Was in heller Nacht geschah - Karen Winter - E-Book

Was in heller Nacht geschah E-Book

Karen Winter

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Beschreibung

Nach ihrem erfolgreichen Debüt mit dem Psychothriller "Wenn du mich tötest" legt die Bestseller-Autorin Karen Winter nun mit atmosphärischer Psycho-Spannung aus dem hohen Norden nach. Schauplatz ihres neuen Thrillers: die Lofoten, die Insel der Götter, wie die alten Wikinger die skandinavische Inselgruppe auch nannten. Raffiniert und atmosphärisch dicht lässt Karen Winter den Leser in "Was in heller Nacht geschah" zwischen Wahrheit, Täuschung und Fiktion hin- und herschwanken. Wem vertraut man, wenn die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen? Psychologische Hochspannung vor atmosphärischer Skandinavien-Kulisse! Als die erfolgreiche Autorin Judith Wagner auf die Lofoten zurückkehrt - den Schauplatz ihres aktuellen Buches, scheint sie sich plötzlich in Szenen ihres eigenen Romans zu befinden. Immer wieder gerät sie in Situationen und begegnet Menschen, die sie sich selbst ausgedacht hat... Sie beginnt an ihrem Verstand zu zweifeln: Ist es die karge Abgeschiedenheit der Inselgruppe, die raue, fast unwirkliche Schönheit der hellen Polarnächte, die ihren Geist verwirrt? Bis Judith begreift, wie alles zusammenhängt – ihre Erlebnisse, ihr Roman und der schweigsame Norweger Rune, den die Schatten der Vergangenheit fest im Griff haben und um den sich verstörende Gerüchte ranken – ist es beinahe zu spät.

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Seitenzahl: 373

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Karen Winter

Was in heller Nacht geschah

Psychothriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Plötzlich scheint sie sich in Szenen ihres Romans zu befinden: Als die erfolgreiche Autorin Judith Wagner auf die Lofoten, Schauplatz ihres aktuellen Buches, zurückkehrt, gerät sie in Situationen und begegnet Menschen, die sie sich selbst ausgedacht hat … Sie beginnt, an ihrem Verstand zu zweifeln: Ist es die karge Abgeschiedenheit der Inselgruppe, die raue, fast unwirkliche Schönheit der hellen Polarnächte, die ihren Geist verwirrt? Bis Judith begreift, wie alles zusammenhängt – ihre Erlebnisse, ihr Roman und der schweigsame Norweger Rune, um den sich verstörende Gerüchte ranken, – ist es beinahe zu spät.

Inhaltsübersicht

PrologMontag»Das Lofotengebirge beginnt sich [...]Wenn Knut Kristensen nicht [...]»Hei, kan du høre [...]Mit der Ruhe eines [...]DienstagJudith wachte auf, weil [...]Im Rückspiegel sah Greta [...]Als Judith den schmalen [...]Knut Kristensen fluchte leise, [...]Eine Welle gespannter Erwartung [...]MittwochGreta hatte versucht, sich [...]Judith spürte die Fragen, [...]Als Rune in den [...]Greta fuhr mit den [...]Judith hielt ihrem Blick [...]Knut reckte sich im [...]DonnerstagDie Erinnerung an das [...]Irritiert bemerkte Rune die [...]Sag nichts mehr! Bitte!Rune warf einen letzten [...]»Da sind wir.« Greta [...]Knut? Bist du da? [...]Blut. Überall Blut.Rune richtete sich auf [...]Knut war nach dem [...]Was sollte, konnte sie [...]Rune hörte seine eigenen [...]Judith atmete gegen das [...]Knut Kristensen beobachtete, wie [...]Greta lenkte den schweren [...]Mats Larssen war tot. [...]Rune Kristensen starrte auf [...]Greta ahnte, dass sie [...]FreitagKnut Kristensen beobachtete, wie [...]Judith saß am Strand, [...]Du hast Mats Larssen [...]Judith verfolgte, wie der [...]Mir ist klar, welche [...]Sie näherten sich dem [...]Du wohnst hier nicht [...]Ich bin wirklich froh, [...]Ich will von dir [...]Rune lenkte seinen Wagen [...]Willst du nicht für [...]Mit zitternden Fingern legte [...]Unruhig starrte Judith auf [...]Im Zwielicht des Nebels [...]Sie wollte leben! Leben! [...]Epilog
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Prolog

September 2007, nördliche Nordsee

Rune Kristensen schreckte aus einem unruhigen Schlaf auf. Obwohl er schon seit fast zwei Wochen auf der Bohrinsel arbeitete und in zwei Tagen turnusmäßig aufs Festland zurückkehren würde, hatte er sich diesmal nicht an den Rhythmus des Schichtbetriebs gewöhnen können. Vielleicht lag es daran, dass Vertreter des Vorstandes mit an Bord waren, angeblich um sich mit den Routinen auf der Bohrinsel vertraut zu machen. Tatsächlich hatte Rune in einem vertraulichen Gespräch erfahren, dass es vorrangig um Kostensenkungen ging. Das bereitete ihm Sorgen. Da das ohnehin schon knappe Personal nicht weiter reduziert und die Löhne nicht gesenkt werden konnten, würde es darauf hinauslaufen, die Arbeitsabläufe zu verkürzen und Sicherheitsbestimmungen aufzuweichen.

Er schlug die Bettdecke zurück, schwang sich aus seiner schmalen Koje und fuhr sich müde mit den Fingern durch das dichte dunkelblonde Haar und über das von einem kurzen Bart bedeckte Kinn. Er warf einen Blick in den Spiegel, der neben dem Schreibtisch in seiner Kammer hing. Die Last der Verantwortung für die neuen, tieferen Bohrungen in den vergangenen Wochen war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. An diesem Morgen sah er deutlich älter aus als fünfundvierzig und so fühlte er sich auch. Er brauchte dringend eine Pause und freute sich schon auf die vier freien Wochen, die vor ihm lagen. Obwohl es ihm jedes Mal schwerfiel, die Aufgabe – wenn auch nur vorübergehend – in andere Hände zu geben. Als leitender Ingenieur hatte er das Projekt über die letzten sechs Monate intensiv begleitet und jede neue Bohrung bis ins Detail vorbereitet.

Ein entferntes Rumpeln riss ihn aus seinen Gedanken, und er verharrte intuitiv in seiner Bewegung. Lauschte. Das Geräusch hatte geklungen wie der Donner eines sich nähernden Gewitters, aber es war kein Unwetter angesagt worden. Er fuhr seinen Laptop hoch, um den Wetterbericht anzusehen, als es erneut krachte. Näher diesmal. Heftiger. Die ganze Bohrinsel schien sich zu bewegen. Rune erstarrte. Das war kein Gewitter! Im selben Augenblick brach der Alarm los.

Rune griff zum Telefon.

»Was ist los?«, fragte er, sobald die Verbindung zur Brücke stand.

