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Beschreibung

[Was bedeutet das alles?]  Die kleinen Bücher zu den großen Fragen  Leseproben der beliebtesten Bände    Die kleinen Bücher zu den großen Fragen bieten Orientierung in unübersichtlichen Zeiten. Thomas Nagels ebenso kurze wie überzeugende Einführung in die Philosophie, Was bedeutet das alles?, gab der Reihe ihren Namen. Sie speist sich aus zwei Wurzeln, zum einen aus kommentierten kurzen Klassikern (wie Konfuzius, Seneca, David Hume, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche), zum anderen aus für die Gegenwart grundlegenden, oft für diese Reihe verfassten Essays (etwa von Thomas Bauer, Joseph H. Carens, Hannah Arendt, Konrad Ott, Thomas Ramge oder Holm Tetens).

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Seitenzahl: 343

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[Was bedeutet das alles?]

Die kleinen Bücher zu den großen Fragen

Leseproben der beliebtesten Bände

Reclam

Auf www.reclam.de/wbda finden Sie alle erhältlichen Bände der Reihe, außerdem viele weitere Informationen, Leseproben und Bestellmöglichkeiten.

 

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung für alle Bände: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961443-4

www.reclam.de

Inhalt

Über die Reihe [Was bedeutet das alles?]Bisher erschienenLeseprobenThomas Bauer: Die Vereindeutigung der WeltThomas Ramge: Mensch und MaschineHolm Tetens: Gott denkenThomas Nagel: What Is It Like to Be a Bat? / Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?Martin Heidegger: Was heißt Denken?Konrad Ott: Zuwanderung und MoralVolker Gerhardt: Glauben und WissenHans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?Marie-Luisa Frick: Zivilisiert streitenOlympe de Gouges: Die Rechte der Frau und andere TextePaul Lafargue: Das Recht auf FaulheitFrank Griffel: Den Islam denkenGeorg W. Bertram: Was ist der Mensch?Rosa Luxemburg: Friedensutopien und HundepolitikPlutarch: GlücklichseinFlorian Mühlfried: MisstrauenSeneca: Vom glücklichen LebenRomy Jaster / David Lanius: Die Wahrheit schafft sich abReclams Denksportbeutel

Über die Reihe [Was bedeutet das alles?]

Die kleinen Bücher zu den großen Fragen bieten Orientierung in unübersichtlichen Zeiten. Thomas Nagels ebenso kurze wie überzeugende Einführung in die Philosophie, Was bedeutet das alles?, gab der Reihe ihren Namen. Sie speist sich aus zwei Wurzeln, zum einen aus kommentierten kurzen Klassikern (wie Konfuzius, Seneca, David Hume, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche), zum anderen aus für die Gegenwart grundlegenden, oft für diese Reihe verfassten Essays (etwa von Thomas Bauer, Joseph H. Carens, Hannah Arendt, Konrad Ott, Thomas Ramge oder Holm Tetens).

Bisher erschienen

Oliviero Angeli: Migration und Demokratie. Ein Spannungsverhältnis

Hannah Arendt: Mensch und Politik

Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer

Augustinus: Bekenntnisse. Eine Auswahl

Georg W. Bertram: Was ist der Mensch? ► Zur Leseprobe

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt ► Zur Leseprobe

Joseph H. Carens: Fremde und Bürger. Weshalb Grenzen offen sein sollten

Heinrich Detering: Die Öffentlichkeit der Literatur. Reden und Randnotizen

Dan Diner: Aufklärungen. Wege in die Moderne

Ralph Waldo Emerson: Natur. Ein Essay

Epiktet: Handbüchlein der Moral

Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit

Marie-Luisa Frick: Zivilisiert streiten ► Zur Leseprobe

Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest

Galen: Gelassenheit

Mahatma Gandhi: Gewaltfreiheit. Auszüge aus Reden und Schriften

Volker Gerhardt: Glauben und Wissen ► Zur Leseprobe

Khalil Gibran: Der Prophet

Johann Wolfgang Goethe: Aller Anfang ist leicht. Maximen und Reflexionen

Olympe de Gouges: Die Rechte der Frau und andere Texte ► Zur Leseprobe

Glenn Gould: Freiheit und Musik. Reden und Schriften

Frank Griffel: Den Islam denken ► Zur Leseprobe

Hans Ulrich Gumbrecht: Brüchige Gegenwart. Reflexionen und Reaktionen. Mit einem Essay von René Scheu

William Hazlitt: Über das Vergnügen zu hassen und andere Essays

Martin Heidegger: Was heißt Denken? ► Zur Leseprobe

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug

David Hume: Über den Freitod / Über die Unsterblichkeit der Seele. Zwei Essays

Romy Jaster / David Lanius: Die Wahrheit schafft sich ab ► Zur Leseprobe

Immanuel Kant: Denken wagen. Der Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf

Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? ► Zur Leseprobe

Adolph Freiherr Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Eine Auswahl

Konfuzius: Das Große Lernen

Konfuzius: Das Buch von Maß und Mitte

Michael Kühnlein: Wer hat Angst vor Gott? Über Religion und Politik im postfaktischen Zeitalter

Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit ► Zur Leseprobe

Lao-tse: Tao-Tê-King. Das Heilige Buch vom Weg und von der Tugend

Georg Christoph Lichtenberg: Neue Blicke durch die alten Löcher. Aphorismen und Schriften

Rosa Luxemburg: Friedensutopien und Hundepolitik ► Zur Leseprobe

Niccolo Machiavelli: Der Fürst

Odo Marquard: Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie

Karl Marx, Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. Eine Auswahl

Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei

Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen

Florian Mühlfried: Misstrauen ► Zur Leseprobe

Robert Musil: Über die Dummheit

Thomas Nagel: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie

Thomas Nagel: What Is It Like to Be a Bat? / Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? ► Zur Leseprobe

Christian Neuhäuser: Reichtum. Über Gier, Neid und Gerechtigkeit

Friedrich Nietzsche: Menschliches. Aphorismen

Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn

Konrad Ott: Zuwanderung und Moral ► Zur Leseprobe

Blaise Pascal: Das Ich besteht in meinem Denken. Aus den »Gedanken«

John Perry: Dialog über das Gute, das Böse und die Existenz Gottes

John Perry: Dialog über personale Identität und Unsterblichkeit

Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux

Plutarch: Darf man Tiere essen? Gedanken aus der Antike

Plutarch: Glücklichsein ► Zur Leseprobe

Thomas Ramge: Mensch und Maschine ► Zur Leseprobe

Reden des Buddha. Aus dem Pâli-Kanon

Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden

Jay F. Rosenberg: Drei Gespräche über Wissen

Arthur Schopenhauer: Die Kunst, recht zu behalten

Amartya Sen: Gleichheit? Welche Gleichheit? Ein Essay

Seneca: Der gute Tod

Seneca: Vom glücklichen Leben ► Zur Leseprobe

Seneca: Von der Kürze des Lebens

Peter Singer: Linke, hört die Signale! Vorschläge zu einem notwendigen Umdenken

Susan Sontag: Standpunkt beziehen. Fünf Essays

Holm Tetens: Gott denken ► Zur Leseprobe

Mark Terkessidis: Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft

Henry David Thoreau: Vom Wandern

Henry David Thoreau: Ziviler Ungehorsam

Frederick Jackson Turner: Demokratisches Selbstverständnis und der Westen. Texte über Amerika

Jocho Yamamoto: Die Lebensweise eines Samurai. Aus dem »Hagakure«

Auf www.reclam.de/wbda finden Sie alle erhältlichen Bände, außerdem viele weitere Informationen, Leseproben und Bestellmöglichkeiten.

