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Philip Matthias Winter

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Beschreibung

Anfangs war das Nichts, das die Stille in sich trug. Aus der Stille entsprang die Welt, die sich seither im freien Fall befand. Bald darauf wurden den Formen Namen verliehen: Berge, Meere und Wüsten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – Liebe, Verbundenheit und Hoffnung – Gier, Verzweiflung und Zorn. Alles befand sich im Fall, und es blieb ungewiss, ob dieser irgendwann endete. Zuletzt war die Welt, die die Stille in sich trug. In der Stille entfaltete sich die Leere. Und keine Form verblieb mehr, die ihr einen Namen geben konnte.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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was nicht hält und was nicht trennt

von
P. M. Winter

Impressum © 2025 Philip Matthias WinterMedieninhaber: Philip Matthias WinterAnschrift: Anschützgasse 14/7, 1150 Wien, ÖsterreichKontakt: [email protected] Design: Philip Matthias WinterHersteller: tolino media GmbH & Co. KG, München ISBN: 9783819459931 1. Auflage 2025

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This work is licensed under a Creative Commons Attribution- NonCommercial 4.0 International License (CC BY-NC 4.0).

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Inhaltsverzeichnis

I Das Seil

 Der Eimer am Teich

 Dreck und Staub

II Die Blinden

 Der Ring im Fenster

 Eine königliche Raupe

 Des Lehrers Stock

III Die Fessel

 Die Versteckten

 Rattenfänger

 Der Sklave

IV Die Finger

 Von Blumen und Spinnen

 Die Türen

V Die Spiegel

 Steine

 Glöckchen und Glocken

 Geschenke

Akt IDas Seil

Hin und wieder kommt es vor, dass bestimmte Geschichten in der Welt auftauchen. Geschichten, die noch nie zuvor erzählt wurden und von denen man nicht genau weiß, ob sie sich tatsächlich so abspielten. Vom Großteil aller Menschen werden sie zumeist übersehen oder pauschal als unbedeutend abgestempelt. Und auch wenn sie letztlich entdeckt werden, so bedeutet das noch nicht, dass sie auch wahrhaftig verstanden werden. Doch die Wenigen, die dazu in der Lage sind, die das Unbekannte willkommen heißen und jedes noch so kleinste Bisschen davon aufsaugen, werden durch die Eigentümlichkeit jener Geschichten in deren Bann gezogen. Solch eine Geschichte möchte ich nun erzählen. Gewiss kann ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, doch fühle mich dennoch dazu in der Lage sie von Anfang bis Ende, von Links nach Rechts und mit den wichtigsten Schlüsselstellen sinngemäß wiedergeben zu können. Unsere spezielle Geschichte kennt viele Anfänge, doch den richtigen auszuwählen, erweist sich als schwierig. Die Mitte erscheint mir jedoch passend.

Der Eimer am Teich

Sie kniete, als sie ihm ein Kompliment für seinen auffallend farbenfrohen Hut machte. Dann schnitt sie ihn behutsam ab und packte ihn ein. Aus dem dichten Unterholz kämpfend berichtete sie begeistert: ’Meister, Meister! Seht was ich gefunden hab!’ Voller Freude hielt sie den Pilz in die Höhe und ließ ihn von Dul begutachten. ’Ausgezeichnet, Awa. Ein wahrlich seltenes Exemplar. Hast du schon davon gekostet?’ ’Noch nicht Meister. Ich wollte fragen ob er giftig ist, bevor ich ihn bestimme.’ ’Nein, ganz im Gegenteil. Umgangssprachlich nennt man ihn Schmerzschlucker. Wenn man ihn isst, so verspürt man vorübergehend keinerlei Schmerzen. Insofern war es vielleicht ganz gut, dass du nicht davon gekostet hast. Denn ansonsten fiele es dir gar nicht auf, wenn du dich irgendwo verletzt. Bitte verwahre ihn gut, denn er könnte uns noch von Nutzen sein.’

Sie packte den Pilz in eine leere Phiole. Neben verschiedensten Kräutern befanden sich in ihrem Rucksack eine Wasserflasche, eine Lampe mit Zunder, ein wenig Dörrfleisch und ein paar Beeren. Außerdem trug sie ein Armband bei sich, das sie in einem Seitenfach aufbewahrte. Ihre Mutter hatte es ihr in ihrer Kindheit geschenkt, und es diente seitdem als ein Andenken. Awa trug ihren Rucksack stets mit sich, sodass er im Laufe der Zeit beinahe schon ein Teil von ihr geworden war.

Die beiden Gefährten hatten sich an einem kleinen Teich neben einer verfallenen Hütte niedergelassen. Jener Fleck war ungewöhnlich still und somit ein idealer Rastplatz für die Nacht. Eine junge Linde ragte aus dem kaputten Dach schräg über das Wasser. Das dichte Blätterwerk ringsum ließ nur wenige Sonnenstrahlen bis zum Boden hindurch. Lediglich der Teich erlaubte etwas mehr Licht und spiegelte den tiefblauen Himmel zwischen den üppigen Seerosen. Dul bewunderte das grünblaue Farbenspiel, hinter dem sich die vorbeiziehenden Wolken vereinten, nur um sich daraufhin wieder zu trennen. Sich selbst konnte er in der Spiegelung nicht sehen. Awa beugte sich gleichfalls über den Teich und betrachtete sowohl die Spiegelung ihres Meisters, als auch ihre eigene.

Später wusch Dul sein Gesicht in einem kleinen Wassereimer, welcher dort zurückgelassen und vom gestrigen Regenschauer angefüllt worden war. Seine ausgetrocknete Haut wurde nach dem langen Sommertag wieder zum Leben erweckt. Mit der Dämmerung wurde es allmählich kühler. Die Grillen im hohen Gras machten sich an die Arbeit, während die Vögel in den Baumkronen zur Ruhe kamen. Dul wandte sich an seine Schülerin: ’Morgen vor Einbruch der Nacht werden wir da sein. Lass uns hoffen, dass es sich noch nicht ausgebreitet hat. Aber jetzt solltest du ein wenig schlafen, um neue Kräfte zu sammeln.’ Müde vom langen Marsch legte Awa sich ins weiche Gras und schlief sofort ein. Das aufkommende Mondlicht schien sanft auf ihre Stirn während die laue Brise ihre Lunge mit neuer Frische füllte. Dul betete derweil am Ufer des Teichs. Seine sich gegenseitig fassenden Hände bildeten einen Hohlraum, als würden sie eine wertvolle Kugel schützen. Danach legte er sich unter einen Apfelbaum und schlief ebenso ein.

Bei Tagesanbruch wurde Awa vom morgendlichen Vogelgezwitscher geweckt. Ihr Traum, zuerst noch klar und plausibel, verschwamm zu einem Konglomerat aus wirren Situationen und seltsamen Ereignissen. Die ersten Sonnenstrahlen streiften schon die höchsten Bäume des Waldes und ließen sie hellgrün aufleuchten. Der Wald von Nosik war ein gewaltiger Organismus, angereichert mit exotischen Gewächsen, fleißigen Insekten und mythischen Kreaturen in unterschiedlichsten Formen und Größen.

Dul biss in einen Apfel, während sein Blick zwischen einer Blume und seinen Notizen hin und her pendelte. Sie trug lange, sich farblich abwechselnde Blütenblätter, welche nach oben hin trichterförmig auseinander liefen. Sie hatte einen holzigen Schaft, der mit kurzen, nadeligen Dornen besetzt war. Dul versuchte herauszufinden, ob sie irgendwelche besonderen Eigenschaften besaß und ob man sie rauchen konnte. Noch nie zuvor war ihm solch eine bemerkenswerte Blume untergekommen. Er nahm daher an, dass es sich hierbei um eine Art handelte, die ausschließlich an jenem Ort vorkam. Seine Notizen verrieten ihm nichts Neues und die Blume sollte für immer ein Mysterium bleiben.

Zu Mittag erreichten die beiden den Graben. Awa hatte ihn bisher nur aus Erzählungen gekannt und ahnte nicht, welch monumentale Ausmaße er annahm. Doch nun, da sie oben an der Kante stand und zur anderen Seite hinüber blickte, war sie überwältigt von dessen Imposanz. Die andere, nördliche Seite war derart weit entfernt, dass man nur mit Mühe eine Person hätte erkennen können. Es gab keinen Übergang, sondern lediglich einen dunklen Schlund, der bis ins Herz der Welt zu ragen schien. Zudem erstreckte sich der Graben so weit das Auge reichte in beide Himmelsrichtungen und zerschnitt das Land in zwei Hälften. Vereinzelte Nebelfetzen stiegen langsam zwischen den steilen Hängen empor, wurden jedoch durch die brennende Sonne immer wieder zurückgedrängt. Abgesehen vom stetigen Wind drang kein Laut aus der Tiefe, wodurch sich eine unheimliche Stille breitmachte. Hier und da konnte man Vögel sehen, die in den schroffen Felsspalten ihre Nester gebaut hatten. Der bodenlose Abgrund störte sie nicht, denn sie waren an ein Leben in der Vertikalen gewöhnt.

’Der Legende nach gab es einen mächtigen Trollkönig’, begann Dul. ’Er war weiser und stärker als gewöhnliche Trolle und es heißt, sein Hieb war so kräftig, dass er damit ganze Berge spalten konnte. Er lebte mit seinem Stamm in Inamen, der unterirdischen Hauptstadt der Trolle. Die Stadt liegt im Nordwesten Kyrads, weitab vom Einfluss der Menschen am Rande der großen Leere. Als die Völker von Lirad begannen über die Südgrenze nach Kyrad einzufallen, sorgte sich der Trollkönig um seinen Stamm. Nichts jagte ihm mehr Angst ein als die Vorstellung, seinesgleichen an die Sklaverei oder an den Tod zu verlieren. Darum beschloss er, von Osten beginnend, einen Graben quer durch das Land zu schlagen und somit ein unüberwindbares Hindernis zwischen den beiden Reichen zu schaffen. Es ist nicht überliefert, wie weit sich der Graben nach Westen erstreckt, denn er ragt tief in die große Leere hinein. Im Osten verläuft er sich irgendwo hinter der Grenze zu Sunad. Diese natürliche Barriere stoppte letztlich den Vormarsch der Liradonen und verhärtete die Fronten.’

