Wenn du mich tötest - Karen Winter - E-Book

Wenn du mich tötest E-Book

Karen Winter

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Beschreibung

Nach Kinlochbervie, einem Küstenort in den schottischen Highlands, verirrt sich niemand zufällig. Deswegen sorgt der deutsche Tourist Julian im einzigen Hotel der Gegend durchaus für Aufsehen. Verdreckt, durchnässt und völlig verstört bittet der Backpacker um Hilfe. Seine Frau Laura, mit der er einige Tage am Strand der einsamen Sandwood Bay verbracht hat, ist verschwunden. Die Polizei steht vor einem Rätsel, und bald gerät Julian selbst unter Verdacht. Dann wird südlich der Bay die Leiche einer Frau angespült; nackt und kaum mehr zu identifizieren ...

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Karen Winter

Wenn du mich tötest

Psychothriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Sie lieben sich, und sie hassen sich.Sie sind sich nahe und doch so fern.Sie würden alles füreinander tun und sie würden einander alles antun.

In der einsamen Sandwood Bay an der schottischen Atlantikküste nimmt das Leben von Julian und Laura Tahn eine fatale Wendung. Das Psychogramm einer Ehe: bedingungslose Liebe, unkontrollierte Wut und unwiderrufliche Grenzüberschreitungen.

Inhaltsübersicht

Peter Dunn sah von seinem Bier aufJulian Tahn spürteDie NachrichtAm nächsten MorgenJulian beobachtete nervösJohn Gills strich mit den FingernJulian blickte auf die Herde SchafeHallo JohnPeter Dunn spürteJulian Tahn hob beschwichtigend eine HandBlutUnheil braute sich zusammenEr hätte nicht herkommen sollenResignationJulian starrteAls John Gills den Flur betratPeter Dunn starrte auf das WasserGills hielt inneJulian starrte in die DunkelheitJohn Gills atmete tief durchEin feines LächelnPeter Dunn schreckteJulian blickte an dem Gesicht des Arztes vorbeiJulian Gills starrte auf das FotoSobald Gills das Büro verlassen hatteJulian hatte mit LauraDas MeerJulian Tahns GesichtAls John GillsDie GesichterJulian Tahns GeständnisDer MannPeter sah von seinem Bier aufNachdem John GillsSamantha lag im BettJohn sahJulian starrte auf die PapierePeter Dunn ließ den Besen sinkenJohn Gills stand in der TürEs war ein warmer TagPeter wagte sich nicht aus dem HausSie entdeckte ihnJohn Gills ließ den Telefonhörer sinkenJohn Gills stieg vor dem HausIn dem allmählich heller werdenden LichtJuliaaaan!!!Laura war dankbarMrs. TahnPeter, was ist heute bloß los mit dir?Es regnete in StrömenDanksagungLeseprobe »Was in heller Nacht geschah«
[home]

Peter Dunn sah von seinem Bier auf, als die Tür des Kinlochbervie Hotels aufschwang und ein Schwall kühler, feuchter Luft hereinwehte. Er fragte sich, wer wohl kommen mochte, denn ihre Runde war vollzählig bis auf seinen Freund Henry, den Busfahrer, der mit seiner Frau nach Glasgow gefahren war, um seinen Sohn zu besuchen. Peter reckte sich auf seinem Platz im Pub des in die Jahre gekommenen Hotels, und betrachtete aufmerksam den Fremden, der durchnässt und verdreckt in der Tür stand, seinen Trekkingrucksack noch auf dem Rücken. Als er ihn erkannte, ließ er überrascht sein Bierglas sinken.

Emma schob ihre füllige Gestalt hinter dem Tresen hervor, als sie den neuen Gast bemerkte. »Guten Abend, Sir, kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und trocknete sich die Hände an dem Tuch an ihrem Gürtel ab.

»Ich … ich brauche ein Zimmer«, entgegnete der deutsche Tourist zögerlich und wischte sich das vom Regen feuchte, dunkle Haar aus der Stirn. Seine Stimme klang heiser. »Haben Sie noch eins frei?«

»Einzel oder Doppel?«

»Einzel.«

Peter runzelte die Stirn.

»Was ist los, Peter?« Angus, der neben ihm saß, stieß ihn an, und Peter stieg penetranter Fischgeruch in die Nase. Angus entlud seit fünfundvierzig Jahren die Fangschiffe, die im Hafen anlandeten, und der Geruch haftete an ihm wie eine zweite Haut, obwohl er vor seinem Besuch im Hotel stets duschte und seine Kleidung wechselte. Darauf bestand Emma. Niemand betrat mit Gummistiefeln ihr Hotel. Auch nicht der Minister, der vor Jahren einmal zu Gast gewesen war, nachdem er die neuen Hafenanlagen eingeweiht hatte. Auch jetzt konnte Peter beobachten, wie Emmas Augenbraue langsam nach oben wanderte, als ihr Blick über die Spuren glitt, die die schmutzigen Schuhe des Neuankömmlings auf dem dunklen Steinboden hinterließen.

Peter wandte sich zu Angus. »Ich hab den Mann vor vier Tagen auf meinem Boot mitgenommen, raus vor die Küste.«

»Und?«

»Ihn und seine Frau.«

»Und?«

»Hast du nicht gehört, dass er nach einem Einzelzimmer gefragt hat?«

Angus zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Vielleicht hatte sie die Schnauze voll.«

Peter trank einen großen Schluck von seinem Bier. Es war nicht sein erstes an diesem Abend. »Sie hatten Streit auf meinem Boot.«

»Sag ich doch. Sie hatte die Schnauze voll.« Angus lachte heiser.

Aber so leicht konnte Peter das nicht abtun. »Ich hab gedacht, die beiden bringen sich um.« Er räusperte sich. »Und mich gleich dazu.«

»Du hast zu viel getrunken, Peter«, mischte sich Mac ein, der zwei Plätze weiter saß und bislang schweigend zugehört hatte. »Siehst du schon wieder Gespenster?«

Peter presste die Lippen aufeinander und stellte sein Glas hart auf dem abgewetzten Holz ab. Mac war schon immer ein Großmaul gewesen, bereits in der Schule. Nur weil sein Vater Bürgermeister war. Und heute meinte er, dass die kleine Klempnerfirma, die er unterhielt, ihm das Recht gab, sich aufzuführen, als gehöre ihm das ganze Dorf.

»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, raunzte er ihn an, aber Mac lachte nur.

Natürlich hatte Peter zu viel getrunken. Aber das tat er jeden Abend, solange sein Geld reichte. Deshalb hatte Fionna ihn auch vor zwei Monaten endgültig vor die Tür gesetzt. Seither campierte er in dem kleinen Anbau seines Bootsschuppens unten im Hafen. In den nächsten Wochen musste er sich mit Fionna vertragen, damit er zurückkonnte, oder eine Heizung in den Anbau einbauen, aber dafür fehlte ihm das Geld.

Der Deutsche, über den sie gesprochen hatten, stand noch immer in Hörweite und wartete, dass Emma ihm einen Zimmerschlüssel aushändigte, aber Peter nahm nicht an, dass er auch nur ein Wort von dem, was sie gerade gesagt hatten, verstanden hatte. Wenn die Männer von der Küste unter sich waren, verfielen sie intuitiv in ihren Dialekt, und Peter war noch keinem Fremden begegnet, der sie mühelos verstand. Selbst die Engländer hatten ihre Probleme.

Angus betrachtete den Deutschen nun neugierig. »Worüber haben sie denn gestritten?«, wollte er mit einem schnellen Seitenblick auf Peter wissen.

