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Wenn man seit zwölf Jahren verheiratet ist und immer noch von sich behaupten kann, man könne sein Glück nicht fassen, ist dies ein untrügliches Zeichen für eine gute Ehe. Jane und Nick Rogers führen eine solche Ehe. Sie lieben einander aufrichtig, gehen freundschaftlich und tolerant miteinander um. Da sie sich gegen Kinder entschieden haben, sind sie auch finanziell gut gestellt. Sie verbringen ihren Urlaub abseits der üblichen Trampelpfade, sie haben ein extra Fernsehzimmer mit 42-Zoll-Bildschirm, am Wochenende machen sie lange Spaziergänge, die sie mit einem Besuch beim Biobauern ausklingen lassen. Abends kochen sie gut, und von nachlassender Sexualität kann keine Rede sein. Doch eines Tages geschehen gleich zwei Dinge, die ihre heile Welt aus den Fugen geraten lassen: Janes Mutter Vera muss von zu Hause ausziehen, weil sie nicht mehr für sich selbst sorgen kann. Und ins Nachbarhaus der Rogers' zieht Evie ein, eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Plötzlich gerät eine Lawine von dramatischen Ereignissen ins Rollen, die selbst vor einer guten Ehe nicht haltzumachen scheint.
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2009
Kay Langdale
Was das Herz weiß
Roman
Deutsch von Judith Schwaab
Und wäre die Welt nur schwarz oder weiß
Und wie ein offenes Buch,
Statt ein wilder Strudel voll hungriger Fische,
Ein Prisma aus Freude und Schmerz.
Vielleicht wüssten wir dann genauer, wohin wir gehen,
Oder es wäre uns einfach nicht wichtig.
Doch im Dschungel der Wirklichkeit gibt es keinen Weg,
Der richtig ist und nur richtig.
Aus: LOUIS MACNEICE, Entirely
Beginnen wir mit einer Beziehung, die nicht mehr auf Wolke sieben schwebt, nicht an dem Punkt, wo alles noch auf betörende, beklommene Weise lebendig und neu ist. Beginnen wir stattdessen zu einer Zeit, als diese Beziehung solide und gefestigt ist, als Jane und Nick Rogers bereits seit zwölf Jahren verheiratet sind, eine zufriedene, glückliche, – anscheinend aus freien Stücken – kinderlose Ehe führen und mit einem Lächeln und federnden Schrittes den Weg in ihr fünftes Lebensjahrzehnt angetreten haben. Das Glück lebt immer im Moment, doch mit den Jahren werden seine Auswirkungen immer sichtbarer. Für Jane und Nick – beide mit einer beruflichen Karriere, die sie motiviert und zufrieden macht – ist ihr Leben wie etwas, das man in der Hand halten, drehen und wenden und schließlich für gut befinden kann. Unter dem Strich (und das gestehen sie sich nur unter vier Augen ein, wenn sie im Dunkel ihres Schlafzimmers beieinanderliegen) ist es wesentlich besser gelaufen, als sie es sich je erhofft haben. Dabei hat es durchaus auch düstere Zeiten gegeben: Vor fünf Jahren sind Nicks Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und auch Janes Vater hat schon vor langer Zeit seinen letzten Schnaufer getan. Doch abgesehen von diesen Schicksalsschlägen hatten sie immer die Wahl und konnten sich aussuchen, wo und wie sie leben. Und dafür sind sie dankbar, denn sie wissen, dass es durchaus keine Selbstverständlichkeit ist.
Wie man sich denken kann, führen sie auch wirtschaftlich ein entspanntes Leben, da sie sich gegen Kinder entschieden haben. Nicks einziger Luxus ist ein Auto, nach dem sich kleine Jungs umschauen. Sie haben eine Kaffeemaschine, die Milch zu einem dicken Schaum aufschlägt. Filme schauen sie sich zu Hause auf einem 42-Zoll-Bildschirm an. Ihr Fernsehzimmer ist ziemlich klein, weshalb die Leinwand riesig wirkt. Dabei essen sie Popcorn, das sie mit den Händen aus einer großen Porzellanschüssel schaufeln. Sie hören Puccini und Mozart und Chopin und Bach, und in ihrem CD-Regal türmt sich eine ganze Sammlung von aktuellen Songwritern, die es laut Nick durchaus mit den Archiven von Radio 2 aufnehmen könnte. Wenn sie in Urlaub fahren, suchen sie bewusst – und weil sie es sich leisten können – nach Orten abseits der üblichen Trampelpfade, und Jane trägt einen Brillanten im Smaragdschliff, der so kühl glitzert wie ein Eiswürfel.
Sie sind gute Menschen – gut im Sinne von anständig. Es ist die Art von Anstand, die mit Freundlichkeit und einem ausgeprägten sozialen Gewissen einhergeht. Sie trennen ihren Müll, sorgen sich um ihre CO2-Bilanz, spenden großzügig für gemeinnützige Zwecke, lassen keinen Abfall liegen, und im vergangenen Jahr haben sie jeden Sonntag von ihrem Mittagessen einen Teller zurechtgemacht und einem alten Witwer im Dorf gebracht, die ganzen sechs Monate hindurch, die er seine Frau überlebte. Sie wehren sich weder gegen Überwachungskameras noch gegen DNA-Banken oder den genetischen Fingerabdruck auf Personalausweisen, weil sie immer noch auf eine Gesellschaft hoffen, in der ein friedliches Miteinander herrscht, in der man nicht blutrünstig mit Äxten aufeinander losgeht, sondern seine Waffen wegen Nutzlosigkeit in den Schrank gesperrt hat.
Sie sind tolerant, gutmütig, entbehren jeglicher sozialen Selbstgefälligkeit und sind selbstkritisch genug, um Freunde nicht durch ein nach außen allzu perfekt organisiertes Leben abzuschrecken. Kurz gesagt führen sie eine Ehe, um die man sie leicht beneiden könnte und die so mancher wohl gerne selbst führte, so als würde man frösteln und sich bei jemandem einen Mantel ausborgen, um sich eine Weile daran zu wärmen.
Dabei würden sie selbst ihr Leben durchaus nicht als nahtlos oder makellos betrachten. Die Frage, ob sie es nicht schaffen könnten, ans Meer zu ziehen und trotzdem ihre guten Jobs zu behalten, ist ein häufiges Gesprächsthema. Auch würden sie sich gern einen Hund zulegen, weil sie an Wochenenden leidenschaftlich gern spazieren gehen, halten es aber für unfair, ein Haustier zu haben, wenn man die ganze Woche über arbeitet. Schon seit langem ist es bei ihnen ein running gag, dass Nick, wenn sie vor dem Spazierengehen ihre Mäntel nehmen und sich die Schuhe zubinden, pfeift und Komm schon, alter Junge sagt und die Tür einen Tick länger aufhält, als wäre da ein begeisterter Labrador, der mit ihnen zusammen nach draußen tapst.