Awa hörte aufmerksam zu und verschaffte sich dadurch ein Gesamtbild. Sie interessierte sich für die Motivation der Menschen und warum sie so sehr nach Norden drängten. ’Die großen Herrscher’, erklärte Dul, ’lassen sich stets von denselben Motiven leiten: Reichtum, und damit einhergehend, Einfluss und Macht. Der Norden Kyrads ist reich an wertvollen Diamanten, nach denen sie seit jeher streben. Ich selbst habe zwar noch nie welche gesehen, doch sollen sie so hell funkeln wie rote Flammen bei Nacht. Große Armeen versuchten fortwährend den Graben zu überwinden, doch scheiterten sie kläglich. Erst nach Jahrzehnten der Belagerung gelang es ihnen schließlich, die erste und bisher einzige Brücke zur anderen Seite zu errichten. Anfangs nicht breiter als ein Trampelpfad, wurde diese Verbindung unter größter Anstrengung erweitert und befestigt. Du wirst sie bald mit eigenen Augen sehen können, denn sie liegt inmitten von Iog. Jedenfalls rief ihre bloße Existenz einen dauerhaften Konflikt hervor, der seitdem immer wieder aufflammt. Alle Versuche den Norden einzunehmen waren jedoch erfolglos, sodass der Krieg bis heute andauert und zu enormen Verlusten auf beiden Seiten führt.’

’Was wurde aus dem Trollkönig?’, fragte Awa bedrückt und nachdenklich. ’Trotz all seiner Anstrengungen konnte er das Unausweichliche nicht verhindern und verlor jeden, der ihm nahestand. In den Büchern heißt es, sein Herz war gebrochen. Er soll daraufhin in ein unbekanntes Land jenseits der großen Leere geflohen sein. Dort, weitab von allem, holte ihn sein Leid schließlich ein und er begann zu weinen. Anfangs nur ein paar Tränen wurden es immer mehr. Er konnte nicht aufhören, denn sein Schmerz erschien grenzenlos. Letztlich entstand durch sein Weinen an jenem Ort ein Meer, das tiefer sein soll als alle Ozeane der bekannten Welt zusammen.’ Awa war sichtlich betroffen und bekundete ihr Mitgefühl. Sie überlegte ein wenig und fasste ihre Gedanken in Worte: ’Ich wünschte, ich würde jemanden so lieben können, wie er seine Familie liebte. Es wäre bestimmt ein schönes Gefühl.’ ’Wähle deine Wünsche sorgfältig’, mahnte Dul. ’Wenn du etwas liebst, wirst du eins damit. Und wenn jenes schließlich wieder von dir getrennt wird, so trennt sich gleichermaßen ein Teil von dir selbst ab. Das ist es auch, das den Schmerz verursacht. Erinnere dich daran, wenn du das nächste Mal deinen eigenen kleinen See weinst.’

’Aber was wäre, wenn das Schöne die Überhand behielte?’, erwiderte sie ungläubig. ’Wäre es dann nicht erstrebenswert jenen Weg trotzdem zu gehen, sogar wenn man wüsste, dass er irgendwann endet?’ Dul lächelte und bemerkte neckisch, dass sie es eines Tages verstehen würde.

Nach einer kleinen Stärkung an einer Weggabelung setzten die beiden ihre Reise fort. Dul war erleichtert, nicht mehr durch die unübersichtlichen Wälder navigieren zu müssen, denn von nun an führte eine Straße entlang des Grabens direkt nach Iog. Jene Route war ihm vertraut, denn er war in der Stadt aufgewachsen. Während er sich freute, dachte Awa intensiv über den Trollkönig nach. Was hatte er getan, um solch ein Schicksal zu verdienen? Anscheinend konnte er seinen Schmerz irgendwie überwinden, denn ansonsten hätten seine Tränen wohl die ganze Welt überflutet. Awa versuchte sich in seine Lage zu versetzen. Was hätte sie an seiner Stelle getan?

Die beiden marschierten entlang der Straße, als Dul etwas Ungewöhnliches registrierte. Ein kleines Geschöpf, so schwarz wie ein Rabe und kaum größer als ein solcher, stand reglos am Abgrund. Dul wollte Awa nicht mehr zurückrufen, denn sie war bereits zu weit voraus gegangen. Vorsichtig näherte er sich dem Wesen. Es trug eine goldene Maske mit einem lächelnden Ausdruck. ’Ihr solltet Acht geben’, sprach es Dul auf einmal an. ’Man kann sehr tief fallen hier. Die Kluft hat schon viele vor Euch verschlungen. Sie sind nicht mehr zurückgekehrt, denn es war nicht notwendig. Sie ruhen jetzt glückselig in der Stille.’ ’Was seid Ihr?’, fragte Dul erstaunt. ’Fürchtet Euch nicht, denn ich möchte Euch kein Leid zufügen. Stattdessen bin ich hier, um Euch vorzubereiten. Zur angemessenen Zeit werdet Ihr wissen, was zu tun ist.’ Daraufhin legte das Wesen einen menschlichen Finger ab, an dem ein unscheinbarer Ring aus Holz steckte. Dann nahm es Anlauf und stürzte sich ins Bodenlose. Was war es? Warum hinterließ es den Finger? Und warum sprang es freiwillig in den Tod? Dul war noch nicht bereit.

Irgendwann registrierte Awa die Abwesenheit ihres Meisters. Sie erschrak, als sie ihn daraufhin am Boden liegend entdeckte. Geschwind eilte sie zurück, um zu helfen. Er war anscheinend über seinen Stock gestolpert, blieb dabei jedoch weitgehend unversehrt. Lediglich eine kleine Schramme an der Schulter würde ihn an den darauffolgenden Tagen noch begleiten. Sie griff seinen Arm und zog ihn mit einem kräftigen Ruck hoch. Die Berührung war ihm unangenehm. ’Danke Awa. Ich glaube du bist zu flink für meine alten Knochen’, grinste er breit. ’Ich schlage vor, du gehst von nun an hinter mir, damit du auf mich Acht geben kannst.’ Voller Demut bat Awa ihren Meister um Vergebung und folgte seiner Anweisung.

Als sie seinen Stock aufhob und von Dreck befreite, bemerkte sie an dessen Griff eine kleine Inschrift: was nicht hält und was nicht trennt. Awa hätte nur zu gerne gewusst, was es bedeutete und von wem es stammte. Sie hielt ihre Neugierde jedoch zurück. Sie respektierte Dul und wollte ihm nicht zu nahe zu treten. Er unterbrach ihre Gedanken und scherzte: ’Der Stock steht dir gut, Awa. Vielleicht sollte ich ihn dir überlassen, damit ich im Vorteil bin!’

Sie übergab den Stock seinem rechtmäßigen Besitzer und erbot sich, seine Ausrüstung zu tragen, um ihn zu entlasten. Dul reichte ihr daraufhin sein Seil, das sie ohne zu zögern annahm und an ihrer Hüfte befestigte. ’Trage es stets bei dir, denn eines Tages wirst du es brauchen’, prophezeite er. Awa verstand nicht, worauf er anspielte. Sie hatte sich nach all den Jahren an seine eigentümlichen Aussagen gewöhnt, nahm sie aber dennoch immer wieder dankend an. Sie wusste, dass er niemals grundlos sprach und dass alles, was er sagte, sich früher oder später als nützlich erwies.

Die beiden gingen weiter und Awa ordnete sich hinter ihrem Meister ein. Das Seil fühlte sich überraschend schwer an, obwohl es weder besonders dick noch lang war. Schon bald geriet sie durch dessen Gewicht ins Straucheln und musste häufiger innehalten. Sie war verblüfft, dass Dul es so lange mit sich herumschleppen konnte, ohne auch nur die geringste Spur von Erschöpfung zu zeigen.

Sie fühlte sich nach wie vor schuldig und identifizierte ihre geistige Abwesenheit als den Auslöser seines Sturzes. Jener scheinbar banale Moment, in dem sie seinen abgemagerten Körper von hinten betrachtete, erfüllte sie mit Unbehagen. Zum ersten Mal wurde sie sich seiner Verwundbarkeit und Sterblichkeit bewusst. Schon der bloße Gedanke, dass ihm etwas zustoßen konnte, bereitete ihr Magenschmerzen. Was würde sie ohne ihn tun? Wer würde sie anführen und ihre Fehler korrigieren? Awa fasste den Entschluss, von nun an stets auf ihn zu achten und ihn zu beschützen, als würde man ein zerbrechliches Tongefäß in dicke Wolle hüllen.

Man möchte annehmen, dass die Beziehung zwischen den beiden rein formeller Natur war. Doch die Wirklichkeit lag kaum weiter davon entfernt. Als Awa in der Gosse lebte, hieß er sie in seinem Heim willkommen. Als sie am Abgrund der Verzweiflung hing, gab er ihr Halt. Er lehrte ihr die Freude am Leben, als sie ihres schon aufgegeben hatte. So übernahm er für sie nicht nur die Rolle des Lehrers, sondern auch die des Großvaters, den sie liebte und schätzte. Dul war Awas größter Schatz und er war es wert, bewahrt zu werden. Denn sie hatte schnell erkannt, dass seine Seele rein und seine Handlungen von größter Güte getrieben waren. Darum fühlte sie sich verpflichtet, ihm etwas zurückzugeben, selbst wenn es nur darin bestand, sein Hab und Gut zu tragen. Und ihr war es gleichgültig, was andere über ihre Nähe zu ihm dachten oder sagten. Denn die anderen wussten nicht, was er für sie getan hatte und wie viel Lebenszeit er ihr gewidmet hatte. Es war selten geworden, dass Menschen aufeinander achteten und sich unterstützten. Alle waren sie versessen auf ihr eigenes Glück und trudelten unaufhörlich in einer Spirale aus Egoismus und gegenseitigem Misstrauen. Doch Dul war der leuchtende Stern am Firmament. Er allein war mutig genug, einer Todgeweihten Zuflucht zu gewähren, ohne dabei eine Gegenleistung zu erwarten.

