braunhaarige.

»Außer Haus?«, fragte Grauner verblüfft.

»Der isst um diese Uhrzeit immer drüben im Roten Rössl zu Mittag.«

Grauner schaute auf die Uhr an der Wand über den beiden. Es war kurz vor zwölf. Der Mann musste Nerven haben, dachte er. Da liegt eine Leiche in einem seiner Hotelzimmer und er geht essen, als wäre alles wie immer.

»Wir müssen den dritten Stock wohl einige Tage sperren, für die Spurensicherung.«

Während die eine der Frauen unbeeindruckt lächelte, blätterte die andere im Gästebuch.

»Kein Problem«, sagte sie schließlich. »Die dritte Etage ist eh grad nicht belegt.«

Grauner kannte kein Hotel in den Skigebieten Südtirols, das Mitte Januar ganze Etagen nicht belegt hatte.

»Sie haben doch sicher die Kontaktdaten Ihrer Gäste. Handynummern?«

»Ja.«

Er räusperte sich und sagte so streng wie möglich: »Rufen Sie alle an. Ich will verdammt noch mal alle Gäste in zwei Stunden hier in der Lobby sehen. Wir werden sie einzeln verhören. Danach können sie wieder auf die Piste oder in die Sauna oder zum Shopping. Was auch immer.«

Die beiden jungen Frauen nickten unisono.

 

Grauner trat zu den anderen auf den Parkplatz hinaus. Er atmete die kalte, frische Winterluft ein. Wie gut das tat. Jetzt erst bemerkte er, wie sehr ihm die muffige Luft im Hotel zugesetzt hatte.

Er sah sich um, an der Hauptstraße von Wolkenstein reihten sich zahllose Hotels aneinander. Einige Neubauten zwischen schön renovierten Traditionshäusern. Nur die Villa Wolkenstein wirkte wie ein verfallener Saloon in einer Westernkulisse. Die Straßen waren menschenleer. Aber Grauner wusste, dass der Schein trog. In wenigen Stunden würde in dem friedlich schlummernden Alpendorf ein wildes Chaos herrschen.

»Und jetzt?«, fragte Tappeiner.

»Du und Claudio, ihr inspiziert die Wohnung des Toten«, Grauner zeigte auf einen der Polizisten, »und Sie koordinieren die Befragung der Angehörigen und der Hotelgäste, ja?«

Die Umstehenden nickten.

»Und du?«, fragte Saltapepe schließlich.

»Ich suche den Besitzer des Hauses.«

»Aber der hat seine Aussage ja bereits gemacht«, sagte Tappeiner und klang etwas verwundert.

Grauner nickte nur gedankenversunken, ging ein paar Schritte, der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Dann drehte er sich noch einmal um.

»Aber ich muss trotzdem selbst mit diesem Mann sprechen …« Er kratzte sich am Kopf. »Mit diesem Hotel stimmt etwas nicht.«

 

Er ging die Hauptstraße entlang. Die Gipfel des Grödnertals ließen ihr Dolomitgestein in der Sonne glitzern. Der Himmel leuchtete in einem zarten Hellblau, der dunkle Wald warf Schatten auf die schneebedeckten Wiesen.

Er ging vorbei an Hotelpforten, an Restauranteingängen, vor denen Portiers mit durchgedrücktem Rücken posierten und Kellner mit einladenden Handbewegungen ins Innere baten. An Schaufenstern, in denen teure Skianzüge, teure Lederhandtaschen, teure Uhren, teurer Schmuck und teure Designermäntel angeboten wurden. Auf einem Schild vor einer Reiseagentur wurde für Helikopterflüge über die Berge geworben. In vier Sprachen. Auf Deutsch, Italienisch, Englisch und in dicken kyrillischen Lettern. Teure Autos parkten vor den Häusern.

Grauner ging vorbei an Holzschnitz-Werkstätten, an Champagnerlounges, an Après-Ski-Etablissements, die Talfahrt, Yellow Snow und Himmel & Hölle hießen. Schließlich sah er es. Ein Schild mit einem roten Pferd darauf. Es waren nur noch ein paar Meter bis dahin.

