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Wer könnte wirklich sicher sein, dass eine Begegnung, ein Tag, eine Reise nicht ganz anders verläuft als geplant? Überall können sie lauern, die Fallen des Zufalls, und dein Leben plötzlich in eine andere Bahn lenken. Manchmal führt das Unerwartete ins Glück, manchmal ins Verderben. Das weiß man aber meist erst hinterher. Wie auch immer, das Leben bleibt voller Überraschungen. Das Unerwartete hält die Protagonisten dieser Geschichten in Atem. Mal sind es unheimliche oder schicksalhafte Begegnungen, mal Kriminalgeschichten, mit denen Hermann Forschner seine Leser in 33 unterschiedlichen Begebenheiten bestens unterhält. Seine feinsinnige Sprache lässt an vielen Ecken, selbst im Moment des Grauens, schalkhaften Humor durchblitzen. Spannende Unterhaltung für zwischendurch.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2022
Zum Buch
Wer könnte wirklich sicher sein, dass eine Begegnung, ein Tag, eine Reise nicht ganz anders verläuft als geplant? Überall können sie lauern, die Fallen des Zufalls, und dein Leben plötzlich in eine andere Bahn lenken. Manchmal führt das Unerwartete ins Glück, manchmal ins Verderben. Das weiß man aber meist erst hinterher.
Wie auch immer, das Leben bleibt voller Überraschungen. Das Unerwartete hält die Protagonisten dieser Geschichten in Atem. Mal sind es unheimliche oder schicksalhafte Begegnungen, mal Kriminalgeschichten, mit denen Hermann Forschner seine Leser bestens unterhält. Seine feinsinnige Sprache lässt an vielen Ecken, selbst im Moment des Grauens, schalkhaften Humor durchblitzen.
Beste Unterhaltung für zwischendurch.
Danksagung
Ich danke meiner lieben Frau Renate für das gewissenhafte und konstruktive Durcharbeiten und Lektorieren meiner Texte.
Dem Arbeitskreis Heilbronner Schreibtischtäter sei Dank gesagt, ohne dessen kreative Anregungen und Ermutigungen die Geschichten nie geschrieben worden wären.
Hermann Forschner
Was nicht zu erwarten war
3 x 11
denkwürdige
Geschichten
© 2022 Dr. Hermann Forschner
Umschlag, Illustrationen: Hermann Forschner
Lektorat: Renate Forschner
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
ISBN Softcover: 978-3-347-68931-2
ISBN Hardcover: 978-3-347-68932-9
ISBN E-Book: 978-3-347-68933-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhalt
Teil 1 Unheimliche Begebenheiten
Nächtliche Begegnung
Im Stau
Shivas Tanz
Nach dem Virus
Zeitreise
Abgehoben
Auf John Silvers Spuren
Meeresleuchten
Der rote Planet
Der neue Nachbar
Abendspaziergang
Teil 2 Dem Verbrechen auf der Spur
Eine Frage der Ehre
Die geheimnisvolle Tänzerin
Was für ein Zirkus im Zirkus
Ein todsicherer Tipp
Emmas Taube
Das Geheimnis
Ungesundes Misstrauen
Überraschung
Schatzsuche unter dem Totenkopf
Der flotte Freddy
Auf dem Weihnachtsmarkt
Teil 3 Schicksalsmomente
Wohin dich der Zufall führt
Der sechste Sinn
Doppelgänger
Marina liest
Meine Stunde Null
Die Entscheidung
Die Kündigung
Eine Welt ohne Bücher
Der Wiederbringer – Die wahre Geschichte vom Taucher
Hochzeit im Dschungel
Kopf oder Zahl
Die in den Geschichten vorkommenden Personennamen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten, Personen und Handlungen wären zufällig und nicht beabsichtigt. Die genannten Städte und Örtlichkeiten gibt es zumeist tatsächlich, aber die behaupteten Aussagen unterliegen wiederum der Freiheit der Fantasie.
Vorwort
Ob bei einem WaldspaziErgang, beim Einkaufsbummel oder bei einem Ausflug mit dem Auto oder der Bahn: Der Zufall reist mit und bringt seine unberechenbaren Finger ins Spiel.
Eigentlich willst du nach rechts, aber ein unvorhergesehenes Ereignis lenkt deine Schritte nach links. Eigentlich sagt dir die Logik dies, aber dein Gefühl drängt dich zu einer anderen Entscheidung. Eigentlich ist alles perfekt geplant, aber wegen einer unvorhergesehenen Kleinigkeit läuft die Sache aus dem Ruder. Und von da an entwickelt sich die Situation anders als gedacht. Kommt dir das bekannt vor?
Manche nennen es Schicksal. Sollte man sich dem Schicksal also passiv ergeben, getreu dem Motto: Es kommt, wie es kommt? Ein Einbruch kann schließlich auch nur gelingen, wenn er gut geplant ist. Und kündigen sollte man nur, wenn man bereits einen Plan B in der Tasche hat. Wer plant und denkt, kann vielleicht dem einen oder anderen unliebsamen Zufall trotzen, so wie Frederic Fitzner, genannt Der flotte Freddy. Dennoch sollte man immer schön auf dem Teppich bleiben. Wie sagte doch der kleine französische Departementpolizist: „Nur wegen Vermutungen macht man noch keinen Wirbel!“
Ich bin sicher, dass Ihnen meine Geschichten nicht trotz, sondern gerade wegen der unerwarteten Schicksalsfallen gefallen werden. Keine Geschichte gleicht der anderen, und doch einigt sie ein gemeinsames Band: Es hätte auch anders kommen können.
Teil 1
Unheimliche Begebenheiten
Nächtliche Begegnung
Noch als halbwüchsiger Teenager fürchtete ich die Dunkelheit wie die Fliege das Spinnennetz. Was malte meine Fantasie mir für Schreckensdinge aus, die mir allein im düsteren Keller zustoßen könnten! Was für ein Aufstand jedesmal, wenn meine Eltern mich wegen eines kleinen Dienstes da hinunter schickten! Heute kann mich nur noch ein unerwarteter Brief vom Finanzamt erschrecken.