Es war Nachmittag geworden und die absteigende Sonne führte zu einer angenehmen Wärme im Rücken der Reisenden. Während Awa gespannt auf das Kommende schaute, informierte Dul sie über das weitere Vorgehen: ’Wir machen uns ein Bild von der Lage und prüfen erst mal, ob die Gerüchte stimmen, die man sich in Rodin erzählt. Lass uns hoffen, dass das Schlimmste bereits vorüber ist. Wir werden die Kranken untersuchen und deren Symptome studieren, auf Basis derer wir dann ein Heilmittel entwickeln.’ ’Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es wäre, blind zu sein’, sagte Awa. ’All diese armen Leute werden womöglich nie wieder sehen können.’ ’Pass auf, dass du nicht in Mitleid verfällst, denn es zerfrisst deinen Geist’, warnte Dul. ’Übe dich lieber in Mitgefühl, wie ich es dir gelehrt habe.’ Awa hatte den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl beinahe vergessen. Bei näherer Betrachtung schien es ihr jedoch klug, dieser Sache mit Gelassenheit und Hoffnung zu begegnen. Zudem wollte sie vermeiden, in einer Stadt voller leidender Menschen selbst dem Leid zu verfallen.

Schließlich war Iog aus der Weite zu erkennen. Die Stadt lag auf einem Hügel, auf dessen höchstem Punkt das Schloss thronte. Von dort aus regierten die Könige seit jeher über Kyrad. Unter dem Schloss erstreckte sich eine dichte Ansammlung von mehrstöckigen Gebäuden, während der Graben das Ganze in zwei ähnlich große Bereiche teilte. Auch ein Teil der Brücke, die die beiden Hälften verband, war bereits zu sehen. Awa konnte es kaum erwarten, sie aus nächster Nähe zu erleben. Der Graben verlief weiter nach Osten und fraß sich ungehindert durch die Berge, die am fernen Horizont gleich einer Wand himmelwärts ragten. Sie markierten die Grenze zwischen Kyrad und Sunad.

Außerhalb der Stadt war es ungewöhnlich ruhig. Dul und Awa kamen an zahlreichen verwilderten Feldern und an ebenso vielen verlassenen Hütten vorbei. Bevor die beiden die Stadt betraten, unterrichtete Dul seine Schülerin, wie sie sich zu verhalten hatte: ’Awa, wir sollten uns stets entlang der Hauptstraßen bewegen und dunkle Gassen meiden. Halte dich bedeckt, vor allem in der Gegenwart von Männern. Richte dein Verhalten im Zweifelsfall nach mir, dann kann dir nichts geschehen. Ferner solltest du wissen, dass ich eine Vergangenheit in dieser Stadt hatte. Man wird mich früher oder später erkennen. Doch bevor es dazu kommt, sollten wir versuchen, nicht allzu sehr aufzufallen.’ ’Ich verstehe, Meister’, reagierte Awa ernst und stülpte sich die Kapuze über.

Dreck und Staub

Wie Dul es vorhergesagt hatte, kamen sie noch vor Einbruch der Nacht an. Die Sonne legte sich hinter den höchsten Dächern der Stadt, während die Wege allmählich vom schwachen Schein künstlicher Lichtquellen erhellt wurden. Ein großes Wappen zierte das Haupttor. Darauf war ein Rubin sowie eine lila Blüte abgebildet. Dul glaubte sich zu erinnern, dass die Blüte damals eine andere Farbe hatte. Er war sich indes bewusst, dass ihn so manche Erinnerungen aufgrund seines Alters gelegentlich trügten. Dieselben Symbole schmückten die Helme und Schulterplatten der Stadtwachen. Ein durchaus bemerkenswerter Anblick und zugleich ein weithin bekanntes Merkmal der Rüstungen von Iog. Awa befand, dass die Blüten die Wachen weniger bedrohlich aussehen ließen. Weitaus kurioser waren hingegen die Handschellen an deren Gelenken. Ein Ende war fest mit dem Arm verbunden, während das andere frei hängend wartete. Die Männer wirkten beinahe wie Kriminelle, die kurz zuvor aus dem Kerker ausgebrochen waren.

Iog war allem voran eine dreckige Stadt. Durch die Verarbeitung von enormen Mengen an Gestein und Metall kroch der Schmutz in alle Ecken und Enden. Die wenigen Büsche, die in dieser feindlichen Umgebung zu überleben vermochten, erinnerten Dul eher an die große Leere. Die Stadtbewohner hatten sich offenbar daran gewöhnt, stets von einer feinen Staubwolke umgeben zu sein. Viele behaupteten sogar, dass der Staub heilende Kräfte besaß und dass man darin manchmal kleine Fragmente von Diamanten entdecken konnte. Vereinzelt lagen menschliche Überreste am Straßenrand, zusammengehalten von verbrauchten Lumpen und längst zersetzt von diversem Getier. Anhand der Dicke der Staubschicht, mit der sie bedeckt waren, konnte man ungefähr abschätzen, wie lange sie dort schon gelegen hatten.

Auffallend war, dass einige mit verbundenen Augen umher irrten. Dies mussten die Opfer der besagten Krankheit sein, die hier ihr Unwesen trieb. Die Leute hatten offenbar gelernt, mit der neuen Situation umzugehen. Derweil hatte sich die Stadt selbst bis zu einem gewissen Grad angepasst, um ihnen den Alltag zu erleichtern.

Dul und Awa gingen weiter über den Markt. Durch die zahlreichen Lücken zwischen den Verkaufsständen konnte man die enorme Aktivität der Ratten studieren und beobachten, wie sie sich über die essbaren Reste des Tages hermachten. Die meisten Läden hatten entweder schon geschlossen oder waren kurz davor. Eventuell waren dies die besten Anlaufstellen, um nützliche Kräuter für ein Heilmittel zu finden. Doch vorerst begaben sich die beiden Reisenden auf die Suche nach einer geeigneten Unterkunft für die kommenden Nächte.

Vom Markt aus hatte man eine gute Sicht auf die Brücke und über den Graben. Wahrlich ein Bauwerk monumentalen Ausmaßes, gestützt von dicken Pfeilern aus Metall und verankert durch gewaltige Felsbrocken. Sie glich weniger einem klassischen Gebilde, sondern vielmehr einem künstlichen Berg, der sich wie ein Keil in den Abgrund stemmte. Die Brücke erlaubte keine Rückschlüsse auf ihren einstigen Zustand, denn sie war inzwischen so breit, dass darauf problemlos zehn Karren nebeneinander fahren konnten. An beiden Enden befanden sich befestigte Wehrtürme mit Bogenschützen. Die Türme waren von jedem Punkt der Stadt aus gut sichtbar und dienten überdies als Zollstellen für den Warenverkehr. Während sich die Stadt zur Ruhe legte, fand auf der Brücke noch immer ein reges Treiben statt. Voll beladene Wägen rollten permanent in beide Richtungen und verschwanden irgendwann in einer homogenen Menschenmasse. Tiefe Furchen mitsamt ausgebesserten Stellen am Boden zeugten von einer dynamischen Vergangenheit, welche sich über die Jahrzehnte hinweg dort zugetragen hatte.

Das Leben vieler Einwohner spielte sich auf der Brücke ab. Tagsüber versuchten sich Wahrsager und Straßenkünstler an den Vorbeikommenden zu bereichern. Des Nachts wurde sie von singenden Trunkenbolden und dubiosen Gestalten bevölkert. Für den Durchschnittsbürger repräsentierte die Brücke die blühende Zukunft Iogs – eine Lebensader, die den Fortschritt und Wohlstand für alle versprach.

Awa suchte das Gespräch mit ihrem Meister: ’Warum verkaufen die Trolle ihre Diamanten nicht einfach? Dann hätten sie endlich Ruhe und könnten obendrein noch davon profitieren.’ ’Für die Trolle ist jedweder Reichtum unerheblich’, antwortete Dul. ’Denn sie haben in Nord-Kyrad alles, was sie zum Überleben brauchen. Ihr Reichtum liegt nicht in Dingen, sondern allem voran in ihrer Kultur und ihrem Wissen über die Welt. Sie sehen ihr Land als heilig an. Eher würden sie sterben anstatt nur einen einzigen Grashalm irgendeinem Fremden zu überlassen. Es muss wohl ein unglücklicher Zufall sein, dass die Höhlensysteme im Landesinneren mitunter zu ihren heiligsten Stätten zählen. Und obwohl Trolle entgegen ihres furchterregenden Erscheinungsbildes grundsätzlich friedliebend sind, können sie die Höhlen nicht einfach aufgeben. Ebenso wenig können es die Menschen, denn ansonsten würde ihre einzige Einnahmequelle versiegen. Insofern befinden sich beide Parteien in einer misslichen Lage und es gibt keine Aussicht auf eine Lösung des Konflikts. Um ehrlich zu sein denke ich nicht, dass eine potenzielle Handelsbeziehung die Lage verbessern würde. Iog ist weit über die Grenzen Kyrads hinaus von strategischer Bedeutung, da die Brücke das einzige Tor zum Norden darstellt. Und wer die Minen kontrolliert, der kontrolliert auch so manche Dinge in dem Spiel, das die Menschen spielen.’

Iog bezog nahezu die Gesamtheit seiner Diamanten aus den Minen von Bilonsur, die tief im Herzen von Nord-Kyrad lagen. Darüber befand sich eine kleine Stadt, direkt am Fuße der östlichen Berge. Ein ständiges Hin und Her zwischen Räumungen und Rückeroberungen auf beiden Seiten prägten Bilonsurs Vergangenheit. Das wiederkehrende Versiegen der Diamanten machte diese zu einem der wertvollsten Güter der bekannten Welt. Zugleich waren sie der Schlüssel, der Iog zu unermesslichem Reichtum verhalf. Ein bekannter Handelsweg führte südlich über die Ebene von Nosik nach Sioven, das bereits in Lirad lag. Von dort aus gelangten die meisten Waren weiter über das Meer in alle erdenklichen Himmelsrichtungen. Eine kürzere Route zweigte noch vor der Grenze zu den östlichen Bergen ab und führte nach Misilas ins Reich der Gnome.

Obgleich der trostlosen Kulisse Iogs, konnte man allerlei interessante Dinge entdecken. Awa war noch nie zuvor in der Hauptstadt gewesen und war fasziniert von all den fremden Formen, Geräuschen und Gerüchen. Wie große, schwere Tropfen eines Sommerregens prasselten die neuen Eindrücke unentwegt auf sie ein. In der nördlichen Stadthälfte befanden sich die Wohngebiete der ärmeren Schichten sowie die Verteidigungsanlagen. Südlich der Brücke siedelten sich vorwiegend Handwerker und Werkstätten an, wobei die meisten davon Steinmetze und Waffenschmieden waren. Sie alle verließen sich auf die Erze, die in Bilonsur geschürft wurden, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Auf der südlichen Hälfte befanden sich außerdem der Markt und das Reichenviertel samt dem Schloss auf einer kleinen Anhöhe.