Reclams Denksportbeutel

Leseproben

Thomas Bauer

Die Vereindeutigung der Welt

Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und VielfaltReclam

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961310-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019492-8

www.reclam.de

Inhalt

1 »Alles so schön bunt hier« – Ein Zeitalter der Vielfalt?

2 Auf der Suche nach Eindeutigkeit

3 Kulturen der Ambiguität

4 Religionen zwischen Fundamentalismus und Gleichgültigkeit

5 Kunst und Musik auf der Suche nach dem Eindeutigen

6 Kunst und Musik auf der Suche nach Bedeutungslosigkeit

7 Der Authentizitätswahn

8 Vereindeutigung durch Kästchenbildung

9 Authentischer Wein und authentische Politik

10 Auf dem Weg zum Maschinenmenschen

 

Zitatnachweise und Literaturhinweise

Zum Autor

1 »Alles so schön bunt hier« – Ein Zeitalter der Vielfalt?*

1978 sang Nina Hagen in ihrem Punksong »TV-Glotzer«:

Ich glotz’ von Ost nach West, 2, 5, 4

Ich kann mich gar nicht entscheiden,

Ist alles so schön bunt hier!

Ich glotz’ TV

Was soll man heute sagen, wo fast ein jeder hunderte Programme empfangen kann, von der Vielfalt neuer Medien ganz zu schweigen? Aber nicht nur das Medienangebot ist vielfältiger geworden. Vielfältiger sind auch Identitätsangebote, Krimiserien, Zahnpasten und Schokoriegel geworden. Verwunderlich ist das freilich nicht, dass in einer kapitalistischen Konsumgesellschaft das Warenangebot vielfältiger wird – und damit auch die Identitätsangebote an all jene Leute, die diese Waren kaufen sollen. Aber leben wir deshalb tatsächlich in einem Zeitalter der Vielfalt?

In Deutschland ist der Vogelbestand seit 1800 bis heute um 80 Prozent zurückgegangen. Noch schlechter als den Vögeln geht es den Insekten. Der Entomologische Verein Krefeld etwa stellte fest, dass in 25 Jahren deren Biomasse »um bis zu 80 Prozent abgenommen hat«. Damit hätten die Insekten mit ihrem Bestandseinbruch um 80 Prozent in 25 Jahren »die Vögel mit ihrem 80-Prozent-Rückgang in 200 Jahren weit überholt«. Und die Pflanzen? Nach den Listen der International Union for Conservation of Nature gelten »etwa 70 Prozent aller Pflanzen als gefährdet«, und hat die Anzahl bedrohter Arten »im neuen Jahrtausend um über 50 Prozent zugenommen. Biologen befürchten daher, dass bis etwa 2030 jede fünfte bekannte Art aussterben könnten, bis 2050 sogar jede dritte«. Das sei, so der Ornithologe Peter Berthold, das Werk des homo horribilis, der sich mittlerweile zum homo suicidalis entwickelt hat, weil er das von ihm selbst entfesselte Artensterben kaum selbst überleben dürfte.

In der Natur geht Vielfalt also in nie dagewesenem Umfang und mit nie dagewesener Geschwindigkeit zurück. Doch wie sieht es mit der Kultur aus? Beginnen wir mit dem, was Menschen aus der Natur durch Kultivierung und Züchtung gemacht haben. ›Rote Listen‹ gibt es nicht nur für Wildtiere, sondern auch für Haustierrassen, deren eine jede Eigenschaften hat, die sie für bestimmte Umweltbedingungen und Nutzungswünsche besonders geeignet macht. Das Aussterben alter Haustierrassen ist nicht nur ein ästhetischer Verlust, sondern wird zu einem Verlust wertvoller Gene führen, die sich für zukünftige Tierzucht als überlebensnotwendig herausstellen könnten. Organisationen wie die »Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen« setzen sich für ihre Erhaltung ein und erstellen ihre eigenen Roten Listen.

Bei den Nutzpflanzen sieht die Bilanz nicht besser aus. Zwar gibt es heute mehr Müsli- und Kartoffelchipssorten denn je. Dennoch bekommen wir immer mehr Einheitsbrei vorgesetzt, so die Journalistin Silvia Liebrich: »30 000 Maissorten gab es einst weltweit, doch nur ein paar Dutzend davon werden im größeren Stil angebaut, gentechnisch veränderte Pflanzen dominieren.« Bei Bananen gibt es weltweit nur noch eine einzige Sorte. Von den einst 20 000 Apfelsorten bekommen Kunden heute höchstens noch sechs Sorten angeboten. Unter der Voraussetzung, dass, so der Living Planet Index des WWF, allein zwischen 1970 und 2005 die biologische Vielfalt unserer Erde um 27 Prozent abgenommen hat, kann unsere Zeit kaum eine Zeit der Vielfalt sein!

Gibt es, wenn schon nicht in der Natur, wenigstens unter den Menschen heute größere Vielfalt?

Auch hier ist Enttäuschendes zu vermelden. Zunächst einmal sprechen die Menschen immer weniger vielfältig. Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen stellt fest, dass fast 1/3 der ca. 6500 weltweit gesprochenen Sprachen »innerhalb der nächsten Jahrzehnte aussterben«. Sprachen und Dialekte sind nun aber, so die Gesellschaft für bedrohte Sprachen,

nicht nur Ausprägungen menschlicher Kultur und menschlichen Geistes, sondern auch Mittel der Welterschließung und des Sozialkontakts für ihre Sprecher. Sie stellen einen Wert an sich dar und sollten deshalb – auch als Manifestationen der Kreativität und der Vielfalt des menschlichen Geistes – erhalten und dokumentiert werden.

Und die Kultur? Schon Nina Hagen hat in ihrem eingangs zitierten Song festgestellt, dass die Multiplikation der Fernsehprogramme nicht unbedingt eine Steigerung der inhaltlichen Vielfalt bedeuten muss. Daran hat auch die Verhundertfachung der Fernsehprogramme seit 1978 nichts geändert. Ganz im Gegenteil hat die wundersame Vermehrung von Krimis und Talkshows Programme kulturellen Inhalts in einige wenige Spartenkanäle oder in die Zeit um Mitternacht abgedrängt.