Spät am Nachmittag eines freundlichen Tages im Herbst nehme ich meine letzte Wanderetappe in Angriff, als sich der Himmel rasch verdüstert und den Eintritt der Nacht schneller vorantreibt, als mir lieb ist. Nur rasch voran! Die rettende Herberge kann nicht mehr weit sein! Böiger Wind frischt auf. Bunte Herbstblätter rauschen heftig und tanzen bald in wilden Wirbeln aus den Kronen. Es beginnt zu tröpfeln, und schon nach wenigen Minuten regnet es heftig. Ein erster Blitz zuckt auf und schleudert seinen grellen Schein in rabenschwarze Dunkelheit. Regenmassen prasseln vom berstenden Himmel und zerstreuen das Blitzgewitter in millionenfachen Prismen. Ich versuche erst gar nicht, meinen Fünf-Euro-Regenschirm gegen den Sturm zu richten, der nun losbricht.
Ich eile an einer windschiefen Scheune vorbei. Im Moment, als ich mich besonnen umdrehe, um sie vielleicht als Gewitterschutz aufsuchen zu können, geschieht es: Im gleißenden Flackern eines gewaltigen Ausbruchs dicht über dem Horizont malt sich ein rußschwarzes Ungeheuer auf ihre Bretterwand. Wie ein Stroboskop flimmert es nach. Jetzt scheint aus dem Schattenungeheuer ein gehörntes Wesen geworden zu sein. War’s eine Illusion oder ein Abbild, das sich auf den wettergrauen Planken kurz abzeichnete? Malte da der Leibhaftige selbst sein düsteres Konterfei auf das morsche Holz? Oder war Er es vielleicht höchstselbst, der mir im zuckenden Licht zu winken schien? Und verzerrte sich der stachlige Hörnerkopf danach nicht zu einer erschreckenden Fratze, gegen die der Glöckner von Notre-Dame ein Adonis war? Oder – steht der Höllenfürst vielleicht dort, ja, dort, auf der kleinen Anhöhe beim angrenzenden Feld? Ein Wesen wie aus dem Gruselkabinett winkt im Sturm mit seinen in Fetzen umherschlagenden Ärmeln. Es riecht wie im Chemieunterricht, als der Lehrer Schwefel verdampfte. Wo zum Teufel bin ich hingeraten? Meine Zunge klebt mir vor Entsetzen am Gaumen, trotz der Wassermassen, die von meinen Haaren triefen.
Wieder ein Blitzschlag. Dort steht tatsächlich einer! Sein Schattenwurf war es wohl, der groß wie Goliath auf die Lattenwand projiziert wurde. „Bist du auch ein verspäteter Wanderer? Oder bist du ein Wegelagerer oder ein Unhold? Wenn du gar der mit dem Hinkefuß bist, dann stelle dich!“, schreie ich den seltsamen Kollegen an. „Mensch, habe ich einen Knall?“ rufe ich mir jetzt selbst im tobenden Lärm ins Gewissen. Ich habe mich doch nicht mein halbes Leben um die objektive Betrachtung der Wirklichkeit bemüht, um im Zweifelsfall immer noch an den Teufel zu glauben! Und dennoch – mein Puls schnellt hoch und dröhnt laut in meinen Ohren wie das Donnergrollen um mich. "Heda! Wer dort? Rede!", brülle ich mit äußerster Wut und Entschlossenheit die unheimliche Gestalt an. Doch die zeigt keine sichtbare Reaktion. Ich fixiere den Kerl wie die Kobra den Fakir, und ohne ihn aus den Augen zu lassen, bücke ich mich nach etwas Greifbarem. Gibt es da nicht irgend etwas, das ich werfen könnte? Ein leicht schwabbeliger Apfel ist’s, der mir zwischen die Finger kommt. Der Sturm hat die letzten Früchte von den umstehenden Bäumen geschlagen. Ich greife zu und werfe mit der Wut des Eingeschüchterten die Frucht nach dem unheimlichen Götzen dort oben, nahe der kleinen Kuppe. Habe ich überhaupt getroffen? Ich taste nach weiteren vergoren riechenden Wurfgeschossen und schleudere sie auf den Feind. Der zeigt sich völlig unbeeindruckt von meinen Angriffen. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und nähere mich dem geheimnisvollen Wesen wie Odysseus dem schlafenden Zyklopen. Jetzt kann ich es auch im Geheule deutlich hören, dass mein Wurf getroffen hat, denn zwei, drei der aufgesammelten Projektile prallen dumpf auf etwas Organisches, Halbweiches. Doch kein Schrei, kein Protest kommt aus der Richtung, dessen bin ich mir trotz des Wetterlärmes sicher. Nur die Arme fuchteln weiter unruhig umher.
Droht mir der düstere Gesell etwa? Will er mir die Schlagkraft seiner Arme zeigen? „Haha! “ lache ich in die schaurige Nacht. „Die Zeiten sind längst vorbei, als ich noch an den Klabautermann oder den Nachtschrat glaubte. Kleine Kinder kannst du so vielleicht erschrecken, aber nicht mich, keinen, der die Naturgesetze studiert hat, der weiß, dass die Zeiten des Aberglaubens vorbei sind!“ Und ich hämmere mir wieder wie einst das Mantra in mein Unterbewusstsein: „Alles lässt sich erklären!“ Dort wird, dort muss jemand stehen, auch wenn seine Absichten rätselhaft erscheinen.
Ich nähere mich der Gestalt entschlossen bis auf wenige Schritte und strenge meine Augen an. Kein Zweifel: Die starre Körperhaltung bei gleichzeitig im Wind wedelnden Armen, das bleiche Gesicht mit dem starren Blick, … das ist nichts anderes als ein ausgestopfter, bemalter Strohsack, ein Starenschreck, von grober Hand zusammengesteckt und in Feldmitte aufgestellt. Die Blitze hatten, wie vermutet, seinen Schatten verzerrt auf die Bretterwand geworfen. Meine erregte Fantasie hatte sich aus dem Schattenwurf ein Teufelsbild ausgemalt! Nichts weiter! Die Welt, die uns umgibt, ist doch berechenbar! Mystisches und Unheimliches finden immer eine natürliche und rationale Erklärung. Allerdings – was hat eine Vogelscheuche jetzt im späten Herbst hier zu suchen, wo es nun nichts mehr zu schützen gibt? Die Ernte ist eingebracht. Die diebischen Vögel haben sich längst zerstreut oder sind in mildere Gefilde abgewandert. Man wird die Vogelscheuche hier vergessen haben.