Ihr Alltag ist ebenso gewöhnlich wie außergewöhnlich; kein Schlangestehen für Trinkwasser am Brunnen, keine allnächtliche Flucht in Luftschutzkeller, keine Supermarktregale, in denen gähnende Leere herrscht, kein Baby auf Janes Armen, dem eine Fliege herzlos über Mund und Augenlider krabbelt. Ihr Miteinander ist erfüllt von Lebenslust und Energie und voller Vorfreude auf all die Dinge, die sie sich vorgenommen haben (zum Beispiel auf die Party, die sie im November mit sämtlichen Freunden planen, mit einem gewaltigen, knisternden Lagerfeuer und Tomatensuppe, die in einem riesigen Kessel vor sich hin blubbert). Nick ist Mitglied der örtlichen Cricket-Mannschaft und fährt jeden Sonntag zum Hockeytraining in die Stadt. Sie spielen Tennis, und an Sommerabenden mixen sie sich Mojitos mit frischer Minze und setzen sich in den Garten, um Erbsen zu pulen. Manchmal, wenn sie an einem Abend unter der Woche beide an ihren Computern sitzen, schaut einer auf, sieht den anderen an, wie er in seine Arbeit versunken ist, und verspürt einen winzigen Moment deutlicher Zuneigung, bevor er sich wieder seinem Bildschirm zuwendet. Im Bett fährt Nick zärtlich die Konturen von Janes Hüftknochen nach, der sich im Liegen immer noch deutlich abzeichnet. «Der gehört mir», sagt er dann, «daran würde ich dich sogar mit verbundenen Augen erkennen.»
Was ihre Beziehung in erster Linie kennzeichnet, ist, dass sie wie Freunde miteinander umgehen. Es macht Nick betroffen, wenn jemand von seinem Leben erzählt und dabei durchblicken lässt, seine Ehe sei nichts anderes als eine Art Belagerungszustand. Er fragt sich, ob es nicht gerade die Freundlichkeit ist, die in einer Beziehung als Erstes versiegt, und findet, wenn man in der Liebe die Wahl zwischen Aufregung und Freundlichkeit hätte, würden die meisten Menschen vermutlich für Letzteres plädieren: für einen dicken Klacks Freundlichkeit, den man großzügig verteilen kann wie Butter auf einer Scheibe Weizentoast. Jedenfalls lässt sich genau so die Art und Weise beschreiben, wie Jane und er miteinander umgehen. Daran haben auch die Reibereien des Alltags nichts ändern können.
Nick erinnert sich, wie ein Freund ihm einmal sagte, man müsse sich den Weg in das Herz eines anderen erschließen wie auf einer Landkarte. Damals wurde ihm bewusst, dass es bei Jane anders war. Sie landete direkt mitten in seinem Herzen, ohne dass sie einen Wegweiser gebraucht hätte, in exakt dem Moment, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Schon von Beginn an hatte zwischen ihnen eine Klarheit geherrscht, die es ihnen leichtmachte, eine ernsthafte Bindung einzugehen.
Am Sonntagmorgen bleibt Jane oft im Bett liegen, während Nick aufsteht, um Cappuccino und Pfannkuchen mit knusprigen Speckstreifen zum Frühstück zuzubereiten. Während er in der Küche zugange ist, singt er vor sich hin, und die Stimme, die die Treppe hochkommt, klingt melodisch und angenehm. Jane hat schon immer geglaubt, man könne nicht singen, wenn man unglücklich sei, als wäre man von einer Melancholie umhüllt, die die Töne davon abhält herauszukommen. Deshalb streckt sie im Bett genüsslich die Beine aus und wackelt mit den Zehen, während ihr Mann da unten Frühstück macht und singt, weil sich die Liebe in ihrer Ehe immer noch so anfühlt, als hätten sie unglaubliches Glück gehabt.
Als er damals um ihre Hand anhielt, waren sie gerade beim Skifahren in Kanada. Nick war schon oft Ski gefahren und bewegte sich schnell und waghalsig über die Piste. Immer wenn er unten ankam, hob er die Arme mit den Stecken hoch in die Luft, wie ein Sprinter, der im Ziel ein unsichtbares Band durchläuft. Es war eine Geste, die in Janes Augen pure Lebensfreude ausdrückte, ein Urvertrauen in das Gute im Menschen und in Entscheidungen, die man voller Zuversicht trifft. Rückblickend, so meint sie, hat genau dies ihr damals die Sicherheit gegeben, ihm zu folgen, wohin auch immer sein Weg ihn führen mochte.
Damals waren sie gemeinsam einen Abhang hinuntergefahren, vorbei an schneebedeckten Nadelbäumen, alle Geräusche um sie herum waren wie gedämpft, und hatten schließlich bei zwei Bäumen angehalten, in denen eine ganze Schar Meisenhäher hockte und sich an den leuchtend roten Beeren gütlich tat. Beim Klang von Nicks Stimme waren die Vögel aufgeflogen wie eine schwarze, wild flatternde Wolke in der weichen grauen Luft. Manchmal, wenn Jane Jahre später im schieferfarbenen Herbstlicht von der Arbeit nach Hause fährt und Vögel sieht, die von ihren Rastplätzen aufflattern und ein dichtes Fadenmuster an den Himmel malen, fühlt sie sich in jenen Moment zurückversetzt und empfindet ihn als ein Geschenk, das ihr ganz allein gehört.
Es ist ihnen beiden weitestgehend gelungen, beruflich erfolgreich zu sein, ohne die Karriere des anderen zu beeinträchtigen, bis auf die Zeit, als Nick für zwei Jahre nach Prag versetzt wurde. Jane machte sich damals selbständig und arbeitete von zu Hause aus, und sie bezogen eine kleine Wohnung an einem Platz, dessen Kopfsteinpflaster blau schimmerte, wenn es regnete. Jane schmückte das Wohnzimmer mit dicken Teppichen und Kerzen, gewöhnte sich das Whiskytrinken an, buk Obstkuchen, las alle Romane, die sie immer schon mal hatte lesen wollen, versuchte (mit geringem Erfolg) Tschechisch zu lernen und entwickelte ein besonderes Geschick darin, ihre Zehennägel rot zu lackieren. Als sie nach England zurückkehrten, brauchte sie eine Weile, um wieder Fuß zu fassen, doch das war ein durchaus akzeptables Zugeständnis. Auf jene Zeit blickt sie stets mit dem Gefühl zurück, sie sei praktisch ungetrübt gewesen.