Und die multikulturelle Gesellschaft? Mir scheint, dass wir hier ebenfalls auf eine Scheinvielfalt hereinfallen. Zunächst gilt es festzuhalten, dass Europa über viele Jahrhunderte eine der monokulturellsten Regionen der Welt war. Europa liegt als westlicher Randzipfel Asiens relativ isoliert und hat schon deshalb weniger Migranten angezogen als etwa der Nahe Osten. Schließlich hat auch die religiöse Homogenisierung im Gefolge der Christianisierung dazu geführt, dass kaum anderswo in der Welt eine derartige religiöse Geschlossenheit herrschte wie hier. Angehörige nichtchristlicher Religionen durften sich nicht niederlassen. Lediglich Juden durften hier siedeln, meist nur widerwillig geduldet und oft verfolgt. »Ketzer« wie die Katharer wurden unerbittlich ausgelöscht, und mit der Präsenz des Islams in Europa hat man rasch aufgeräumt, sobald man dazu militärisch in der Lage war. Als sich im 16. Jahrhundert so etwas wie eine christliche Pluralität herauszubilden begann, brachen Kriege aus, wie es sie, trotz aller Gegensätze und zeitweiliger Anfeindungen etwa zwischen Sunniten und Schiiten, in der islamischen Geschichte nie gegeben hatte. In der Vormoderne war kein Kontinent religiös und auch kulturell so einheitlich wie Europa. Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum man anfing zu glauben, mit dem Zuzug von »Gastarbeitern« seit den 1960er Jahren, die andere Essgewohnheiten und teilweise sogar eine andere (aber auch nicht wieder so sehr andere) Religion hatten, hätten sich unsere Städte zu multikulturellen Städten gewandelt.

Wirkliche Multikulturalität herrschte dagegen in der Vormoderne auf den Handelsrouten von Westafrika über Ägypten, den Vorderen Orient, Zentral- und Südasien bis hin nach China und Indonesien. In all diesen Städten von Marrakesch über Kairo, Tabriz, Mumbay, Buchara bis Xi’an und Aceh standen Gebetshäuser vieler verschiedener Religionen, waren die Menschen auf unterschiedlichste Weise gekleidet und hörte man auf den Straßen zahlreiche Sprachen, und all dies erschien allen normal und selbstverständlich.

Selbst wenn heute auch in Berlin und London Menschen Haussa und Suaheli sprechen, Sikhs einen Turban tragen und chinesische Restaurants gebratene Hühnerfüße servieren, kommt diese Multikulturalität dennoch nicht an die der alten Seidenstraße oder des Osmanischen Reichs vor dem Ersten Weltkrieg heran, weil es die alte Multikulturalität nirgendwo mehr gibt. Stefan Zweig hat diese Entwicklung schon 1925 in einem hellsichtigen Aufsatz beschrieben:

Stärkster geistiger Eindruck von jeder Reise in den letzten Jahren […]: ein leises Grauen vor der Monotonisierung der Welt. Alles wird gleichförmiger in den äußeren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Die individuellen Gebräuche der Völker schleifen sich ab, die Trachten werden uniform, die Sitten international. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äußerlich ähnlich. […] nie war dieser Niedersturz in die Gleichförmigkeit der äußeren Lebensformen so rasch, so launenhaft wie in den letzten Jahren. […] Es ist wahrscheinlich das brennendste, das entscheidenste Phänomen unserer Zeit.

Und das hat Konsequenzen, so Zweig, nämlich das

Aufhören aller Individualität bis ins Äußerliche. Nicht ungestraft gehen alle Menschen gleich angezogen […]: die Monotonie muß notwendig nach innen dringen. Gesichter werden einander ähnlicher durch gleiche Leidenschaft, Körper einander ähnlicher durch gleichen Sport, die Geister ähnlicher durch gleiche Interessen. Unbewußt entsteht eine Gleichhaftigkeit der Seelen, eine Massenseele durch den gesteigerten Uniformierungstrieb, eine Verkümmerung der Nerven zugunsten der Muskeln, ein Absterben des Individuellen zugunsten des Typus.

Unabhängig davon also, wohin wir schauen, ob in die Natur oder zu den Menschen und ihrer Kultur: Überall ist eine Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt, einem Rückgang an Mannigfaltigkeit zu beobachten. Man kann dafür eine ganze Reihe von (größtenteils zusammenhängenden) Ursachen benennen wie die Verstädterung, die größere Mobilität, die Globalisierung überhaupt, die Belastungen durch Verkehr, die industrialisierte Landwirtschaft, den Klimawandel, die Monopole der großen Lebensmittelkonzerne wie generell die kapitalistische Wirtschaftsweise. All diese Faktoren sind über den Menschen aber nicht schicksalshaft verhängt. Es muss also so etwas wie eine moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt geben. Die heftigen Diskussionen über Multikulturalität zeigen das in aller Deutlichkeit. Obwohl es sich in Deutschland ohnehin um eine durch den Gleichmachprozess der globalisierten Moderne glattgeschliffene Multikulturalität handelt, ist sie zu einem der wichtigsten Themen des politischen Diskurses geworden. Offensichtlich kann man mit sinnlosen Leitkulturdebatten mehr Aufmerksamkeit gewinnen als mit dem Thema Lebensmittelvielfalt und -sicherheit, und eine »Kopftuchdebatte« regt weit mehr Menschen auf als der Verlust von Vögeln und Insekten.

Auf den folgenden Seiten soll es deshalb nicht so sehr um eine Kartierung der Vielfalt um uns herum, sondern um unsere Bereitschaft oder unseren Unwillen gehen, Vielfalt in all ihren Erscheinungsformen zu ertragen. Thematisiert wird einerseits unser Umgang mit äußerer Vielfalt wie ethnischer Diversität oder einer Vielfalt an Lebensentwürfen, sowie andererseits auch unser Umgang mit den vielfältigen Wahrheiten einer uneindeutigen Welt. Denn genau dies ist unsere Welt: uneindeutig. Menschen sind ständig Eindrücken ausgesetzt, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen. Kurz: Die Welt ist voll von Ambiguität.

2 Auf der Suche nach Eindeutigkeit*

Der Begriff »Ambiguität« ist im Deutschen weniger gebräuchlich als sein englisches oder französisches Äquivalent, denn ambiguity und ambiguité sind Wörter der Alltagssprache. Das Wort ist aber auch im Deutschen unverzichtbar, nämlich als Begriff für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden.