Ich erkenne, dass es unsinnig ist, bei diesem Wetter schnell zum Wanderziel kommen zu wollen, zum wärmenden Gasthaus, zur beheizten Stube und zu einem warmen Nachtmahl. Meine Kleider triefen schon wie ein vollgesogener Badeschwamm und meine Wanderschuhe fühlen sich an wie ein überlaufender Teich. Außerdem lehrt uns die Wissenschaft, bei Gewitter nicht durch die Gegend zu eilen, sondern auf einem Fleck zu verharren. Also begebe ich mich zurück zu jener grauen Scheune, die ich erst vor wenigen Augenblicken passiert hatte, und hoffe inständig, sie möge nicht verschlossen sein. Ich stemme mich gegen die rostige Tür. Sie ist verzogen und klemmt, lässt sich aber nach etwas Rütteln unter Knirschen und Schaben aufdrücken. Das Innere ist mit undefinierbaren Gerätschaften angefüllt, die ich in der Dunkelheit nur erahnen kann. Wem würde es da nicht mulmig werden? Aber der Raum ist trocken und gewährt mir Schutz und Zuflucht. Eine Weile will ich hier niedersitzen und warten, bis das Gewitter vorübergezogen ist.
Nach geraumer Zeit ebben Regen und Wind ab. Die Abstände zwischen Blitz und Donner vergrößern sich, bis sich das Sekundenzählen nicht mehr lohnt. Allmählich kehrt eine merkwürdige Ruhe ein, eine Stille, als würde die Nacht den Atem anhalten. Nur die Tropfen, die von den alten Holzplanken herabrinnen, hören sich wie fernes Kichern an. Der leicht abgemagerte Mond schiebt sich hinter den davon wandernden Wolken hervor und taucht die Landschaft in ein kränkliches Licht. Eine Übernachtung in dem Schuppen in nasskalten Kleidern kommt für mich nicht in Frage. Ich verlasse mein schütteres Obdach und setze meinen Weg fort.
Richtig, da liegt die kleine Allee von Apfelbäumen, die den Weg säumt und dahinter erstreckt sich die kleine Kuppe inmitten des Feldes. Dort müsste wohl diese künstliche Kreatur stehen, die den gefiederten Schädlingen das Fürchten lehren sollte. Ich schreite entschlossen ein weiteres Mal herzu. Das bleiche Mondlicht erhellt leidlich die Szenerie. Ja, hier muss die Stelle sein, die mir vor vielleicht einer Stunde den Puls hochgejagt hatte. Ich verharre und schaue angestrengt, drehe mich um mich selbst. Hier ist – nichts! Ich erschaudere, doch nur kurz, dann lache ich über mich selbst: Natürlich, der aufgestellte Strohsack musste im Sturm umgeweht worden sein. Ich schreite die vermutete Stelle, dann das ganze umgebende Gelände im tropfnassen Gras ab. Ich nehme es systematisch erst in kleineren, dann weiter werdenden Kreisen in Augenschein. Doch so sehr ich forsche und spähe – es gibt keine Vogelscheuche oder etwas, das diesem Eindruck nahe kommt.
Mit keuchendem Atem jage ich meinen Weg durch die Nacht. Der Mond zeigt mir hinreichend deutlich die leichenfahle Schotterbahn des Waldweges. Ich eile, ich fliege fast darüber hinweg. Nur nicht nach hinten schauen! Mein Puls rast. Diese verdammte Herberge, ich müsste doch längst dort sein!
Im Stau
„Im Rotlicht muss er stehen, sonst kannst du gleich gehen“, ulkt Frank, mein Beifahrer, auf seine oft schlüpfrige Art. Ich muss hart auf die Bremse treten. Wie kann einer nur immer so lockere Sprüche auf Lager haben! Vor uns leuchten im diesigen Halbdunkel die roten Bremslichter der vor uns fahrenden Autos auf. „Keine Bange, nur ne Schlange“, fügt er trocken hinzu.
„Mist! Ausgerechnet vor dem Tunnel! Keine Ausfahrt in Sicht!“, raunze ich und ziehe nach links, um die Rettungsgasse frei zu halten.
„Lieber vor als im“, ergänzt Frank, und eigentlich hat er recht. Mein Auto kommt zum Stillstand. Vor uns verschwindet die stehende Autoschlange im Albgrundtunnel, dessen Eingang nur wenige Schritte vor uns liegt. Hinter uns wächst der Stau rasch an.
„Aber ne Baustelle war nicht angezeigt“, erinnere ich mich.
„Lieber Braustelle als Baustelle. Hoffentlich kein Unfall im Tunnel, das könnte lange dauern. Ich mach dir mal ’s Radio an, wollen mal hören, ob der Verkehrsfunk was unkt“, beeilt sich Frank, mir zu helfen. Doch wie sehr er auch den Kanalsucher hin- und herschickt, er bekommt einfach keinen Sender herein. „Ziemlich berauschend!“, kommentiert er den Wellensalat.
„Wohl’n Funkloch“, vermute ich, „stell lieber wieder ab! Batterie sparen. Wer weiß, wie lange das dauert.“ Ich schalte auch das Licht aus.
„Was ist’n der Unterschied zwischen einem Funkloch und einer ledigen Frau?“
„Mensch, halt mal die Klappe! Kannst du nicht einen Moment seriös sein?“, pflaume ich Frank genervt an.
„Schady um die Party“, kalauert der schon wieder. „Machen wir ne Party hier drinnen! Du singst, ich tanze!“
„Mir ist nach Scherzen echt nicht zumute! Ich hasse Staus und das ungewisse Warten! Du etwa nicht?“, nörgle ich los. Denn ich bin ein Mann der Tat. Nichts ist schlimmer für mich als untätig herumsitzen zu müssen. Wenn ich doch wenigstens mein Laptop dabei hätte.