Peter zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Spreche ich Deutsch?« Für einen Moment war er wieder an Bord des Fischerbootes seines Schwiegervaters, das er vor Jahren schon umgebaut hatte, nachdem der alte Mann gestorben war und es im Hafen zu verrotten drohte. Seitdem fuhr Peter damit hin und wieder mit Touristen hinaus, zeigte ihnen die flache Felsgruppe, die die Seehunde bewohnten, und die Höhlen der Papageientaucher an der Küste. Manchmal hatten sie Glück und bekamen ein paar von den kleineren Walen zu Gesicht.

Als er mit dem Ehepaar draußen gewesen war, hatten sie gutes Wetter gehabt. Es war warm gewesen, kaum Wind, und die Sonne hatte die Wellen zum Glitzern gebracht. Die Fahrt hatte ihm Freude bereitet. Er hatte den beiden die Kolonie der Papageientaucher gezeigt, und sie hatten viele Fotos gemacht. Doch dann war ein heftiger Streit zwischen ihnen entbrannt. »Sie haben sich angeschrien«, ergänzte er auf Angus’ Frage hin. »Und sie hat ihn …« Seine Stimme versagte angesichts der Erinnerung, die plötzlich so lebendig war, dass er meinte, die vor Wut blitzenden Augen der Frau vor sich zu sehen.

»Sie hat ihn … was?«, hakte Angus nach und maß abschätzend die hochgewachsene, sportliche Gestalt des Fremden. Dann wandte er sich wieder Peter zu.

Peter wich seinem Blick aus. »Ach, nichts«, entgegnete er lediglich und griff nach seinem Glas, während er versuchte, die Bilder zu verdrängen, die noch immer vor seinem inneren Auge tobten. Zum Teufel, er hatte Angst um sein Leben gehabt mit diesen beiden Irren auf seinem Boot.

»Deine Geschichten waren auch schon mal besser«, mischte sich Mac erneut polternd ein.

»Mag sein«, gab Peter einsilbig zu und registrierte, wie der Mann, über den sie sprachen, nun die Eingangshalle durchquerte und den langen Flur betrat, von dem die Gästezimmer abgingen, während Emma zurück in den Schankraum kam und wieder ihren Platz hinter dem Tresen einnahm. Peter leerte sein Bier und bestellte mit einem Wink ein neues. Doch die Erinnerung an den beunruhigenden Streit ließ ihn nicht los, und das Bier schmeckte schal. Er wurde nicht gern Zeuge solcher Ausbrüche. Sie machten ihn nervös. Fionna meinte, das hätte mit den Erlebnissen in seiner Kindheit zu tun. Deswegen würde er auch zu viel trinken und sollte einen Therapeuten besuchen. Seit sie am Computer ihrer Schwester so oft ins Internet ging, hatte sie viele solcher Ideen. Er mochte das nicht.

 

Der Deutsche kehrte nach kurzer Zeit in den Schankraum zurück. Die Gespräche verstummten, als er in der Tür auftauchte, in die Runde nickte und dann an den Tresen trat und ein Bier bestellte, das er in einem Zug leerte. Emma füllte es kommentarlos auf. Mit dem Glas in der Hand trat er an eines der großen Panoramafenster und blickte hinaus über die im Dunst liegenden Felsen der Steilküste und die Brandung. Peter betrachtete den Rücken des Mannes, das dunkle, lockige Haar seines Hinterkopfes, und mit einem Mal erinnerte er sich an seinen Namen: Julian.

[home]

Julian Tahn spürte, wie ihm der Alkohol zu Kopf stieg und sein Hirn benebelte. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, daher würden zwei weitere Gläser des dünnen Biers genügen, ihn in eine warme, weiche Welt des Vergessens gleiten zu lassen.

Es war nicht seine Art, sich zu betrinken, tatsächlich vertrug er nichts, weshalb er auf Partys immer einer der Ersten war, der nach dem Begrüßungsgetränk nach einer Cola fragte. Deswegen war meistens auch er derjenige, der fuhr. Laura kannte diese Zurückhaltung nicht. Sie trank gern und oft auch zu viel, war dann überdreht und albern, bis sie schließlich im Auto saß und durch das Absacken des Adrenalinspiegels sofort einschlief.

Während er auf die schäumenden Wogen des Atlantischen Ozeans blickte, der weit unter ihm gegen die Felsen der schottischen Küste anbrandete, dachte er an ihre erste Begegnung, die sich genauso abgespielt hatte. Auf einer Premierenveranstaltung waren sie buchstäblich ineinandergelaufen, und sie hatte ihm ihren Sekt über den Anzug gekippt. Anstatt sich zu entschuldigen, hatte sie lediglich gekichert und war dann in seinen Arm gesunken. Er war zu überrascht gewesen, um wütend zu reagieren, denn sie hatte, obwohl sie ziemlich betrunken gewesen war, unbeschreiblich gut ausgesehen. Ihre unerwartete Hilflosigkeit hatte ihn herausgefordert. Er erinnerte sich, dass er sie entgegen dem Rat seines besten Freundes nicht in ein Taxi gesetzt, sondern nach Hause gefahren hatte, nachdem er in ihrer Handtasche ihren Personalausweis mit ihrer Adresse gefunden hatte. Er schluckte unwillkürlich. Dreieinhalb Jahre waren seither vergangen, dennoch stand ihm ausgerechnet jetzt jedes Detail jenes Abends so lebhaft vor Augen, als wäre es gestern gewesen.

Seine Finger schlossen sich fester um das Bierglas in seiner Hand, und er bemühte sich, das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, zu ignorieren. Natürlich zog er als Fremder in diesem gottverlassenen Ort die Blicke aller Anwesenden auf sich, denn nach Kinlochbervie verirrte sich nur selten jemand zufällig. Wer die A383 nach Durness im äußersten Nordwesten Schottlands bei Rhiconich verließ und der kurvigen Straße entlang des Loch Inchard bis zur Küste folgte, lebte entweder hier oder arbeitete in der Fischindustrie, das hatte Julian während seines kurzen Aufenthalts bereits erfahren. Und dass die Männer am Tresen über ihn gesprochen hatten in ihrem völlig unverständlichen Dialekt, war ihm sofort klargeworden, als er den Raum betreten und mitten unter ihnen den Mann bemerkt hatte, der ihn und Laura vor ein paar Tagen mit dem Boot hinausgefahren hatte. Sicher hatte er von dem Streit erzählt. Julian schloss die Augen. Hatte er ihnen auch von dem Messer erzählt? Er widerstand dem Drang, sich nach ihnen umzudrehen und in ihren Gesichtern danach zu forschen, als er sich an das bestürzte Gesicht des Skippers erinnerte, an seine fahrigen Bewegungen und seinen ausweichenden Blick. Was hatte sich Laura bloß dabei gedacht? Ohne den Blick vom Meer und den hohen Klippen abzuwenden, setzte Julian das Glas an und leerte auch das zweite Bier in einem Zug.

Laura.

Was wäre es für ein Geschenk, sie einfach vergessen zu können. Die Erinnerung auszuschütten wie Wasser aus einem Krug. Für einen Moment gab er sich diesem Gedanken hin, beruhigte sich, doch unter der Oberfläche brodelte weiter das Entsetzen, das ihn letztlich zurück an diesen Ort getrieben hatte. Und die Wut über seine Hilflosigkeit.

Das Gelächter hinter ihm erinnerte ihn, warum er hier in diesem Hotel war. Er musste handeln. Jetzt. Er hätte es längst tun müssen.