Sobald die Sonne untergegangen war, wurde es stockdunkel. Awas Lampe erwies sich wieder einmal als nützlich, denn immerhin reisten die beiden in den vergangenen Wochen oft bei Nacht. Da die Straßen nun immer bedrohlicher wirkten, kehrten sie kurz darauf in einer Herberge nahe der Brücke ein. Am Empfang saß ein Mann hinter dem Tresen, vermutlich der Besitzer. Er schien zu schlafen, saß jedoch aufrecht in seinem Sessel. Als Dul und Awa näher kamen, begann der Mann plötzlich zu sprechen: ’Wer ist da?’ Awa schaute ihn verdutzt an, denn seine Augen waren geschlossen. Dul stellte sich und seine Schülerin vor. Er gab an, nach der langen Reise von Rodin eine Unterkunft zu benötigen. Der Besitzer hielt einen Moment lang inne und sprach: ’Aus Rodin sagst du, ja? Schert euch nur weg ihr minderwertiger Abschaum! Ausländisches Drecksgesindel wie euch will ich hier nicht haben! Was fällt euch ein, meine Zeit zu verschwenden?! Ich hoffe ihr verreckt!’ Sogleich verging ihnen die Lust, in jener Herberge zu nächtigen und sie machten auf der Stelle kehrt. Der Mann fluchte ihnen noch so lange hinterher, bis er irgendwann außer Hörweite war.

Die beiden Gefährten ließen sich in einem kleinen Waldstück außerhalb der Stadt nieder, abseits dieser sonderbaren Leute. Awa, energielos und ausgelaugt, legte ihre Ausrüstung ab. Das Seil hatte einen tiefen Abdruck an ihrer Hüfte hinterlassen und fiel nach dem Öffnen des Knotens wie ein nasser Sack zu Boden.

Dul fühlte, dass Awa noch immer ziemlich aufgebracht über die verletzenden Worte des Mannes war. Vor lauter Wut konnte sie kaum still sitzen und fragte schließlich, was ihn so in Rage gebracht hatte. Was hatten sie ihm angetan, um solche Beleidigungen zu verdienen? Dul setzte an: ’Awa, erforsche deine Gefühle. Spürst du die Wut, die in dir aufkommt? Spürst du, wie sie dich vereinnahmt und dich nicht mehr klar denken lässt?’ ’Ja, Meister. Ich spüre sie.’ ’Und wie fühlt sie sich an?’ ’Furchtbar, Meister.’ ’Und sag, wer ist außer mir noch hier?’ ’Nur ich, Meister.’ ’Und habe ich dich denn wütend gemacht?’ ’Nein, keineswegs. Es ist der Mann von vorhin.’ ’Aber wie kann er dich wütend machen, wo er doch nicht einmal hier ist? Wahrscheinlich schläft er gerade tief und fest in seinem Bett. Wie schafft er es also, dich dabei wütend zu machen?’

Awa bemerkte zunächst nicht, dass Duls Fragen tiefgreifender und vielschichtiger waren, als sie erwartet hatte. Was machte sie tatsächlich wütend? Was war der eigentliche Auslöser für jene starken Gefühle, wenn der Mann es aufgrund seiner Abwesenheit offensichtlich nicht sein konnte? Unfähig, den Grund zu erkennen, wurde sie still. Daraufhin erlöste Dul sie mit den Worten: ’Du hast ihn hierher gebracht, denn du haftest an ihm. Da oben drin in deinem Kopf sitzt er und schimpft dir noch immer hinterher. Und du sitzt daneben und hörst ihm aufmerksam zu, saugst alles auf, was er von sich gibt. Doch nun sag, wenn weder der unfreundliche Mann physisch anwesend ist, noch ich dich wütend gemacht habe, von wo kommt dann die Wut?’ Awa konnte die Antwort erahnen, doch war sie zu stolz, um sie laut auszusprechen. Dul wartete kurz und nahm ihr auch diese Bürde ab: ’Ja, sie kommt von dir, ausschließlich von dir selbst. Du hast sie erschaffen und nun quält sie dich. Von ihm ging niemals Wut aus, die du hättest empfangen können. Einzig deine Reaktion auf seine Worte hat sie in dir ausgelöst. Denke darüber nach.’ Awas angespannte Haltung brach auf und Dul setzte nach: ’Stelle dir selbst diese Fragen, wenn du das nächste Mal wütend wirst: Erstens, quälst du dich gerne selbst? Ich nehme an, dass dir die Antwort leicht fällt. Zweitens, wenn du morgen sterben müsstest, würdest du dann solche Menschen genauso überall hin mitnehmen? Du wirst feststellen, wie unwichtig dir die Dinge erscheinen, denen du in jenem Moment solch eine große Bedeutung zuschreibst. Also lasse dein Haften an den verletzenden Worten des Mannes los, dann wirst du nicht mehr darunter leiden. Drittens, hast du vielleicht selbst vorschnell über die Fehler anderer geurteilt? Schaue zuerst auf deine eigenen Fehler, bevor du mit dem Finger auf andere zeigst. Wir kennen die Hintergründe dieses Mannes nicht. Wie würdest du dich fühlen, wenn du blind arbeiten müsstest?’

Awa öffnete sich für das, was Dul ihr dargelegt hatte und fragte ihn, was sie nun tun sollte. ’Übe dich in Mitgefühl für den Mann, auf dass er eines Tages von seinem Leid loskommt. Hass kann niemals durch Hass bekämpft werden, sondern einzig allein durch Mitgefühl.’

Duls Worte beschäftigten sie noch lange, denn sie wirkten wie kühlendes Wasser auf sonnenverbrannter Haut. Je länger Awa darüber nachdachte, desto mehr verschwand die Wut aus ihrem Geist. Und der vormals bösartige Mann wirkte plötzlich gar nicht mehr so übel. Mit dem Loslassen der Wut spürte sie ihre Müdigkeit und schlief ein.

Akt IIDie Blinden

Es könnte den Eindruck erwecken, dass einige meiner Schilderungen irrelevant sind. Doch kann ich versichern, dass dies keineswegs der Fall ist und dass keine meiner Ausführungen leichtfertig abgetan werden sollten. Wir werden nämlich behutsam vorgehen, um allmählich zum Kern des Problems vorzudringen und ihn gleichsam nicht zu verpassen. Denn der Kern ist gut geschützt und noch nicht klar ersichtlich. Und voller Freude werden wir am Ende sein, wenn wir die übrige Frucht ringsum verzehrt haben und er sich uns letztlich offenbart.

Der Ring im Fenster

Am Morgen erhob er sich aus dem Schlaf und streckte seine Beine. Dann verließ verließ er sein Haus über eine lange Treppe und schaute zu Boden. Was zuerst noch wie ein Weizenkorn aussah, entpuppte sich als ein winziger Rubin. Er suchte weiter nach einem Korn.

Pünktlich mit dem Ruf des Hahns öffnete der Verkäufer seinen Laden. Er sollte ihn bis Sonnenuntergang nicht mehr verlassen. Sorgfältig platzierte er seine Waren an der Theke. Von seltenen Gewürzen, Baumrinden und Gräsern, über frische Blumen und deren Essenzen, bis hin zu gewöhnlichem Obst und Gemüse. Verschiedenste Werkzeuge nebst praktischen Utensilien, die für die Verarbeitung unabdingbar waren, wurden ebenso feilgeboten. Gelegentlich erweiterte er sein Sortiment sogar mit diverser Kleidung und edlem Schmuck. Mit der Zeit hatte er gelernt, welche Güter beliebt waren und welche in dunklen Ecken als Staubfänger dienten. Der Laden war sein Leben, all seine Energie floss dort hinein und sein ganzer Stolz spiegelte sich darin wieder. Dies zeigte sich vor allem im lupenreinen Verkaufsbereich. Täglich erneuerte er die Dekoration, um potenzielle Neukunden anzulocken oder bestehende Kunden bei Laune zu halten. Ein ewiger Kreislauf aus Vorbereiten, Einkaufen, Verkaufen, Putzen, Gestalten und Organisieren.

Die restliche Zeit blieb ihm zum Schlafen. In seinen privaten Räumen im Oberstock hatte er sich ein fürstliches Bett eingerichtet. Der hohe Anschaffungspreis war es ihm allemal Wert, denn immerhin lief sein Laden gut und er konnte sich stets die neuesten Dinge leisten. Kleider vom bekanntesten Schneider der Stadt, Schmuck vom berühmtesten Goldschmied, Fleisch vom Schloss, alles wollte er haben und nichts davon missen. In der Tat verdiente er besser als die meisten anderen Ladenbesitzer, die sich in der Nähe des Grabens niedergelassen hatten. Durch seine extravaganten Kleider hinterließ der Verkäufer einen bleibenden Eindruck und hob sich damit von der Masse ab. Mit der Zeit waren seine auffälligen Kleider sogar zu einer Art Markenzeichen geworden. So war es ihm gelungen, seine Einnahmen allein durch seinen Bekanntheitsgrad noch weiter zu steigern.

Während der Verkäufer auf Kundschaft wartete, durchforsteten Dul und Awa den Markt. Sie gingen sehr koordiniert vor und glichen die verfügbaren Kräuter mit Duls Notizbuch auf heilende Wirkungen ab. Gleichsam notierten sie sich die vorhandenen Mengen und erkundigten sich nach einer möglichen Versorgung. Awa stieß binnen kürzester Zeit auf massenhaft Gewächse, von denen sie bisher nur gelesen hatte. Ihre Hoffnung, ein paar Pflanzen aus der Familie der Himmelsblütler zu finden, blieb jedoch vergebens.

Eine Gruppe von Erblindeten bahnte sich ihren Weg über den Markt. Die meisten waren bis auf die Knochen abgemagert und konnten sich kaum auf den Beinen halten. Sie wirkten recht unbeholfen und ängstlich. Jeder von ihnen trug eine lila Blüte im Haar. Es war dieselbe Art, die auch das Stadtwappen zierte. Dul versuchte mit der Gruppe in Kontakt zu treten, doch wurde er von dessen Anführerin zurechtgewiesen: ’Was fällt Euch ein, uns anzusprechen? Wisst ihr nicht, dass es den Niederen untersagt ist, mit uns zu reden? Macht den Weg frei!’ Die Frau stampfte wütend auf Dul zu und schwang dabei wild mit den Armen. Geschwind wich er beiseite, sodass ihre Schläge ins Leere gingen. ’Wahrlich eigenartige Leute hier, meinst du nicht auch?’, wandte er sich an Awa. ’Ja, Meister. Es ist irgendwie seltsam, so als ob sie ihre Augen absichtlich geschlossen hielten.’ ’Ja, du hast Recht, in der Tat seltsam. Lass uns mit den Bettlern dort beim Laden reden. Vielleicht können sie uns verraten, was hier vor sich geht.’