„Na, nu bleib mal locker auf’m Hocker“, reimt Frank in unerschütterlicher Albernheit. „Das wird schon wieder. Wenn erst mal Polizei und Rettung da sind, dann gehts weiter auf der Leiter. Wirst sehen.“
Doch auch nach zehn Minuten ist kein sich näherndes Blaulicht zu erkennen. Der Stau steht. Übrigens auch auf der Gegenspur. Bislang kam kein einziges Auto entgegen. Also steckt auch der Gegenverkehr fest. „Muss doch was Größeres sein!“, stöhne ich frustriert. Auch die anderen Fahrer schalten nach und nach die Motoren ab und machen die Lichter aus. Zum Glück ist es draußen nicht kalt, so dass man auch ohne die Stromfresserheizung über die Runden kommen sollte. Einige Leute vor und hinter uns steigen aus, schauen sich um oder rauchen eine Zigarette. Doch da sich gar nichts weiter ereignet, steigen die meisten wieder in ihr Fahrzeug ein und scheinen einfach abzuwarten. Geduld ist gefragt. Das würde eine längere Sache werden, schien zu befürchten.
„Hast du noch was vorgehabt heute Abend?“, frage ich meinen Freund.
„’N Abendessen mit Silvie geht mir durch die Lappen!“, seufzt er übertrieben. „Jetzt hatte ich die endlich so weit, und ich muss hier festhängen. Noch dazu nur mit nem Mann. Echt hartes Los. Und du?“
„Die Generalversammlung des Kleintierzüchtervereins muss wohl ohne mich stattfinden! Nicht so schlimm, bin sowieso nur passives Mitglied.“
„Wow, das nenn ich erst ein schweres Schicksal!“, uzt Frank. „Dass aber auch gar nichts vorangeht! Ich such mal mit’m Handy die Verkehrsnachrichten. … Mist-Biest! Krieg gerade nichts rein …“
„Hey, ruf doch besser mal gleich deine Silvie an, die soll im Internet nachschauen, was da vorne los ist! Sag ihr, im Albgrundtunnel …“
„Keine Verbindung! Gibt kein Netz hier! Nada! Niente!“, schüttelt Frank den Kopf. „Radio, Netz, Handy, alles tot hier! Schlau die Sau! Und irgendwie witzig, Herr Hitzig!“
Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich muss mal – für kleine Jungs. Gibt niemand, der das gerne macht, so im Blickfeld hunderter Staukameraden und natürlich auch -kameradinnen. Aber es ist fast Nacht, und irgendwie scheint alles um uns herum schon zu schlafen. Nicht mal Innenlichter, keine Raucher mehr vor der Tür. „Wie Ballermann im Lockdown“, ruft mir Frank nach draußen zu.
Nach vollbrachter Tat setze ich mich wieder hinter das Steuer und stelle die Rückenlehne schräg. „Komm, wir machen’s uns bequem! Wird eh nichts mehr mit meinen Kaninchenzüchtern. Wann kommt man mal so zeitig ins Bett! “
„Und Silvie ist heut solo, ohne ihren Prolo. Vielleicht gar nicht so schlecht. Man muss sich bei den Frauen rar machen, wenn man sie erobern will. Lässt du sie allein, stöhnt sie wie ein Schwein“, blödelt Frank drauflos. Wir tauschten noch eine Weile Belanglosigkeiten aus. Immer häufiger aber schweigen wir.
„Mann, mach doch mal das Fenster auf, die Luft hier drin wird langsam Suppe“, fleht Frank nach einer Weile, und wir drehen die Seitenscheiben herunter. „Draußen müffelt’s aber auch nicht besser. Da atme ich lieber Eigenduft.“ Wir drehen die Scheiben schnell wieder hoch. Irgendwann müssen wir beide dann eingeschlafen sein.
Mitten in der Nacht erwache ich mit Rücken- und Kopfschmerzen. Draußen ist es stockfinster. Der Himmel ist schwarz wie ein Kohlensack von innen. Die Autoleiber um uns kann man mehr erahnen als sehen. Abwarten und Tee trinken, wenn du Tee hättest. Frank schnarcht schleppend.
Im ersten Morgengrauen kann ich es nicht mehr aushalten. Man muss doch etwas unternehmen. Ich stoße Frank an und erkläre, dass ich den Stau jetzt abliefe und er mit dem Auto nachrücken solle, falls sich die Schlange in Bewegung setzen würde. Frank antwortet nicht, der Penner. Wie kann man in so einer Situation nur so entspannt sein. Außerdem ist die Luft im Innern jetzt total verbraucht und riecht streng wie im Raubtiergehege.
Die Morgenluft schlägt mir feuchtkalt ins Gesicht und riecht auch, – aber nach etwas anderem. Nach Schimmelpilzen? Nein, mehr so wie gammliges Leder. Ich schaue mich um. Die Insassen der umliegenden Fahrzeuge scheinen alle noch zu schlafen. Die meisten haben ihre Seitenscheiben einen Spalt weit geöffnet. Hätten wir auch machen sollen, dann würde mein Schädel jetzt nicht so brummen. Ich gehe links vom Seitenstreifen auf dem grau schimmernden Gras los, der Ursache des Staus entgegen. Gleich erreiche ich den Tunneleingang, der mich aufnimmt wie der geöffnete Schlund eines Ungeheuers. Die Autos stauen sich auch darin in Doppelreihe und verlieren sich im Dunkel. Merkwürdig, es gibt kein Licht im Tunnel. Alles ist still. Ich fasse mir ein Herz und klopfe an irgendein Seitenfenster, das etwas heruntergedreht ist. Keine Reaktion. Der Fahrer, ein junger Bursche, scheint tief zu schlafen. Ich gehe zum nächsten Fahrzeug. Hinter der geschlossenen Scheibe erkenne ich das Gesicht einer Frau mittleren Alters, deren Augen geschlossen sind. Weitere Insassen sitzen mit aneinandergelehnten Köpfen auf der Rückbank. Ich klopfe erst zaghaft ans Seitenfenster, dann beherzt mit der flachen Hand aufs Dach. Da immer noch niemand reagiert, öffne ich vorsichtig die Fahrertür. Ich berühre die Schlafende leicht an der Schulter, rüttle dann fester, schließlich schüttle ich den Oberkörper der Frau heftig durch: „Entschuldigung, dass ich störe – ist Ihnen etwas …?“ Da, endlich öffnen sich ihre umrunzelten Augenschlitze wie unter großer Mühe ein wenig, und sie murmelt undeutlich und abweisend: „Lass mich in Ruhe, … bin müde, … hau ab …“ Bestürzt lasse ich die Tür zufallen und gehe rasch aber vorsichtig so weit in den Tunnel hinein, wie das matte Morgenlicht, das vom Eingang hereinkriecht, gerade noch die Orientierung ermöglicht. Niemand der hier Wartenden reagiert, öffnet die Autotür oder spricht mich an. Im Gegenteil, ich werde erneut gewahr, dass um mich Totenstille herrscht. Wenn es nur nicht so penetrant nach fauligem Leder riechen würde. Nein, es riecht nicht, es stinkt. So ähnlich, wenn auch nicht so heftig, hatte Opas Aktentasche gemüffelt, als ich sie vor einigen Jahren im hintersten Eck des feuchten Kellers entdeckte. Graue Schimmelflecken zierten ihre einst schwarzlederne Klappe. Zum Wegwerfen!