Nick arbeitet im Marketing der Firma Unilever und genießt alle Privilegien eines Mannes, der es weit gebracht hat: ein Eckbüro mit Doppelfenstern und eine immer größer werdende Anzahl Menschen, die für ihn arbeiten. Meist beschäftigt er sich mit Waschmitteln, mit all den Tabletten und Kapseln und Flüssigkeiten und Gels, die die Wäsche noch sauberer und reiner machen. Er nahm aufmerksam an Diskussionsgruppen teil, in denen sich Frauen über die Tyrannei des Wäschekorbs beklagten, der immer nur überläuft und überläuft, als hätte er ein Eigenleben. Einmal hat er zu Jane gesagt, er frage sich, ob seine Karriere nicht gänzlich eines moralischen Wertes entbehre, wenn man einmal von der wirtschaftlichen Genugtuung absieht, dass durch ihre Produkte ganze Fabriken, Verpackungsanlagen, Werbeagenturen und Supermärkte am Leben gehalten und Arbeitsplätze geschaffen werden. Monate später las Jane ihm vor dem Schlafengehen eine Zeile aus einem Roman vor: Liebe lässt sich daran messen, was wir für die Wäschestücke des anderen empfinden. An dieser Zeile hat er sich festgehalten und ist dankbar dafür, denn er hat das Gefühl, dass sie seine Waschmittel mit einer emotionalen Bedeutung auflädt, die weit über die längst überholten Ansichten von fleißigen Hausfrauen und wohlbehüteten Kindern in sauberen weißen Hemdchen hinausgeht. Insgeheim gefällt es ihm, seine Produkte auf einer Art Achse der Liebe auszurichten.
Jane arbeitet für das Planungsbüro einer unabhängigen Schule und misst ihren Erfolg an den Mitteln, die für die Errichtung neuer Schulgebäude und Möbel und für die finanzielle Unterstützung begabter Schüler aus armen Verhältnissen aufgebracht werden. Sie ist verantwortlich für die Hochglanzbroschüren, die erklären, warum das Geld unbedingt gebraucht wird, organisiert Veranstaltungen mit potenziellen Spendern und Sommerbälle. Auf ihrem Schreibtisch steht ein kleines Gerät, das den Unterschied zwischen benötigtem und erreichtem Spendenaufkommen anzeigt, und wenn sie nachdenkt, rollt sie eine kleine Kugel zwischen beiden Fingern hin und her und hofft, die flinke Geschwindigkeit, mit der sich das Bällchen vorwärtsbewegt, schlägt sich auch in dem nieder, was sie noch erreichen wird.
Sie leben in einer Zeit, in der Zielstrebigkeit und Ausgeglichenheit zu Mantras geworden sind, und man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass sie beides erreicht haben. Sie führen ein Leben, das seinen festen Platz im menschlichen Miteinander hat, und finden dennoch immer Zeit zum Durchatmen. Natürlich gibt es Eigenheiten, die ihr Alter und ihr sozialer Status mit sich bringen. Jane hat im Winter kalte Füße im Bett, weshalb sie ihre Beine gerne an Nick kuschelt und Kaschmirsocken trägt. Nick legt bei Honig und Fleisch besonderen Wert auf Qualität, und manchmal fahren sie sonntags mit dem Fahrrad zu einem Bauern und kaufen Bio-Rollbraten – marmoriertes und rubinrotes Fleisch – und ein Glas Lavendelhonig. Jane braucht seit neuestem eine Brille für Kleingedrucktes, wenn das Licht schlecht ist, und weil sie keine Lust hat, sie ständig zu suchen, hat sie sich ein halbes Dutzend billige Exemplare gekauft und überall im Haus verteilt. Für Nick war das Maß voll, als sie einmal eine Brille in der Gabelung des Kirschbaums deponiert hatte, unter dem sie am Wochenende Zeitung liest. Nick wiederum hat sich zum leidenschaftlichen Experten entwickelt, wenn es um die bequemsten Wanderschuhe geht, um Schwimmbrillen, die kein Wasser hereinlassen, oder um Nachttischlampen, die klein, aber hell genug sind, um ihm das Lesen zu ermöglichen, ohne dabei Jane aufzuwecken.
Es ist bezeichnend für ihre Liebe, dass sie all dies mit gegenseitigem gutem Willen quittieren, wenngleich Jane bereits fünfzehn Schwimmbrillen verschenkt hat, ohne es Nick zu verraten. («Jedes Mal», hat sie ihrer Freundin Eliza bei der Arbeit gesagt, «wenn ich den Schrank aufmache, hagelt es Schwimmbrillen, wie eine Lawine!»)
Genau hier käme in einer alten griechischen Tragödie der Punkt, an dem man Nick und Jane der Überheblichkeit bezichtigen könnte, eines selbstgefälligen Stolzes, mit dem sie unwissentlich all das in Gang gesetzt haben, was nun folgen wird. Vielleicht würde man ihnen nicht gerade die volle Schuld daran geben, aber der Gedanke einer Mitschuld würde doch irgendwo seinen Platz finden, sich festsetzen, und von da an würde alles ins Stocken geraten, als sollte sich hier bestätigen, dass irgendwann bei jedem die Glückssträhne ein Ende hat. Butch Cassidy und Sundance Kid, Thelma und Louise. Jeder Psychologe würde bekräftigen, dass es durchaus hilfreich ist, wenn man sagen kann: Hier hat alles begonnen, genau hier war es, weil das Leben vielleicht einfacher zu interpretieren ist, wenn man es als logische und konsequente Abfolge von Ereignissen betrachtet, in der der Zufall überhaupt keine Rolle spielt.
Doch vielleicht waren es ja in Janes und Nicks Fall gar keine Überheblichkeit oder falscher Stolz, keine Selbstgefälligkeit oder Selbstzufriedenheit, die sie reif machten für das, was geschah. Vielleicht war es vielmehr so, dass Glück und Zuversicht das Gefühl verstärken können, man habe alles unter Kontrolle und sei in der Lage, Ereignisse zu formen und zu beeinflussen, bis sie ein Muster bilden, das plausibel und vernünftig erscheint; der Gedanke, das, wovor andere zurückschrecken, könnte für einen selbst durchaus zu meistern sein. Vielleicht gab es ja in Jane und Nick einfach noch Überreste moralischer Beweggründe; die Ansicht, diejenigen, die in der Lage sind, zu helfen und Verantwortung zu übernehmen, sollten dies auch ganz bewusst tun, wie ein kurzes Straffen der Schulterblätter, bevor man in den Ring steigt.
