Was richtig ist - Sebastian Kalkuhl - E-Book

Was richtig ist E-Book

Sebastian Kalkuhl

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Beschreibung

Seit Jahrtausenden wachen Schutzengel über die Menschheit. Cassiel ist einer von ihnen - und er würde alles tun, um Sam zu schützen. Auch wenn es bedeutet, Regeln zu brechen, die Welt in Gefahr zu bringen oder sich mit der Hölle anzulegen. Die meiste Schutzengel machen ihre Arbeit gut. Cassiel macht sie richtig. Das erste Buch aus dem #engelcontent-Universum!

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Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Was richtig ist

Was richtig istImpressumWidmungPrologErster Akt123Zweiter Akt45678Dritter Akt910EpilogCharakterübersichtDanksagungÜber den Autor

Was richtig ist

Sebastian Kalkuhl

Impressum

Texte

© Sebastian Kalkuhl

1. Auflage 2019

ISBN Print 978-3-7467-7254-7

Cover

© Robyn van Haase

robyn.vanhaase.de

Layout und Satz

© Cay Jakob Rahn & Nanouk Sebastian Helzle

Lektorat

Lydia Jablonski

www.LydiaJablonski.de

Verlag

Sebastian Kalkuhl

Unnaer Straße 7

59439 Holzwickede

info@sebastiankalkuhl.de

Widmung

Für meine Hunde. Es war immer richtig gewesen, dieses Buch zu veröffentlichen.

Prolog

Dienstag, 1. September

2 Monate vorher

Da war der Glimmer wieder. Er hing mitten in der Einfahrt, entzog sich jeder Beschreibung und brachte das Gefühl mit sich, dass hier etwas Seltsames geschehen war. Sam blieb stehen, um einen genaueren Blick darauf zu bekommen, blinzelte; da war nichts mehr. Martin unterdessen ging seelenruhig durch die Stelle hindurch, an der sich der Glimmer vielleicht befunden hatte, weder er noch die alte Dame hinter ihnen dürfte ihn überhaupt mitbekommen haben. Es würde keinen Sinn ergeben, sie darauf anzusprechen.

»Kommst du?«, rief Martin von seinem Auto aus herüber.

Sam nickte, verabschiedete sich noch einmal von der alten Dame und beeilte sich, einzusteigen.

»Das ist im Grunde alles, was du machen musst«, erklärte Martin kaugummikauend, noch während er sich anschnallte. Direkt beim Verlassen des Hauses hatte er eine gelangweilte bis genervte Miene aufgesetzt und sich offenkundig nicht darum geschert, dass ihn die Dame noch hatte sehen können. Jetzt gab er Gas, minimal über der Geschwindigkeitsbegrenzung, und Sam erwischte sich erneut beim Gedanken, dass es anders fahren würde. »Du kennst die Route ja jetzt, du bringst den alten Leuten Essen vorbei, unterhältst dich noch ein bisschen nett, lächelst und das war’s dann auch schon.«

Sam nickte. »Klingt machbar.«

»Grade eben so.« Martin grinste und bog auf die Hauptstraße. »Manche von denen nerven ein bisschen. Sind alleinstehend, Ehemann ist gestorben, haben sonst keinen zum Reden, das Übliche halt. Die brauchen das bisschen mehr Zeit, das du eigentlich nicht hast, wenn du nicht hetzen willst. Aber sonst...«

»Ich werd schon klarkommen«, erwiderte Sam und hoffte, das Thema damit erledigt zu haben.

»Da hab ich auch keinen Zweifel dran«, sagte Martin. »Hast du heute Abend noch was vor? Ich mein, wir haben jetzt ja technisch gesehen Feierabend und noch sind die ganzen Kneipen nicht brechend voll, da könnten wir ja theoretisch...« Er kommunizierte das Ende des Satzes über wildes Gestikulieren, sodass er einen Moment lang keine Hand mehr am Lenkrad hatte.