Zwei Hauslose verharrten unter einem riesigen Ladenschild, das gut sichtbar an einem Balken prangte. Der Schriftzug Gimbodas Gebüsche war kunstvoll eingeritzt und mit goldener Farbe verziert. So dünn wie vertrocknete Zweige wirkten die Männer wie leere, tote Hüllen. Einer von ihnen trug weiße Lumpen und ähnelte einem Geist. Außerdem hatte er eine Brille, welche durch die fehlenden Gläser offensichtlich nicht funktionstüchtig war. Der andere war in schwarze Lumpen gehüllt und trug eine Augenbinde, die den Großteil seines Gesichts bedeckte.

Dul hatte zwar kein Essen dabei, übte jedoch Großzügigkeit indem er dem Geist seinen Ring anbot. Dieser fixierte daraufhin das Objekt, streckte geschwind seine Hand aus und langte zu. Beinahe hätte er Duls Finger abgerissen. Nachdem er den Ring unter großer Mühe an seinen linken Zeigefinger gesteckt hatte, strahlte er vor Freude. ’Jetzt kann allen wahren Wert zeigen kann! Mich an! Bin wieder ganz bin! Du nicht findest auch?’ Dul sagte nichts und freute sich einfach mit. Der Bettler verzog sein Gesicht und wandte sich Awa zu. ’Ring mir steht gut steht? Kann dir vielleicht dir borgen wenn Frau werden. So hübsche Frau.’ Er griff Awas Arm und zerrte sie an sich. Seine Hände fühlten sich klebrig und schmutzig an. Awa konnte sich befreien und trat einige Schritte zurück. Sie verspürte den starken Drang, ihren Arm bei der nächsten Gelegenheit zu waschen. Der Mann ignorierte das Geschehene und sprach weiter: ’Damals tausende Ringe hab hat. Ganz viel Kunst auch. Smaragd wie Faust groß. Geholt hab von Minen hab. Alles verloren! Verloren! Jetzt nicht mal kann Brillengläser kaufen kann.’

Währenddessen fühlte sich der Bettler in Schwarz durch die ganze Situation benachteiligt. Er stellte schließlich einen Teilanspruch auf den Ring, woraufhin blitzartig ein Streit zwischen den beiden entbrannte. Seine Augenbinde löste sich im Handgemenge und fiel herab. Die beiden Reisenden staunten nicht schlecht, dass der Mann offenbar sehen konnte. Der weiße Bettler wehrte seinen Freund mit einer Hand ab und schützte mit der anderen den Ring. Es wirkte beinahe so, als ob sein Leben davon abhinge. Irgendwann lief er fluchend davon, nur um sich aus sicherer Distanz noch einmal umzudrehen und den Ring voller Stolz gen Himmel zu recken.

Dann verschwand er hinter einer Hauskante und ließ den Bettler in Schwarz zurück. Dieser verband sich daraufhin wieder die Augen und tastete nach seinem gewohnten Platz unter dem Ladenschild. Sein Zorn wandelte sich rasch in Sorge, da er zum Überleben auf einen sehenden Helfer angewiesen war. ’Ich finde es steht mir zu den Ring zu haben. Immerhin hab ich mich um diese Zecke gekümmert, als wir noch klein waren.’ Nach einem kurzen Gespräch lenkte Dul vom Thema weg und fragte den Mann, warum er überhaupt eine Augenbinde trug. ’Ich versuche lediglich der Krankheit zu entfliehen. Wenn man sich nämlich die Augen bedeckt oder zuhält, kann man nicht erblinden.’ ’Wie seid Ihr Euch da so gewiss?’, bohrte Dul nach. ’Die Prinzessin hat es uns erklärt. Dadurch werden die bösen Kräfte vom Eindringen in den Körper abgehalten. Sie lag in der Vergangenheit noch nie falsch und führte uns schon durch einige solcher Krisen. Wenn ihr beide schlau seid, dann solltet ihr es also genauso machen wie ich. Ansonsten wird es euch schon bald erwischen!’ Dul warf seiner Schülerin einen wissenden Blick zu. Diese wiederum schüttelte bloß den Kopf und fuhr sich augenrollend durchs Haar. ’Aber seid euch bewusst’, setzte der Bettler nach, ’dass es euch etwas kosten wird. Nicht alle können sich diesen Luxus leisten. Seht euch nur meinen Bruder und mich an. Letztes Jahr noch Edelmänner mit einer Villa in bester Lage, sitzen wir nun in der Gosse!’, scherzte er sichtlich verzweifelt. Dann versuchte er das Gespräch zu beenden, um nach etwas Essbarem zu suchen. ’Geht einfach zu Gimboda hinein, falls ihr Blüten braucht. Er kann euch bestimmt weiterhelfen und all eure Fragen beantworten.’ Als Dul bemerkte, dass der Verkäufer sie durchs Fenster beobachtete, zog dieser rasch den Vorhang zu.

Die beiden Gefährten bekamen keine Gelegenheit, sich vom Bettler zu verabschieden, da er sich bereits auf den Weg gemacht hatte. Awa konnte ihre Gedanken nach der Szene mit dem Ring nicht mehr zurückhalten und hakte ein: ’Meister, war das nicht Euer Ehering, den Ihr da gerade verschenkt habt?’ ’Ja, das war er.’ ’Aber hat er denn keinen Wert für Euch? Ich meine einen persönlichen, symbolischen Wert als Erinnerungsstück?’ ’Nein Awa, er hat keinen Wert für mich. Es ist doch nur ein Stück Metall. Wie könnte das einen Wert besitzen? Die Gedanken an meine Frau verwahre ich sicher in meinem Kopf.’ Awa akzeptierte Duls Ansichten, war aber dennoch unzufrieden mit seiner Aktion. Sie fragte sich, ob es die richtige Entscheidung war, den Ring einfach so wegzugeben. Sie verkniff sich die Frage, ob ihr Meister auf seinen alten Tagen langsam ein wenig herzlos und kalt wurde. Dul registrierte Awas Unzufriedenheit und stellte klar: ’Hast du gemerkt, wie glücklich der Mann über den Ring war? Für mich ist er wertlos, für ihn jedoch wie ein Schatz. Als ich ihm den Ring schenkte, da hat er an Wert gewonnen. Kein Ding dieser Welt trägt etwas inhärent Wertvolles in sich. Gleichermaßen erhalten alle Dinge ihren Wert durch jene, die ihnen ebendiesen zuschreiben. Bedenke das immer, wenn du Geiz oder Gier verspürst. Erinnerst du dich noch daran, was ich dir gestern über den unfreundlichen Mann gelehrt habe?’ ’Ja Meister. Ich soll das Haften an seinen verletzenden Worten loslassen, um nicht darunter zu leiden.’ ’Und genauso solltest du auch lernen, die positiven Dinge loszulassen. Denn das Haften am Positiven führt zwangsläufig zur Angst, es zu verlieren. Und wenn du es letztlich verlierst, dann wirst du genauso darunter leiden.’ ’Danke, Meister. Ich denke, ich verstehe jetzt.’ ’Gut. Nun denn, lass uns da reingehen.’

Das Glöckchen an der Ladentür klingelte fröhlich, als Dul und Awa eintraten. Es gab nur ein einziges Fenster im Raum. Außen war es mit Efeu überwuchert und innen von Girlanden umzingelt, sodass man eine vage Andeutung davon bekam, was draußen passierte. Den Stammplatz der beiden Bettler konnte man durch das Fenster lediglich erahnen.

’Willkommen, willkommen!’, wurden sie euphorisch empfangen. ’Gimboda mein Name, stets zu Diensten. Ihr könnt eure Schuhe dort drüben abputzen bitte. Der Boden ist ganz neu und ich will nicht, dass er Kratzer abbekommt.’ Die beiden Gefährten folgten der Aufforderung. Dul hatte völlig vergessen, dass seine Schuhe einst eine andere Farbe als Braun besessen hatten. Der Boden blitzte durch die Vielzahl an herumliegenden Gegenständen indes nur hier und da hervor. Passend dazu waren am Verkäufer selbst nur wenige freie Stellen zu finden. Die etlichen Lagen, in denen er eingepackt war, ließen ihn dick und träge erscheinen.

’Hab gesehen, wie Ihr dem Schmarotzer Euren schönen Ring gegeben habt. Hätte Euch ein hübsches Sümmchen dafür geboten’, präsentierte er dabei stolz den üppigen Schmuck an seinen geschwollenen Händen. Dul bedankte sich für das Angebot und lehnte mit der Begründung ab, dass er bereits über ausreichend Geld verfügte. ’Schade! Kann ich denn sonst etwas für euch tun?’, fragte Gimboda daraufhin energisch. ’Vielleicht ein paar Fingerblumen zum anstecken oder für den Tee? Sind sogar reduziert heute, nur zehn Silberlinge pro Stück.’ Er verwies auf den Haufen an vorrätigen lila Blüten. Erst jetzt bemerkte Awa, dass deren fünf längliche Blätter in gewisser Weise an menschliche Finger erinnerten. Dul verzichtete erneut dankend. Obwohl Awa es durchaus schön gefunden hätte eine zu tragen, tat sie es ihrem Meister gleich. Sie waren ohnehin ziemlich überteuert.

’Ist nicht gern gesehen, wenn man keine Blüten trägt oder solche, die schon am Austrocknen sind’, merkte Gimboda neckisch an. ’Vor allem in der Nähe des Schlosses solltet ihr darauf achten.’ Dann deutete er mit einem strengen Blick zum Graben. ’Aber nehmt ja nicht die weißen von da unten, die sind wertlos. Hatte sie eine Zeit lang im Sortiment, wurden aber verboten als man rausfand, dass sie giftig sind und die Mundlosen anziehen.’