Und wo sollen wir nun nach diesem Punkt suchen, an dem alles anfing, die Dinge ihren Lauf nahmen, mit all ihren negativen Folgen, ihren unbequemen Kompromissen? Fast ahnt man ihn bereits, den beginnenden Tremor, jene winzige, kaum wahrnehmbare Bewegung bei Jane und Nick. Wie leicht wäre es, ihn dort in ihrem Schlafzimmer festzumachen (vielleicht bei einem Gespräch, das einen ungewohnt kränkenden Verlauf nahm, oder einer Bemerkung, die ins Mark traf und zu schwären begann wie eine unentdeckte, eiternde Wunde). Vielleicht war es ja eine plötzlich auftretende Erkenntnis, beim Schuheputzen oder beim Ausdrucken eines Vortrags, oder während einer von ihnen unter der Dusche stand, einen großen Schwall Dampf nach dem anderen einatmete – der Verdacht, dass etwas nicht so ist, wie es scheint, dass der andere etwas zu verbergen hat, gerade weil er allzu sehr darum bemüht ist, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Und doch ist es womöglich überhaupt nicht hilfreich, bei Jane und Nick nach diesem Punkt zu suchen. Der Auslöser, das Epizentrum, könnte ebenso gut meilenweit entfernt sein. Eine Reihe von Silberkugeln, die, exakt ausgerichtet, an Schnüren nebeneinanderhängen und von denen eine, angestupst, so viel Schwung bekommt, dass sie auch die anderen in Bewegung versetzt, unablässig, ruhelos, unwiderruflich. Glück, das zerbricht – das ist immer das Ende vom Lied.
In diesem Fall nun wäre es tatsächlich sinnvoll, den Blick weg von Jane und Nick zu lenken, zu einem eher kleinen Haus mit Terrasse, etwa fünfzehn Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, an dem Morgen, als Janes Mutter Vera statt Waschmittel ein Pfund Butter mit der Wäsche in die Maschine gab, nachdem sie am Vortag einen Termin beim Zahnarzt komplett vergessen hatte und nur mit Nachthemd und Hausschuhen bekleidet zum Einkaufen gegangen war.
Eine gute Beziehung ist nicht notwendigerweise immer aufrichtig und ehrlich. Wenn man jemanden liebt, weckt das nicht automatisch das Bedürfnis, sich aller Dinge zu entledigen und reinen Tisch zu machen, wie jemand, der einen Tragekorb oder Satteltaschen leert, die Arme hebt und sagt: So, das wär’s, hier bin ich. Auch in einer guten Beziehung gibt es Bereiche – vielleicht auch nur einen oder zwei–, die aus reiner Gewohnheit, aufgrund einer bewussten Entscheidung oder aus dunkleren Beweggründen einfach nicht zur Debatte stehen. Ein Territorium, das stillschweigend zur No-go-Area erklärt wird. Leise Nischen, die man in Ruhe lässt und mit geschmeidiger Vertrautheit umschifft.
Vera war einer dieser Bereiche, ein Thema, das kaum je aufs Tapet kam, das man lieber elegant umging. Hätte man Jane gebeten zu erläutern, warum das so war, wäre sie immer zurückgeschreckt, selbst im jetzigen Abschnitt ihres Lebens, der von Reife und Selbstvertrauen geprägt war und in dem alles reibungslos vonstattenging.
Jane hatte das Gefühl, wenn sie erst einmal begonnen hätte, über ihre Mutter zu reden, wäre alles nur so aus ihr herausgeflossen. Ein endloser Strom von Geschichten über all die kleinen, tückischen Verletzungen, eine Litanei besonders wirkungsvoller Gehässigkeiten. Hätte sie einmal damit angefangen, so dachte Jane, würde das etwas in Bewegung setzen, was nie mehr aufhören würde. Dabei war die Versuchung durchaus da, vielleicht während eines Spaziergangs oder an einem ruhigen Plätzchen am Strand, zu Nick zu sagen: Und jetzt erzähl ich dir noch ein Beispiel. Warum, glaubst du, hat sie das damals getan? Doch sie konnte nicht damit rechnen, dass er auf diese Frage eine Antwort hatte. Nein, Jane war schon vor langer Zeit zu der Erkenntnis gelangt, dass es bezüglich ihrer Mutter am besten war, kurz angebunden zu sein, wenig über sie zu sagen und noch weniger preiszugeben. Sie hatte sich dafür entschieden, in ihrer Ehe Vera so geringen Raum zu geben wie nur möglich. Wenn die Sprache auf ihre Mutter kam, gab sie der Unterhaltung geschickt eine Wendung und lenkte sie auf andere Themen. War Vera gerade zu Besuch gewesen, flüchtete Jane danach rasch von Zimmer zu Zimmer, um Nick auszuweichen – falls er auf die Idee kam, Fragen zu stellen.
Erkundigte man sich nach ihrer Kindheit, beschränkte sie sich auf ihren Vater oder erzählte von Nebensächlichkeiten, um den Schmerz zu lindern; etwa, wie gern sie in die Bibliothek gegangen sei, um in dem kleinen Kabuff, das den Kindern vorbehalten war, zu stöbern. (Später würde ihr bewusst werden, dass all ihre Lieblingsbücher sich um Kinder drehten, die durch frische Luft und durch gute Mitmenschen erlöst worden waren. In Heidi zum Beispiel warf zwar der Geißenpeter Claras Rollstuhl den Berg hinunter, doch das machte nichts, denn urplötzlich, nur weil sie Ziegenmilch getrunken, gegrillten Käse auf Brot gegessen und in der Hütte des Alm-Öhis auf Stroh geschlafen hatte, konnte das Mädchen aus der Stadt wieder gehen. Oder beim Geheimen Garten, in dem Colin allein dadurch von seiner eingebildeten Krankheit und schlechten Laune geheilt wurde, dass er tiefe Lungenzüge von der guten Luft Yorkshires nahm und in dem ummauerten Garten Blumenzwiebeln in der dicken, torfigen Erde pflanzte. Möglicherweise hätte ein wohlwollender Psychologe ja auch jenen Moment mit Nick an einem Berghang in Kanada als Janes ureigene Version von erlösender frischer Luft und Liebe interpretiert. Und vielleicht, das musste sie zugeben, hätte er damit gar nicht falsch gelegen.)
Doch nun, an diesem Morgen, an dem wir beginnen, besteht nicht die Möglichkeit, dem Thema auszuweichen oder es zu umschiffen. Jane steht in der Küche, die Autoschlüssel in der Hand, und ist gerade erst von einer ganz besonderen Begegnung mit ihrer Mutter zurückgekehrt, welche einen Sonnenhut und Gummistiefel sowie eine Strickjacke trug, die auf dem Rücken zugeknöpft war. Wasser war aus der übervollen Wanne gelaufen und hatte einen Fleck an der Decke verursacht, und da die Fliesen bereits begannen, sich aufzuwerfen, war Jane über den Badezimmerboden geschlittert, um den Hahn zuzudrehen, und dabei war ihre Hose ganz nass geworden. Jane sieht sich zu einem Gespräch mit ihrem Mann gezwungen, weil es so offenkundig geworden ist, dass etwas geschehen muss, und zwar schnell. Sie sagt zu Nick: «Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Das Geschirr türmt sich ungespült im Ausguss. Das Mittagessen von gestern steht immer noch im Ofen. Sie hat mir gesagt, sie würde einen Klempner anrufen, aber ich hab das Telefon in der Spülmaschine gefunden.» Während sie spricht, spürt Jane ein kleines Hämmern in ihrer Brust.