Jetzt erinnere ich mich an die kleine Taschenlampe, so ein kleines LED-Kraftpaket, dessen heller Strahl mir den Weg weiter in die lichtlose Röhre weist. Mein Kopfdruck ist schlimmer geworden. Man sollte immer eine Aspirin bei sich führen. Als ich es nach vielleicht hundert Metern wage, in eines der stehenden Autos hineinzuleuchten, ergreift mich Grauen: Der Lichtstrahl fällt auf das Gesicht eines alten Mannes, dessen glasige Augen angstvoll und starr in die Ferne schauen und dessen Mund wie zu einem stummen Schrei aufgerissen ist. Ein Blick, wie von Edvard Munch gemalt. Ich öffne die Tür, um Hilfe zu leisten, doch der Mann fällt mir leblos in die Arme und, ehe ich ihn richtig fassen kann, von da wie ein Sack auf den Fahrbahnrand. Ich schreie entsetzt auf: „Hilfe! Her zu mir! Da braucht jemand Hilfe! Einen Arzt!“ Doch niemand kommt aus den blechernen Refugien heraus, deren dunkle Scheiben mich wie bösartige Reptilien anzustieren scheinen. Ich trommle gegen Fenster und Türen der nächstgelegenen Autos, ohne auch nur die geringste Reaktion hervorzurufen. „Seid Ihr denn alle bescheuert? Warum antwortet denn keiner?“ brülle ich meine verunsicherte Empörung heraus. Ich leuchte einige Köpfe ab. Da scheint nirgendwo Leben zu sein. Ich reiße wahllos einige Türen auf. Die Menschen geben kein Lebenszeichen von sich.
Mein Puls rast, mein Atem keucht stoßweise, und ich bemerke voller Schrecken, wie sich mein Sehvermögen einzutrüben beginnt. Die Konturen der leblosen Personen verschwimmen im Licht der Taschenlampe. Ich beginne, mit schlurfenden Schritten zurück zu taumeln, erst eilig, dann immer schwerfälliger. Was ist das? Wie in schlimmen Alpträumen wollen meine Beine dem Willen nicht folgen und werden von Sekunde zu Sekunde schwerer. Schwer wie Blei. Auch meine Gedanken. Sie kommen ins Stocken. Raus hier! Wohin? Wo ist der Ausgang? Die Lampe fällt mir aus der Hand. Ich komme ins Stolpern. Schlage mit dem Gesicht beim Fallen auf einen Randstein. Ich spüre noch das warme Blut an meiner Wange herabrinnen, versuche weiterzukriechen. Dann verliere ich das Bewusstsein.
Shivas Tanz
Meine Zehen bohren sich in den weichen Schlick und graben spielerisch und absichtslos die eine oder andere Muschel aus ihrem Versteck. Wie herrlich das ist, nach einem langen und anstrengenden Wandermarsch dieses Paradiesfleckchen gefunden zu haben, mit Aussicht auf Entspannung. Ich will mich hier eine Weile ausruhen, ehe ich meinen Weg fortsetze. Und so sitze ich, angelehnt an einen alten, morschen Weidenstamm, leicht sommerlich bekleidet, am Rand eines überschaubar kleinen Sees in verschwiegener Landschaft. Denn ich bin ganz alleine hier. Keines Menschen Stimme verunreinigt die weltentrückte Atmosphäre. Die Oberfläche des Gewässers liegt spiegelglatt. Die Luft schweigt und duftet nur still nach Schlangen-Knöterich, Blutweiderich und Mädesüß.
Den Rucksack habe ich von mir geworfen, meine feuchtwarmen Schuhe und Socken abgestreift, und meine Füße baumeln im kühlenden Wasser. Die späte Nachmittagssonne scheint warm in mein Gesicht. Ich lasse alles von mir abfallen, den Stress der letzten Tage, die unendlichen Sitzungen und Planungsbesprechungen. Ich gebe mich ganz dem Moment hin, nichts denkend, nichts wollend, nichts planend, versunken im Sein, im Hier und Jetzt. Ich habe das immer wieder geübt, seit ich vor drei Jahren den Meditationskurs in der Volkshochschule belegte. Ich kann inzwischen schnell abschalten und mich auf Ruhe konzentrieren.
Wie ich so in halber Trance versunken und mit geschlossenen Augen weile, da nimmt mein etwas in die Ferne gerücktes, aber immer noch in Bereitschaft stehendes Bewusstsein ein ungewisses Summen wahr, mehr ein Vibrieren der Luft. Der Ton, wenn man das überhaupt so nennen kann, dieses Brummen, ist tief und von einer Art, wie ich ihn noch nie gehört habe. Oder doch? Vielleicht bei meinem letztjährigen Klosterbesuch in Tibet, wo ich jenen Mönchsgesang kennengelernte. Dort leben Männer, die eine besondere Gesangstechnik beherrschen. Durch sie wird die menschliche Stimme in abgründige Tiefe versetzt und erzeugt einen fast hypnotischen Klang. Er soll den Geist in religiöse Versenkung versetzen und ihn für spirituelle Erlebnisse öffnen.
Ich gebe mich diesem Orgeln hin. Es ist betörend, es lullt mich ein. Ich frage nicht, woher es kommt und wozu es dient. Es ist einfach da. Ich bin da. Die Zeit steht still. Das Summen, das wie aus der Ferne des Erdmittelpunktes zu kommen scheint, geht in ein kreisendes, zartes Beben über, als würde es von vielen kleinen Schallerzeugern gleichzeitig ausgelöst, um die Luft, nein, den ganzen Äther mit ihrem Tremolo zu durchdringen. Meine Chakren beginnen sich zu öffnen und zu erweitern. Ich nehme Teil an Shivas kosmischem Tanz. Alles ist Schwingung. Die Welt wird zum Meer tanzender Energiemoleküle.