’Mundlose?’, hakte Awa ein. ’Ich merke ihr beiden seid nicht von hier. Das sind die Monster da unten in den Klippen. Niemand weiß, was sie wollen oder warum sie dort in der Dunkelheit hausen. Habt ihr schon mal von der Brücke aus hinab geguckt? Da wird einem übel sag ich euch! Würd nur zu gern wissen, wie tief es da runter geht. Hab mal was rein geschmissen und nicht mal gehört, wie es den Boden getroffen hat. Wahrscheinlich ernähren sich die Monster von dem ganzen Verdorbenen, das die Leute dort entsorgen.’ ’Sie werfen Essen in den Graben?’, fragte Dul überrascht. ’Ja ja, nicht nur das! Die kippen da alles Mögliche rein: Abfälle, alte Möbel, Fäkalien, manchmal sogar ihre Verstorbenen. Wundert mich ehrlich gesagt manchmal, wie da überhaupt so viel Zeugs reinpasst.’ ’Ich kann mir gut vorstellen, dass das den Mundlosen nur bedingt gefallen dürfte’, kommentierte Dul während er einen Holzeimer begutachtete. ’Kümmert mich nicht die Bohne’, entgegnete Gimboda zornig. ’Von mir aus können diese Dinger da unten verrecken. Immerhin versuchen sie die ganze Zeit uns zu vergiften.’ Er zeigte auf die lange Menschenschlange am Markt. Sie alle warteten auf ihre tägliche Wasserration. Am Kopf der Schlange befand sich ein Kran und ein großes Laufrad. Das Rad musste stets von acht Arbeitern angetrieben werden, um Fässer mit frischem Wasser aus der Tiefe zu heben. ’Regnet hier in der Gegend nicht allzu viel, also müssen wir es aus dem Graben beziehen. Die Hälfte davon geht direkt ans Schloss, über den Rest können wir frei verfügen. Die Mundlosen verunreinigen ständig unser Wasser, indem sie weiße Blüten in die Fässer stopfen. Die müssen wir dann sofort wieder entsorgen, um Seuchen vorzubeugen.’ Auf Duls Nachfrage führte Gimboda weiter aus, dass weiße Fingerblumen zu allerlei Symptomen führen konnten. Gedächtnisverlust und Benommenheit traten dabei am häufigsten auf. ’Außerdem schmecken sie scheußlich’, sagte er angewidert.

Die Häuser in der Nähe des Grabens waren mitunter die günstigsten in der gesamten Stadt, denn keiner wollte darin wohnen. Alle hatten sie Angst vor den Mundlosen und davor, dass sie des Nachts heraufkämen, um die Bürger zu vergiften. Aus vergleichbaren Gründen wollte wegen den Trollen niemand wirklich in der nördlichen Hälfte Iogs wohnen. Mit der Zeit führten diese Faktoren dazu, dass sich an den Flanken des Grabens, insbesondere an dessen Nordseite, ärmere Familien ansiedelten.

Dul und Awa versuchten mehr über die grassierende Augenkrankheit in Erfahrung zu bringen und entlockten Gimboda so manche Details. Es stellte sich heraus, dass sich die Bewegung der Blinden Stimme des Volkes nannte und dass deren Ziel darin bestand, für eine bessere Welt zu sorgen. Während manche ihr Augenlicht durch die Krankheit verloren, erblindeten andere aus freiem Willen. Zumeist waren es Leute aus der Mittelschicht, die ihre Augen aus Solidarität verbanden, um so der Organisation beizutreten. Jeder hoffte nach den Krisen der letzten Jahre auf eine blühende Zukunft. Gleichsam glaubten sie, dass die Prinzessin ihnen diese Zukunft ermöglichen konnte. Die Bewohner Iogs vertrauten ihr und dass sie schon bald ein Heilmittel für die Krankheit fände. Dul und Awa erfuhren zudem, dass sich die Krankheit ursprünglich auf das Reichenviertel beschränkte. Eine schlüssige Erklärung dafür hatte niemand. ’Wenn man sich die Reichen so ansieht, möchte man meinen, ihre Wampe wäre der Grund’, scherzte Gimboda. ’Aber was weiß ich schon. Sind nur Spinnereien. Wenigstens können die sich einen Gehilfen leisten. Bei den anderen müssen oft die eigenen Kinder herhalten.’

’Im Süden sagt man, die Prinzessin von Iog sei wunderschön’, bemerkte Awa interessiert. ’Schön ist untertrieben, meine Liebe. Hab sie nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, vor zehn Jahren ungefähr, nachdem sie siegreich aus der Schlacht zurückkam. Und ich kann Euch sagen, so eine vollkommene Schönheit hab ich noch nie zuvor gesehen. Wünschte ich wäre nur ansatzweise so reizend und mutig wie sie. Meine Seele würde ich hergeben für eine Nacht mit ihr.’ ’Klingt beinahe wie eine Gottheit’, murmelte Dul unbeeindruckt vor sich hin und studierte weiter die Titel im Bücherregal. ’Eine Göttin in Menschengestalt’, bestätigte Gimboda verträumt. ’Ihr Antlitz hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt an jenem Tag. Hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Schade, dass sie sich nicht öfter blicken lässt. Die meiste Zeit verbringt sie nämlich im Schloss, wo normale Bürger keinen Zutritt haben. Kann’s ihr aber nicht verübeln. Wer will sich schon mit unseresgleichen abgeben?’

Inzwischen hatte Dul sich zu einer Vitrine voller Steine umgedreht. Er musterte sie genau, konnte jedoch keine außergewöhnlichen Merkmale an ihnen feststellen. ’Zwei Silberlinge pro Stein, sieben für drei’, informierte Gimboda bestimmt. ’Hab ich mitgehen lassen vom Steinfest letzte Woche. Wart ihr da?’ Die beiden verneinten. ’Schade, hätte euch sicher gefallen. Einer der seltenen Lichtblicke in dieser erbärmlichen Stadt. War diesmal besonders herausfordernd, weil ja einige Teilnehmer nichts sehen konnten.’ ’Ich habe von diesem Fest gehört’, sagte Dul. ’Es soll eine Art Wettkampf sein?’ ’Habt Ihr richtig gehört, mein Lieber. Süds gegen Nords. Zunächst wird jeder Gruppe ein großer Steinbrocken angehängt. Dann müssen sie diese so schnell wie möglich jeweils ans andere Ende der Brücke ziehen. Es ist auch einer der wenigen Tage, an denen man mit den Nords mal ins Gespräch kommt, ohne dass einem die Arbeit dazwischenfunkt. Gäbe es das Fest nicht, würden wir vermutlich nicht einmal merken, dass auf der anderen Seite noch Leute leben. Natürlich gewinnen immer wir Süds, weil unser Stein kurz vor dem Start durch einen leichteren getauscht wird. Unglaublich, diese Primitiven merken rein gar nichts! Sie mühen sich so vehement ab und wissen am Ende nicht mal, warum sie ständig verlieren. Jedes Jahr aufs Neue total amüsant, dieses Trauerspiel’, lachte Gimboda schadenfroh.

Auf Awas Frage über die Bedeutung des Brauchtums antwortete er: ’Weiß nicht genau, es ist eben einfach so. Das gibt es schon seit ich denken kann. Jedenfalls werden die Sieger gebührend gefeiert und bleiben auf ewig als Helden im Gedächtnis der Menschen.’ ’Wer hat denn dieses Jahr gewonnen?’, fragte sie. ’Lasst mich überlegen. Da waren diese Brüder, denen die Grünfuchs-Taverne gehört. Und die Tochter des Schmieds drüben am Trümmer-Platz. Glaub ihr Name ist Ipo..., Ipo... irgendwas. Und noch ein paar andere aus der Handwerkergilde. Sagt, meine Liebe, welche Bräuche habt ihr in Rodin?’

In dem Moment wurde das Trio vom Türglöckchen unterbrochen, welches diesmal kräftiger und länger klingelte. Eine Schlosswache trat ein. Sein Gesicht war durch das schmale Helmvisier nicht zu erkennen und er schien ein wenig desorientiert zu sein. Gimbodas Bitte, die Schuhe abzuputzen, wurde nicht nachgekommen. Durch die offene Tür sah Dul, dass draußen noch zwei weitere Wachen warteten. Alle trugen Handschellen an ihren Gelenken und eingravierte Blüten an ihren Rüstungen. Dul und Awa wurden zu einer Audienz bei Prinzessin Reya ins Schloss berufen. Gimboda, ohnehin schon irritiert durch den Schmutz am Boden, war nun auch noch neidisch auf die beiden. Sie wurden aus dem Laden eskortiert und sollten bis zu ihrem Ziel nicht mehr aus den Augen gelassen werden. Beim Hinausgehen warf Gimboda noch hektisch ein, dass er täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Laden war, falls sie etwas kaufen wollten.

Nachdem die Tür zugefallen war, verwandelte sich sein Gesicht augenblicklich. Wie ein Schauspieler, der seine Maske abnahm, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Er seufzte, denn selbst nach dem langen Gespräch war es ihm nicht gelungen, etwas zu verkaufen. Resigniert blickte er zu Boden. Was zuerst noch so aussah wie ein Weizenkorn, entpuppte sich als ein winziger Rubin. Seine Enttäuschung wich schlagartig der Freude, als er den Stein in seiner Börse verstaute. Dann nahm er seine gewohnte Position hinter der Theke ein. Bis zum nächsten Kunden sollte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster widmen.

Am Marktplatz hatte sich inzwischen eine ganze Schar von Erblindeten eingefunden. ’Stolz durch Glaube!’, rief jemand auf einem Podest immer wieder in die Masse. ’Glaube durch Wollen!’, rief die Masse jedes Mal zurück. Währenddessen wurde eine zum Tode verurteilte Person an einen Masten gefesselt und mit Brennholz unterlegt. Awa fragte sich, welche Sünde er wohl begangen haben musste, um solch eine Bestrafung zu verdienen. Der Mann wurde unter tosendem Applaus verbrannt.

Eine königliche Raupe

Gemeinsam mit den Wachen erreichten Dul und Awa die oberen Ebenen der Stadt, in denen die Noblen in ihren prachtvollen Villen hausten. Eine Frau und ihr Kind kam der Gruppe entgegen. Beide hatten die Augen verbunden und trugen gleich mehrere Blüten im Haar. Es folgte ein kurzes Gespräch, wobei Unklarheit darüber herrschte, ob das Kind tatsächlich erkrankt war. Awa schlug daraufhin vor, es solle einfach mal versuchen seine Augen zu öffnen. Sie bereute ihren Vorschlag schnell, da die Mutter empört in Rage verfiel und das Kind ohne ersichtlichen Grund ohrfeigte.