»Die letzte Bohrung … wir kriegen den Gasaustritt nicht unter Kontrolle …«

»Ich bin sofort bei euch!«

Hastig zog er sich an, riss seine Kabinentür auf und eilte an den aufgeschreckten Arbeitern vorbei durch hell erleuchtete Gänge und Treppen hinauf zur Brücke, doch noch bevor er das nächste Level erreichte, erschütterte eine weitere Explosion die Plattform. Rune wurde gegen die Wand geschleudert. Über ihm brach eine Leitung auf. Dampf schoss heraus. Er konnte sich gerade noch wegrollen. Aus einem Quergang hörte er Schmerzensschreie, Hilferufe. Teile der Deckenverkleidung waren herausgebrochen, Kabel hingen lose herunter, und ein junger Mann lag eingeklemmt darunter. Rune lief zu ihm. Es gelang ihm, eines der Teile so weit anzuheben, dass der Mann sich befreien konnte. Es war der junge Assistent eines der Vorstandsmitglieder an Bord: Olav Holm. Sie hatten am Vortag erst miteinander zu tun gehabt.

»Was ist passiert?«, wollte der junge Mann aufgeregt wissen. »Wie kann …?«

»Sehen Sie zu, dass Sie rauskommen!«, befahl Rune anstatt einer Antwort. »Wissen Sie, wo der nächste Sammelpunkt ist?«

Olav Holm nickte nervös. Er war schreckensbleich, schien aber nicht weiter verletzt zu sein. Rune ließ ihn stehen und eilte weiter die Treppen zum nächsten Level hinauf. Hier gab es Fenster. Als er hinaus in die Nacht blickte, stockte ihm vor Entsetzen der Atem. Der Ostturm der Bohrinsel brannte lichterloh!

Auf der Brücke angelangt erfuhr er, dass sich das Feuer innerhalb kürzester Zeit aufgrund eines Defektes durch die Lüftungsschächte hatte ausbreiten können. Normalerweise schlossen die Schächte in einem solchen Fall automatisch.

»Sind noch Arbeiter im Ostturm?«

»Wissen wir nicht. Die First-Responder sind schon drüben, aber wir brauchen ein Spezialteam …«

In diesem Moment kam die Meldung, dass der betroffene Turm nicht mehr zu retten war. »Wir kriegen keinen Zugang. Die Hitze ist zu groß!«

»Sind da noch Menschen drin?«, brüllte Rune seine Frage in das Mikrofon.

»Wissen wir nicht, und selbst wenn, wir können da nicht rein!«

»Ich will sofort das Spezialteam und ich geh selbst mit«, wandte Rune sich an den Leiter des Brandschutzes, der direkt neben ihm stand.

Bevor dieser widersprechen konnte, gab es eine neue Schreckensmeldung. »Wir können das Bohrloch nicht mehr sichern. Das fliegt uns alles gleich um die Ohren!«

Durch die Fenster der Brücke sah Rune auf die von Schlamm und Öl verdreckten Männer draußen an dem Gestänge, die verzweifelt versuchten, die Ursache der ganzen Katastrophe einzudämmen. Aber ein Blick auf die seismischen Geräte zeigte, dass sie den Kampf nicht gewinnen würden.

»Wir haben zu schnell, zu tief und vor allem ohne genügende Sicherung gebohrt«, bemerkte Rune bitter. »Nun bekommen wir die Quittung. Wir können nicht einfangen, was von unten hochgeschossen kommt. Holt die Männer da weg. Wir müssen hier alle raus, bevor die ganze Insel hochgeht.«

»Wir können die Plattform nicht einfach aufgeben«, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. »Die Kosten …«

Rune wandte sich zornig um. »Scheiß auf die Kosten! Es geht hier um Menschenleben! Wir werden evakuieren.« Er trat ganz dicht an den Vertreter des Konzernvorstandes heran. »Sie können ja gern hierbleiben.«

Der Mann ließ sich nicht so leicht beirren. »Sie werden das zu verantworten haben.«

»Ich habe den ganzen Dreck hier zu verantworten!«, entfuhr es Rune. »Ich habe diese verdammte Bohrung genehmigt!«

Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, wie groß die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, tatsächlich war, wie viele Verletzte und Tote sie innerhalb der nächsten Stunden beklagen würden, Menschen, von denen er die meisten persönlich kannte, Menschen, mit denen er gerade noch gesprochen hatte, wie der junge Olav Holm, der auf dem Weg zum Sammelpunkt sein Leben ließ.

»Thore, wie viele Versorgungsschiffe sind in der Nähe, um die Evakuierten aufzunehmen? Anna, sind die Rettungsinseln noch einsetzbar? Und wer ist für die Hubschrauber verantwortlich? Wo können wir welche abrufen?«, feuerte Rune eine Salve nach der anderen an Fragen und Anweisungen an seine Mitarbeiter auf der Brücke ab, und seine Übersicht und Geistesgegenwart rettete vielen Menschen an diesem Morgen das Leben.

Doch die Bilder des Grauens würden immer in seiner Erinnerung verhaftet bleiben. So wie der Anblick des in sich zusammenbrechenden Ostturms, dessen Teile ins Meer stürzten und verschwanden, und mit ihnen all diejenigen, die sich nicht rechtzeitig hatten retten können oder lebenden Fackeln gleich in die Tiefe gesprungen waren, in der Hoffnung, dass das Meer sie erlösen würde. Bilder, mächtig genug, sein Leben aus den Fugen zu reißen.

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Montag

Juli 2017, Lofoten

»Das Lofotengebirge beginnt sich blau zu färben. Ich weiß nicht, was schöner ist – entweder, wenn du es in der Ferne liegen siehst wie eine einzige tiefblaue Mauer mit tausend Türmen darauf … oder wenn du dich ihm näherst und siehst, wie die Mauer sich öffnet, wie jeder Gipfel ein eigener Berg wird, einer wilder als der andere …«

Judith Wagners Atem ging schneller, als die Inselgruppe aus dem Dunst auftauchte, die der norwegische Dichter Bjørnstjerne Bjørnson schon vor mehr als einhundert Jahren so treffend beschrieben hatte, dass ihr seine Worte jetzt unwillkürlich in den Ohren klangen. Obwohl es erst sechs Uhr dreißig war, stand die Sonne schon hoch am Himmel und warf ihr Licht über eine Nebelbank, die wie glitzerndes Eis vor den Inseln über dem Wasser des Westfjords lag, und der Wind, der auch im Sommer stets einen Hauch von Polarluft mitbrachte, blies ihr das Haar aus dem Gesicht und ließ ihre Augen tränen. Judiths Finger umklammerten das kalte Metall der Reling. War es wirklich nur der Wind, der ihr die Tränen in die Augen trieb? Sie kämpfte gegen die Angst, die sie plötzlich ergriff. Warum war sie zurückgekehrt? Das Stampfen der schweren Schiffsmotoren vibrierte durch ihren ganzen Körper.

Ein Mann streifte sie im Vorbeigehen, er war groß, kantig, nordisch attraktiv. Sie spürte seinen Blick auf sich, versuchte, ihn zu ignorieren.

Sie verharrte an Deck, obwohl ihre Finger bald erstarrten und der Wind ihr den letzten Funken Wärme aus dem Körper blies. Erst als die Fähre die Nebelbank erreichte und sich das strahlende Weiß in feuchten grauen Schwaden verlor, eilte sie fröstelnd zurück in die Passagierkabine, wo sie ihren Platz an einem der großen Panoramafenster einnahm. Ein paar Tische weiter saß ein junges Pärchen beim Frühstück, dahinter schnarchte leise ein Trucker auf einer Bank. Auf der anderen Seite las eine ältere Frau zurückgelehnt in ihrem Sessel. Ansonsten war das Deck verlassen.