Manchmal ist es sinnvoll, zwischen Vagheit und Ambiguität zu unterscheiden. Für unsere Zwecke ist das aber nicht notwendig, weil beides darauf hinausläuft, dass einem Zeichen oder einem Umstand mehrere Interpretationen zugeordnet werden können, sei es, weil das Zeichen bzw. der Umstand nicht eindeutig genug ist (Vagheit) oder weil Zeichen oder Umstände auf mehrere Bedeutungen gleichzeitig hindeuten (Ambiguität im engeren Sinne). Wir verwenden also im Folgenden »Ambiguität« als Oberbegriff.

Ambiguität entsteht oft unfreiwillig, etwa dann, wenn sich ein Schützenverein das Motto gibt: »Schießen lernen – Freunde treffen.« Oft wird Ambiguität aber auch willentlich erzeugt, etwa wenn in der Literatur mehrdeutige Wortspiele oder assoziationsreiche Bilder verwendet werden, oder wenn in der Diplomatie Verträge bewusst nicht allzu eindeutig formuliert werden, um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen. Der bewusst vage gehaltene erste Satz des ersten Artikels des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, ein Satz, über den Bibliotheken geschrieben worden sind, konnte gerade wegen seiner Ungenauigkeit zur ersten Säule des Grundgesetzes werden. Dadurch wird er deutungsoffen und ist nicht abhängig von bestimmten Vorstellungen von Würde, die zu einer bestimmten Zeit gelten.

Wichtig ist, dass Ambiguität nie vollständig vermieden werden kann. Selbst in ganz einfachen Fällen, in denen die Beseitigung von Ambiguität und Vagheit weitgehend möglich ist, erweist sich die Vereindeutigung als höchst energieaufwendig. Ein einfaches Beispiel: Es ist allgemeine Überzeugung, dass Kinder keine alkoholischen Getränke trinken sollen. Aber ab welchem Alter sollte man Jugendlichen erlauben, Bier und Wein zu kaufen? Die individuelle Entwicklung eines jeden Jugendlichen ist unterschiedlich, man kann jedoch nicht für jeden Jugendlichen eine individuelle Altersgrenze festlegen. Somit liegt ein Fall von Ambiguität vor. Der Gesetzgeber muss sich nach Gutdünken zwischen verschiedenen möglichen Altersgrenzen, von denen eine jede gute Argumente auf ihrer Seite hat, für eine einzige, allgemein gültige entscheiden. So dürfen in Deutschland Bier und Wein Jugendlichen ab 16 Jahren ausgeschenkt werden. In vielen Staaten der USA dürfen 16-jährige zwar Schnellfeuergewehre erwerben (was sie in Deutschland wiederum nicht dürfen), dagegen aber Wein und Bier offiziell erst ab 21.

Durch die Festlegung des Mindestalters scheint die Ambiguität zunächst beseitigt zu sein. Doch es bleibt ein Rest an Vagheit bei der Umsetzung der Vorschrift. Wie erkennt der Wirt, dass der Gast tatsächlich schon 21 ist? Die Lösung scheint einfach: Man lasse sich von allen jugendlichen Gästen, die nicht zweifelsfrei älter als 21 sind, den Ausweis zeigen. Aber es könnte eine allerletzte Unsicherheit verbleiben. Ab wann ist ein Gast tatsächlich ganz und gar zweifelsfrei älter als 21? Wie lässt sich auch noch die allergeringste Möglichkeit einer Fehleinschätzung des Wirtes ausschließen? Auf dem Flughafen Chicago O’Hare hat man hier die endgültige Lösung. Jeder Gast, der sich an der (übrigens ziemlich guten) Weinbar in der Abflughalle mit einem Gläschen die Flugangst lindern will, wird, egal wie alt und gebrechlich er ist, gezwungen, den Ausweis vorzulegen. »This hasn’t happened to me for sixty years«, grummelte mein sichtlich greisenhafter Sitznachbar.

Sobald man Ambiguität an einem Ende zurückdrängt, entsteht sie an einem anderen Ende und in oft unerwarteter Form wieder neu. Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen. Vernünftig ist es zu versuchen, Ambiguität auf ein lebbares Maß zu reduzieren, ohne dabei zu versuchen, sie gänzlich zu eliminieren. Ambiguitätszähmung ist also das Ziel, an Stelle von ohnehin aussichtsloser Ambiguitätsvernichtung. Der Soziologe Zygmunt Bauman geht noch weiter, wenn er schreibt, Ambiguität erscheine inzwischen »als die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen«.

Das Problem ist nur, dass Menschen von Natur aus mehrdeutige, unklare, vage, widersprüchliche Situationen tendenziell meiden. Menschen sind also, wie die Psychologie das nennt, tendenziell ambiguitätsintolerant. Deshalb ist es mitunter auch schwer, Ambiguität aufrechtzuerhalten.

Hierfür wieder ein triviales Beispiel, diesmal aus dem Bereich der Diplomatie, einem Bereich, der auf die Kultivierung von Ambiguität in besonderem Maße angewiesen ist. Die USA waren immer ein enger Verbündeter Taiwans, der »Republik China«. 1979 erschien es aber angebracht, diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China aufzunehmen, was aber nur um den Preis eines Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zu Taiwan möglich war. Seitdem war es Politik der USA, einerseits keine diplomatischen Beziehungen zu Taiwan zu haben, andererseits das Land aber nach wie vor als engen Bündnispartner zu betrachten. Es ergab sich mithin ein typischer Fall von Ambiguität, bei dem Sätze gleichzeitig gültig waren, die eigentlich einander ausschließen, nämlich »Wir haben keine Beziehungen zu Taiwan!« und »Wir haben enge Beziehungen zu Taiwan!«. Ambiguität entstand hier dadurch, dass beide Sätze für ein unterschiedliches Bezugssystem gelten, nämlich zum einen für das der internationalen Diplomatie und zum andren für das der geopolitischen Bündnispolitik. Eine solche Ambiguität lässt sich nur aufrechterhalten, solange sie allen Beteiligten als vorteilhaft erscheint und niemandem ein Missgeschick unterläuft. Insofern war es ein gefährlicher Fauxpas, als der designierte US-Präsident am 3. Dezember 2016 mit der taiwanesischen Präsidentin telefonierte: Man darf mit Taiwan Handel betreiben, man darf Taiwan sogar Waffen liefern, man darf aber eben auf keinen Fall mit dem Staatsoberhaupt telefonieren.