Abseits dieser irritierenden Begegnung erschien das Viertel wie ausgestorben. Eine gespenstische Stille dröhnte durch die Straßen, sodass man eine Feder hätte fallen hören können. Seit dem Ausbruch der Epidemie waren die Leute eher unter sich und mieden die Öffentlichkeit. Immerhin war es mühsam und gefährlich, blind umher zu wandern. Gleichsam versuchten die Blinden ihren gewohnten Lebensstil beizubehalten, was sich aber in den meisten Fällen als äußerst schwierig erwies. Unter diesen Umständen waren sie auf eine Versorgung durch Sehende aus den ärmeren Schichten angewiesen. Im Gegenzug erhielten diese wiederum eine kleine Aufwandsentschädigung. Ebenso strebten die Sehenden aufgrund ihrer permanent prekären Situation sogar danach, jemanden versorgen zu können. Blinde, die den Sehenden nicht vertrauten, konnten alternativ eine Schlosswache als persönlichen Diener anstellen. Freilich ging dies jedoch mit einem stolzen Sümmchen einher und war nur den Allerreichsten vorbehalten.

Im Laufe der Zeit verschmolzen viele Blinde und Sehende zu untrennbaren Einheiten, voneinander abhängig, um zu überleben. Eine Trennung, beispielsweise durch den Tod des einen, führte meist auch zum Tod des anderen, wenn dieser keinen neuen Partner fand. Einige Paare ketteten sich gar mit Schlössern aneinander und warfen die Schlüssel im Zuge einer feierlichen Zeremonie in den Graben, um so ihr Bündnis endgültig zu machen. Und doch, gleich einer Hass-Liebe, hörten sie bei all dem niemals auf, gewisse Feindseligkeiten gegenüber dem jeweils anderen zu hegen.

Das obere Ende des Reichenviertels mündete am Schlosstor. Hinter den hohen Mauern ragten unzählige Türme gen Himmel und zerschnitten dabei tiefliegende Wolken. Verblüfft zeigte Dul auf eine verfallene Ruine vor dem Tor und fragte dabei eine der Wachen: ’Wo ist die Akademie? Ich dachte, sie wäre genau dort.’ ’Sie brannte schon vor langer Zeit nieder, mein Herr, gemeinsam mit dem Gebetshaus. Es gibt zwar Pläne für den Wiederaufbau, aber Ihr wisst ja wie das ist mit dem Geld. Es ist immer knapp und reicht eben nie für alle Dinge. Außerdem hatte der Bau einer dritten Schatzkammer Vorrang gegenüber anderen Projekten. Wenigstens gelang es, einen Teil der Bibliothek zu retten. Das Verbliebene wurde mit der alten Schlossbibliothek zusammengelegt.’ Dul bedankte sich für die Information. Die Akademie wäre seine erste Anlaufstelle gewesen, um die Augenkrankheit eingehend zu studieren. Er und Awa mussten sich wohl mit dem begnügen, was übrig geblieben war.

Gemeinsam mit der Gruppe traf eine Wasserlieferung am Schloss ein. Die Fässer wurden sofort entladen und ins Innere gebracht. Als die Gruppe das Tor zum Hof passierte, wehte ihnen ein wohltuend, saftiger Geruch von frisch geschnittenen Pflanzen entgegen. Zu ihrer Verwunderung war der Boden jedoch staubtrocken und frei von jeglichem Grün. Stattdessen stand im Hof ein Taubenschlag für die Kommunikation mit den Herrschern der beiden anderen Wurzel-Länder. Gleich daneben befanden sich die royalen Hundeställe. Die Jungtiere wurden viermal täglich gefüttert und schienen sich prächtig zu entwickeln.

Eine der Wachen führte die beiden Gäste durch einen schmalen Gang in den Vorraum zur großen Halle. An den Wänden hingen zahllose Porträts der Königsfamilie, allen voran Prinzessin Reya. ’Ist sie nicht wunderschön?’, fragte die Wache rhetorisch. Awas Wangen röteten sich, während die Wache kurzerhand hinter einer massiven Tür verschwand. Dul ergriff die Gelegenheit der Zweisamkeit und klärte seine Schülerin auf: ’Falls Reya noch die Alte ist, wird sie uns unterstützen und einsehen, dass ihre Maßnahmen nicht allzu zielführend sind. Lass mich mit ihr sprechen und halte dich bitte zurück.’ ’Ja, Meister’, antwortete Awa und machte sich unsichtbar.

Während die beiden warteten, tauchte sie ihre Arme in einen Zierbrunnen an der Wand. Das Wasser, zunächst noch völlig klar, trübte sich rasch durch den abgewaschenen Schmutz. Wie alle Bürger Iogs war auch Awa inzwischen von feinem Staub überzogen. Trotz der allgemeinen Respektlosigkeit, die ihr bisher widerfahren war, fühlte sie sich dadurch fast schon heimisch. Nur Dul schaffte es irgendwie sauber zu bleiben. Der Staub schien an ihm abzuperlen wie Regen an einem Blatt, dachte sie sich und schüttelte die Arme aus.

Sogleich kam die Wache wieder durch die Tür und sprach: ’Die Herrin wartet bereits. Bitte kommt herein.’ Als die beiden eintraten, wurden sie förmlich geblendet. Die enormen Fenster durchfluteten den gesamten Saal von beiden Seiten mit grellem Licht. Awa brauchte einen Moment, bis sich ihr das volle Panorama offenbarte. Die Wolken am Himmel spiegelten sich zusammen mit den monumentalen Säulen im fein polierten, weißen Boden. Ein gewaltiger Holztisch befand sich seitlich in Richtung des Grabens. Er bestand aus fünf langen Platten, die in der Mitte leicht durchgebogen waren. Abgesehen von einem kleinen Glöckchen war er ansonsten leer.

Die Prinzessin saß auf einem wuchtigen Thron, der aus einem einzigen Marmorblock gehauen war. Ihre gekreuzten Beine wurden von hohen, grauen Stiefeln umschlungen. Die eleganten, weißen Handschuhe vereinten sich mit dem Stein, wodurch sich ihre Hände erst auf den zweiten Blick zu erkennen gaben. Ihre geflochtenen Haare wandten sich wie eine goldene Krone majestätisch um ihr Haupt. Ungeachtet ihrer kleinen Statur strahlte ihre Anwesenheit eine gewisse Mächtigkeit aus. Tatsächlich vermochten die vielen Gemälde am Gang ihre Schönheit nicht einmal im Ansatz einzufangen. Ihre tiefen, braunen Augen wirkten kraftvoll und ruhig. Die zarte Haut glich einer seidenen Wolke, makellos und rein. Eine Fingerblume über ihrem rechten Ohr ließ sie zudem leicht und munter erscheinen.

Als die beiden Gäste näher traten, hielt Awa sich dicht hinter Dul. Sie wagte es nicht, Reya in die Augen zu schauen, denn ihr Äußeres war ebenso einschüchternd wie beeindruckend. Die Prinzessin erhob sich frohlockend und riss ihre Arme zur Seite: ’Seht an! Der Heiler kehrt zurück! Willkommen in Iog, Meister Dul! Wenn ich doch nur früher gewusst hätte, dass Ihr kommt! Bitte lasst mich Eure Gastgeberin für die Dauer Eures Besuchs sein.’ Dul nickte dankend und schwieg. Reya befahl ihren Wachen ein Zimmer vorzubereiten, woraufhin diese ausschwärmten wie kleine Bienen. ’Das ist das mindeste, was ich für Euch tun kann. Immerhin habt Ihr der Stadt einen großen Dienst erwiesen.’ Die Prinzessin setzte sich wieder und überschlug ein Bein. ’Ich hoffe Ihr hattet eine gute Reise? Euer Heim ist doch jetzt in Rodin, wenn ich mich recht entsinne, oder?’ ’Ich habe kein Heim, meine Herrin’, erwiderte Dul. ’Ein Mann Eurer Bekanntheit soll arm sein? Das glaube ich nicht. Erklärt mir das.’ ’Ich sagte nicht ich sei arm’, begann er. ’Wie dem auch sei’, unterbrach sie ihn kurzerhand und beugte sich nach vorn. ’Sagt mir, mein hausloser Meister Dul, was veranlasst Euch zu diesem Besuch?’

Er ließ sich nicht zweimal fragen und fasste zusammen: ’Man sagt, es greife eine Augenkrankheit um sich. Also sind wir kurzerhand gekommen, um zu helfen. Würdet Ihr uns verraten, ob die Gerüchte stimmen und uns gegebenenfalls mit den Details vertraut machen?’ ’Oh, wie gut, dass Ihr das ansprecht! Eine ganz furchtbare Krankheit, so ist es in der Tat. Insofern kommt Ihr genau zur rechten Zeit. Als ich hörte, dass Ihr in der Stadt seid, wollte ich Euch gerade deswegen sehen. Ich möchte, dass Ihr mir dabei helft, die Blinden zu heilen. Sie sollen so schnell wie möglich wieder arbeiten können, was Wohlstand für alle bringt. Ich werde Euch natürlich reichlich dafür entlohnen.’ Dul lehnte die Belohnung höflich ab und betonte erneut, dass er nicht arm war.

Die Aussage ließ Awa mit ihren Gedanken abdriften. Sie erinnerte sich an Duls Worte vor dem Antritt der Reise: ’Zwar mag es auf den ersten Blick nicht so erscheinen, doch ist unser Schicksal eng mit jenen derer verknüpft, die uns umgeben. Wenn du schlecht zu den Wesen bist, sie ausbeutest und ihnen Schaden zufügst, so werden dir dreierlei Nöte widerfahren: Krankheit, Verzweiflung und ein plötzlicher Tod. Wenn du aber gut zu den Wesen bist, sie unterstützt und ihnen hilfst, so werden dir dreierlei Reichtümer widerfahren: Gesundheit, Freude und ein langes Leben. Sei also gut zu jenen, die dich umgeben, dann wirst du wahren Reichtum ernten.’ Jene Erinnerung versetzte Awa in eine wohlwollende Stimmung und zauberte ein kaum zu erkennendes Lächeln auf ihre Lippen. Denn es war einer der seltenen Momente, in denen sie die Motivation seiner Aussage verstand.Dul beobachtete indes aufmerksam, wie die Prinzessin still und heimlich begonnen hatte, mit dem Tier der Unverständnis zu kämpfen: ’Warum will er keine Entlohnung, wo er doch offensichtlich arm ist? Und was ist das für eine lächerliche Begründung? Da ist doch irgendetwas faul.’ Das Tier besaß graues Fell und wirkte durch seine Größe recht bedrohlich. Es verblieb stets hinter Reya, außerhalb ihres Sichtfeldes. Sie wollte es unbedingt finden und töten, denn es zehrte sie aus. Letztlich hielt sie Duls Geheimniskrämerei nicht mehr aus und suchte nach einem Weg, das Gespräch zu beenden. Als er die kippende Stimmung spürte, holte er alle Anwesenden mit einer grundsätzlichen Frage wieder zurück in die Gegenwart: ’Dürfen wir die Erkrankten untersuchen? Damit könnten wir feststellen, woran sie überhaupt leiden.’ Nach einer kurzen Pause beschloss Reya: ’Gewiss, ich werde meine Wachen aussenden, um welche zu suchen. Ich lasse sie dann für Euch im Schloss-Lazarett unterbringen.’