Als sie wieder hinausblickte, hatten die tief hängenden Wolken die Fähre völlig eingehüllt. Auf den Scheiben kondensierten sie zu vielen kleinen Tropfen, die in Rinnsalen eilig am Glas hinabglitten. Von einem Moment auf den anderen schienen sie allein auf dem Meer zu sein, verloren in Raum und Zeit, vom Festland ebenso abgeschnitten wie von ihrem Ziel. Es war eine Leere, die sich beinahe so anfühlte wie ihr Leben in den vergangenen Monaten.

Bevor sie beschlossen hatte, es hinter sich zu lassen.

Sie dachte an ihre Wohnung in Frankfurt, daran, wie die Sonne an einem Sommermorgen wie diesem durch die mächtige Platane im Hinterhof schien und ihr Schlafzimmer in grüngoldenes Licht tauchte, und sie meinte das Knarren der Dielen zu hören, wenn Madame Bovary von ihrem Schreibtischstuhl heruntersprang, um ihre Morgenmahlzeit bei ihr einzufordern.

Wie es ihr jetzt wohl ging? Strich sie um Jennys Beine, den Schwanz tänzelnd wie eine Schlange, den Kopf hoch erhoben, den Rücken gekrümmt? Judith verspürte einen Schmerz bei dem Gedanken an sie, der sie an das Heimweh ihrer Kindheit erinnerte, an diese unerträgliche Einsamkeit in einer fremden Umgebung. Sie hatte das einzige Wesen, das noch zu ihr gehörte, zurückgelassen. Abgeschoben.

›Sie wird es gut haben‹, hatte Jenny beteuert. ›Sie hat den ganzen Weinberg für sich.‹

Judith stellte sich vor, wie Madame Bovary an einem geschützten Platz zusammengerollt lag, Reste von dunkler Erde in ihrem Fell, ihre Krallen frisch gewetzt am Holz eines alten Weinstocks. Natürlich würde sie es gut haben. Besser als in einer Sachsenhausener Altbauwohnung. Aber das war es nicht. Vermisste Madame Bovary sie? War Judith Teil ihrer Katzenträume, oder hatte das Tier sie bereits vergessen, weil sie wie alle ihre Artgenossen nur in der Gegenwart zu Hause war und die Not des Überlebens sie zu Opportunisten machte?

Judith schüttelte den Gedanken ab. Es war sinnlos, sich mit Fragen zu quälen, auf die sie keine Antwort erhalten würde. Zumal die Sehnsucht nach ihrer Katze vermutlich nur Ausdruck ihrer aufkommenden Zweifel war. Aber dafür war es zu spät. Nach fast einwöchiger Reise war sie am Ziel, das just in diesem Moment wieder vor ihr auftauchte, denn das Schiff ließ die Nebelwand hinter sich, die Sonne kam durch und in das Blau des Himmels wuchsen zum Greifen nahe die scharfkantigen Gipfel des Lofotengebirges. Rote und gelbe Holzhäuser lagen wie bunte Bauklötze am Fuß der steilen Hänge, davor Fischerboote in spiegelglattem Wasser – ein erhabener und zugleich friedvoller Anblick.

Die Fähre drosselte ihre Fahrt, dann hatte sie auch schon die Mole umrundet und öffnete ihren Bug. Die Fischerboote begannen auf den Wellen zu tanzen, und das Knarren und Scheppern von Metall und Holz durchbrach die morgendliche Stille. Nervös stieg Judith die Stufen hinunter zum Autodeck.

 

Keine zehn Minuten später parkte sie ihren Golf an der Ausfahrt des kleinen Hafens. Sie trat an die Pier, atmete den Geruch von Seetang und Vogelkot ein und beobachtete, wie die Fähre wieder ablegte und ihr großes Maul sich langsam schloss. Die anderen Passagiere waren längst fort, das Geräusch ihrer Fahrzeuge verklungen. Zwei große silbergraue Möwen landeten unweit von ihr und stritten über etwas, das auf den Steinen lag.

Die Szene war ihr seltsam vertraut. Kein Wunder, genauso hatte sie sie in ihrem Roman beschrieben. Die Ankunft auf den Inseln. Selbst der Lichteinfall war derselbe. Langsam wandte sie sich um, ihr Blick fiel auf die Tür einer alten Fischerhütte, deren Holz grau verwittert war. Gleich würde sie sich öffnen. Judith hielt den Atem an. Reglos starrte sie auf die Hütte.

Nichts geschah.

Natürlich nicht.

Judith atmete erleichtert aus, und eine Welle der Scham überwältigte sie. Sie stand noch immer wie festgewachsen auf der Pier, ihr Körper gehalten von einer unnatürlichen Spannung. Sie musste sich zwingen, sich abzuwenden, den Blick auf ihren Wagen zu richten, einen Schritt zu gehen. Über das Wasser hallte das Klappern des sich schließenden Bugs der Fähre, das Kreischen neu ankommender Möwen. Ein weiteres Geräusch mischte sich darunter.

Judith legte schützend die Hände über ihre Ohren, als könne sie so ihre Wahrnehmung manipulieren, aber vergeblich. Auch wenn ihr Gehör so eingeschränkt war, signalisierten ihre Augen ihr eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfeldes, und ihr Gehirn brachte gegen ihren Willen das Gehörte und Gesehene zusammen. Ihr brach der Schweiß aus. Das Geräusch, das sie nicht hatte vernehmen wollen, war das hohe Quietschen einer nicht geölten Türangel gewesen. Entsetzt starrte Judith auf die verwitterte Fischerhütte.

Wenn Knut Kristensen nicht mit Touristen sprechen wollte, gab er einfach vor, sie nicht zu verstehen. Wenn überhaupt, antwortete er auf ihre Fragen in dem selbst für Norweger schwer zu verstehenden Dialekt der Lofoten, und in achtundneunzig Prozent der Fälle verfehlte diese Taktik ihre Wirkung nicht. Sicher spielte auch sein Alter eine Rolle in dieser Komödie. Nach siebeneinhalb Jahrzehnten sah Knut älter aus, als er tatsächlich war, verwittert wie ein Stück Treibholz, und nur wer ihm länger in die Augen schaute, erkannte, dass er nicht der schlichte Fischer war, für den er sich ausgab. Aber die wenigsten Touristen wagten das. Und das war gut so. Es verschaffte Knut die gewünschte Freiheit.

›Du erinnerst mich an Yoda‹, hatte Rune vor nicht langer Zeit zu ihm gesagt, nachdem er Zeuge einer solchen Begegnung geworden war.

›Yoda? Wer ist Yoda?‹

›Ein Filmheld aus meiner Jugend.‹ Rune hatte ihm auf seinem Handy eine kurze Videosequenz gezeigt von einem verhutzelten Wesen mit breitem grünem Kopf und viel zu großen Ohren, das sich, gestützt auf einen Stock, ungelenk vorwärtsbewegte.

›Das ist ja wohl lächerlich‹, hatte Knut empört abgewehrt.