Die lauten Stimmen der Männer füllten den Raum, das Klirren der Gläser. Er sehnte sich so sehr nach der Normalität und Sicherheit, die diese Geräusche vermittelten, nach ihrer Einfachheit, von der er sich Lichtjahre entfernt fühlte, so dass sein Körper sich schmerzhaft verkrampfte.

Er durfte sich nicht von seinen Emotionen leiten lassen, nicht dem Gefühl der Hilflosigkeit hingeben, das seine Gedanken zu lähmen drohte. Es gab eine plausible Erklärung für alles, was geschehen war, und er hielt die Fäden in der Hand. Er war der Situation nicht ohnmächtig ausgeliefert.

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als er spürte, dass es unmöglich war, sich die Ereignisse der vergangenen Tage konkret ins Gedächtnis zu rufen, denn der Alkohol zeigte bereits seine Wirkung. Bilder und Wortfetzen, Gedanken und vor allem Emotionen flossen ineinander. Was war Realität, was Einbildung? Konnte er unter diesen Bedingungen sein Vorhaben überhaupt ausführen? Seine Füße waren schwer wie Blei, als er durch den spärlich beleuchteten Raum zurück zum Tresen ging. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren.

»Noch ein Pint?«, fragte die matronenhafte Wirtin, die sicher so manchen ihrer männlichen Gäste zum Träumen brachte, mit ihrem ausladenden Busen und den wiegenden Hüften.

»Danke, Ma’m«, lehnte er höflich ab. »Können Sie mir sagen, wo die nächste Polizeidienststelle ist?«

Schweigen breitete sich im Pub aus, und aus dem Blick der Wirtin wich die herbe Freundlichkeit, und Unbehagen machte sich breit. »In Rhiconich«, antwortete sie dann jedoch in die Stille.

»Können Sie mir die Telefonnummer geben?«

Sie nickte und ging hinaus an die Rezeption in der kleinen Eingangshalle. Julian folgte ihr.

Sie blätterte in einem abgegriffenen Telefonbuch, reichte es ihm schließlich aufgeschlagen hinüber und wies auf das Telefon, das neben ihm auf dem schlichten weißen Tisch stand. »Ist schon spät, aber mit ein bisschen Glück ist der diensthabende Officer noch da.« Sie räusperte sich. »Wenn nicht, müssen Sie es bei ihm privat versuchen.« Sie kritzelte ihm eine weitere Nummer auf die Seite.

Julian erwartete, dass sie wieder in den Pub zurückkehren würde, aber sie blieb mit verschränkten Armen stehen und betrachtete ihn mit jener Neugier, wie sie Menschen in solch entlegenen Gegenden der Welt zu eigen ist. Zögerlich tippte er die Nummer ein.

Nach zweimaligem Klingeln sprang ein Anrufbeantworter an. Julian wollte gerade auflegen, als er hörte, wie die Ansage unterbrochen wurde.

»Rhiconich, Polizeistation«, meldete sich eine rauhe männliche Stimme.

Julians Mund wurde plötzlich trocken. »Ich möchte eine Vermisstenmeldung aufgeben«, erwiderte er gepresst. »Mein Name ist Julian Tahn. Ich bin …«

»Ich kann das telefonisch nicht aufnehmen. Können Sie auf die Polizeistation kommen?«, unterbrach ihn der Officer am anderen Ende der Leitung.

Nein, das konnte er nicht. Nach Rhiconich waren es vier Meilen. Mit wenigen Worten setzte er dem Polizeibeamten seine Situation auseinander. Einen Moment war es still am anderen Ende der Leitung. »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen«, sagte der Mann dann.

Julian legte langsam den Hörer zurück. Die Uhr über dem Schlüsselbord hinter der Rezeption zeigte achtzehn Uhr. In einer Stunde würde alles, was bislang nur in seinem Kopf tobte, schwarz auf weiß niedergeschrieben und damit offiziell sein. Realität. Er zwang sich, die Beklemmung darüber zu verdrängen und dem Blick der Wirtin zu begegnen. »Kann ich bei Ihnen auch etwas zu essen bekommen?« Er musste essen, selbst wenn ihm bei dem Gedanken übel wurde.

»Wir haben unter der Woche abends keine warme Küche, aber ich kann für Sie eine Ausnahme machen, wenn Sie nehmen, was da ist«, entgegnete sie nach einem Moment des Überlegens, während sie ihn gleichzeitig abschätzend musterte.

»Das ist äußerst entgegenkommend«, bedankte er sich.

Sie antwortete ihm mit einem zurückhaltenden Lächeln.

 

Er stocherte noch in den Spiegeleiern mit Speck herum, als die Tür aufschwang und ein kantig wirkender Mann in Polizeiuniform den Raum betrat. Er wurde mit viel Hallo begrüßt. Als Julian bemerkte, dass sich der Polizist suchend umschaute, schob er seinen Teller beiseite und stand von seinem Platz an einem der Fenster auf.

Der Polizeibeamte nickte und kam durch den Raum auf ihn zu. »Detective Ian Mackay«, stellte er sich vor. »Sie haben angerufen?«

Julian bestätigte das und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand.

Mackay nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Tisch und nahm ihm gegenüber Platz.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Detective«, sagte Julian und hoffte, dass sein Gegenüber nicht bemerkte, wie nervös er war. »Keine Ursache«, erwiderte Mackay und zog aus seiner mitgebrachten Aktentasche eine Mappe heraus. »Auf dem Heimweg komme ich sowieso durch Kinlochbervie. Ich wohne nur zwei Meilen weiter die Küste hoch. Die Meldung kann ich auch von dort an die Zentrale weitergeben.« Er öffnete die Mappe und zog ein Formular heraus, zückte einen Stift aus seiner Brusttasche und sah Julian auffordernd an. »Wenn ich es am Telefon richtig verstanden habe, wollen Sie Ihre Frau als vermisst melden?«

Julian nickte.

»Wollen Sie mir erst einmal erzählen, was geschehen ist? Wo waren Sie zuletzt gemeinsam?«

Julian schluckte, als die Erinnerungen ihn erneut überfluteten. »In der Sandwood Bay«, stieß er mühsam hervor.

Ian Mackay blickte überrascht auf.

[home]

Die Nachricht der als vermisst gemeldeten deutschen Touristin Laura Tahn flatterte Detective Sergeant John Gills noch am selben Abend auf den Schreibtisch. Sein Büro befand sich im modernen Gebäude des Northern Constabulary in Inverness, einem von neun regionalen Hauptquartieren der schottischen Polizei. Mit der Bemerkung: »Das ist doch Ihre Ecke, oder?«, schickte ihm der Chief Inspector die von den Kollegen in Rhiconich aufgenommene Meldung und die ausgefüllten Formulare per Mail.

»Besuchen Sie Ihre Heimat, und finden Sie heraus, was los ist«, fügte er hinzu, als Gills ihn gleich darauf anrief.

Der zögerte. »Kann das nicht die Polizei vor Ort erledigen? Ich meine …«

»Gills, es geht hier nicht um verlorengegangene Schafe, sondern um eine verschwundene Touristin«, fiel ihm sein Vorgesetzter ungehalten ins Wort. »Da müssen wir schnell und kompetent agieren, bevor die Medien Wind davon bekommen.«

Gills verfluchte seine Entscheidung, ausgerechnet an diesem Tag länger im Büro geblieben zu sein. Sicher hätte irgendein Kollege den Fall übernommen, wenn er seinem Chef nicht vor einer Viertelstunde auf dem Flur begegnet wäre. Der Chief Inspector neigte zu spontaner Aufgabenverteilung, vor allem wenn er bis spätabends im Büro saß, um Anfragen des Ministeriums zu bearbeiten.