Dul bedankte sich und fragte nach, ob es denn keine Blinden im Schloss gab. ’Glücklicherweise blieben wir bisher verschont’, entgegnete die Prinzessin knapp. ’Unsere Mauern sind zu hoch, als dass diese Krankheit sie überwinden könnte.’ Dul ließ sich mit dieser Antwort jedoch nicht so einfach abfertigen und setzte nach: ’Ich dachte eher an das freiwillige Erblinden aus Solidarität. Ich bin sicher, dass die Leute innerhalb dieser Mauern sich das locker leisten können.’ Reyas weiße Hände klammerten sich an die Lehnen des Throns und sie beugte sich weiter vor. ’Blinde hin oder her. Ich kann nur für mich selbst sprechen und ich sage Euch, dass ich keine Angst habe vor dieser ominösen Krankheit. Ich muss stark sein für mein Volk, voranpreschen wo andere angstvoll sind, durchgreifen wo andere zögern. Ich kann es mir nicht erlauben, blind zu sein, denn sie sind darauf angewiesen, dass ich ihnen den Weg zeige. Nur durch meine Führung können sie vor all dem Unheil in dieser grausamen Welt bewahrt werden.’

Nachdem Dul noch immer keine Antwort auf seine Frage erhalten hatte, kam er auf die Begegnungen mit den Blinden zu sprechen. Er merkte an, dass sie sich bisher wenig kooperativ verhalten hatten und jeden Versuch, Kontakt aufzunehmen, sofort im Keim erstickt hatten. Dann startete er einen neuen Versuch: ’Die Bürger scheinen zu glauben, dass sie nicht erkranken können, wenn sie sich die Augen verbinden oder geschlossen halten. Wisst Ihr etwas diesbezüglich?’ Die Prinzessin, mittlerweile sichtlich gereizt von Duls Fragen, zischte ihm entgegen: ’Ich denke, es ist Eure Aufgabe das zu beantworten. Darum seid Ihr doch hier, oder? Ich vertraue meinem Volk, dass es das Richtige tut. Ich weiß darüber genauso wenig wie Ihr, immerhin war es deren Idee.’ Dul versuchte das Gespräch wieder in geordnete Bahnen zu lenken und schlug eine einfache Lösung vor: ’Meint Ihr nicht, dass diese Maßnahme ein wenig am Ziel vorbeiführt? Warum befehlt Ihr ihnen nicht einfach, die Augen zu öffnen, um zu prüfen, ob es sie wirklich vor der Krankheit schützt? Damit wäre die ganze Sache schnell geklärt.’

Reya hatte die Nase jedoch endgültig voll. Sie zeigte mit dem Finger auf Dul und hätte ihn am liebsten damit erstochen: ’Ich weiß, was gut ist für meine Leute und was sie brauchen in diesen Zeiten der Not. Und gewiss brauchen sie niemanden, der sie ihrer Freiheit beraubt. Also maßt Euch nicht an, meinen Führungsstil in Frage zu stellen. Ihr könnt Euch ja gar nicht vorstellen, um wie viele Probleme ich mich kümmern muss. Und ich kann Euch versichern, diese Krankheit ist nicht das größte davon.’

Dul ruderte zurück und bemühte sich, die Prinzessin zu bändigen. Doch diese war kurzerhand in einen unaufhaltsamen Monolog versunken: ’Ich allein habe den Wohlstand nach Iog gebracht und niemand hat mir dabei geholfen. Seit meinem Großvater bin ich die Einzige mit Verstand in dieser Familie. Ich packe die Probleme an und erziele Fortschritte, während alle anderen nur jammern, wie schlecht es ihnen doch geht. Ich werde seinen Zehn-Punkte-Plan zur Befreiung von Nord-Kyrad zu Ende führen. Und wenn wir mit diesen Kakerlaken erst mal fertig sind, werden wir uns den Titanen in Sunad widmen.’

Inzwischen gelang es Awa nach längerem Suchen auszumachen, warum ihr die Prinzessin so merkwürdig erschien. Ihre Körpersprache passte irritierenderweise nicht zu ihren Worten. Awa hatte große Mühe, Reyas Monolog zu folgen, denn einmal bemerkt, ließ sich dieses Detail an ihr kaum noch ignorieren.

’Seht sie Euch nur an, diese Tiere. Die können nicht mal unsere Sprache. Wahrlich gesegnet sind wir, dass diese Schlucht zwischen uns und denen liegt. Nicht auszumalen, was sie uns ansonsten antun würden. Für jedes einzelne dieser Biester muss ich ein Dutzend meiner Männer aufs Spiel setzen. Und obwohl wir ihnen zahlenmäßig überlegen sind, terrorisieren sie uns seit Jahrzehnten erbarmungslos. Es ist daher das unantastbare Recht meines Volkes, Nord-Kyrad von den Kakerlaken zu säubern, um unseren Fortbestand zu sichern. Ich sorge lediglich dafür, dass ihnen die nötigen Mittel zur Verfügung stehen, um sich bestmöglich darauf vorzubereiten.’

Während Reya ihre Tirade fortsetzte, beobachtete Dul eine kleine Raupe in ihrem Haar, die sich genüsslich über ein Blütenblatt hermachte. Reihe um Reihe fraß sie sich gemächlich satt und ließ sich dabei alle Zeit der Welt. Am Rücken war sie mit einem durchaus hübschen und ausfallenden Muster verziert. Die Raupe erinnerte ein wenig an den Verkäufer Gimboda. Beide waren sie eifrig, extravagant gekleidet und konnten anscheinend niemals genug kriegen.

Duls Aufmerksamkeit wurde erneut abgelenkt, als die Prinzessin ihre Hand hob und auf den Turm deutete: ’Mein Vater hat das Ziel aus den Augen verloren. Er sitzt den ganzen Tag da oben, starrt auf seine Puppen und ist blind für alles andere. Ein Nichtsnutz, wie ich meine. Er trägt rein gar nichts dazu bei, den alten Glanz unseres Hauses wiederherzustellen. Und weder kümmert ihn das Wohl unseres Volkes, noch zeigt er das geringste Interesse daran, den Feind zu vertreiben. Er ist Schuld an der Situation, in der wir uns befinden. Aber wie dem auch sei, der Alte macht’s eh nicht mehr lang. Und sobald ich offiziell das Ruder übernehme, wird sich hier einiges ändern.’

Mit jedem Wort, das aus ihrem Mund kam, wurde sie ein kleines bisschen hässlicher. Indem sie ihre Gedanken offenbarte, begriffen Dul und Awa, dass das, was sie sahen, alles andere als schön war. Schritt für Schritt überwältigten Reyas Gedanken ihr Äußeres, wodurch gleich mehrere Makel zum Vorschein kamen. So fiel Awa ein verdrehter Zahn auf, während Dul die herabfallenden Haare zählte. Letzteres war jedoch auch der Raupe zu verschulden, die hin und wieder von der Blüte Abstand nahm, um an Reyas Haaren zu knabbern.

Des Lehrers Stock

Nach dem erfolglosen Gespräch in der großen Halle wurden Dul und Awa im hintersten Winkel des Schlosses untergebracht. Awas Zimmer hatte keine Fenster und roch nach modrigem Holz. Es ähnelte vielmehr einer Abstellkammer als einem richtigen Zimmer. Sie fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dort die kommenden Nächte zu verbringen. Am Ende bat sie ihren Meister, bei ihm übernachten zu dürfen. Nach kurzem Zögern willigte dieser ein. Ihm war dennoch nicht ganz wohl dabei, denn er pflegte es üblicherweise allein zu schlafen. Duls Zimmer war nahezu komplett verspiegelt, sodass Awa ihn stets aus allen Richtungen sehen konnte. Durch den ovalen Grundriss gab es keine Ecke, die nicht über irgendeinen Spiegel einsichtig war. Dul beachtete die Spiegel nicht weiter und setzte sich aufs Bett.

Awa ließ sich verwirrt und aufgelöst in einen Sessel fallen: ’Meister, die Prinzessin hat mich vorhin nicht einmal registriert. Habe ich etwas falsch gemacht?’ ’Nein, Awa. Du hast richtig gehandelt. Ich denke sie ist einfach noch nicht so weit, um sich mit wirklich edlen Leuten abzugeben.’ Awas Wangen erröteten, nachdem sie seine Anmerkung als ein Kompliment identifizierte. Warum lobte er sie aus heiterem Himmel? Sie konnte sich viele Eigenschaften zuschreiben, doch hätte sie sich selbst mitnichten als edel bezeichnet. Dann kam sie über die Bedeutung seiner Worte ins Grübeln. Sie wagte es nicht, weiter nachzufragen und behielt ihre Gedanken für sich. Dul aber kannte seine Schülerin und erläuterte: ’Die Prinzessin lebt im Außen. Sie blickt durch Dinge hindurch, deren Werte im Inneren liegen. Gleichsam übersieht sie, was sie als geringer schätzt. Daher hat sie dich wahrscheinlich gar nicht gesehen vorhin.’ Awa verstand zwar noch immer nicht ganz, wusste aber nur zu gut, dass Duls Aussagen manchmal ein wenig sacken mussten, um ihre Wirkung zu entfalten.

Sie rief sich die Geschehnisse im Saal nochmals in Erinnerung. Nach ein paar Minuten der Stille fragte sie neugierig: ’Meister, gibt es die Titanen in Sunad tatsächlich? Ich dachte dies sei nur ein Märchen, das man den Kindern zum Einschlafen erzählt.’ ’Nein, Awa. Es gibt sie wirklich’, antwortete Dul. ’Insgesamt sind es drei. Manche nennen sie auch die wandernden Berge