Nach einer gefühlten Ewigkeit setzt mein Tagesbewusstsein wieder ein. Diese verdammte, rationale Denkmaschine, die immer den unbekannten Dingen auf den Grund gehen will, die ein Geheimnis nicht ein Geheimnis bleiben lassen kann, fragt mich aufdringlich: Was ist das? Und meine Physis unterwirft sich dieser Kommandofrage wie ein Diener seinem Herrn: Ich öffne die Augen.
Ach hätte ich es nur nicht getan! Hätte ich nur weiter in meiner spirituellen Versenkung verbracht. Er wäre mir erspart geblieben, der Schrecken, den ich jetzt erleben muss: Ich sitze inmitten eines Schwarms von Hornissen, die mich nervös umkreisen! Warum sie sich ausgerechnet mich als verlockenden Orientierungspol ausgesucht haben, erfasse ich im Moment nicht. Jedenfalls werde ich mir sofort der Gefahr bewusst, in der ich mich befinde. Ich leide nämlich an einer Insektengift-Allergie. Schon ein Wespenstich erzeugt in meinen Zellgeweben heftige Schwellungen und Kreislaufprobleme. Und Hornissen sind ja eine Art großer Wespen. Ah! Weg hier! Panik und Flucht!, schreien mein Instinkt und mein Bauchgefühl im Duett.
Nun ist es wiederum ein Vorteil unseres Bewusstseins, die Kontrolle behalten zu können, und dieses redet mir besonnen zu: Beherrsche dich! Bleib einfach still sitzen! Bewege dich nicht! Auch Hornissen stechen nur, wenn sie sich bedroht fühlen. Ein reglos dasitzender Mensch wird für sie keine Bedrohung darstellen. Tatsächlich, die riesigen Insekten greifen nicht an, sie umschwärmen mich nur. Irgend etwas an mir muss ihre Aufmerksamkeit erregt haben. Das Surren wird aber auch nicht geringer.
Es sind aber zwei unterschiedliche Dinge: die Entschlossenheit, der Gefahr durch Aussitzen zu trotzen auf der einen und die Nervenstärke, das auch längere Zeit durchhalten zu können auf der anderen Seite. Außerdem scheinen sich die Kieselsteine unter meinem Hinterteil immer mehr in dasselbe hineinzubohren, je länger diese Geduldsprobe anhält. Wann legen sich Hornissen eigentlich schlafen? Nachts jedenfalls habe ich noch keine Wespenartigen fliegen sehen. Es würde aber wahrscheinlich noch Stunden dauern, ehe Dunkelheit und Abendkühle den Flugtrieb dieser schwarzgelben Bestien beruhigen. Hilfe von außen ist nicht zu erwarten. Dieser Ort liegt so abseitig, und ich bin so einsam und auf mich gestellt wie Adam vor Evas Erschaffung.
Neben Meditation beschäftige ich mich auch seit einiger Zeit mit Yoga. Ich habe gelernt, den Körper und seine Bewegungen zu beherrschen. Und so fällt mir nichts Besseres ein, als mich rücklings, mit den Füßen voraus, in extremem Zeitlupentempo unter Einsatz von Armen und Beinen ganz langsam abwärts in den See gleiten zu lassen. Meine Lider kneife ich als Schutz vor dem dröhnenden Gewimmel zu Schlitzen zusammen, aber auch, um die Biester nicht durch meinen Blick zu provozieren. Hunden soll man bekanntlich nicht direkt in die Augen schauen, wenn sie einen bedrohen. Meinen Atem versuche ich so zu beeinflussen, dass ich ganz kontrolliert und nur flach Luft einhole und ausstoße. Die schwärmenden Ungeheuer dürfen meine Angst keinesfalls bemerken.
Es mag auf diese Weise eine ganze Weile gedauert haben, bis mein Körper, ohne nennenswert Wellen geschlagen zu haben, ganz ins Wasser geglitten ist. Zum Glück fällt der Seeboden kurz nach der Uferböschung ab, so dass allmählich nur noch mein Kopf, dann nur noch die Nase samt Augen aus der Wasseroberfläche ragt. Jetzt sauge ich noch drei, vier tiefe Atemzüge ein und tauche dann entschlossen ab. Dann erst wende ich meinen Körper unter Wasser um und rudere schnell und mit kräftigen Zügen so weit in den See hinaus, wie es meine vollgesogenen Kleider und die zunehmend schmerzenden Lungen zulassen. Dazu kommt die Angst, mich in den streifenden Wasseralgen zu verwickeln und von ihnen in der Tiefe gefangen zu werden.
Erst als meine Atemnot auf dem Höhepunkt angelangt und mein Hunger nach Sauerstoff fast unerträglich geworden ist, wage ich es aufzutauchen und tief Luft zu schöpfen. Sofort beginne ich mit wilden, spritzenden und nicht mehr kontrollierten Schwimmbewegungen und hektisch atmend weiter von dem Ort der Bedrohung wegzukommen. Erst als mir der Abstand weit genug vorkommt und ich mich etwas sicherer fühlen darf, wage ich es, zum Ufer zurückzublicken.
Und dort kreist noch immer der aufgewühlte Flügelschwarm genau an der Stelle, wo ich vor kurzem gesessen bin. Er ist mir gottseidank nicht gefolgt. Ich bemerke aber auch, dass die summende Wolke abnimmt. Die in der Sonne glitzernden Monster sind wohl dabei, durch ein Astloch in den alten Weidenstamm zurückzukriechen, an den ich mich gelehnt hatte.
Ich schwimme zum gegenüberliegenden Ufer und steige an Land. Zu den Hornissen hätten mich keine zehn Pferde mehr zurückbringen können. Nach einigen Minuten der Erholung und Beruhigung setze ich meine Wanderung fort. Als ich am Ziel ankomme, sind meine Kleider am Körper längst getrocknet. Das Opfer meines Rucksackes wiegt gering angesichts des Umstandes, einer Lebensgefahr entronnen zu sein. Nur meine nackten Füße haben etwas gelitten, denn auch meine Socken und Schuhe ließ ich gerne im Herrschaftsgebiet der Weidenstammbewohner zurück. Mögen mutigere Finder ihre Freude daran haben.