Ambiguität ist nur schwer und nie restlos zu beseitigen, ganz einfach aus dem Grund, weil es eine Welt ohne Ambiguität gar nicht geben kann. Es ist aber auch nicht einfach, einen Zustand der Ambiguität aufrechtzuerhalten, weil Menschen ihrer Natur nach nur beschränkt ambiguitätstolerant sind und eher danach streben, einen Zustand der Eindeutigkeit herzustellen, als Vieldeutigkeit auf Dauer zu ertragen. Ein Zustand der Ambiguität ist mithin ein labiler. Bricht er zusammen, entsteht jedoch nicht zwangsläufig und sofort ein Zustand der Eindeutigkeit, weil nämlich sofort neue Ambiguitäten aufbrechen. Viel eher ist ein Taumeln von einer Ambiguität in die nächste die unausbleibliche Folge. Individuen und Gesellschaften täten also gut daran, nach dem rechten Maß an Ambiguität zu streben. In unserer heutigen Welt scheint mir vor allem eine zu geringe Ambiguitätstoleranz das Problem zu sein. Deshalb werde ich mich in der Folge auf Problemlagen konzentrieren, die durch ein Zuwenig an Ambiguitätstoleranz (mit)verursacht werden, ohne dabei die Probleme verleugnen zu wollen, die ihr Überhandnehmen mit sich bringen würde.

 

Zitatnachweise und Literaturhinweise1

Kapitel 1

Peter Berthold: Unsere Vögel. Warum wir sie brauchen und wie wir sie schützen können. Berlin 2017. (Zitate: S. 83, 91, 92.) – Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen: Rote Liste der bedrohten Nutztierrassen in Deutschland 2016. http://www.g-e-h.de/images/stories/news/pdf/roteliste.pdf. – Silvia Liebrich: Rettet die Vielfalt! In: Süddeutsche Zeitung. 10./11. September 2016. S. 26. – Gesellschaft für bedrohte Sprachen e. V. http://www.uni-koeln.de/gbs/. – Stefan Zweig: Die Monotonisierung der Welt. In: S. Z.: Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902–1942. Frankfurt a. M. 1990. S. 30–39. (Zitate: S. 30, 33.)

Kapitel 2

Zu Ambiguität und Kultur vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Berlin 2011. S. 26–41 [u. ö.]. – Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 2005. S. 90.

Zum Autor

Thomas Bauer, geboren 1961 in Nürnberg, studierte in Erlangen Semitistik, Islamwissenschaft und Germanistik und habilitierte sich dort 1997. Seit 2000 ist er Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster. Seine Forschungen umfassen Themen der Kulturgeschichte und der Historischen Anthropologie wie Liebe und Sexualität, Religiosität, Tod, Fremdheit und Ambiguitätstoleranz sowie die Geschichte der Klassisch-Arabischen Literatur und Rhetorik. Bauer war 2006–07 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und wurde 2013 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet.

Thomas Ramge

Mensch und Maschine

Wie Künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändernMit 8 Abbildungen von Dinara GalievaReclam

Für meine Mutter

 

 

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961317-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019499-7

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung: Der Kitty-Hawk-Moment – Warum jetzt alles ganz schnell gehen wird

I. Die nächste Stufe der Automatisierung: Maschinen treffen Entscheidungen

II. Turings Erben: Eine (sehr) kurze Geschichte der Künstlichen Intelligenz

III. Wie Maschinen das Lernen lernen: Künstliche Neuronale Netze, Deep Learning, Feedback-Effekte

IV. Mensch fragt, Maschine antwortet: KI als Alltagsassistent, Verkäufer, Anwalt und Arzt

V. Kollege Roboter: Cyber-physische Systeme, Cobots und Maschinen, die Gefühle berechnen

VI. Superintelligenz und Singularität: Übernehmen Künstliche Intelligenz und Roboter die Macht?

 

Zum Autor (mit Danksagung und ausgewählten Quellen)

Einleitung Der Kitty-Hawk-Moment – Warum jetzt alles ganz schnell gehen wird

1901 habe ich zu meinem Bruder Orville gesagt:

Menschen werden in 50 Jahren noch nicht fliegen.

Wilbur Wright, Flugpionier

Eine Million Dollar Preisgeld. Für 241 Kilometer Strecke auf einem abgesperrten Militärgelände in der Mojave-Wüste im US-Bundesstaat Kalifornien. Das waren die Bedingungen beim ersten DARPA Grand Challenge des US-Verteidigungsministeriums für autonome Fahrzeuge im Jahr 2004. Rund hundert Teams traten an. Das beste blieb nach 14 Kilometern stecken; alle anderen scheiterten noch schneller. Acht Jahre später, 2012, gibt Google eine unscheinbare Pressemitteilung heraus: Seine Roboter-Fahrzeuge, bekannt aus Youtube-Filmchen, hätten bereits Hunderttausende Kilometer unfallfrei im Straßenverkehr zurückgelegt. Inzwischen sind Tesla-Fahrer Millionen von Meilen im Autopilot gefahren. Zwar müssen Fahrer in kniffligen Situationen immer mal wieder das Steuer übernehmen, worauf der Autopilot sie rechtzeitig hinweist. Aber ein scheinbar unlösbares Problem ist im Grundsatz gelöst. Der Weg zum vollautomatischen Vehikel für die Massen ist gut ausgeschildert.

Künstliche Intelligenz (KI) erlebt gerade ihren Kitty-Hawk-Moment. Den KI-Forschern ergeht es wie den Pionieren des Motorflugs. Jahrzehntelang sind sie immer wieder gescheitert, nach vollmundigen Ankündigungen ein ums andere Mal abgestürzt. Doch dann gelingt den Brüdern Wright in Kitty Hawk im US-Staat North Carolina der Durchbruch. Die Technologie hebt ab und plötzlich klappt, was vor wenigen Jahren nur eine großsprecherische Behauptung war. Seit rund drei Jahren können Computerprogramme menschliche Gesichter deutlich zuverlässiger erkennen als die meisten Menschen. Bei der Diagnose bestimmter Krebszellen sind Rechner heute schon genauer als die besten Ärzte der Welt – geschweige denn als durchschnittliche Ärzte in einem Provinzkrankenhaus. Computer schlagen den Menschen nicht nur im intuitiven Brettspiel Go, seit Januar 2017 ist amtlich: Sie bluffen auch besser als die besten Pokerspieler der Welt. Bei der japanischen Versicherung Fukoku Mutual prüft das IBM-System Watson die Rückerstattungsansprüche der Versicherten. Bei Bridgewater, dem größten Hedgefonds der Welt, entscheiden Algorithmen nicht nur über Investitionen. Ein mit umfangreichen Mitarbeiterdaten gefüttertes System wird zum Robo-Boss: Es kennt die wahrscheinlich beste Geschäftsstrategie, die beste Zusammensetzung eines Teams für bestimmte Aufgaben, und es gibt Empfehlungen zu Beförderungen und Entlassungen.

KI ist die nächste Stufe der Automatisierung. Schweres Gerät erledigt schon seit Langem die schmutzige Arbeit. Fertigungsroboter wurden seit den 1960er Jahren immer geschickter. IT-Systeme halfen bis dato vor allem bei den Routineschleifen der Wissensarbeit. Sie erleichtern die Buchhaltung, rechnen im Auftrag des Menschen oder verarbeiten Texte. Doch mit Künstlicher Intelligenz treffen jetzt Maschinen komplexe Entscheidungen, die bisher nur Menschen treffen konnten. Oder genauer formuliert: Wenn Datengrundlage und Entscheidungsrahmen stimmen, entscheiden KI-Systeme besser, schneller und billiger als LKW-Fahrer, Sachbearbeiter, Verkäufer, Ärzte, Investmentbanker oder Personal-Manager.