Er legte auf und ging über den Flur zum Druckerraum, um sich die Formulare zu holen. »Wie kann man jemanden in der Sandwood Bay verlieren?«, murmelte er vor sich hin, während er sie gleich darauf überflog. Dann rief er seinen Freund Liam an, mit dem er in der Altstadt von Inverness in einer Stunde zum Billardspielen in seiner Stammkneipe am Ufer des River Ness verabredet gewesen wäre, und sagte ihr Treffen ab.

»Nicht dein Ernst?«, erwiderte Liam enttäuscht. »Das heißt, dass ich mich heute Abend zu Hause um die Kinder kümmern muss. Das kannst du mir nicht antun!«

Gills lachte. »Grüße an Amy. Der Chief Inspector hat vermutlich nur an sie gedacht, als er mir den Fall aufgehalst hat.«

»Du wirst definitiv heute Abend noch fahren?« Liam wollte die Hoffnung immer noch nicht aufgeben.

»Es bleibt mir nichts anderes übrig«, gestand Gills. »Es sind fast hundert Meilen, und in der Region sind das gut zweieinhalb Stunden Fahrt.«

»Na, wenigstens deine Eltern werden sich freuen.«

Da war Gills sich nicht so sicher. Nach seinem letzten Besuch waren sie im Streit auseinandergegangen, und er war nicht wirklich darauf erpicht, sich bei seinen Eltern einzuquartieren, aber um diese Uhrzeit blieb ihm kaum eine andere Wahl. Halbherzig wählte er im Anschluss an das Gespräch mit Liam ihre Nummer, während er gleichzeitig auf seinem Bildschirm die Verkehrslage für den Nordwesten des Landes abrief.

Sein Vater nahm den Anruf an. »Hab schon gehört, da ist eine Frau verschwunden«, sagte er, als Gills sein Kommen ankündigte.

Der unterdrückte ein Seufzen. »Sprich bitte nicht darüber, Vater«, bat er ihn, die Worte seines Chefs noch im Ohr. Wenn bekannt wurde, dass er als Ermittler aus Inverness anreiste, war das nicht unbedingt förderlich für die Geheimhaltung der Untersuchung.

»Meinst du, die Leute hier können nicht eins und eins zusammenzählen, wenn sie morgen früh dein Auto vor dem Haus sehen?«

»Mag sein«, entgegnete Gills, »dennoch wäre es mir lieber, wenn ihr Stillschweigen bewahrt …«

Sein Vater räusperte sich, und Gills ahnte, was kam.

»Wenn du schon herkommst, solltest du dir auch die Zeit nehmen, Susan zu besuchen«, sagte sein Vater erwartungsgemäß. »Deine Mutter und ich …«

»Das sollten wir nicht am Telefon besprechen«, unterbrach er den alten Mann. »Richte Mutter bitte Grüße aus und leg mir einen Schlüssel raus, falls ihr ins Bett gehen solltet, bevor ich ankomme.«

Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und blickte gedankenverloren auf das Telefon, bevor er schließlich aufstand, die Unterlagen zusammensuchte und aus seinem Schrank seine Reisetasche nahm, die er immer gepackt hatte, falls er unerwartet einen Außentermin erhielt, der eine Übernachtung einschloss. Auf dem Weg zum Parkplatz rief er über sein Mobiltelefon die Privatnummer des Detectives an, der die Vermisstenmeldung vor Ort aufgenommen hatte. Ian Mackay war kein Unbekannter für ihn. Im äußersten Nordwesten Schottlands kannte jeder jeden, und entsprechend herzlich war die Begrüßung.

»Na, John, wenn ich gewusst hätte, dass es nur einer verschwundenen Frau bedarf, um dich mal wieder nach Hause zu locken, hätten wir schon viel früher etwas in dieser Hinsicht arrangiert«, begrüßte ihn Mackay erfreut.

Gills lachte. Obwohl Mackay fünfzehn Jahre älter war als er, verband sie eine enge Freundschaft. Nicht zuletzt war es auch Ians Einfluss gewesen, der dazu geführt hatte, dass Gills sich dem Polizeidienst verschrieben hatte.

»Ich würde morgen gern als Erstes mit dem Ehemann der Frau sprechen und dann zur Bay fahren, um mir vor Ort ein Bild zu machen«, teilte er ihm seine Pläne mit. »Wäre gut, wenn ich ein oder zwei Officer zur Unterstützung bekommen könnte.«

»Ich werde dich begleiten«, erklärte Mackay. »Und vielleicht nehmen wir noch den jungen Brian mit. Soll ich den Ehemann über deinen Besuch informieren?«

»Das wäre gut. Ich werde morgen früh gegen acht Uhr im Hotel sein.«

»Alles klar, ich kümmere mich darum«, versprach Mackay. »Ich rufe gleich mal Emma an und werde sie bitten, die Nachricht weiterzuleiten.«

»Bis morgen«, verabschiedete sich Gills und ließ das Telefon in die Tasche seiner Jacke gleiten.

Inzwischen war er bei seinem Wagen angelangt, einem fast noch fabrikneuen dunkelgrauen Audi A3, den er sich gekauft hatte, nachdem er vor zwei Monaten zum Detective Sergeant befördert worden war. Ursprünglich hatte er mit einem größeren Modell geliebäugelt, aber dann doch lieber in Leistung und Ausstattung anstatt in eine größere Karosserie investiert. Liebevoll fuhr er mit dem Finger über den glänzenden Lack und polierte mit dem Ärmel eine matte Stelle weg, bevor er einstieg.

 

Er fuhr die A9 Richtung Norden. Das Wasser des Cromarty Firth wirkte grau und abweisend, die Wolken hingen tief, und in dem Dunst zeichneten sich schemenhaft die Skelette der Ölplattformen, die hier gewartet wurden, wie hochbeinige Fabelwesen ab. Es war erst August, doch die Tage wurden schon wieder spürbar kürzer, und an diesem trüben Abend erinnerte Gills lediglich das Goldgelb des gepressten Strohs auf den abgemähten Feldern daran, dass der Sommer noch nicht vorüber war.

Sobald er ins Landesinnere abbog, wurden die Ortschaften und der Verkehr merklich weniger, nur noch vereinzelt tauchten die Umrisse eines Gehöfts in der kargen Landschaft auf. Außer kahlen, halb im Nebel verborgenen Bergen, einsamen, weitläufigen Tälern und mit Flechten überwucherten Felsblöcken gab es hier nichts, woran sich das Auge festhalten konnte: Doch Gills atmete bei diesem Anblick befreit auf. Das war seine Heimat. Lange Zeit hatte er sich dagegen gewehrt, hatte nicht wahrhaben wollen, wo er herkam und was ihn geprägt hatte, obwohl ihm die ersten Jahre in Inverness nach seiner Ausbildung am Scottish Police College ziemlich zugesetzt hatten. Von Glasgow ganz zu schweigen, wohin er von seiner Behörde für ein Dreivierteljahr ausgeliehen worden war. Das Leben in der schottischen Metropole hatte Beklemmungen in ihm ausgelöst. Er hatte sich gezwungen, es auszuhalten, obwohl ihm das Häusermeer und die vielen, zu hastig hin und her eilenden Menschen den Atem genommen hatten. Das Gefühl, nirgendwo allein sein zu können, und die ständig präsente Geräuschkulisse der Stadt hatten ihm körperliche Qualen bereitet. Fasziniert hatte ihn hingegen die Weltoffenheit, die er bei den Städtern erlebt hatte, insbesondere bei den vielen Studenten. Je weiter das Land, desto engstirniger seine Bevölkerung, hatte ein guter Bekannter damals spöttisch bemerkt, als Gills das Thema angeschnitten hatte. Dieser Aussage zustimmen zu müssen, hatte ihn damals geschmerzt. Inzwischen gelang ihm der Spagat zwischen Heimatliebe und kritischer Distanz besser, wenn er auch nach wie vor emotional belastet war. Aber davon würde er sich wohl nie lösen können. Ein echter Gills gehört an die Westküste. Unser Blut besteht nun einmal zu einem Teil aus Meerwasser, da brauchen wir den Blick auf den Minch, hatte sein Großvater gerne betont.