›Lächerlichkeit ist der erste Eindruck, den er vermittelt, da gebe ich dir recht, aber de facto weiß er seine Gefährlichkeit genauso geschickt zu verbergen wie du.‹

Gegen seinen Willen war Knut geschmeichelt gewesen. ›Du hältst mich also für gefährlich?‹

Anstatt einer Antwort hatte Rune nur gelacht und dabei seiner Mutter so ähnlich gesehen, dass es Knut einen Stich versetzt hatte. Seine Schwester wäre in diesem Jahr achtzig geworden, und er vermisste sie schmerzlich.

Das war das Unangenehme am Alter. Menschen, die einen ein Leben lang begleitet hatten, starben und hinterließen eine Lücke, die von der nachwachsenden Jugend nur unzureichend geschlossen wurde. Natürlich stand Rune ihm nah, beinahe wie ein Sohn, aber es trennte sie eine ganze Generation, Rune war zwanzig Jahre jünger als er, ein Mann in der Blüte seines Lebens. Knut erinnerte ihn gern daran, wenn er ihn wieder einmal dabei ertappte, wie er abends allein mit einem Bier in seiner kräftigen Hand auf der Veranda seines Hauses saß und sein Blick über die halbmondförmige Bucht von Fredvang schweifte.

›Du vergeudest deine Zeit, Junge‹, pflegte er dann häufig zu sagen.

›So wie du, nehme ich an‹, war in der Regel die knappe Antwort.

Am Klang von Runes Stimme konnte Knut sofort erkennen, wie viel sein Neffe getrunken hatte. Meistens war es zu viel, dann zog Knut sich diskret zurück. Aber seine Intervention war auch an guten Tagen fraglich. Das wusste er wohl. Wer war er, Rune Ratschläge geben zu wollen? Ausgerechnet er, der sich ein Leben lang gegen Konventionen gewehrt hatte. Wenn er nur daran dachte, wie oft seine Schwester versucht hatte, ihn zu verheiraten. Glücklicherweise hatte es kaum Frauen vom Festland gegeben, die sich ein Leben auf den Inseln vorstellen konnten. Und die, die von den Inseln stammten, kannten Knut zu gut oder hatten zu viel über ihn gehört, um sich auf ihn einzulassen.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Lofoten waren zum Sehnsuchtsort unzähliger Menschen geworden. Die Besucher kamen in einem nicht abreißenden Strom, einer Prozession von Gläubigen gleich, sogar im Winter. Knut verdiente gut daran, und seit Rune auf die Inseln zurückgekehrt war, versuchte er, seinen Neffen in seine Geschäfte einzubinden, aber bislang ohne Erfolg.

Knut blickte aus dem Küchenfenster, über die Wiesen, die sich bis zum Wasser erstreckten. Über drei Generationen hatten die Kristensens mehr als einhundert Hektar des wenigen Landes auf Moskenesøya und Flagstadøya in ihren Besitz gebracht, das sich bewirtschaften ließ, das meiste davon war mittlerweile verpachtet und vielleicht schon bald verkauft, weil es niemanden gab, der es übernehmen würde. Weil Knut der Letzte der alten Garde war, und Rune der Einzige, der hätte nachfolgen können.

Müßige Gedanken, mahnte Knut sich und stemmte sich aus dem Küchenstuhl hoch. Das Aufstehen fiel ihm schwer an diesem Morgen, und er fragte sich, warum er sein Alter mehr als sonst spürte, jeder einzelne Knochen, jedes Gelenk schien sich gegen die Bewegung zu wehren. Lag es am Wetter? Der Nebel hing tief über der Bucht von Fredvang, und er meinte, schon die feuchte Kälte zu spüren, die ihn erwartete, wenn er das Haus verließ. Er schob die Gardine zur Seite. Zwölf Grad zeigte das Außenthermometer am Fenster. Hochsommer auf den Lofoten. Vielleicht sollte er einfach sitzen bleiben und in der Küche einheizen.

»Komm schon«, motivierte er sich selbst. »Gleich wird es besser. Du musst nur erst in Bewegung kommen.«

»Führst du inzwischen Selbstgespräche?«

Knut sah zur Tür. Rune musste den Kopf einziehen, um nicht gegen den Türrahmen zu stoßen. Knut hatte ihn nicht hereinkommen hören. Aber das wollte nichts heißen, auch sein Gehör funktionierte in letzter Zeit nicht immer zuverlässig.

»Dahin kommst du auch noch, wenn du so weitermachst«, raunzte er. »Was willst du überhaupt hier?«

»Ich wollte sehen, wie es dir geht. Ich fahre gleich raus für ein paar Tage …«

Knut zog eine Augenbraue hoch. »Hast du dir das gut überlegt? Es soll Sturm geben.«

»Wird schon nicht so schlimm werden.«

»Na, du musst es wissen.« Knut rieb sich die Arme, machte einen unsicheren Schritt.

Rune beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. »Warum bleibst du nicht drin, wenn es dir nicht gut geht?«

»Ich habe zu tun«, knurrte Knut. Die Besorgnis in Runes Stimme gefiel ihm nicht.

»Es wird schon nicht so dringend sein«, erwiderte Rune.

»Es ist Hochsaison«, hielt Knut dagegen. »Wenn ich auf dem Campingplatz nicht nach dem Rechten sehe, geht alles drunter und drüber, und außerdem reist heute die Frau an, der ich die Wohnung in Gretas Haus vermietet habe.« Knut warf einen Blick auf die Uhr neben dem Herd. »Die Fähre war schon da. Ich frag mich, warum die Deutsche noch nicht hier aufgekreuzt ist?«

»Vielleicht hat sie sich verfahren.«

Knut schnaubte. »In Fredvang gibt es nur zwei Straßen. Wer sich hier verfährt, ist nicht lebenstauglich.«

»Na, das wirst du sicher herausfinden«, bemerkte Rune abschließend. »Wir sehen uns spätestens Freitag.« Das helle Blau seiner Augen leuchtete in seinem bärtigen Gesicht, als er seinem Onkel zum Abschied zuzwinkerte.

»Pass auf dich auf«, murmelte dieser. Es bereitete ihm Sorge, dass Rune niemanden hatte, der auf ihn wartete, zu dem er zurückkehren konnte. Das ließ ihn im Zweifelsfalle waghalsiger agieren als nötig. Und wofür? Für ein paar verdammte Fische mehr. Dafür musste er draußen auf dem Meer nicht sein Leben riskieren.

Wenn du schon nicht dein Erbe annehmen willst, solltest du, verdammt noch mal, zurück auf deine Bohrinseln, lag es Knut deshalb nicht das erste Mal auf der Zunge. Doch er schwieg, obwohl er wusste, dass sie unten in Stavanger, der Ölhauptstadt des Landes, ständig Männer mit Runes Erfahrung suchten.