Zwanzig Jahre nach dem ersten Motorflug in Kitty Hawk war eine neue Industrie entstanden. Die Luftfahrt sollte die Welt alsbald grundlegend verändern. Bei Künstlicher Intelligenz könnte es ähnlich laufen. Sobald aus Daten lernende Maschinen in einem bestimmten Bereich besser, billiger und schneller entscheiden als Menschen, ist ihr Siegeszug in diesem Bereich nicht aufzuhalten. Eingebaut in physische Maschinen wie Autos, Roboter oder Drohnen, schalten sie bisheriger Automatisierung in der anfassbaren Welt den Turbo zu. Miteinander vernetzt werden sie zu einem Internet der intelligenten Dinge, die zusammenarbeiten können.

Gil Pratt, der Leiter des Toyota Research Institutes, schlägt einen noch größeren historischen Bogen als in die Dünen der Outer Banks von Kitty Hawk. Pratt vergleicht die jüngsten Fortschritte in der KI mit der Kambrischen Explosion in der Evolutionsgeschichte vor 500 Millionen Jahren. Nahezu alle Tierstämme haben ihren Ursprung in dieser Zeit und es begann eine Art evolutionäres Wettrüsten, unter anderem, weil erste Arten die Fähigkeit zu sehen entwickelten. Mit Augen ließen sich neue Lebensräume erobern und biologische Nischen erschließen. Die Artenvielfalt explodierte. Die Analogie zur digitalen Bilderkennung mit KI liegt nahe. Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology führen den Vergleich mit der Frühphase der Evolution weiter: »KI wird eine Vielzahl neuer Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und Organisationsformen hervorbringen und zugleich viel Bekanntes aussterben lassen. Und es wird sicher einige seltsame Irrwege der technischen Evolution geben und völlig unerwartete Erfolge.«

KI-Forscher und die Hersteller von lernenden Software-Systemen haben zurzeit mächtig Oberwasser. Startups mit Kapitalbedarf neigen dazu, jeder digitalen Anwendung das Label Künstliche Intelligenz aufzukleben. Dies geschieht oft unabhängig davon, ob das System tatsächlich aus Daten und Beispielen lernt und seine Lernerfahrungen abstrahieren kann, oder de facto klassisch programmiert ist und eher stupiden Programm-Anweisungen folgt. KI verkauft, aber viele Käufer – Forschungsförderer, Investoren oder Verbraucher – können die technische Funktionsweise des Produkts nur schwer einschätzen. Künstliche Intelligenz umgibt zurzeit eine magische Aura. Das ist nicht zum ersten Mal der Fall.

Die Künstliche Intelligenz hat schon mehrere Hype-Zyklen durchlaufen: Großen Versprechen folgten immer wieder Phasen mit großen Enttäuschungen. In den sogenannten »KI-Wintern« kamen dann selbst bei glühenden Anhängern Zweifel auf, ob sie nicht Hirngespinsten nachrannten, angetrieben von den Visionen der Science Fiction-Autoren, die sie in ihrer Jugend verschlungen hatten.

Bei aller nötigen Vorsicht lässt sich heute sagen: In den letzten Jahren hat die Künstliche Intelligenz-Forschung Nüsse geknackt, an denen sie sich seit Jahrzehnten die Zähne ausgebissen hat. Ein interessanter Zug des Menschen in diesem Zusammenhang ist: Er sieht Maschinen vor allem als intelligent an, wenn sie neue Problemlösungsfähigkeiten erwerben. Wenn eine Maschine besser multipliziert als ein Rechengenie, schlauer Schach spielt als der amtierende Weltmeister oder uns zuverlässig den Weg durch die Stadt weist, sind wir für kurze Zeit beeindruckt. Doch kaum sind Taschenrechner, Schachcomputer oder Navigations-App günstige Massenprodukte, empfinden wir die Technologie als banal. Nehmen unsere eigenen Fähigkeiten zu, dann neigen wir hingegen individuell und kollektiv zu einer deutlich großzügigeren Bewertung.

Die Lernkurve der Maschinen scheint zurzeit deutlich steiler als jene des Menschen. Das wird das Verhältnis von Mensch und Maschine grundlegend verändern. Die Euphoriker im Silicon Valley wie der Erfinder, Autor und Google-Forscher Ray Kurzweil sehen darin den Schlüssel zur Lösung aller großen Probleme unserer Zeit. Apokalyptiker wie der Oxford-Philosoph Nick Bostrom fürchten dagegen die Machtübernahme der Maschinen und das Ende der Menschheit. Extrempositionen sorgen für Schlagzeilen. Für ihre Vertreter sind sie ein gutes Geschäft auf dem Markt für Aufmerksamkeit. Dennoch sind sie wichtig, weil sie viele Menschen dazu bringen, sich mit Künstlicher Intelligenz näher zu beschäftigen.

Wer die Chancen und Risiken einer neuen Technologie erkunden möchte, muss zunächst die Grundlagen verstehen. Er muss verständliche Antworten auf die Fragen finden: Was ist Künstliche Intelligenz überhaupt? Was kann sie heute und in absehbarer Zeit? Und welche Fähigkeiten muss der Mensch weiterentwickeln, wenn Maschinen immer intelligenter werden und den Menschen zu überflügeln sich anschicken? Nach Antworten auf diese Fragen sucht dieses Buch.

I. Die nächste Stufe der Automatisierung: Maschinen treffen Entscheidungen

Intelligenz ist das, was wir benutzen,

wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen.

Jean Piaget, Biologe und Entwicklungspsychologe

Erkennen, Erkenntnis, Handlung

Der Tesla fährt im Autopilot-Modus mit 130 Kilometern pro Stunde auf der linken Spur der Autobahn. Auf der rechten Spur fahren mehrere Lastwagen mit 90 km/h. Der Tesla nähert sich der Kolonne. Der letzte LKW setzt links den Blinker und will überholen. Der Autopilot muss eine komplexe Entscheidung treffen. Soll der Tesla mit gleicher Geschwindigkeit weiterfahren oder gar beschleunigen, um auf jeden Fall den Laster passiert zu haben, bevor dieser eventuell die Fahrbahn wechselt? Sollte er hupen, um den LKW-Fahrer zu warnen? Wäre das in dieser Situation erlaubt? Oder soll der Tesla bremsen und dem LKW das Überholmanöver höflich erlauben, auf Kosten der Reisegeschwindigkeit, aber zugunsten der Sicherheit? Wobei bremsen freilich nur dann sicher wäre, wenn von hinten kein von Testosteron gesteuerter Sportwagenfahrer mit zwei Metern Abstand drängelt.