Manche Menschen sind von dem gewaltigen Bedürfnis geleitet, stets das Richtige zu tun, gut zu sein, worin auch immer sich das ausdrücken mag. In Nick jedenfalls herrschte an jenem Morgen dieser Impuls vor. Da seine beiden Eltern tot waren und es keinerlei Möglichkeit gab, ihnen ein würdiges Alter zu bescheren, war es vielleicht genau dieser Instinkt, mit dem sich seine zuvorkommende Haltung gegenüber Vera erklären lässt. Sich eine Weile um eine alte Frau zu kümmern, überlegte er, konnte wohl kaum als übertrieben ehrgeizig ausgelegt werden. Und so kommt es, dass er diesen Vorschlag macht, fast leichten Herzens und beiläufig: «Vielleicht sollte sie erst mal eine Weile bei uns wohnen, bis wir ein entsprechendes Pflegeheim gefunden haben». (wobei ihm urplötzlich bewusst wird, dass beim Thema Vera das, was seine Frau tun möchte, für ihn völlig unerforschtes Gebiet ist).
Später wird er diesen Vorschlag als eine implizite Liebeserklärung mit der Botschaft Was auch immer du tun willst, ich bin dabei ansehen…
«Ist es das, was du willst?», fragt er, plötzlich ein wenig unsicher geworden, und wendet sich in Gedanken den pragmatischen Gesichtspunkten zu, die aus seinem Vorschlag folgen werden. Vermutlich könnte Jane ohne Probleme ihren Job kündigen, eine Weile nicht arbeiten und dann leicht wieder den Einstieg finden. Finanziell stellte das wohl kein Problem dar. Er geht all das in Gedanken rasch durch, während sie immer noch nichts erwidert hat.
Jane schweigt, die Autoschlüssel in der Hand. Da ist er, unerwartet, an einem Samstagmorgen in ihrer Küche, nach so langer Zeit: der Moment, in dem sie all das loswerden könnte. Ich hasse sie schon seit Jahren, könnte sie sagen, könnte es aus sich herauswürgen wie ein kleines Knäuel aus Knochen und Fell. Und wenn es zusätzlicher Klärung bedurfte, könnte sie hinzufügen: Sie ist eine giftige alte Schlange, und mir ist es scheißegal, was mit ihr passiert. Oder sie könnte sagen – etwas vernünftiger, weil sie sich bereits vorstellen kann, wie entsetzt Nick sie ansehen würde: Seit wir verheiratet sind, hab ich völlig abgekapselt von meiner Mutter gelebt, und ich möchte nicht, dass sich das ändert. Oder sie könnte ihm, jetzt mit etwas deutlicher zutage tretender Unsicherheit, erklären, dass ein Verhalten, das man als Kind erlernt, am schwersten über Bord zu werfen ist. Hat sich erst die glänzende Fassade der Erwachsenen abgenutzt, treten alte Muster der Unterwerfung rasch und heftig wieder zum Vorschein. Manche Beziehungen, würde sie ihm sagen, sind auf unumstößliche Weise festgefahren.
Stattdessen jedoch erwidert sie: «Es ist schwierig» – eine Antwort, wie sie von jemandem, der sich schützen will, nicht glatter und unverfänglicher sein könnte. Hauptsächlich sagt sie es, weil sie dadurch mehr Zeit gewinnt, um nachzudenken. Um sich mit einem uralten Kampf zu beschäftigen, den sie schon so lange mit sich selbst ausficht, einen Kampf, in dem es darum ging, wie sie mit ihrer Mutter zurechtkommen könnte, ohne sich so schlecht zu benehmen, wie Vera es tut; wie sie sich einem Menschen gegenüber anständig verhalten soll, der dies definitiv nicht ist; und wie sie ihr begegnen soll, ohne in das alte Muster passiver Gefügigkeit zurückzuverfallen. Es gibt noch viel zu tun, das ganz gewiss, zumal da durchaus – so gern sie es außer Acht lassen würde – das quälende Bedürfnis ist, sich diesem Kampf endlich zu stellen. Auflehnung, verbrämt als Gutherzigkeit, das wäre etwas, das ebenso erstrebenswert wie angebracht wäre, und während sie bei der Geschirrspülmaschine steht und zu Nick schaut, der am Tisch sitzt (mit einem Gesichtsausdruck, der fragend, aber auch bereitwillig und deutlich unterstützend ist), begreift sie, dass dies schon als Gedanke erklärungsbedürftig wäre.
Am Montag danach sitzt Jane im Sprechzimmer des Arztes, neben sich eine Vera, die etwas benommen und zerstreut, aber durchaus gefügig wirkt. Der Arzt deutet an, es sei nicht angeraten, dass Vera weiterhin allein lebe, und verweist Jane an seine Sprechstundenhilfe, die ihr eine Liste mit Pflegeheimen zur Auswahl geben wird. Während er noch spricht, bemerkt Jane, dass Vera mit den Fingern ihrer linken Hand auf ihrem rechten Arm trommelt. Es ist, wie sie feststellt, ein militärisch exakter und gleichmäßiger Rhythmus. Später wird sie denken, es sei wie der Trommelwirbel vor einer Schlacht gewesen. In der Situation selbst befürchtet sie, ihre Mutter könne gleich die Hände an die Lippen legen und in ein imaginäres Horn stoßen, oder sie würde verächtlich prusten und damit den Ton beschwichtigender Besorgnis durchbrechen, der in dem Sprechzimmer vorherrscht. Jane legt die Hand über die Finger ihrer Mutter, um sie wortlos dazu zu bringen aufzuhören. Als sie das Sprechzimmer verlassen, scheint Vera langsam aus den Gedanken aufzutauchen, denen sie eben noch nachhing. «Na, den hast du schön um den Finger gewickelt», sagt sie, «für den bist du jetzt die brave Tochter.»
Hinterher, in einem ungelegenen Moment, wird Jane darüber nachdenken, wie sich bestimmte Dinge festsetzen. Darüber, wie eine scheinbar eindämmbare Idee ihre Tentakel ausstreckt, wie sie in Position geht und sich langsam niederlässt, gleich einem Luftkissenboot, das auf Sand landet. Frühere Auffassungen, das begreift sie später, werden einfach weggespült von der Hartnäckigkeit neuer Routinen, neuer Einsichten. All dies wird geschehen, doch an jenem ersten Morgen in der Küche hat es sich durchaus noch so angefühlt, als hätten sie die Situation vollkommen unter Kontrolle. Als stünde es allein in Janes Macht, diese Entscheidung zu treffen.