 

Als er endlich das nur wenige Meilen nördlich von Kinlochbervie gelegene Blairmore erreichte, war es längst dunkel. Er bog von der schmalen Straße ab in die Sackgasse, in der das Haus seiner Eltern zwischen zwei anderen lag. Die Mauern der alten weißen Cottages blitzten im Scheinwerferlicht auf, und das Erste, was er wahrnahm, als er aus dem Wagen ausstieg, war der salzige Geruch des Meeres und das entfernte Dröhnen der Brandung, das besonders in einer so ruhigen Nacht deutlich zu hören war. Ansonsten lag tiefe Stille über dem Land.

Gills musste sich eingestehen, dass seit seinem letzten Besuch fast ein halbes Jahr vergangen war. Aus Bitterkeit über den Streit mit seinen Eltern hatte er nahezu einen ganzen Sommer verstreichen lassen, ohne auch nur einmal herzukommen, hatte auf die Strände und das Fischen ebenso verzichtet wie auf den Blick über den Minch, der Meeresenge zwischen dem schottischen Festland und der Inselgruppe der Äußeren Hebriden, und jetzt stand er mitten in der Nacht vor seinem Geburtshaus und ärgerte sich darüber. Starrsinn war in seiner Familie eine ausgeprägte Charaktereigenschaft.

 

Feuchte Erde blieb an seinen Fingern kleben, als er unter dem dritten Stein im Beet neben der Eingangstür nach dem Schlüssel tastete. Seit seiner Kindheit lag der Schlüssel dort, und dorthin legte Gills ihn auch zurück, nachdem er aufgeschlossen hatte. Im Haus war es dunkel, aber sobald er eintrat, konnte er hören, wie am anderen Ende des Flurs in der Küche ein Stuhl gerückt wurde. Gleich darauf ging die Tür auf, und die schlanke Silhouette seiner Mutter zeichnete sich im Licht ab, das in den dunklen Gang fiel.

»John«, begrüßte sie ihn zurückhaltend, doch die Freude in ihrer Stimme entging ihm nicht. Sie war immer eine schöne Frau gewesen, und sogar jetzt im Alter besaßen ihre Bewegungen noch eine Grazie, um die sie so manch jüngere Frau beneiden dürfte.

»Hallo Mum«, erwiderte Gills. Unschlüssig blieb er in der Tür stehen.

»Dein Vater schläft schon«, fügte sie hinzu, und im Halbdunkel konnte er das Lächeln, das bei diesen Worten um ihre Mundwinkel zuckte, mehr erahnen als sehen. Behutsam schloss er die Tür hinter sich, machte einen Schritt auf sie zu und zog sie in seine Arme. »Schön, dich zu sehen«, flüsterte er ihr ins Ohr.

[home]

Am nächsten Morgen stand er mit einem Kaffee in der Hand am Fenster des Wohnzimmers. Der Geruch von altem Leder und Büchern umgab ihn, und ganz schwach konnte er auch das Aroma des Pfeifentabaks wahrnehmen, den sich sein Vater in einer eigens für ihn zusammengestellten Mischung noch immer aus London schicken ließ. Obwohl er längst dem Druck seiner Ehefrau nachgegeben und das Rauchen aufgegeben hatte, weshalb oft nur eine kalte Pfeife in seinem Mundwinkel hing, auf deren Mundstück er selbstvergessen herumkaute.

Draußen brach die Sonne durch die letzten verbliebenen Wolken. Gills hörte einen Vogel singen und dann den Hund seines Vaters anschlagen, als Ian Mackay mit dem blau-gelben Landrover der örtlichen Polizei vorfuhr. Er beobachtete, wie sich Ian an die Mütze tippte, als er Gills’ Vater Frank bemerkte, der neben dem Haus auf der kleinen Weide für seine letzten verbliebenen Schafe Wasser in den alten Blechtrog einfüllte. »Schöner Morgen, nicht wahr, Frank«, hörte Gills ihn rufen.

Die Antwort seines Vaters konnte er nicht verstehen, aber Ians spontanem Lachen nach zu urteilen, schien es eine der berühmten launigen Entgegnungen seines alten Herrn zu sein. Gills öffnete die schwere Holztür, bevor Ian klingeln konnte.

»Morgen, John«, begrüßte dieser ihn mit einem Augenzwinkern. Er musste den Kopf einziehen, als er eintrat. »Ich dachte mir, ich stelle sicher, dass du nicht zu spät zu deinem Termin kommst. Wie ich gehört habe, nehmt ihr es in Inverness mit der Pünktlichkeit nicht so genau.«

Gills grinste. »Schön, dich zu sehen, Ian. Willst du noch einen Kaffee?«

»Lieber nicht.« Ian fuhr sich mit der Hand über den Bauch und verzog das Gesicht. »Der letzte von heute Morgen liegt mir noch quer. Anscheinend komme ich allmählich in das Alter, wo ich darauf verzichten sollte.«

Gills leerte seinen Becher, stellte ihn auf dem Garderobenschrank ab und griff nach seiner Jacke. »Na, dann.«

Die kurze Fahrt nach Kinlochbervie führte sie durch die weitläufigen, baumlosen Hügel des Küstengebirges, an deren Hänge sich vereinzelt weiße Cottages schmiegten. Aus ihren Schornsteinen quoll auch jetzt im August Rauch und hinterließ den vagen Geruch von verbranntem Torf in der Luft. Immer wieder öffnete sich der Blick auf die tiefblaue Weite des Atlantiks, der, so empfand es zumindest Gills, eine andere Qualität besaß als die Nordsee im Osten des Landes.

Sie erreichten das Hotel zehn Minuten vor ihrer verabredeten Zeit und trafen Julian Tahn beim Frühstück an. Er wollte aufstehen, um sie zu begrüßen, doch Gills winkte ab. »Keine Umstände, frühstücken Sie in Ruhe zu Ende. Wir sind sowieso zu früh.«

Julian schob seinen Teller mit Toast beiseite. »Wir können gleich anfangen. Ich habe keinen Hunger.«

»Wie Sie meinen.« Gills nahm ihm gegenüber Platz, und sein Blick blieb an den feingliedrigen, braungebrannten Händen des Deutschen hängen, die dieser vor sich auf dem weißen Tischtuch nervös ineinander verschränkte. Wer mit Ende dreißig solche Hände besaß, hatte nie in seinem Leben körperlich hart arbeiten müssen, so viel war klar.

»Detective Sergeant John Gills, Scottish Police«, stellte sich Gills vor. »Wir haben die Ermittlungen im Fall Ihrer vermissten Frau übernommen.«

»Julian Tahn«, entgegnete dieser. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit Ihrer Behörde zu tun haben würde.« Er hatte eine angenehme Stimme und sprach fließend Englisch mit wenig Akzent.