Rune hatte mit diesem Kapitel seines Lebens abgeschlossen. Sagte er. Stattdessen lebte er von der Hand in den Mund von dem bisschen Geld, das ihm die Fischerei einbrachte. Mit gesenktem Kopf hörte Knut, wie die Haustür ins Schloss fiel, gleich darauf blickte er dem weißen Pick-up seines Neffen nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte, humpelte schließlich in den Flur und zog seine Jacke an. Sein alter Landrover war an diesem Morgen genauso widerspenstig wie sein Körper, aber schließlich sprang der Wagen an, jedoch nicht, ohne eine große blaue Rauchwolke auszustoßen. Langsam fuhr Knut ans südliche Ende der Bucht. Der schmale Landstrich zwischen dem Meer und den steil ansteigenden Hängen war hier gerade breit genug für die enge Straße und das kleine, von einem verwitterten Zaun umschlossene Grundstück mit dem alten zweistöckigen weißen Holzhaus. Zwei Apfelbäume und eine Kiefer trotzten dem Wind und der Salzluft, im hohen Gras darunter blühten hellblaue Schlüsselblumen und farbenprächtige Lupinen. Orangegelbe Kapuzinerkresse rankte an dem verwitterten Holzzaun. Zwischen Haus und Schuppen lag ein Stapel Treibholz. Knut runzelte die Stirn, während er den Wagen am Straßenrand parkte. Es wäre gut gewesen, noch einmal zu mähen. Ein bisschen aufzuräumen.

Die Tür des Schuppens flog auf. Ein Wesen stolperte hustend heraus, ein staubiger, blauer Arbeitsoverall schlotterte um den dünnen Körper, das Haar war unter einem schmutzigen roten Kopftuch versteckt, das Gesicht verborgen unter Atemmaske und Schutzbrille.

Knut suchte unwillkürlich Deckung in der Erwartung, dass der Schuppen gleich in die Luft fliegen würde, aber nichts dergleichen geschah. Greta Amundsen riss sich lediglich keuchend Brille und Maske vom Gesicht, befreite ihr zerzaustes, blondes krauses Haar von dem Kopftuch und stöhnte: »Oh, mein Gott!«

Dann erst nahm sie Knut wahr, und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr hageres Gesicht. »Knut! Guten Morgen!«, rief sie. »Schon gefrühstückt?«

Er stieg die wenigen Stufen zur Gartenpforte hinauf. Beim Näherkommen bemerkte er die Schmutz- und Staubspuren in Gretas Gesicht, die die Konturen der eben abgesetzten Brille und Maske auf ihrer Haut nachzeichneten.

»Was zum Teufel machst du schon wieder?«, fragte er.

Sie lächelte noch immer. »Ich probiere etwas aus.«

»Willst du es mir zeigen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Morgen vielleicht.«

Er folgte ihr ins Haus. Sein Elternhaus. Als Greta damals eingezogen war, hatte sie die Räume möbliert übernommen, sie hatte nicht lange bleiben wollen. Nur ein paar Wochen. Inzwischen jährte sich ihr Einzugstermin zum zehnten Mal, und das alte Mobiliar hatte sie nach und nach durch eigenes ersetzt. Nur das Buffet in der Küche stand noch dort, wo es schon immer gestanden hatte, so lange Knut denken konnte. Jedes Mal, wenn er Gretas Küche betrat, liebkosten seine Finger das abgegriffene, glänzende Kiefernholz, und jedes Mal fragte er sich, was wohl passierte, wenn es verrückt und herausgeschafft würde. Würde das Haus seine Seele verlieren? Hatte es vielleicht deshalb niemand bislang gewagt? Als er sah, dass Greta ihn beobachtete, zog er hastig seine Hand zurück.

»Heute kommt die Deutsche«, sagte er schnell. »Werdet ihr euch vertragen?«

Greta schälte sich aus dem Overall, darunter trug sie ein altes T-Shirt, unter dem sich ihre knochigen Schultern abzeichneten, und eine Jeans, die ebenso um sie schlotterte wie ihr Arbeitsanzug.

»Warum sollten wir uns nicht vertragen?«, fragte sie leichthin, während sie sich mit einem Handtuch Gesicht und Hände reinigte. »Es ist ja nicht das erste Mal, dass du mir hier jemanden einquartierst.«

»Deshalb frage ich. Das letzte Mal hat es nicht so gut geklappt.«

Greta schenkte ihm einen langen Blick aus ihren unergründlichen grünen Augen. »Das war auch ein Mann. Das konnte nicht gut gehen.«

»Ihr habt euch nur die Küche geteilt.«

»Genau.« Greta klopfte ihm im Vorbeigehen vielsagend auf die Schulter. »Willst du einen Kaffee?«

Knut zögerte. Zuviel Kaffee schadete seinem Herzen, aber was war die Alternative? Greta hatte meistens nur Wasser da oder Tee, und Knut verabscheute beides. »Brüh ihn nicht so stark«, bat er.

Greta nickte. »Wann kommt die Deutsche?«

Knut warf einen Blick auf seine Uhr. »Die Fähre hat vor einer Stunde in Moskenes angelegt. Eigentlich sollte sie längst da sein.«

»Vielleicht kauft sie noch etwas ein.«

»Hm«, brummte Knut nur. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.

Greta stellte einen halb vollen Becher Kaffee vor ihn auf den Küchentisch, den sie mit heißem Wasser auffüllte.

»Was macht Rune?«, fragte sie, als sie sich ihm gegenüber mit einem dick belegten Käsebrot in der Hand setzte. »Willst du auch was essen?«

Knut reagierte nicht sofort. Es überraschte ihn, dass Greta sich nach Rune erkundigte, und er fragte sich, welchen Grund sie dafür haben mochte.

»Rune fährt heute raus«, antwortete er schließlich, »und ja, ein Brot wäre gut.«

»Käse?«

Er nickte, und sie reichte ihm die Scheibe, die sie in der Hand hielt, dabei betrachtete sie ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen. Sie war etwas kurzsichtig. »Du sorgst dich um ihn«, stellte sie fest.

»Ich mache mir immer Sorgen, wenn er allein rausfährt«, entgegnete er knapp. Deswegen hatte sie also gefragt. Er biss von dem Brot ab. Es schmeckte anders in Gesellschaft.

»Hat er nicht vor Kurzem erst gesagt, dass er sich nach einem zweiten Mann umsehen will?«

Knut zuckte mit den Schultern. »Mag sein.«

Greta merkte, dass er nicht über seinen Neffen sprechen wollte, und wechselte das Thema und erzählte von ihrer nächsten Ausstellung, an der sie gerade arbeitete. Er hörte ihr nicht wirklich zu, ihm gefielen ihre Bilder und Skulpturen nicht, aber er wusste, sie verkauften sich gut, zumindest bei den Touristen. Er wurde die Beklemmung nicht los, die er verspürte, seit Rune abgefahren war. Dieses nicht greifbare Gefühl eines drohenden Unheils. Vielleicht hatte es gar nichts mit seinem Neffen zu tun und bezog sich auf etwas anderes. Vielleicht wurde er auch einfach nur alt und senil.

»Hei, kan duhøre meg?«

Judith schlug die Augen auf und blinzelte, um im grellen Sonnenlicht die Gesichter zu erkennen, die sich über sie beugten.

»Hun er våken!«

»Was, wo bin ich …«, flüsterte sie noch immer benommen.

Sofort verfielen die Menschen um sie herum ins Englische. »Wie geht es dir? Weißt du, was passiert ist?«

Judith schüttelte unsicher den Kopf. »Nein, ich …«

Ich kann mich an nichts erinnern, wollte sie sagen, aber in diesem Moment überfiel sie die Erinnerung. Ihr Blick suchte die Fischerhütte. Die Tür.