Nach dem Virus1
Ach, wie duftet die Stadtluft auf einmal so frisch und frei. Frei sind auch mein Geist und mein Gemüt, wie ich so entspannt die Stuttgarter Kaiserstraße entlang schlendere. Sonnenstrahlen umspielen die aufbrechenden Alleebäume und bunten Fassaden der Geschäfte und Cafés. Die Menschen trauen sich wieder aus ihren Häusern. Wie neu geboren erscheint die Welt, der drohenden Apokalypse entronnen.
Denn es hatte eine Pandemie ungeheuren Ausmaßes geherrscht, die alle Kontinente mit sich riss. Nun war sie am Abklingen. Das Virus war neu, unbekannt und unheimlich, die Krankheitsverläufe unterschiedlich und kaum vorhersagbar. Die meisten Infizierten hatten keine oder geringe Symptome, so wie ich, andere schwere, und etliche Unglückliche starben daran – weltweit immerhin über 150 Millionen! Eigentlich gar nicht so viel, wenn man bedenkt, wieviel Menschen durch Kriege, Hunger, den Straßenverkehr, Naturkatastrophen, Verbrechen und Selbstmord jährlich ums Leben kommen. Aber es war die Angst, die die Menschen lähmte und die Wirtschaftsdaten samt Aktienkursen abrutschen ließ wie Schneelawinen vom Dach. Nun aber geht die Welt wieder guten Zeiten entgegen. Es würde ein schönes Frühjahr werden – ohne Zwangsquarantäne, ohne diese albernen Gesichtsmasken. Ein Impfstoff ist allerdings immer noch nicht gefunden. Die Epidemie ist einfach von selbst abgeklungen. Die Virologen wundern sich und suchen noch nach Erklärungen. Die Fallzahlen sinken seit Monaten rapide, die Kurve der Todeszahlen schrumpft weltweit seit Wochen. Allmählich versandet auch das mediale Interesse an der Seuche. Sie scheint ausgestanden. Die Welt wendet sich wieder neuen, attraktiveren Themen zu.
Ich nehme auf dem Freisitz eines netten, kleinen Straßencafés Platz, bestelle einen Cappuccino und schaue dem bunten Treiben zu. Ein emsiges Hin und Her wie im Ameisenhaufen erfüllt die Geschäftsmeile, Menschen beim Einkauf, beim Vergnügen, Menschen auf dem Weg zur Arbeit und – endlich wieder – Touristen, die seit wenigen Wochen wieder frei reisen dürfen.
Ich schlürfe entspannt den warmen und süßlichen Trunk und sehe mich zufrieden um. Die Luft riecht frisch nach den ausschlagenden Knospen der Bäume, gar nicht wie nach Innenstadt und Automief. Eigentlich habe ich diese Monate psychisch gut überstanden. Einige meiner Kollegen hingegen fielen in eine Depression. Andere haben heute noch mit den organischen Nachwirkungen der Viruserkrankung zu kämpfen. Mir hatte die Infektion kaum etwas ausgemacht: etwas Triefnase, zwei Tage ein wenig schlapp, das war’s auch schon. Bin halt auch ein starker Typ! Ein gutes Immunsystem braucht man eben.
Auf der anderen Seite der Allee in Richtung Hauptbahnhof, einen Häuserblock weiter, da scheint auf einmal etwas los zu sein. Vielleicht wieder ein Straßenkünstler? Wie lange mussten wir auf solche Belustigungen verzichten! Ein Menschenauflauf entsteht, Unruhe breitet sich aus. Ein Krankenwagen kommt blinkend und mit Tatütata hergeeilt. Er bleibt einige Zeit stehen, fährt dann wieder ab. Die Menschen zerstreuen sich. Kommt vor, so etwas. Kreislaufschwäche vielleicht? Herzinfarkt? Mit gesundem Essen und Sport passiert so etwas nicht, dafür sorge ich schon. Und mit einem ausgeglichenen Gemüt, sage ich immer.
Mein Blick folgt den Passanten um mich, Kinder, Paare, junge, alte, schnelle, langsam promenierende. Ich schaue gerne den Leuten zu, wie sie aussehen, wie sie gehen, welche Gesichter sie machen. Heute sehen die meisten glücklich aus. Ein Mann jedoch fällt mir auf. Er ist vielleicht etwas älter als ich, unauffällig gekleidet, Jeans, billiges Lederjackenimitat vom Discounter. Er schaut ziemlich verkniffen drein und geht merkwürdig unrhythmisch. Seine Bewegung geht in ein spastisches Zucken über. Er bleibt stehen, als holte er mühsam Luft. Dann verdreht er die Augen. Seine Beine winden sich wie eine Spirale ein, und der Körper kippt um und bleibt, kaum zwei Dutzend Schritte von mir entfernt, reglos auf dem Pflaster liegen. Sofort beugen sich Menschen zu dem Mann, versuchen Hilfe zu leisten. Nach wenigen Minuten kommt wieder ein Krankenwagen. Zwei Sanitäter stürzen heraus. Reanimationsversuche mit einem Defibrillator. Es ist wie im Film. Tuff! … Der Körper zuckt. … Tuff! Wieder bäumt sich der Rumpf kurz auf. Er wird doch nicht tot sein? Wie unangenehm, so nahe bei mir. Die Sanitäter packen eilig den immer noch krampfartig verdrehten Körper auf eine Bahre, laden diese ein und fahren ab. Es dauert, bis die Umstehenden erregt auspalavert haben und sich zerstreuen. Mein Blut wallt, denn man erlebt nicht jeden Tag eine solche Szene. Habe ich denn jemals eine so hautnah miterlebt? Ja, einmal vor vielleicht dreißig Jahren. Damals, in Paris, war eine alte Frau mitten auf den Champs Élysées zusammengesunken, und ich hatte den Wiederbelebungsmaßnahmen unmittelbar zuschauen müssen.