»Damit rechnen die wenigsten«, entgegnete Gills und betrachtete den schlanken, dunkelhaarigen Mann, der nur wenige Jahre älter war als er selbst, nachdenklich. Seine teure, aber äußerst effiziente Funktionskleidung ließ darauf schließen, dass Outdoor-Urlaube für ihn die Regel und nicht die Ausnahme waren. »Ich nehme an, dass Sie seit gestern Abend nichts von Ihrer Frau gehört haben«, bemerkte Gills.

Julian Tahn schüttelte resigniert den Kopf.

»Ist so etwas schon einmal vorgekommen?«

»Was? Sie meinen, dass meine Frau plötzlich verschwindet?«, erwiderte Julian angespannt. »Nein, natürlich nicht. Hätte ich mich sonst an die Polizei gewandt?«

Gills ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Natürlich war Julian Tahn nervös. Er dürfte kaum geschlafen haben, wenn Gills die Schatten unter seinen Augen richtig deutete. Er überflog noch einmal das Protokoll, das Ian Mackay zur Aufnahme der Vermisstenmeldung geschrieben hatte. »Es ist richtig, dass Sie zusammen mit Ihrer Frau drei Nächte in der Bay verbracht haben?«

Julian nickte. »Wir wollten sogar noch länger bleiben.«

Gills zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Das ist ungewöhnlich. Die meisten verbringen höchstens eine, maximal zwei Nächte dort. Allein schon wegen des Proviants, den man für die Zeit tragen muss.«

»Es war der Höhepunkt unseres Urlaubs, und wir wollten das schöne Wetter ausnutzen.«

»Das dann doch umgeschlagen ist«, warf Mackay ein.

»Darauf waren wir vorbereitet«, erwiderte Julian. »Das Wetter war auch nicht das Wesentliche für uns.«

Vermutlich nicht. Wer eine Wanderung zur Sandwood Bay auf sich nahm und ein Zelt, Schlafsäcke und Proviant für mehrere Tage an diesen verlassenen Küstenstreifen mitschleppte, der ließ sich vom wechselhaften Wetter Schottlands nicht abschrecken.

»Können Sie mir noch einmal genau schildern, was vorgestern Morgen, zu dem Zeitpunkt, als Ihre Frau verschwunden ist, geschehen ist?«

Julian sah irritiert von Gills zu Mackay und wieder zurück. »Ich habe das bereits Ihrem Kollegen erzählt, und soweit ich weiß, hat er das auch alles im Protokoll festgehalten«, entgegnete er für Gills’ Empfinden eine Spur zu ungehalten.

»Das ist richtig«, versicherte dieser ihm, »aber ich möchte es noch einmal von Ihnen hören.«

Julian zog sich die Teekanne heran, schenkte sich nach und nippte an dem heißen Getränk. »Laura und ich sind, nachdem es hell war, recht früh aufgestanden, so gegen sechs Uhr dreißig. Wir hatten eine Wanderung nach Cape Wrath geplant«, begann er dann. »Laura zog sich an, um am nördlichen Ende der Bucht am Loch Sandwood Wasser zu holen. Von unserem Zelt aus brauchte sie dafür etwa eine Dreiviertelstunde hin und zurück.« Während er sprach, vermied er es, die beiden Polizisten anzusehen. Stattdessen blickte er an ihnen vorbei durch die Fenster auf den Atlantik, auf dem sich die Morgensonne brach. »Als sie nicht gleich wieder kam, habe ich mir zunächst keine Gedanken gemacht. Sie lässt sich gern ein wenig Zeit, um sich etwas anzusehen oder einen Ausblick zu genießen, aber als sie nach anderthalb Stunden immer noch nicht zurück war, bin ich nervös geworden.«

»Sie wusste, dass sie diese Wanderung machen wollten«, warf Gills ein.

Julian nickte mit zusammengepressten Lippen. Gills registrierte ein verärgertes Aufblitzen in den Augen seines Gegenübers und fragte sich, ob sich Julian Tahns versteckte Aggression wirklich nur auf die erneute Befragung bezog. »Was haben Sie dann unternommen?«

»Ich bin ihr nachgegangen, um zu sehen, ob ihr etwas passiert ist.«

»Wussten Sie, welchen Weg sie genommen hatte?«

»Sie war durch die Dünen gegangen. Ich konnte ihre Fußspuren verfolgen.«

»Waren Sie an diesem Morgen allein in der Bay?«

»Soweit ich das sehen konnte, ja.«

»Und als Sie dann am Loch Sandwood ankamen, war Ihre Frau nirgendwo zu entdecken.«

»Richtig. Ich habe nur unsere Wasserflaschen am Rand des Sees zwischen den Steinen gefunden, aber von ihr keine Spur.«

»Sie haben Sergeant Mackay erzählt, sie hätten daraufhin den ganzen Tag vergeblich nach ihr gesucht und wären auch die folgende Nacht noch in der Bay geblieben, in der Hoffnung, dass Ihre Frau zum Zelt zurückkommen würde.«

»Das stimmt.«

»Warum haben Sie geglaubt, dass sie zurückkehren könnte? Sie ist doch während des gesamten Tages nicht wieder aufgetaucht.«

Julian Tahn antwortete nicht sofort. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Im Nachhinein betrachtet, wäre es vermutlich besser gewesen, gleich die Polizei zu informieren.«

Gills betrachtete ihn nachdenklich. »Es sei denn, Sie hatten einen guten Grund, damit zu rechnen, dass Ihre Frau zurückkommt.«

Julian fuhr auf. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, vielleicht hatten Sie Streit miteinander?«

»Hatten wir nicht.«

Die Antwort kam zu schnell, aber Gills ging nicht weiter darauf ein. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. »Neigt Ihre Frau zu Depressionen, ich meine, besteht die Gefahr, dass sie sich etwas antut oder angetan hat?«, fragte er stattdessen.

»Laura?« Julian schüttelte energisch den Kopf. »Nicht Laura. Sie würde sich nicht umbringen, nein!«

Gills machte sich eine Notiz. »Sie haben einen Teil Ihrer Ausrüstung in der Bay zurückgelassen?«, fuhr er fort.

»Das Zelt, Lauras Schlafsack und ein wenig Proviant«, bestätigte Julian, während seine Finger auf den Rand seiner Tasse klopften, die er noch immer in der Hand hielt.

John schob seine Unterlagen zusammen. »Wir werden uns jetzt vor Ort ein Bild machen«, sagte er abschließend. »Erreichen wir Sie später noch hier im Hotel?«

»Ich werde Sie begleiten.«

»Tut mir leid, Sir, das ist nicht möglich.«

Das war eine glatte Lüge, und Gills spürte, dass seine Worte Ian Mackay noch mehr überraschten als Julian, aber er wollte in der Bay ungestört seine Eindrücke sammeln, unbeeinflusst von der Darstellung des Deutschen.

Julians Unmut über Gills’ Zurückweisung war nicht zu übersehen. »Ich weiß noch nicht, wo ich sein werde«, entgegnete er knapp. »Aber ich habe Ihrem Kollegen bereits meine Mobilnummer gegeben, so dass Sie mich erreichen können.« Er wandte sich an Mackay. »Ist das Foto meiner Frau, das ich Ihnen per Mail geschickt habe, angekommen?«

Mackay antwortete: »Es ist zusammen mit der Vermisstenmeldung landesweit an alle Polizeidienststellen gegangen.«

 

»Warum wolltest du nicht, dass er uns begleitet?«, fragte Ian Mackay, als sie wenig später in seinen Dienstwagen stiegen. Sein Tonfall verriet, dass ihn Gills’ vorschnelle Ablehnung ärgerte.