4

Ja, das musste das Haus sein. Es befand sich am östlichen Dorfrand, am Ende einer Straße, die sich im Zickzack eine Wiese emporschlängelte und am Waldrand endete. Ein unscheinbares, mehrstöckiges Mietshaus. Saltapepe und Tappeiner stiegen aus dem Wagen, hier im Schatten war es gleich ein paar Grad kälter. Sie schauten auf das schmale Tal und das Dorf hinab.

Bald würde der gesamte Ort in Aufruhr sein. Dörfer, ob in Kampanien oder in Südtirol, das hatte der Ispettore mittlerweile verstanden, funktionierten überall gleich. Gerüchte verbreiteten sich schnell, bald glaubte jeder zu wissen, was geschehen war. Bald würde überall hinter vorgehaltener Hand gemunkelt werden, bald würde die Kunde vom Toten im Hotel sich auch über die Dorfgrenzen hinaus verbreitet haben. Bald würde alles in den Zeitungen stehen. Wahres und kühne Vermutungen. Die Südtiroler Presse würde ins Tal kommen. Ein toter Polizist im Winterwonderland. Keine schlechte Geschichte.

 

Weiter oben am Hang rasten einige Kinder auf Schlitten bergab. Der Ispettore bewunderte ihren Wagemut. Warum, fragte er sich, verlor man den als Erwachsener eigentlich? Würde er es je schaffen, den Schnee, dieses Element der Berge, zu lieben? Er bezweifelte es.

Tappeiner war bereits die Treppe zum ersten Stock hochgegangen, er eilte ihr hinterher. Sie liefen an den Wohnungstüren vorbei. Vor manchen standen verdorrte Pflanzen, an anderen hing noch die Weihnachtsdekoration. Sie überflogen die Klingelschilder. Den Namen Höller fanden sie nicht, auch wenn der, laut der Aussage des freundlichen Sekretärs im Gemeindehaus, hier in einem Single-Appartement gewohnt hatte. Sie hörten ein Quietschen hinter sich, drehten sich um, aus einem Türspalt lugte der Kopf einer alten Frau hervor. Tappeiner ging ein paar Schritte auf sie zu.

»Grüß Gott«, sagte sie.

Die Frau nickte nur leicht, öffnete die Tür jedoch keinen Millimeter weiter.

»Wo wohnt denn der Klaus?«

Die Alte musterte sie skeptisch.

»Wir waren mit ihm zum Skifahren verabredet.«

Sie ließ den Blick über ihre Kleidung wandern.

»Er kam heute Morgen nicht zum vereinbarten Treffpunkt und ging auch nicht ans Telefon. Deshalb wollten wir nun mal nachschauen, was los ist. Wir waren aber noch nie … bei ihm zu Hause. Er wohnt doch hier, oder?«

Die Alte zeigte zu einer Treppe, die nach oben führte.

»Erste Tür.«

Tappeiner bedankte sich, die beiden Ermittler wandten sich ab.

»Der ist aber nicht zu Hause.«

Tappeiner und Saltapepe hielten inne. Die Frau schwieg triumphierend.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Saltapepe schließlich gnädig.

Sie drehte sich um, als befürchtete sie, beobachtet zu werden.

»Weil ich in der Früh oben war, um mich zu beschweren. Über den Lärm von letzter Nacht. Ging aber nicht, weil der nicht da war und auch immer noch nicht zurück ist.«

»Was für ein Lärm?«, fragte Tappeiner.

»Was weiß ich! Der hatte Freunde eingeladen, und denen ist eingefallen, irgendwann, weit nach Mitternacht, die Wohnung umzuräumen. Und rumzuschreien.«

»Was waren das für Freunde? Welche aus dem Dorf?«, hakte der Ispettore nach.

Die Frau trat einen Schritt zurück, es schien, als würde ihr die Fragerei nun doch etwas zu viel.

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass die gegen halb drei verschwunden sind. Ich habe sie durchs Schlafzimmerfenster beobachtet, sie sind im Dunkeln über die Treppe hinunter auf den Parkplatz gehuscht. Da sind sie in ein Auto gestiegen. Es waren zwei, vielleicht auch drei. Und weggeschleppt haben sie etwas und auf den Rücksitz des Autos geworfen, einen Teppich oder so, was weiß ich, ich …«

»Was für ein Auto?«, fragte Saltapepe weiter.