Noch vor wenigen Jahren hätten wir diese Entscheidung unter keinen Umständen einer Maschine anvertraut – und dies vollkommen zu Recht. Die Technologie hatte noch nicht unter Beweis gestellt, dass sie uns statistisch gesehen mit höherer Wahrscheinlichkeit sicher ans Ziel bringt, als wenn wir selbst mit erlernter Regelkenntnis, Erfahrungswissen, den Fähigkeiten zur Antizipation von menschlichem Verhalten und unserem berühmten Bauchgefühl hinter dem Steuer sitzen.

Teslafahrer delegieren schon heute während des Fahrens viele Entscheidungen an die Maschine. Das ist nicht ohne Risiko. Autonomes Fahren funktioniert bei Weitem nicht perfekt, weder bei Tesla, Google oder den traditionellen Autobauern wie Mercedes, Audi, Nissan, Hyundai oder Volvo, die mit Hochdruck an Autopilot-Systemen arbeiten, aber viele ihrer Funktionen aus Sicherheitsgründen noch nicht freigeschaltet haben. Bei gutem Wetter und auf klar markierten Autobahnen sind Maschinen bereits heute nachweislich die besseren Fahrer. Es ist eine Frage der Zeit, bis dies auch in der Stadt oder bei Nacht und Nebel der Fall ist oder eine Maschine bei Blitzeis die Entscheidung trifft, gar nicht zu fahren, weil das Risiko schlicht zu hoch ist. Ein altes Bonmot in der KI-Forschung lautet: Maschinen fällt leicht, was Menschen schwerfällt, und umgekehrt. Autofahren mit seinen abertausend kleinen, aber dennoch komplexen Entscheidungssituationen während einer Fahrt war Computern bisher nicht möglich. Warum ändert sich das gerade? Abstrakt gesprochen lautet die Antwort: Weil aus Daten lernende Software in Verbindung mit steuerungsfähiger Hardware den Dreischritt von Erkennen, Erkenntnis und Umsetzung in eine Handlung immer besser beherrschen.

Im konkreten Beispiel des Teslas und des blinkenden LKWs bedeutet dies: GPS-System, hochauflösende Kameras, Laser- und Radarsensoren sagen dem System nicht nur genau, wo sich das Auto befindet, wie schnell der Laster fährt, wie die Straße beschaffen ist und ob es rechts noch eine Notspur gibt. Die Bilderkennungssoftware des Systems identifiziert zudem zuverlässig, dass es der Laster ist, der blinkt und nicht eine Baustellenleuchte. Diese Fähigkeit des Erkennens haben Computer erst vor wenigen Jahren erworben. Die besten von ihnen können heute unterscheiden, ob auf der Straße ein Papierknäuel liegt, den das Fahrzeug getrost überfahren kann, oder ein Steinbrocken, dem es ausweichen muss.

Alle visuellen (und sonstigen sensorischen) Daten fließen in einen kleinen Supercomputer im Fahrzeug ein, zusammengesetzt aus vielen Rechenkernen und Grafikkarten. Die Recheneinheit muss die Informationen in Sekundenbruchteilen sortieren und dabei in Echtzeit gewonnene Daten, bereits gesammelte Daten und einprogrammierte Regeln miteinander abgleichen. Das Tesla-System weiß in diesem Moment, dass es Vorfahrt hat. Ihm wurde die Verkehrsregel mit auf den Weg gegeben, dass der Lasterfahrer nur ausscheren und überholen darf, wenn von hinten keiner kommt. Geschult durch maschinelle Lernerfahrung aus vielen Milliarden Meilen im Straßenverkehr – den sogenannten Feedbackdaten – weiß das System aber auch: LKW-Fahrer halten sich nicht immer an Verkehrsregeln. Es gibt eine signifikante Wahrscheinlichkeit, dass der Laster ausschert, obwohl der Tesla von hinten anrollt, und dass es keineswegs im Interesse seiner Passagiere ist, wenn ein Robo-Auto auf der Straßenverkehrsordnung beharrt, aber dabei einen schweren Unfall riskiert.

Aus Situation, Regeln und Erfahrung leitet das System eine Erkenntnis ab, nämlich die beste Möglichkeit aus vielen errechenbaren Szenarien, einen Unfall zu vermeiden und dennoch zügig voranzukommen. Im Kern handelt es sich dabei um eine kognitive Entscheidung, also die Auswahl einer Handlungs-Option unter vielen. Die beste Lösung des Problems ist das Ergebnis einer Wahrscheinlichkeitsrechnung, in die viele Variablen einfließen.

Ein teilautomatisches Fahrassistenz-System bietet seine Erkenntnis dem Fahrer nur als Entscheidungsgrundlage an, zum Beispiel, indem es mit einem Piepton vor dem Laster warnt, wenn dieser nicht nur den Blinker gesetzt hat, sondern wenn kleine Schlingerbewegungen darauf hindeuten, dass der Fahrer nun tatsächlich gleich das Lenkrad nach links dreht. Der Mensch kann dann dem maschinellem Rat folgen oder ihn ignorieren. Ein Autopilot, der seinen Namen verdient, setzt die Erkenntnis dann direkt in eine Handlung um. Er bremst oder hupt oder fährt stoisch weiter. Der Computer kann die Entscheidung umsetzen, weil ein autonomes Fahrzeug ein hochentwickeltes cyber-physisches System ist. Das digitale System steuert die Funktionen der physischen Maschine wie Gas, Bremse und Lenkung mit großem Geschick. Autopiloten eines Airbus können bei normalen Bedingungen präziser starten oder landen als jeder Flugpilot in Uniform. Bei einem rein digitalen System, einem Trading-Bot für Hochfrequenzhandel beispielsweise, erfolgt die Umsetzung der Entscheidung naturgemäß rein digital, aber das Automatisierungs-Prinzip ist das gleiche: Muster erkennen in Daten. Erkenntnis durch Statistik und Algorithmen ableiten. Umsetzung der Erkenntnis in eine Entscheidung durch eine technische Routine. Die Maschine drückt den Kaufknopf.