Sie war geschlossen.

Schon wieder hatte sie sich überwältigen lassen von ihrer eigenen überbordenden Fantasie. So wie es in den vergangenen Wochen immer wieder geschehen war. Judith bekämpfte einen erneuten Anfall von Schwindel. Ihr letzter Roman schien sie regelrecht zu verfolgen, als ob die Geschichte von ihr Besitz ergriffen hätte und sie in einen willenlosen Charakter in ihrer Handlung verwandelt hätte. Sie hätte dieses Buch nie schreiben dürfen, das sie so weit herausgelockt hatte aus ihrer kleinen geschützten Welt.

Eine Frau streckte ihr eine Hand entgegen. »Komm, lass dir aufhelfen.«

Sobald sie stand, strich sie sich unsicher eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln.

»Alles in Ordnung?«, fragte die Frau, die wie ihre beiden Begleiter nicht älter als Mitte dreißig war und praktische Trekkingkleidung trug. »Brauchst du einen Arzt?«

»Nein, alles okay, danke«, versicherte Judith peinlich berührt. »Mir war nur ein wenig schwindelig … vermutlich ein Schwächeanfall … ich habe eine lange Reise hinter mir …«

Die Frau nickte verständnisvoll. »Natürlich. Wir haben uns nur sehr erschrocken, als wir dich hier auf der Pier haben liegen sehen.«

»Macht euch keine Sorgen. Ich komme zurecht.« Judith tastete nervös nach ihrem Autoschlüssel in ihrer Jackentasche. Am liebsten wäre sie einfach zu ihrem Wagen gelaufen, sie wollte sich nicht gegenüber wildfremden Menschen erklären. »Vielen Dank für eure Hilfe«, sagte sie daher lediglich und zog zum Zeichen ihres Aufbruchs den Autoschlüssel aus der Jackentasche.

»Keine Ursache, alles Gute.« Die Norweger warteten, bis sie in ihren Wagen gestiegen war, und winkten, als sie losfuhr. Sie wünschte sich, diese Leute nie wiedersehen zu müssen.

 

Wie ferngesteuert fuhr sie Richtung Norden, ohne das Panorama aus Bergen, Fjorden, Brücken und dem Meer, das sich wie gemalt unter dem blauen Himmel ausbreitete, auch nur eines Blickes zu würdigen. Als die E10, die einzige Fernstraße auf den Lofoten, schließlich ins Landesinnere abbog, und sie das südliche Küstengebirge hinter sich ließ, blieb auch die Sonne zurück. Wie Wasser glitten die Wolken über die Gipfel und tauchten die baumlose Weite, die sich vor ihr erstreckte, in feuchtkalten Nebel.

Ungehalten wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht, der Kloß in ihrem Hals wurde bei dem trostlosen Anblick immer größer. Aber es war zu spät. Ihre ganze Anspannung entlud sich, und sie konnte gerade noch eine unbefestigte Parkbucht am Straßenrand ansteuern, bevor der Heulkrampf sie übermannte.

Sie ließ es zu und weinte ihren Frust heraus mit der wachsenden Gewissheit, dass ihre Rückkehr überstürzt und falsch war. Sie weinte um Madame Bovary, um ihre Wohnung, und vor allem darum, dass sie sich jetzt mutterseelenallein am Ende der Welt befand und niemand ihren Kummer lindern würde. Sie weinte, bis ihr Kopf schmerzte und ihre Augen brannten. Und dann setzte ganz allmählich ihr Verstand wieder ein.

Weinen reinigt die Seele. Jennys Worte.

Sie sah ihre Cousine so klar und deutlich vor sich, dass sie den dringlichen Wunsch verspürte, mit ihr zu sprechen, ihr zu erzählen, was geschehen war, ihre Stimme zu hören und sich den Trost abzuholen, nach dem sie sich verzehrte, und bevor sie sichs versah, hielt sie ihr Mobiltelefon in der Hand, doch nach einem Moment der Besinnung legte sie es zurück auf den Beifahrersitz. Ja, sicher, sie könnte sich Jenny anvertrauen, seit ihrer Kindheit war sie ihre engste und vielleicht auch einzige Freundin. Aber war ihr jetziger Zustand nicht eine Bestätigung von Jennys Warnungen, die sie in einer Phase blinder Selbstüberschätzung schlicht ignoriert hatte?

Im Handschuhfach fand sie Taschentücher. Sie putzte sich die Nase, wischte sich die Augen trocken und versuchte, sich zu beruhigen. Schließlich fühlte sie sich so weit wiederhergestellt, dass sie weiterfahren konnte.

Nach einer weiteren Viertelstunde erreichte sie den Abzweig nach Fredvang. Die Straße führte über zwei hohe, geschwungene Brücken, das Wasser darunter verlor sich im Nebel, der mit jedem Meter dichter wurde, bis sie kaum noch zehn Meter Sicht hatte. Sie kannte dieses Phänomen noch von ihrem letzten Aufenthalt hier. Schon in der nächsten Bucht konnte strahlender Sonnenschein sein.

Tatsächlich lichteten sich die Wolken etwas, als sie die Brücken hinter sich ließ und auf die rechte Spur abbog, die in den Ort hineinführte. »Richtung Campingplatz und dann geradeaus«, hatte in der Wegbeschreibung gestanden, die sie per Mail erhalten hatte und die ausgedruckt unter ihrem Handy auf dem Beifahrersitz lag. Sie hätte sie nicht gebraucht. Sie kannte den Weg. Sie passierte die halb verfallene Scheune, dann kam der Wegweiser zum Campingplatz, den sie rechter Hand passierte. Nun führte die Straße parallel zu der halbmondförmigen Bucht an verstreut liegenden einzelnen Gehöften und Häusern vorbei. Grünland erstreckte sich bis zum Wasser, das sie mehr erahnte als sah. Zu ihrer Linken konnte sie zwischen Wolkenfetzen Berghänge erkennen.

Und dann glitt ihr Fuß vom Gas. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie nicht einfach weiterfahren können. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad, während ihr Blick sein Haus suchte. Von den beiden hölzernen Säulen, die das kleine Vordach trugen, blätterte die gelbe Farbe, und das helle Grau des Holzes, das zulange ungeschützt den Elementen ausgesetzt war, schimmerte hindurch. Am Fuß der Stufen wuchs Unkraut. Es sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Nicht mehr geliebt, nicht mehr umsorgt, aber doch noch bewohnt. Davon zeugten die sauberen Fenster, die ausgefahrenen Spuren, die zur Garage führten, Werkzeug, das neben der Eingangstür abgestellt war. Genau wie auf den Fotos, die sie wieder und immer wieder in den vergangenen zwei Jahren minutiös studiert hatte. Sie biss sich auf die Lippe. Sie sehnte sich danach, anzuhalten, auszusteigen, aber sie wagte es nicht. Hier kannte jeder jeden. Sie wollte den Inselbewohnern nicht noch mehr Gesprächsstoff liefern. Ihr Golf machte einen Satz, als sie hastig wieder beschleunigte und das Haus hinter sich ließ, das sie vor zwei Jahren für ihren Protagonisten Einar Thorsen ausgesucht hatte, diesen eigenwilligen nordischen Mann, der so stark und gleichzeitig so schwach war und so viel Leid erfahren hatte in ihrem Roman.