»Wenn du mich fragst, muss etwas vorgefallen sein, das er uns verschweigt. Vielleicht finden wir in der Bay Hinweise darauf«, entgegnete Gills und fasste sich an den Hemdkragen, um seine Krawatte geradezuziehen. Doch seine Finger griffen ins Leere, denn hier draußen trug er weder Anzug noch Krawatte.

In diesem Moment kam ein rotgesichtiger junger Mann in Uniform auf einem Fahrrad auf den Parkplatz gefahren. Er schwitzte vor Anstrengung.

»Ah, Brian«, begrüßte Mackay ihn. »Gerade noch rechtzeitig.«

»Mein Auto ist nicht angesprungen«, keuchte Brian, lehnte das Fahrrad an die mit Moos und Flechten bedeckte Hauswand, nahm seine Dienstmütze ab und fuhr sich durch das kurzgeschorene rote Haar. »Und außerdem habe ich Peter unten im Hafen getroffen. Habt ihr schon mit ihm gesprochen?«

Mackay seufzte allein bei der bloßen Erwähnung von Peters Namen.

Gills blickte an den beiden vorbei den Hügel hinunter zum Hafen. Vom Parkplatz des Hotels aus hatte man über eine steil abfallende Schafsweide eine hervorragende Sicht auf den Pier und die Kühlhäuser. Das Schreien der Möwen, die das Entladen jedes Schiffes begleiteten, war bis hier oben zu hören. Er kniff die Augen zusammen und fragte sich, ob der Mann mit den gelben Gummistiefeln, der am Hafenbecken stand und zu ihnen schaute, Peter war.

»Was hatte Peter denn zu erzählen?«, fragte er Brian, ohne den Mann im Hafen aus den Augen zu lassen.

»Er hat mir von einem Streit erzählt, den der Deutsche und seine verschwundene Frau vor ein paar Tagen auf seinem Boot hatten. Es muss hoch hergegangen sein.«

Mackay zog ein zweifelndes Gesicht. »Du kennst Peters Hang zu Übertreibungen«, wiegelte er ab, doch Gills sah bei Brians Bemerkung unwillkürlich zu den Fenstern des Hotels, hinter denen der Schankraum lag. Schemenhaft konnte er die Gestalt von Julian Tahn erkennen. Der Deutsche beobachtete sie.

Gills zögerte, als Mackay Anstalten machte, aufzubrechen. »Wir dürfen das nicht ignorieren«, widersprach er. »Zu diesem Streit sollten wir Peter genauer befragen und danach gegebenenfalls auch noch mal Julian Tahn.«

»Jetzt sofort?« Mackay war alles andere als begeistert. Er und Peter Dunn waren keine Freunde, und dem alten Trinker ein Forum zu bieten, widerstrebte Ian zutiefst, das war Gills klar.

»Ich denke, wenn wir zurückkommen, werde ich Peter allein aufsuchen«, entschied er deshalb und öffnete die Beifahrertür, um einzusteigen. »Es ist nicht nötig, dass wir zu dritt hinfahren.«

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Julian beobachtete nervös, wie die drei Beamten in den Polizeiwagen stiegen und davonfuhren. Was konnte er jetzt tun, außer warten? Die nächstgelegene Autovermietung war einhundert Meilen entfernt in Inverness, und ohne eigenes Fahrzeug hatte er keine Möglichkeit, selbst etwas zu unternehmen. Der nächste Bus in diese Richtung fuhr erst wieder am kommenden Tag. Ihm waren buchstäblich die Hände gebunden.

Er sollte beruhigt darüber sein, dass sich die Polizei Lauras Verschwinden mit dieser geradezu unheimlichen Ernsthaftigkeit annahm, doch das Gegenteil war der Fall. Nun gab es kein Zurück mehr. Lauras Name stand auf einem Formular zusammen mit seiner Aussage über die Ereignisse der letzten Tage. Zusammen mit einem Foto von ihr, das er am Strand der Sandwood Bay mit seinem Handy gemacht hatte. Ein Schnappschuss. Seiner Meinung nach sah sie darauf am besten aus, weil sie sich nicht in Pose stellte und nicht ihr Fotolächeln aufgesetzt hatte. Sie hatte dieses Lächeln vor dem Spiegel einstudiert, und er hatte sie oft damit aufgezogen.

Die Erinnerung schmerzte. Aber das war nicht das einzige Gefühl, das ihn bewegte. Wie so oft war der Gedanke an sie eine Gratwanderung zwischen Kummer und Wut.

Während seiner Nacht allein in der Bay hatte er sich immer wieder aufs Neue ausgemalt, wie es wäre, wenn sie plötzlich zurückkehrte. Sie war nie gern allein gewesen draußen in der Dunkelheit. Bis weit nach Mitternacht hatte er vor dem Zelt gesessen und sich seinen Phantasien hingegeben, in denen sie unverhofft auftauchte mit ihren typischen langen, schwingenden Schritten, sich herausfordernd vor ihm aufbaute und fragte, wie es sich denn so anfühle ohne sie. Ob es das wirklich sei, was er wollte?

Aber sie würde nicht zurückkommen. Diesmal nicht. Und vermutlich war es gut so. Die Ambivalenz seiner Gefühle erschreckte ihn, dieses ewige Hin und Her zwischen Niedergeschlagenheit und Erleichterung. Das Ende ihrer Ehe war letztlich unvermeidlich gewesen, auch wenn er sich wie ein Ertrinkender an die Versprechen geklammert hatte, die sie sich gegenseitig gegeben hatten. An die Hoffnung, die sie beinhaltet hatten.

Ruhe- und schlaflos hatte er im Zelt gelegen, hatte auf das Rauschen der Wellen gelauscht, das mit steigender Flut immer näher zu kommen schien, und auf das Flattern der Plane im auflebenden Wind. Er hatte sein Gesicht vergraben in einem von Lauras zuletzt getragenen T-Shirts, ihr Geruch hatte ihn eingehüllt, ihn beruhigt, und gleichzeitig die Leere ins Grenzenlose gesteigert, die ihr Verlust in ihm ausgelöst hatte.

Er hatte dem Detective aus Inverness nichts von ihrem Streit erzählt.

Die Polizei würde auch so herausfinden, was in den letzten Tagen geschehen war, und entsprechende Schlüsse ziehen.

Und dann würde alles wieder von vorne beginnen.

Er ließ den Kopf gegen das kalte Glas des Fensters sinken und versuchte, der aufkommenden Panik Herr zu werden. Laura hätte gelacht, wenn sie wüsste, dass er sie bei der Polizei als vermisst gemeldet hatte. Sie hätte es für einen wunderbaren Spaß gehalten.

Dieses unberechenbare und exzentrische Verhalten hatte ihn zu Beginn ihrer Beziehung fasziniert, es hatte ihn provoziert und eine Anziehung auf ihn ausgeübt, wie Licht auf einen taumelnden Falter. Laura war nicht beherrschbar gewesen, ihr Verhalten nicht vorhersehbar. Dennoch hatte er gemeint, dieser Herausforderung gewachsen zu sein. Wenn er jetzt daran zurückdachte, fühlte er sich wie ein Narr. Er musste sich fragen, ob er in all der Zeit nicht nur ihr Leben gelebt, ihre Wünsche erfüllt und ihre Launen ertragen hatte. Die Erinnerung verdrängte für den Moment die Trauer, und er klammerte sich daran fest. Es war gut, dass es vorbei war, auch wenn es nur so weit gekommen war, weil er von neuem die Beherrschung verloren hatte.