Polanyis Paradox

Zur Natur künstlich intelligenter Systeme gehört, dass sie die Auswirkungen ihrer Entscheidungen messen und die Ergebnisse in künftige Entscheidungsfindung einbeziehen. Sie entscheiden mit Feedback-Schleifen. Wenn der Tesla in der beschriebenen Situation einen Unfall baut, funkt es dieses Feedback zurück in den Zentralrechner, und alle anderen Teslas werden nach dem nächsten Software-Update in vergleichbaren Situationen (hoffentlich) deutlich defensiver fahren. Verzeichnet eine KI-Software zur Kreditvergabe zu viele Ausfälle, die es selbst autorisiert hat, wird es die Kriterien für kommende Kreditbewerber verschärfen. Wenn eine Ernte-Maschine die Rückmeldung erhält, zu viele unreife Äpfel zu pflücken, wird es beim nächsten Durchgang besser entscheiden können, ob ein bestimmtes Verhältnis der Färbung aus rot und grün auf der Apfeloberfläche ausreicht, um zuzugreifen. In dieser Fähigkeit, die eigenen Berechnungen und die Einordnung ihrer Ergebnisse selbstständig zu verbessern, liegt der wesentliche Unterschied zwischen Künstlicher Intelligenz und klassischen IT-Systemen. Die Selbstkorrektur ist im System eingebaut.

Seit den ersten Großrechnern in den 1940er Jahren bedeutete das Programmieren eines Computers: Der Mensch bringt einer Maschine mühsam ein theoretisches Modell bei. Dieses Modell besteht aus bestimmten Regeln, welche die Maschine anwenden kann. Wenn die Maschine die passenden Daten für bestimmte Aufgaben oder Fragen zugefüttert bekommt, kann sie diese dann in der Regel schneller, genauer, zuverlässiger und günstiger lösen als der Mensch. Auch das war im Ergebnis immer beeindruckend, aber im Kern wurde bei klassischer Programmierung existierendes Wissen aus den Köpfen der Programmierer in eine Maschine übertragen. Dieser technische Ansatz hat eine natürliche Grenze. Ein großer Teil unseres Wissens ist implizit.

Wir können zwar Gesichter erkennen, aber wir wissen nicht genau wie. Die Evolution hat uns diese Fähigkeit geschenkt, aber wir haben keine gute Theorie dafür, warum wir unseren Nachbarn oder George Clooney sofort identifizieren können, auch wenn das Licht schlecht und das Gesicht halb verdeckt ist. Es ist auch nahezu unmöglich, eine exakte Beschreibung zu verfassen, wie wir unserem Kind Skifahren oder Schwimmen am besten beibringen. Ein anderes berühmtes Beispiel für implizites Wissen ist die Antwort auf die Frage: Was ist eigentlich Pornografie? Der amerikanische Verfassungsrichter Potter Steward fand darauf im zähen Ringen um eine juristisch wasserfeste Definition nur die verzweifelte Antwort: »Ich weiß es, wenn ich welche sehe.« Dieses Problem hat einen Namen, Polanyis Paradox. Dieses beschrieb bis dato die Grenze, die für Software-Programmierer unüberwindbar schien. Ohne eine Theorie, die in Regeln übersetzt und aufgeschlüsselt ist, können wir Maschinen unser Wissen und unsere Fähigkeiten nicht weitergeben.

Künstliche Intelligenz löst dieses Paradox auf, indem der Mensch nur die Rahmen setzt, in welchen die Maschine das Lernen lernt. Es gibt unzählige Methoden und Ansätze, die unterschiedliche KI-Schulen unter dem Begriff Künstliche Intelligenz einordnen. Die meisten, wichtigsten und erfolgreichsten allerdings folgen dem Grundprinzip, den Computern weniger Theorie und Regeln vorzugeben, sondern Ziele. Wie sie zu diesem Ziel kommen, lernen Computer in einer Trainingsphase durch viele Beispiele und Feedback, ob sie die vom Menschen gesteckten Ziele erreicht haben.

Oft wird in diesem Zusammenhang die Frage diskutiert: Ist maschinelles Lernen in Feedbackschleifen tatsächlich intelligent? Viele KI-Forscher mögen den Begriff Künstliche Intelligenz nicht besonders, darunter der Präsident des Deutschen Forschungszentrum für (sic) Künstliche Intelligenz. Wolfgang Wahlster interpretiert das Kürzel KI lieber als »künftige Informatik«. Eine große Fraktion der KI-Gemeinde nutzt durchgängig die Bezeichnung machine learning.

Starke und schwache KI

Der Begriff Künstliche Intelligenz ist umstritten, seit die Computer-Pioniere um Marvin Minsky ihn 1956 auf ihrer berühmten Dartmouth-Konferenz prägten. Dabei ist die Wissenschaft sich bis heute nicht einmal darin einig, was menschliche Intelligenz genau ausmacht. Kann so ein Begriff dann überhaupt für Maschinen taugen? Diskussionen um Künstliche Intelligenz driften schnell zu sehr grundsätzlichen Fragen ab wie: Ist Denken ohne Bewusstsein möglich? Sind Maschinen bald intelligenter als Menschen, und bilden sie die Fähigkeit aus, sich selbst immer intelligenter zu machen? Und können sie dann unter Umständen ein Selbstbild, ein Bewusstsein und eigene Interessen entwickeln? Die Bewegung der Transhumanisten – eine wilde Mischung aus Techno-Utopisten oft mit esoterischem Einschlag – glaubt oder hofft, dass Menschen und Maschinen irgendwann verschmelzen, sich menschliches Bewusstsein auf Maschinen übertragen lässt und Cyborgs, Mensch-Maschinen, dann die nächste Stufe der Evolution bilden.

Diese Fragen zu sogenannter »starker KI« sind von großer Bedeutung. Die langfristigen Technikfolgen sollten diesmal im Gleichschritt mit der technischen Entwicklung gründlich abgewogen und kontrolliert werden und nicht erst im Nachhinein in Kauf genommen werden, wie im Fall des Verbrennungsmotors. Das letzte Kapitel dieses Buchs reißt diese Fragen an. Mein Hauptanliegen ist es allerdings, einen Überblick über das technisch heute Mach- und Absehbare zu geben, über die sogenannte »schwache KI«. Dabei hilft eine pragmatische Definition des Begriffs.

Die Unterscheidung zwischen starker und schwacher KI hat der US-amerikanische Sprachphilosoph John Robert Searle vor rund vier Jahrzehnten vorgeschlagen. Starke KI ist bis auf Weiteres Science Fiction. Schwache Künstliche Intelligenz hingegen ist im Hier und Jetzt am Werk, wenn ein Computersystem Aufgaben übernimmt, von denen man noch bis vor Kurzem dachte: Das kann nur ein Mensch erledigen, der in irgendeiner Form auch seinen Kopf anstrengen muss. Oft geht es dabei um althergebrachte Aufgaben der Wissensarbeit, Fallbearbeitung in Versicherungen zum Beispiel oder das Schreiben von Nachrichten- oder Sportmeldungen. Eingebettet in physische Maschinen macht KI nicht nur Autos, sondern Fabriken, landwirtschaftliches Gerät, Drohnen oder Rettungs- und Pflegeroboter funktionstüchtiger. Es gibt immer wieder Parallelen zu menschlichem Verhalten, aber zu einem pragmatischen Verständnis von KI