Ihr Ziel lag am Südende der Bucht. Ein zweistöckiges weißes Holzhaus, an dessen verwittertem Zaun sich wie zum Trotz gegen das trübe Wetter leuchtend gelbe und orangefarbene Blumen emporrankten. Sie liebte dieses Haus. Als Schauplatz hatte es nur eine unbedeutende Nebenrolle in ihrem Roman gespielt, aber wie oft hatte sie ihre Charaktere daran vorbeigehen und über den Zaun in den halb verwilderten Garten blicken lassen, und als sie dann bei ihrer Suche nach einer Bleibe gesehen hatte, dass ausgerechnet hier Zimmer zu vermieten waren, hatte sie nicht widerstehen können. Natürlich hatte sie Jenny nichts davon erzählt, sie hätte ihren Spott nicht ertragen.

Zum zweiten Mal an diesem Morgen überlagerte das schmale Gesicht ihrer Cousine die Realität, und Jennys drängende Stimme klang ihr in den Ohren. ›Fahr nicht dorthin zurück. Du machst alles nur noch schlimmer!‹

Letztlich hatte ihre Warnung sie nicht überrascht. Jenny war die Einzige, die wirklich um ihr Seelenleben wusste und um ihre Nöte. Die Einzige, der sie persönliche Fragen gestattete.

›Aber ich muss!‹, hatte sie ihr Vorhaben verteidigt. ›Seit ich den Roman abgeschlossen habe, träume ich nahezu jede Nacht von den Inseln. Ich muss herausfinden, warum ich sie nicht aus meinem Kopf bekomme.‹

Jenny, die Redakteurin bei einer der anspruchsvolleren Frauenzeitschriften und von einem unerschütterlichen Pragmatismus geprägt war, hatte ihre Lippen zu einem Kussmund geschürzt, wie immer, wenn ihr etwas nicht gefiel. ›Du hast dich über ein Jahr intensiv mit dem Leben dort beschäftigt, während du den Roman geschrieben hast‹, hatte sie dann gesagt, ›das legt man nicht einfach ab wie ein Kleidungsstück. Das weißt du. Aber anstatt einfach abzuwarten, dir selbst Zeit zu geben, vielleicht Urlaub zu machen, vermietest du deine Wohnung und …‹

›Das ist nicht mein erstes Buch‹, hatte Judith sie unterbrochen, nun ihrerseits gereizt. ›Ich habe bereits neun Romane veröffentlicht. Was hier gerade geschieht, ist mir noch nie passiert.‹

›Du warst auch noch nie so überarbeitet.‹

Erdrückendes Schweigen war diesen Worten gefolgt.

›Hör zu, es tut mir leid‹, hatte Jenny darauf eingelenkt. ›Ich glaube zu wissen, wie viel Kraft dich dieser Roman gekostet hat, was er dir bedeutet …‹

Mit einer Geste hatte Judith versucht abzuwiegeln, unfähig etwas zu sagen. Niemand, nicht einmal Jenny, ahnte auch nur im Entferntesten, wie tief sie sich in ihrer eigenen Romanhandlung verloren hatte und wie es seither in ihrem Innersten aussah.

Aber Jenny war nicht so leicht zu bremsen gewesen. ›Du hast dir die Seele aus dem Leib geschrieben, deshalb ist der Roman so erfolgreich geworden‹, war sie unbeirrt fortgefahren. ›Du warst schon immer gut, aber jetzt stehst du ganz oben auf der Bestsellerliste. Du darfst nicht einfach fliehen vor allem, was das mit sich bringt.‹

Ihre Blicke hatten sich gekreuzt, und es war Judith schwergefallen, der Herausforderung zu begegnen, die in Jennys Augen gelegen hatte.

Wenn sie jetzt an jenes Gespräch zurückdachte, musste sie Jenny allerdings recht geben. Es war tatsächlich eine Erleichterung gewesen, Frankfurt den Rücken zu kehren und alles hinter sich zu lassen. Den Verlag, die Agenten, die Medien. Sie hatte das Telefon abgeschaltet und war einfach verschwunden. Sie hatte das Rampenlicht noch nie geliebt. In den vergangenen Jahren war es ihr gelungen, ihm auszuweichen und den Kontakt mit ihren Lesern auf einen freundlichen, aber distanzierten Mailverkehr zu beschränken, und, ja, sie hatte befürchtet, dass sich genau das, angesichts des Erfolgs ihres Romans, nun ändern würde. Aber das war nicht alles. Bei Weitem nicht. Es war so viel komplizierter.

 

Sie schluckte unwillkürlich, als sie ihren Wagen hinter einem alten Landrover am Straßenrand parkte und ihr zukünftiges Zuhause erblickte. Hinter einem Fenster im Erdgeschoss brannte Licht, und sie konnte eine Frau erkennen, die näherkam und winkte. Sie wurde also bereits erwartet. Sie hatte das Haus noch nicht erreicht, als die Eingangstür sich schon öffnete.

»Hallo, herzlich willkommen!« Sie blickte in ein hageres Gesicht, das eingerahmt wurde von einem zerzausten blonden Haarschopf. Die Frau war wie sie selbst etwa Ende Vierzig und streckte ihr eine schmale Hand entgegen, deren Griff erstaunlich fest war. Sie sprach Englisch und stellte sich mit einem breiten, herzlichen Lächeln vor: »Ich bin Greta.«

»Hallo«, erwiderte sie zurückhaltend. »Judith. Judith Wagner.« Zu oft war sie in der Vergangenheit schon auf den schönen Schein hereingefallen, hatte sich blenden, verführen und letztlich ausnutzen lassen.

Greta ließ sich von ihrer Verschlossenheit jedoch nicht irritieren. »Schön dich zu sehen«, fuhr sie im Plauderton fort, während sie Judith in den Hausflur und von dort in eine geräumige Küche führte. »Wir warten schon auf dich. Das ist Knut, unser Vermieter.«

Ein alter Mann, knorrig wie ein Stück Wurzelholz, erhob sich langsam von seinem Stuhl am Küchentisch. »Bleib doch sitzen«, bat Judith, als sie sah, wie schwer es ihm fiel. Unbeholfen ging sie auf ihn zu. »Judith Wagner«, stellte sie sich eilig vor.

Er nickte, und sie war sich nicht sicher, ob er sie verstanden hatte.

»Hallo, Judith, du er sent«, sagte er schließlich mit einer Stimme, die so knarzig war wie sein Äußeres.

Judith sah hilflos zu Greta.

»Er sagt, dass du spät bist«, übersetzte sie.

»Ja, tut mir leid, ich … ich bin, nein, ich …« Judith räusperte sich beschämt. »Ich hoffe, das hat deinen Tagesplan jetzt nicht durcheinandergebracht.«

Der Alte schüttelte den Kopf. Verstand er sie doch?

»Möchtest du einen Kaffee, hast du schon gefrühstückt?«, fragte Greta, bevor Judith noch etwas bemerken konnte.