Jener Tag, an dem es zum ersten Mal geschehen war, hatte ihre Beziehung unwiderruflich verändert. Hatte alles verändert. Er hatte es damals nicht wahrhaben wollen, hatte gehofft, sie hätte seine Entschuldigung akzeptiert, seine Erklärungsversuche ernst genommen. Erst jetzt, vier Monate später, hatte er das Entsetzen in ihren weit aufgerissenen Augen und ihr tagelanges Schweigen verstanden. Wie hatte er nur so naiv sein können. So vertrauensselig.

Ihr Streit auf dem Boot wäre beinahe ebenso eskaliert. Er fragte sich, ob die Polizisten davon wussten. Der alte Skipper hatte sicher kein Wort ihres Disputs verstanden und vielleicht gerade deshalb falsche Schlüsse gezogen. Julian erinnerte sich an den entgeisterten Blick des Mannes, als er das Messer in Lauras Hand gesehen hatte.

Nach den aufreibenden Erlebnissen von Ullapool nur wenige Tage zuvor war es bereits der nächste Zwischenfall gewesen. Dabei hatte der Tag so harmonisch begonnen. Die Sonne hatte sie früh geweckt und das Innere des Zeltes erwärmt, und sie hatten richtig guten Sex gehabt. Laura war weich und anschmiegsam gewesen und hinterher dicht neben ihm wieder eingeschlafen, während er sich ganz dem Moment hingegeben und durch die Zeltöffnung das Meer beobachtet und auf ihren ruhigen Atem gelauscht hatte. Später war er zum Strand hinuntergeklettert, um zu schwimmen, obwohl das Wasser viel zu kalt gewesen war. Laura hatte Fotos gemacht und die Erlebnisse des Vortags aufgeschrieben, wie sie es jeden Morgen machte – sie dokumentierte die gesamte Reise und teilte die Highlights mit ihrer Fangemeinde im Netz, sobald sie irgendwo einen Internetzugang erwischte. Zu Beginn ihrer Freundschaft war er eifersüchtig gewesen auf diese Aktivitäten und konnte nur schwer begreifen, wie sie ihr Privatleben so in der Öffentlichkeit ausbreiten konnte. Er weigerte sich, daran teilzunehmen. Gemeinsame Fotos gab es nur von öffentlichen Veranstaltungen, an denen sie teilgenommen hatten. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, dass sie ständig ihr Mobiltelefon benutzte, sich dauernd austauschte oder in seinen Augen unbedeutende Statusmeldungen twitterte, wo auch immer sie war. Er verstand, dass ihr Job in der PR-Abteilung eines großen Social-Media-Unternehmens das mit sich brachte, und letztlich hatte ihr privates Engagement sie zu einer durchaus bekannten Bloggerin gemacht, was ihn zunächst auch mit Stolz erfüllt hatte. Ihre kritischen Stellungnahmen zum aktuellen politischen Geschehen im Land hatten ihr auch die eine oder andere Einladung zu einer Talkshow beschert, die sie jedoch ausgeschlagen hatte. »Ich werde mich nicht wie ein Gladiator in den Ring begeben«, hatte sie getwittert und auf ihrer Facebook-Seite gepostet und war stolz auf die unzähligen Likes gewesen, die sie dafür erhalten hatte. Julian, der im Grunde ein sehr unpolitischer Mensch war, konnte ihre Einstellung nur schwer nachvollziehen. »Aus dem Off kritisieren, sich aber selbst nicht aktiv der Kritik stellen«, hatte er dagegengehalten und damit einen nicht unerheblichen Streit provoziert. Laura warf ihm schon länger eine durch seinen Vater negativ geprägte Haltung vor, die sich gegen alles richtete, was sich frei verfügbar journalistisch im Netz tummle. Und vielleicht hatte sie recht. Matthias Tahn war einer der bekanntesten politischen Journalisten des Landes, der nach langen Jahren als Auslandskorrespondent und Berichterstatter aus Krisen- und Kriegsgebieten inzwischen für eine überregionale Tageszeitung schrieb. Seine Meinung zu Lauras Aktivitäten war nicht die beste und der Begriff »unseriös« noch der harmloseste, den er verwendete, wenn er sich dazu äußerte.

Julian wollte mit alldem nichts zu tun haben. Und bislang war es ihm gelungen, nicht zwischen die Fronten seines streitbaren Vaters und seiner exaltierten Frau zu geraten.

Sein Vater.

Zu Hause.

Der Schweiß brach ihm aus, als ihm plötzlich klarwurde, dass er niemanden außer der schottischen Polizei über seine prekäre Situation informiert hatte. Er dachte an Lauras Eltern. Ihre Geschwister. Waren sie nicht die Ersten, die ein Recht besaßen, davon zu erfahren? Ihre Bindungen zu ihrer Familie in Leipzig waren eng, obwohl sie schon seit vielen Jahren in München lebte. Er tastete nach seinem Mobiltelefon in seiner Hosentasche, zog es heraus und wog es dann aber doch nur in seiner Hand. Was konnte er erzählen?

Er konnte nicht einfach sagen: »Laura ist verschwunden, und ich habe sie bei der Polizei als vermisst gemeldet.« Ihre Familie würde Fragen stellen – unangenehme Fragen. Aber sie würden nicht glauben, was er ihnen erzählte. Ebenso wenig wie die schottische Polizei. Niemand würde ihm glauben, was tatsächlich geschehen war. Er schloss die Augen und drückte die Stirn fester gegen das kalte Glas. Und mit einem Mal war es, als erlebte er ein Déjà-vu, alles war wieder präsent, er beobachtete erneut, wie sich Unglaube in einem vertrauten Gesicht ausbreitete, Finger sich kraftlos lösten. Der Schweiß brach ihm aus. Er war in einem Alptraum gefangen, aus dem es kein Erwachen gab. Was sollte er nur tun? Was konnte er noch tun?

»Sir, ist Ihnen nicht gut?«

Julian schluckte. Der Duft von frischgebackenem Kuchen streifte ihn. Langsam drehte er sich um.

Die Wirtin stand hinter ihm, die Hände in ihre ausladenden Hüften gestemmt. Er hatte sie nicht kommen hören.

»Madam?«

Sie wies auf seinen fast unberührten Frühstücksteller. »Hat es nicht geschmeckt?«

»Doch, doch«, beeilte sich Julian zu versichern. »Alles in Ordnung, ich hatte keinen Hunger.«

Ihr Blick blieb an ihm hängen, und er fürchtete schon, sie würde einen weiteren Kommentar abgeben, denn natürlich war ihr nicht verborgen geblieben, was geschehen war, obwohl sie diesmal taktvoll den Raum verlassen hatte, während er mit den beiden Polizeibeamten gesprochen hatte. Aber sie räumte sein Essen schweigend ab. Erst in der Küchentür wandte sie sich noch einmal um. »Mein Mann fährt heute in Richtung Durness. Er hat östlich der Straße ein paar Schafe laufen, die er einfangen muss, um sie zu markieren. Er könnte ein bisschen Hilfe brauchen. Der Arbeiter, der ihm normalerweise hilft, hat gerade abgesagt, weil er einen Unfall hatte.«

Julian sah sie überrascht an, nickte dann aber. Alles war besser, als tatenlos im Hotel zu sitzen. Alles war besser, als in einem fort um die Erlebnisse der vergangenen Tage zu kreisen. Zu viele hässliche Bilder tauchten ständig ungefragt auf.

[home]

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