Dabei ist ihnen an diesem Punkt überhaupt nicht bewusst, dass man Geschehnisse nur selten isoliert betrachten kann. Dass Dinge ihre ganz eigene Dynamik entfalten, der man nicht immer Einhalt gebieten kann. Stattdessen sind Jane und Nick geradezu überrumpelt von der Tatsache, wie schnell eine Entscheidung Flügel bekommt und unumkehrbar wird, denn schon zwei Wochen später trifft Jane Vorkehrungen, um ihre Mutter und deren Habseligkeiten abzuholen und sie vorübergehend zu sich zu nehmen. Zwischenzeitlich hat sie sich zwei Pflegeheime angesehen und für schlimmer als Tierheime empfunden. Ein weiteres ist so teuer, dass sie sich für ihre Mutter verschulden müsste. Immerhin gibt es ein Heim, das einen akzeptablen Eindruck macht und wo Vera nächsten Monat für ein Probewochenende bleiben könnte. «Nur so können wir eine vernünftige Entscheidung treffen», hat der Geschäftsführer des Heimes zu ihr gesagt, «wir möchten gerne wissen, wer da zu uns kommt.»
Der Tag, an dem Jane Vera abholt, ist ein Morgen im Januar, untypisch mild für die Jahreszeit. Kein klirrender Frost mit Raureif, kein strahlend blauer Himmel. Stattdessen graue Verhangenheit, eine leichte Feuchte hält sich in der Luft. Die Morgendämmerung liegt immer noch über der Landschaft. Es ist wie eine verwaschene, sorgsam in die Länge gezogene Pause vor dem überbordenden Grün und dem Licht, das im Frühling folgen wird. Hätte Jane genauer hingesehen, während sie hastig ihr Frühstück verzehrte, um pünktlich bei ihrer Mutter zu sein, hätte sie bemerkt, dass die Schneeglöckchen im Garten zu blühen beginnen: eine kleine und entschlossene Manifestation der Kraft in der ruhigen, noch unbelebt wirkenden Erde.
Stattdessen sieht sie eine Frau, die mit zwei Kindern in einem kleinen Auto vorfährt und beginnt, ihre Habseligkeiten in das Cottage nebenan zu tragen. Das bestätigt, was der Makler Jane geantwortet hat, als sie sich erkundigte, ob das Häuschen noch zu vermieten sei, denn für einen Moment hatten sie darüber nachgedacht, ihre Mutter zusammen mit einer Pflegekraft dort unterzubringen. Ärgerlicherweise war erst kürzlich ein neuer Vertrag unterzeichnet worden. «War doch klar», hatte sie zu Nick gesagt, «erst steht es sechs Monate leer, und ausgerechnet dann, wenn wir es brauchen könnten, soll jemand einziehen.»
Während Jane Autoschlüssel und Handy holt, kann sie die Frau von der Diele aus sehen. Sie ist feingliedrig und hübsch und hat ein kleines Mädchen auf der Hüfte. Ein Junge trägt einen großen Karton den Gartenweg hoch. Er sieht zu Nicks Wagen hinüber und sagt etwas zu seiner Mutter, die lacht und ihm die Hausschlüssel zuwirft.
Jetzt bleibt die Frau stehen und schaut zu Janes und Nicks Cottage. Jane sieht, dass auch sie ihr Zuhause genauer mustert. Ihre Augen blicken prüfend in den Garten, und vermutlich bestätigt sich in diesem Moment ihr Eindruck, dass hier keine Kinder wohnen. Es gibt weder Schaukel noch Rutsche, kein hastig liegengelassenes Fahrrad, keinen angepiksten Fußball, der hinter der Hecke langsam die Luft verliert.
Jane beobachtet, wie die Frau einen kleinen Stapel Briefe aus ihrer Tasche nimmt. «Felix», ruft sie, «kannst du mal schnell rüberlaufen und die hier in den Briefkasten werfen?»
Morgen wird eine der Karten mit der neuen Adresse bei der Schwester der Frau eintreffen, obwohl es sich in deren Augen kaum um eine richtige Visitenkarte handelt, denn darunter würde sie sich ein elfenbeinfarbenes Kärtchen mit eingedruckter Inschrift in blauen oder schwarzen Druckbuchstaben vorstellen. Diese selbstgebastelte Mitteilung hingegen würde die Schwester wohl mit dem Wort schäbig umschreiben. «Evie ist mal wieder umgezogen», würde sie zu ihrem Ehemann James mit einem genervten Unterton sagen: «Ich frag mich, was sie diesmal geritten hat und ob sie wirklich denkt, jetzt wird alles besser.»
Jane hat den ganzen Tag gebraucht, um in Veras Wohnung die Habseligkeiten ihrer Mutter in einer Reihe von Koffern und Kartons zu verstauen. Vera steht neben ihr, die Arme unter der Brust verschränkt. Sie scheint nicht weiter auf das zu achten, was ihre Tochter tut, denn ihre Augen ruhen auf einem unsichtbaren Horizont hinter ihr, doch urplötzlich kommt Leben in sie, und sie packt Jane am Arm. «Was soll ich denn mit dem Kram da?», schnappt sie. «Wie kommst du darauf, dass ich das überhaupt will?» Jane holt den Gegenstand geduldig wieder heraus und schmuggelt ihn später doch wieder ins Gepäck, als ihre Mutter gerade nicht hinschaut.
An diesem Morgen tauchen immer wieder Zeichen von Veras geistiger Verwirrung auf. Einmal hält sie die Fernbedienung in der Hand und fragt: «Wozu ist das hier eigentlich?» Dann hebt sich zwischenzeitlich der weiße, seidene Nebel vor ihren Augen, und an seine Stelle tritt blaue Schärfe und ein aggressives Recken des Kinns. Ihre Stimme sagt mit der alten Kraft: «Mir wär’s lieber, du rufst an, bevor du hier reinschneist. Könnte ja schließlich anderweitig beschäftigt sein.» Jane widersteht der Versuchung, ihr Kontra zu geben: Ach ja? Etwa damit, deine Unterhose in den Kühlschrank zu stecken?
Jane kann sich nur schwer dem Gefühl entziehen, das Blut fließe über die Fußsohlen aus ihr heraus, mitten in den Teppich ihrer Mutter, bis zu einem unsichtbaren Punkt darunter. Sie wünschte, Nick wäre hier. Es beschleicht sie der unangenehme Verdacht, eine gemeinsame Entscheidung bedeute noch lange nicht, dass auch die Konsequenzen daraus gemeinsam getragen werden. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie ihn bei der Arbeit sitzen, auf dem Schreibtisch vor ihm eine Tasse mit Milchkaffee. Einen Moment lang versteift sie sich und fragt sich, warum sie das alles eigentlich tut, ruft sich dann aber ins Gedächtnis, dass es ja nur eine vorübergehende Maßnahme ist. In ihrer Handtasche steckt das vertrauenerweckend dicke, zusammengefaltete Blatt Papier mit der Liste der Pflegeheime, das ihr die Sprechstundenhilfe gegeben hat. Etwa ein halbes Dutzend bleiben ihr noch anzurufen, und sie ist zuversichtlich, dass das Problem rasch gelöst werden kann.