»Oh, das ist aber nett, danke«, erwiderte Judith überrascht.

»Dann setz dich – oder nein, du willst bestimmt erst deine Zimmer sehen.« Greta nahm ihre Hand und zog sie in den Flur. »Du wohnst oben. Du hast dort zwei Räume und ein eigenes Bad. Die Küche im Erdgeschoss teilen wir uns.« Judith folgte ihr zögerlich. Was veranlasste Greta, ihr so überschwänglich zu begegnen, als wären sie alte Freunde?

 

Eine weiße Holztreppe führte ins Obergeschoss. Die Zimmer hatten Dachschrägen, die Fenster Erker, alles war in hellen Pastellfarben tapeziert und eingerichtet, es gab eine Sitzecke mit einem Fernseher, einen Arbeitsplatz für ihren Laptop, im Schlafzimmer ein breites Bett und genug Stauraum in weißen Einbauschränken für ihre Sachen. Das Bad war schlicht, aber modern. Aus allen Fenstern ging der Blick aufs Meer. In ihrem Roman hatte hier ein altes Ehepaar gelebt. Sie hatten nicht viel Geld gehabt. Und die Frau hatte immer davon geträumt, die zugigen Räume im ersten Stock zu renovieren. Sie hatte sich hellgelbe Tapeten gewünscht, die die Sonne am Morgen widerspiegeln würden. Ein Zufall?

»Und?«, fragte Greta, die nicht ahnen konnte, was Judith bewegte. »Was meinst du?«

»Es ist schön«, beeilte sie sich zu sagen.

»Freut mich, dass es dir gefällt. Es so zu renovieren, war meine Idee.«

Judith betrachtete Greta nachdenklich. »Wohnst du schon lange hier?«

»Diesen Monat zehn Jahre.« Greta lachte kurz auf und der Ton dieses Lachens erinnerte Judith an etwas, doch der Gedanke entglitt ihr, ohne dass sie ihn greifen konnte. Sie trat ans Fenster. Der Nebel hing noch immer tief über der Bucht, es war kaum etwas zu sehen. Judiths Herz schlug schneller.

»Judith? Alles okay?«

Hastig wandte sie sich um und versuchte zu lächeln, aber es misslang kläglich. »Ja, natürlich, alles gut«, stieß sie atemlos hervor.

Greta zögerte. »Na, dann sieh dich erst mal um«, bemerkte sie schließlich und wandte sich zur Tür. »Ich setze unten schon mal Kaffee auf.«

Lass mich nicht allein, war Judiths einziger Gedanke.

Mit der Ruhe eines Mannes, der genau wusste, was er tat, kontrollierte Rune Kristensen die Ausrüstung an Bord seines Kutters. Natürlich war alles dort, wo es hingehörte. Dafür sorgte er immer sofort nach dem Anlegen. Sobald der Fisch ausgeladen war, reinigte er das Boot und verstaute jedes einzelne Gerät wieder an seinem Platz, sodass er nicht suchen musste, wenn er auf See war, sondern mit sicherem Griff gleich das richtige Werkzeug zur Hand hatte.

Denselben Check wiederholte er noch einmal vor dem Auslaufen, wenn er außer dem Motor auch alle elektronischen Geräte an Bord überprüfte. Die anderen Fischer rissen hin und wieder Witze über seine Kontrollsucht, für Rune war das Abarbeiten dieser persönlichen Liste ein Ritual, das ihm die nötige Sicherheit vermittelte, die er, nur auf sich gestellt, draußen auf dem Meer brauchte.

Im Hinblick auf diese Sicherheit hatte er auch bei der Modernisierung des Kutters nicht allein nur auf einem leistungsstarken Motor und einer guten Kühlung für die Laderäume bestanden, sondern ebenso auf die neueste Ausstattung mit elektronischen Seekarten, Radar, Echolot und Autopilot. Die Technik machte ihn unabhängig und ermöglichte es ihm, auch ohne zweiten Mann rauszufahren. Seine finanziellen Reserven waren dadurch zwar erheblich geschrumpft, aber das hatte er in Kauf genommen, ja beinahe begrüßt. Da er nun gezwungen war, regelmäßig zu arbeiten, erhielt sein Leben eine willkommene Routine.

Rune startete den Motor, und das träge Tuckern des Dieselmotors durchbrach die Stille im kleinen Hafen von Fredvang. Die meisten Boote lagen fest vertäut an der Pier, und auch in den niedrigen roten Holzschuppen, in denen die Fischverarbeitungsfirma untergebracht war, rührte sich nichts. Nur eine grauweiße Katze strich auf ihrer morgendlichen Runde an den Häuserwänden entlang und hinterließ ihre Spur in der noch unberührten Tauschicht.

Rune schob seine graue Wollmütze tiefer in die Stirn, bevor er die Leinen löste. Er sah nicht zurück, während er die Mole hinter sich ließ und auf die schmale Durchfahrt über den Fjord zuhielt, der Fredvang vom Rest der Insel trennte. Dabei lächelte er grimmig, denn die Ironie seines Handelns war ihm sehr wohl bewusst. Dieses nicht Zurückzublicken glich einer Zwangshandlung, war eine Erweiterung seines Kontrollrituals, an die er sich sklavisch hielt. Als könne er sich, wenn er es nur oft genug tat, so von den Schatten seiner Vergangenheit befreien, von den quälenden Erinnerungen an eine Zeit, nach der er sich nur deswegen zurücksehnte, um an einem bestimmten Punkt seines Weges eine andere Entscheidung zu treffen und sich damit eine zweite Chance zu geben.

Er blickte über das ruhige, klare Wasser, das in den Untiefen sogar bei dieser Witterung in hellem Türkis schimmerte. Gleich würde er die Bucht von Ramberg mit ihrem weiten weißen Sandstrand passieren und die ersten Ausläufer der langgezogenen atlantischen Dünung unter sich spüren. Dann würde es ihm besser gehen. Dann würden seine Gedanken nicht mehr kreisen, denn dann gab es nur noch das Meer, das Boot und ihn.

Er hatte der Psychologin, die ihn nach dem Unglück betreut hatte, nicht geglaubt, hatte ihre Warnungen in den Wind geschlagen. Die Diagnose Posttraumatischer Stress war für ihn ebenso eine Modeerscheinung wie Burnout oder Depressive Verstimmung. Eine Erste-Welt-Befindlichkeit.

Er erinnerte sich noch gut an die blonde Ärztin, an ihr schmales Gesicht mit der randlosen Brille. Sie war in seinen Augen zu jung und zu hübsch, um einem Mann wie ihm etwas zu erzählen. Damals war er nicht bereit gewesen, sein Seelenleben vor diesem Mädchen auszubreiten. Ein folgenschwerer Fehler. Kurz darauf hatte sich der Abgrund aufgetan.

Der Kutter begann durch die Dünung zu stampfen. Rune atmete erleichtert auf, denn wie jedes Mal überkam ihn hier auf dem offenen Meer jene Ruhe, die er an Land so verzweifelt vermisste. Hier draußen lösten sich die Fesseln, die seine Seele hielten, spuckte der Abgrund ihn wieder aus. Hier brauchte er keinen Alkohol, um zu vergessen. Hier fand er sogar Schlaf.