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"Ich sitze bei Ebbe am Wattenmeer und denke darüber nach, warum es mich immer wieder hierherzieht." Möwen und Meer, Dünen und Syltrosen, Regentage und Sonnenuntergänge. Die Insel Sylt ist für Ursula Weiher zur Seelenheimat geworden. Kundige Naturbeobachtung verbindet die 88-jährige Autorin und langjährige Naturschützerin mit Gedanken über den Sinn des Lebens. Es erwachen sinnbildliche Geschichten. Schreibt sie über die Natur, schreibt sie über den Menschen. Entstanden sind Gleichnisse und moderne Mythen, die einladen wollen zum Nachdenken und Schmunzeln.
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Seitenzahl: 47
Veröffentlichungsjahr: 2021
Ursula Weiher
Was ich dir über Sylt noch erzählen wollte
Dieses Büchlein ist für Johannes,ohne den es nicht entstanden wäre
© 2021 Ursula Weiher
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-28475-3
Hardcover:
978-3-347-28476-0
e-Book:
978-3-347-28477-7
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Inhaltsverzeichnis
Der fünfte Schöpfungstag
Die Heide-Marie
Die Quecke
Die Federballmöwe
Der Wellenzähler
Der kleine Buhn
Der Eisriese
Die Pucken
Der einsame Schlappen
Die Regenfrau
Der Herr der Kiefern
Die drei Feen
Der alte Stein
Der Spurenleger
Sonnenuntergang
Der fünfte Schöpfungstag
Ich sitze bei Ebbe am Wattenmeer auf Sylt und denke darüber nach, warum es mich immer wieder hierherzieht. Erinnerungen an die Jugend, an frühere Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war? Das Wattenmeer ist schließlich Weltnaturerbe. Doch mein Sinnen geht weiter zurück, viel weiter: zum fünften Schöpfungstag.
Das Licht und der Himmel sind schon erschaffen, noch ganz groß und unverbraucht. Das Meer ist schon da - weit bis zum Himmel. Und gerade erhebt sich die Erde aus dem Meer, noch ganz nass und leer – Sand und Sonne. Erste Pflanzen sind auch schon da – noch keine Bäume, aber Schilf und Rosen, Schafgarbe, Rainfarn und Strandnelken.
Es gibt auch schon Schmetterlinge und die Bewohner der Meere: Fische und Schnecken und Muscheln. Die Vögel sind schon erschaffen: Silbermöwen kreischen, Lachmöwen lachen, der Austernfischer ruft, der Rotschenkel trällert, kleine Limikolen rennen über den Sand.
Aber es gibt noch keine Säugetiere. Niemand bellt, muht oder schreit in sein Handy.
Ich sitze ganz still und bewege mich nicht, um Gott nicht zu stören. Ich gehöre nicht hierher. Eigentlich will er mich ja erst morgen erschaffen.
Die Heide-Marie
Wenn du von der Vogelkoje zum Klappholttal gehst oder von dort auf dem Fahrradweg Richtung Süden bis Kampen oder Richtung Norden bis List, so siehst du zu beiden Seiten Dünenhänge, die mit Heidekraut und Krähenbeere bewachsen sind, und dazwischen gibt es viele breite oder schmale Sandwege. Wenn du diese Wege ausprobierst, merkst du, dass sie nirgendwo hinführen – jedenfalls nicht nach menschlicher Logik. Die Heide-Marie hat sie angelegt.
Die Heide-Marie lebte früher in der Lüneburger Heide. Doch seitdem dort Kartoffeläcker, Buchweizen und Tourismus die Herrschaft übernommen haben, ist sie nach Sylt ausgewandert. Hier gibt es noch große Heidegebiete: das Listland, die Braderuper Heide, die Geesthöhe zwischen Watt und Weststrand: alles Naturschutzgebiete.
Im Winter schläft die Heide-Marie in einer der vielen windgeschützten Kuhlen zwischen hohem braunem Heidekraut. Wenn es Anfang Mai warm wird, erwacht sie, und ihr Blick fällt auf die braunen, wie tot aussehenden Büsche. Dann erweckt sie sie mit ihrem Liebesblick zu neuem Leben: Die Glockenheide beginnt zu blühen mit Tausenden leuchtend rosa Glöckchen, die viel größer sind als die der Besenheide.
Du kannst die Blütenpolster schon vom Weg aus erkennen, wenn du vom Nordausgang des Klappholttals zum Meer gehst. Die Heide-Marie ist gut ausgeschlafen und wandert durch alle feuchten Täler, und jeder Busch, den sie liebend ansieht und streichelt, wird rosa.
Ende Mai und im Juni macht sie Pause, denn dann brüten die Vögel zwischen dem Heidekraut: die Brandgänse, die Silbermöwen und auch die Dorngrasmücken, die Weidenlaubsänger und viele andere. Und die darf man nicht stören.
Wenn dann Ende Juli die Jungvögel den Abflug üben, geht die Heide-Marie wieder ihre Sandwege ab. Jeder führt zu einem Heidekrautpolster, und unter ihrem liebenden Blick erblüht die Besenheide, die Calluna vulgaris. Jedes Lebewesen braucht Liebe, um zu blühen, daher die vielen schmalen Wege. Im August ist die ganze riesige Fläche mit Dünenhügeln und weiten Tälern in ein leuchtendes Rosa-Lila getaucht. Ein unwirklich zauberhafter Anblick. Du musst unbedingt einmal im August hierherkommen. Dieses Blütenmeer gibt es nur hier.
Für die Heide-Marie wird es immer anstrengender. Der Tag beginnt um vier Uhr früh und dauert bis nachts um elf. So lange ist es hell. Auch Liebe kann anstrengen. Wenn dann Mitte August die ersten Graugänse schreiend über die Heide fliegen und die Zugvögel von Norden gen Süden ziehen, wird die Heide-Marie müde. Sie legt sich immer häufiger in eine windgeschützte Mulde und schläft. Dann hört das Heidekraut auf zu blühen und wird braun – ein Busch nach dem anderen. Der Herbst beginnt. Die Krähenbeere gewinnt die Oberhand, und alles wartet: zuerst auf die Ruhe des Winters, dann auf die neue Liebe und Wärme des nächsten Frühlings.
Die Quecke
Ich denke, du kennst die Quecke auch. Wie alle Menschen, die einen Garten haben. Sie ist ein gefürchtetes Unkraut, das man nicht loswird. Man kann es jedes Frühjahr ausreißen und alle Wurzeln entfernen - es wächst wieder nach. Eine Art davon wächst sogar in der Sahara auf den wasserlosen Sanddünen, denn die Wurzeln können 30 Meter tief in den Boden hinabreichen und so zum nötigen Wasser kommen.
Hast du einmal überlegt, warum es die Quecke heißt? Alle anderen Grasarten sind männlich: der Fuchsschwanz, der Rotschwingel, der Strandhafer, der Strandroggen – oder sächlich: das Pfeifengras, das Knäuelgras.
Auf Sylt gibt es natürlich die Quecke auch, und da sie hier die Dünen befestigt, wird sie nicht ausgejätet, sondern darf wachsen. Sie bildet bis fast zwei Meter lange Triebe, die wie mit dem Lineal gezogen im Sand entlang alle 10 cm kleine grüne Büschel ans Licht heben. Dazu sagt man hier „die Nähmaschine Gottes“.
Ich habe mich neben solch eine Reihe gesetzt und die Quecke nach ihrer Herkunft gefragt. Wenn man lange genug wartet, kriegt man immer eine Antwort – von jedem Lebewesen.