Ihre Mutter steht neben ihr, und Jane spürt fast einen körperlichen Druck auf Schlüsselbein und Schulter. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie, ganz gleich, ob ihre Mutter wirklich da war oder nicht, ihr ganzes Leben mit dem Gefühl verbracht hat, Vera stehe neben ihr und beurteile sie, jederzeit bereit, sich auf sie zu stürzen. Von nun an wird der einzige Unterschied darin bestehen, dass sie es tatsächlich tut.
Jane
Es ist schwierig. Ganze vier Monate ist es her, dass ich das damals in der Küche zu Nick gesagt habe, weil ich dachte, für ihn würde es schwierig sein, nicht für mich. Eigentlich denke ich, dass ich genügend Zeit hatte, um über meine Mutter zu grübeln, um so lange an den Kanten unserer Beziehung zu knabbern, bis ich begriff, wie sie ist, und mich entsprechend zu verhalten. Wahrscheinlich sitze ich hier, wie so oft, nur einer Täuschung auf. Dabei ist der Ausdruck schwierig gar nicht mal so falsch. Genau das ist es nämlich.
Als ich noch an der Uni war, hatte ich einmal einen Liebhaber, der dunkles Haar hatte wie ein Zigeuner. Wenn wir miteinander geschlafen hatten, stützte er sich im Bett auf den Ellbogen, den Kopf in die Hand gelegt, und plauderte mit mir, während die Spitze seiner Zigarette in der Dunkelheit glühte. Eines Abends, als wir von einem Besuch bei meinen Eltern zurückgekehrt waren, sagte er, ohne jegliche Vorwarnung: «Deine Mutter ist so eine blöde Kuh, das sieht man doch auf den ersten Blick. Wann hörst du endlich auf, auf Zehenspitzen um sie herumzuschleichen, und schickst sie zum Teufel?» Danach waren die Tage unserer Beziehung gezählt, nicht etwa wegen dem, was er gesagt hatte, denn das war für mich in Wirklichkeit eine Offenbarung gewesen, sondern hauptsächlich wegen mangelnden Vertrauens und all der üblichen Probleme; doch damals, als ich neben ihm lag, war mir der Gedanke gekommen, wie einfach und gnadenlos wirkungsvoll es sein könnte, tatsächlich seinen Rat zu befolgen, ein bisschen wie bei der Frau im Musical, die singt, sie wasche sich jeden Mann einfach aus dem Haar. Mit Müttern ist das jedoch etwas anderes, die sind nicht nur im Haar, sondern auch in den Blutkörperchen und im Rückenmark, in winzigen Bläschen in der Lunge, in den Nephronen der Niere. Wenigstens meine Mutter ist das. Unglücklicherweise glaube ich, dass diese restlose physiologische Verbundenheit auch ein Überbleibsel aus der Kindheit ist, denn manchmal verbrachte ich als Mädchen so viel Zeit damit, sie zu beobachten und mir einen Reim auf sie zu machen, dass ich sie versehentlich dabei einatmete. Zu anderen Zeiten denke ich, dass sie sich den Weg regelrecht in mich hineingebahnt hat, mit einem Stochern ihres Fingers und einem resoluten Recken ihres Kinns, sodass es gar kein Entrinnen gab. Ihr zu entkommen war ein Ding der Unmöglichkeit.
Jedenfalls dachte ich nach jenem Liebhaber mit der Zigarette, dem dunklen welligen Haar und dem Dreitagebart, dessen Rauheit ich immer noch an meiner Wange spüre, eine Weile über die Strategie nach, sie zum Teufel zu schicken, und beschloss, dass das nicht zur Debatte stand, weil es dem Ganzen einen viel zu dramatischen Rahmen gegeben hätte – eine Entscheidung, die dann doch unweigerlich Jahr für Jahr neu in Frage gestellt würde. Ich brauchte mir nur vorzustellen, wie eine Freundin sagte: Vielleicht hat sie sich ja geändert, oder: Es ist nicht gut, wenn man nachtragend ist, oder: Irgendwann ist sie tot, und du kannst es nicht wiedergutmachen. In jedem Fall wäre diese totale Abwendung von meiner Mutter etwas Bemerkenswertes gewesen, etwas, über das geredet würde: Jane, die nicht mehr mit ihrer Mutter spricht; ja, ihre Mutter war nicht mal bei ihrer Hochzeit. All das, begriff ich, wäre für die Menschen in meiner Umgebung ein gefundenes Fressen gewesen, höchstwahrscheinlich auch für meine Mutter selbst, die es als endgültigen Sieg verbucht hätte.
Und so dachte ich stattdessen über andere Strategien nach. Die erste – und teilweise auch die Ursache dafür, warum mein Leben mittlerweile in die Brüche gegangen ist – war, nett zu sein. Sei nett. Irgendwie klang das immer ein bisschen nach Grundschule. Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, dann sag lieber gar nichts. Sei nett und lass dir ein dickes Fell wachsen, eine Schutzschicht, die glatt und fest ist, wie Wachs oder weiße Schokolade, und leb mit deiner Mutter in friedlicher Koexistenz, ohne alles zu hinterfragen. Ich beschloss, es so zu machen wie Männer, die im Boot auf einem Teich fahren: Gleite schnell und geschmeidig über den Unrat hinweg und tauche niemals unter. Du weißt nicht, auf was du da unten stoßen könntest. Zum Beispiel auf mich selbst, wie ich mit zehn oder elf gewesen war, ein Häufchen Elend.
Jedenfalls ist diese Strategie einer der Gründe, warum ich mit Nick nie richtig über sie geredet habe, wenn er mit mir im Bett lag, den Kopf in die Hand gestützt – allerdings ohne Zigarette – und über meine Mutter herzog oder mich einfach nur fragte, wie ich zu ihr stand. Nein, in all den Jahren, die wir zusammen sind, habe ich so wenig über sie geredet wie möglich. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, denke ich dann gern, obwohl ich mittlerweile bezweifle, dass Schweigen in diesem Fall wirklich hilfreich ist.
Ich habe also versucht, mich meiner Mutter gegenüber so zu verhalten wie gegenüber dem Rest der Welt, freundlich, vorbehaltlos (soweit das ging), tolerant, harmoniebedürftig. Und doch habe ich dabei auch eine Haltung entwickelt, die mehr von Angriffslust und Trotz geprägt ist, indem ich mich weigerte, mich auf ihre Bedingungen einzulassen oder mir ihr Verhalten anzueignen. Ich kam zu dem Schluss, das Vorhaben, nett zu sein, sei das Wirkungsvollste, was ich ihr entgegenzusetzen hatte, die subtile Bestätigung, dass sie es nicht geschafft hatte, mich zu einem Abbild ihrer selbst zu machen. Mittlerweile muss ich mir jedoch eingestehen, dass diese Herangehensweise wahrscheinlich nur für mich plausibel war, während sie für meine Mutter gar nicht erkennbar wurde. Möglicherweise war sie sogar Wasser auf ihre Mühlen, denn sie konnte es nur als Duldung interpretieren, wenn ich mich ihr gegenüber neutral verhielt.