Ich versuche, mich wieder zu entspannen, sauge die süßlichen Frühlingsdüfte ein. In einer so großen Stadt wird gelebt, geliebt und gestorben. So ist und so war es immer schon. Einer wird geboren, ein anderer dankt ab. Drum lebe ich nach der Devise: Genieße deine Tage, erfreue dich an den schönen Dingen des Lebens, wie zum Beispiel – diese junge Frau, die dort spaziert und jetzt vor einem Schaufenster stehen bleibt. Sie ist hübsch und auffällig gekleidet. Deshalb hat mein Blick sie sofort herausgefiltert. Ihre blonden Haare wehen im sanften Wind. Eine farbenfrohe Bluse unter leichter Frühjahrsjacke. Ein Seidenschal elegant um den schlanken Hals geworfen. Die Lippen geschminkt. Ein Hingucker. Ob ich mal wie zufällig zu ihr rüberschlendere? Ja, auch das Flirten ist lange Zeit auf Eis gelegen. Das muss man geradezu wieder üben. Die Gesichtsmasken wirkten so gar nicht sexy. Und ich konnte meinen gewinnenden Blick mit diesen dampfenden Popeldingern nicht ausspielen. Doch was hat sie? Sie fasst sich plötzlich irritiert an den Hals, irgend etwas scheint nicht in Ordnung zu sein. Sie zuckt, als verlöre sie die Kontrolle über ihre Gliedmaßen. Sie ringt nach Luft und sinkt dann gekrümmt auf den Boden. Und wieder ein Menschenauflauf!
Jetzt werde ich unruhig und zahle rasch. Der Tag hat seinen Zauber verloren. Ich warte den Krankenwagen nicht ab und gehe weg. Zum Bahnhof will ich, raus aus der verdammten Innenstadt. Wie merkwürdig, die Menschen wirken auf einmal verändert. Ihre Blicke sind abweisend und misstrauisch geworden und verschlossen. Ich kenne das, so war es auch an den Höhepunkten der großen Epidemie gewesen. Etliche haben bereits wieder ihre zerknitterten Masken aus der Versenkung der Hosenoder Jackentaschen hervorgezogen. Die hoffnungsvolle Fröhlichkeit, die noch vor einer Stunde diesen Stadtteil so wunderbar erfüllte, ist verschwunden. Die Menschen eilen mit eingezogenen Köpfen ihrem Ziel entgegen, als wollten sie auch möglichst schnell von hier weg.
Ich greife mein Smartphone und checke im Gehen die Nachrichten. Sabrina hat geschrieben, meine Freundin. Sie mahnt mich, sofort nach Hause zu kommen. Ich rufe sie an und frage, was los sei. Sie redet schnell und unruhig: „Es gibt rätselhafte Todesfälle auf dem ganzen Kontinent, heute über 67 allein in Stuttgart. Immer kommt erst ein krampfartiger Anfall, dann ein rascher Tod durch Ersticken, wird gesagt.“ Und dann stößt sie entsetzt die Worte aus, die meine Nackenhaare sich sträuben lassen: „Die Opfer waren offenbar alle an dem neuen Virus vorerkrankt und galten als genesen!“
„Das hat doch noch lange nichts zu sagen!“, schreie ich jetzt selber nervös ins Gerät. „Die Durchseuchung der deutschen Bevölkerung liegt immerhin bei ungefähr vierzig Prozent, da ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass unter den neuen Vorfällen einige vom Virus Genesene dabei sind und … “
„Ja, aber“, fällt mir Sabrina ins Wort, „es gibt keine Ausnahmen, war eben in den Radionachrichten zu hören. Auch nicht in den USA, in ganz Asien, in Südamerika!“ Das Staccato ihrer Stimme überschlägt sich: „Überall auf der ganzen Welt sterben nur solche Menschen ganz plötzlich, die sich bereits angesteckt hatten! Komm sofort heim!“
Ich beschleunige meine Schritte und gerate in eine drängende Menschenmasse. Sie scheint in Richtung Kriegsbergstraße zum Klinikum zu quellen. Ich kann mich nur mit Mühe daraus befreien. Habe ich nicht auch noch eine Maske irgendwo in einer Jackentasche? Ich fische sie heraus, streife sie in Form und ziehe sie über Mund und Nase, während ich weiter zum Hauptbahnhof eile. Ich renne zur S-Bahn, erwische gerade noch einen gedrängt vollen Waggon, quetsche mich zwischen die Leute. Manche diskutieren erregt, andere wenden sich, wie ich eingehüllt in ihre Atemmaske, von allen ab. Meine Hand fasst die Haltestange. Es ist ein enges Geschiebe. Die Bahn fährt mit einem Ruck an. Es ist so stickig hier … mein Atem … der Brustkorb … wie versteinert … Ich bekomme keine Luft … reiße meine Maske vom Gesicht … das enge Gedränge … raus hier … nur nichts wie raus … zur nächsten Station … Die Türen gehen auf … Warum bekomme ich die Hand nicht von der Stange … die Hand … Sie ist ganz verkrampft … meine Beine … Sie wollen nicht …
1 geschrieben am 2.3.2020, zu Beginn der Corona-Pandemie!
Zeitreise
Gedankenverloren starre ich vor mich hin. Mein Körper fügt sich dem zumeist gleichförmigen Rattern und Ruckeln. So ein Stahlungetüm in voller Fahrt entwickelt seine eigenen Rhythmen, die dich narkotisieren können. Deine Sinne erscheinen wie gelähmt, und du gerätst in einen Zustand eigenartiger Zeitlosigkeit.
Ich sitze in einem abgetrennten Abteil der transsibirischen Eisenbahn und bin bereits einen halben Tag unterwegs. Draußen schwebt die eisgraue Landschaft irgendwo zwischen Nischni Nowgorod und Jekaterinburg vorbei. Selten war ich bislang alleine in meinem Abteil, in dem sechs Personen Platz nehmen können. An unzähligen Bahnhöfen steigen immer wieder Leute aus und ein. Meine Gegenüber und die anderen Mitreisenden wechseln etwa im Halbstundentakt. Es ist ein Kommen und Gehen, denn nicht jeder hat eine so lange Reise vor sich wie ich.
Es mögen bereits Dutzende solcher Personenwechsel stattgefunden haben, Menschen, an deren Gesichter ich mich keine fünf Minuten lang erinnere, als auf einmal, es war am kleinen Bahnhof von Schachunja, ein schlanker, älterer Mann die Tür zu meinem Abteil aufschiebt und behutsam, ja fast etwas scheu hereintritt. Wir sind zu diesem Zeitpunkt die beiden einzigen Fahrgäste im Abteil. Mit der größten Liebenswürdigkeit macht der alte Herr eine altmodisch und fast komisch anmutende Verbeugung und spricht mit zarter und feiner Stimme: „Ich darf mich vorstellen: Pjotr Wassiljewitsch aus Ugradow.“