Und genau diese Strategie, von der ich lange glaubte, sie sei die einzig richtige, ermutigte mich auch noch, meinen Kopf auf die Schlachtbank zu legen und sie so lange bei mir zu beherbergen, bis ich ein geeignetes Pflegeheim gefunden hatte. Wobei «geeignet» ein dehnbarer Begriff ist, denn langsam wird mir klar, dass es darum geht, überhaupt eines zu finden, das sie aufnehmen will.
Ich hatte schon eine leise Ahnung, wie sich das Leben in einem Pflegeheim für meine Mutter darstellen würde. Wann immer sie aus ihren Tümpeln der Mattigkeit auftauchte, wäre sie bereit, zuzubeißen wie ein Krokodil. Es war durchaus möglich, dass sie mit einer Gruppe von Frauen zusammensäße, und jede nickte und schwelgte in Erinnerungen und gäbe kleine Episoden aus ihrem Leben zum Besten. Und dann würde Vera urplötzlich giftig werden, würde kochen vor Wut angesichts dieser weichen, erschlafften Gesichter, würde Blitze der Verachtung durch ihre zusammengebissenen Zähne schleudern.
Vermutlich würde sie so lange griesgrämig zu den Pflegern und Schwestern sein, bis diese sich zu kleinlichen Gemeinheiten hinreißen ließen. Wenn ich dann käme, würden sie sagen: «Na ja, heute Morgen hat sie uns ganz schön zu schaffen gemacht», und ich wüsste genau, was sie meinten. Sie hat’s euch ordentlich gegeben, würde ich denken, so wie es eben ihre Art ist. Einerseits wäre es mir peinlich, andererseits würde mich auch eine unterdrückte hämische Freude erfüllen, weil diesmal nicht ich die Zielscheibe gewesen wäre.
Oft kommt dann alles noch schlimmer, als man es sich vorgestellt hat, zumal mich Vera mit ihrem Verhalten in eine moralische Zwickmühle gebracht hat, aus der ich erst noch herauskommen muss. Vor vier Monaten nahm das Sunningwell Home sie versuchsweise für ein Wochenende bei sich auf. Als wir draußen vorfuhren, starrte sie lange auf das Schild in der Auffahrt, bevor sie das Revers ihrer Bluse glatt strich und sagte: «Na, das wird interessant.» Im Nachhinein betrachtet, war diese Bemerkung bereits ein Hinweis darauf, dass es nicht glatt laufen würde. Ein leises Knistern lag in der Luft, als bereitete sie sich auf ihre nächste Attacke vor. Es schien sie ein winziger Schauder der Vorfreude zu durchfahren, und ich bin sicher, hätte ich in diesem Moment die Zunge herausgestreckt, ich hätte einen Hauch Schießpulver geschmeckt.
Natürlich übertraf ihr Benehmen meine Befürchtungen um ein Vielfaches. Sie brachte drei Frauen zum Weinen und erschien mittags nur von der Taille aufwärts bekleidet zum Essen. Sie beleidigte zwei Pfleger und pinkelte an den Empfangstresen. Und so war meine Unterredung mit dem Geschäftsführer am Montagmorgen auch überaus peinlich. Vorerst, sagte er, habe er keinen Platz frei, aber er sei bereit, sie auf eine Warteliste zu setzen. Er könne sie eben erst aufnehmen, wenn ein anderer Bewohner sterbe, und dies sei natürlich nicht planbar. «Innerhalb eines Jahres müsste es klappen», versicherte er mir. Nachdem er ein paar Andeutungen zu ihrem Verhalten gemacht hatte, blickte er mir direkt in die Augen und sagte: «Ich fürchte, dass wir sie zum Wohl aller Beteiligten sedieren müssten. Dafür bräuchten wir allerdings die ausdrückliche Zustimmung der Angehörigen.»
Und so saß ich also da, in dem kleinen, sandfarben gestrichenen Büro, das Kissen des Stuhls drückte unangenehm gegen meinen Rücken. Nun konnte ich, die ich bei unserem Hausarzt einige Punkte gesammelt hatte, weil ich meine Mutter vorübergehend (ha!) bei mir aufnahm, zu Hause in den Spiegel schauen und mir überlegen, ob ich wirklich jemand sein wollte, der seine Mutter in ein Heim steckte und auch noch sein Einverständnis gab, sie medikamentös ruhigzustellen. Diese Entscheidung vorerst nicht treffen zu müssen war der einzige Vorteil an der Tatsache, dass wir noch keinen Platz für sie gefunden hatten.
Ich fuhr mit ihr nach Hause (im Auto war sie stumm und ihre Miene undurchdringlich) und brachte es nur mit Mühe fertig, nicht zu sagen: Toll! Hast mal wieder allen gezeigt, wie gut du mit anderen Menschen umgehen kannst! Aber natürlich schwieg ich. Mein ganzes Leben habe ich damit zugebracht, mir für sie Retourkutschen auszudenken, ohne dass mir auch nur eine davon über die Lippen gekommen wäre. Sei nett, ermahnte ich mich, obwohl das, was mir gerade durch den Kopf gegangen war, mit Nettigkeit wahrscheinlich nicht mehr viel zu tun hatte.
Als ich bei meinem Arbeitgeber um eine vorübergehende Auszeit gebeten hatte, sagte meine Kollegin Bridget: «Komisch, ich hätte dich nicht für so einen Typ gehalten.» – «Was meinst du denn damit?», fragte ich sie, als würde man Frauen, die ihre betagten Eltern bei sich aufnehmen, diese Bereitschaft sofort ansehen wie ein Muttermal im Gesicht. «Na ja», sagte sie, «diese ruhige Emsigkeit und Effizienz, wie bei einer Krankenschwester, du weißt schon, diese aufopfernde Güte, das hätte ich einfach nicht von dir erwartet.» – «Danke», erwiderte ich, «ich melde mich dann bei dir, wenn mir eine dieser Eigenschaften mal abhandenkommt.» Was ich ihr nicht sagen konnte, war, dass sie durchaus recht hatte, wenn sie mir diese Eigenschaften nicht zuschrieb, und dass ich mir und anderen im Grunde nur etwas vormachte.
Im Nachhinein kann man sich leicht denken, wie man es hätte anders machen können. An jenem Montag hätte ich zum Geschäftsführer des Pflegeheims sagen können: Ich will sie nicht mal zu Besuch bei mir zu Hause haben, und ehrlich gesagt ist es mir egal, was Sie mit ihr machen. Schicken Sie mir einfach die Rechnung.