Sam zögerte eine Weile und versuchte ihn zu lesen. Die gesamte Fahrt über hatte er sich nicht direkt unsympathisch benommen, von kleinen, bissigen Kommentaren manchmal abgesehen, aber die wenigsten Leute, die einem wirklich etwas Böses wollten, benahmen sich auch so. ›Andererseits‹, dachte es, ›ich kann auf mich aufpassen, mir passiert schon nichts. Und ich war seit Ewigkeiten nicht mehr abends unterwegs.‹

Es unterdrückte ein leichtes Seufzen, mehr von sich selbst genervt als von der Frage, an der es für seinen Geschmack schon viel zu lange herumüberlegte. »Wenn du uns was Vernünftiges findest, dann ja.«

Martin warf einen Seitenblick zu Sam hinüber, der sehr deutlich fragte, ob es das ernst meinte. So selbstbewusst, wie der Kerl fuhr, wie er auftrat und wie er seine Haare trug – manche Frisuren sagten zuverlässiger einen bestimmten Typ Mensch voraus als andere und die hier gehörte zu Ersterem – wunderte es Sam nicht, dass er sich auskannte. Wahrscheinlich ging er jede zweite Woche mit einem großen, aber losen Freundeskreis feiern. Gerne inklusive ein paar junger Frauen, die sie irgendwo kennengelernt hatten, und für die er Sam wahrscheinlich gerade hielt. So gesehen eine schöne Abwechslung, nachdem die letzten drei älteren Menschen es immer einen »netten jungen Herren« genannt hatten. Beide Parteien lagen falsch mit ihrer Annahme, aber seitdem Sam sich vorgenommen hatte, diese Tatsache nur noch dreimal pro Tag Leuten erklären zu wollen, hielt sich das Maß an Diskussionen darüber in einem recht angenehmen Rahmen. Den Rest schluckte es, je nach Tagesform auch mit Fassung.

Es zwang sich zu einem Grinsen, obwohl ihm nach dem Gedankengang nicht mehr wirklich danach zumute war. »Du findest uns ’ne Bar.«

»Gerne auch mehrere.«

»Mal sehen.«

Martin bog links ab, fuhr gefühlt durch zwanzig Seitenstraßen und fünfmal durch dieselbe, bis Sam nicht mehr zweifelsfrei sagen konnte, ob es sich hier einfach nicht genug auskannte oder Martin wirklich keine Ahnung hatte, wo er hinwollte. Ausgehend vom bisherigen Weg war seine Orientierung definitiv nicht die allerbeste, aber offensichtlich noch ausreichend für einen Job, der viel Fahren beinhaltete.

»Ich fahr’ noch kurz tanken«, erklärte Martin nach einem Moment. »Dann eben zu mir und danach können wir los.«

›Dass ich vielleicht auch nach Hause will, vergisst du‹, dachte Sam. ›Schlechter Stil.‹

Martin fuhr an den nächsten drei Tankstellen gekonnt vorbei, die ihm offenkundig zu voll vorgekommen waren, bis er schließlich eine fand, bei der er nicht »Ewigkeiten stehen« musste. Dass das Benzin hier zufällig auch teurer war, war ihm entweder entgangen, der Job zahlte sich wirklich gut aus oder er hatte Eltern im Hintergrund, die ihm das Auto finanzierten.

»Ich komm sofort wieder«, erklärte er, kaum dass der Wagen stand und war kurz darauf schon ausgestiegen.

Sam seufzte, lehnte sich zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Egal, was der Kerl noch vorhaben mochte, allzu lange würde es mit Sicherheit nicht bleiben. Erstens war es aus welchen Gründen auch immer seit fünf Uhr morgens wach, zweitens kannten sie sich längst nicht gut genug für ausgiebiges Feiern bis zum Morgengrauen und drittens hatte es heute Abend nach wie vor geplant, zu zeichnen. Seine Linienführung war furchtbar, wenn es getrunken hatte.

»Geh nicht mit ihm mit.«

Sam für nur ein wenig zusammen und öffnete die Augen wieder. Für den ganz großen Schrecken passierte das zu oft.

Es drehte sich langsam um. Auf dem Rücksitz saß jemand Fremdartiges, der erkennbar nicht hierhergehörte. Sam kannte sein Gesicht, die verwuschelten braunen Haare und die leuchtend grünen Augen. Vor allem wegen Letzteren wollte es sich für den Gedanken, die Person sei nicht von dieser Welt, nicht sofort für verrückt erklären. Die Sache sollte ihm mindestens Sorgen machen, doch es wusste, er hatte recht.

»Bitte, geh nicht mit ihm mit«, wiederholte der Fremde und klang leicht außer Atem. Merkwürdig, dass Sam das hören konnte, seine gesamte Erscheinung ließ keinen Makel zu.

»Was ist falsch an ihm?«, fragte es wie jedes Mal. Wie bei dem Serienmörder, bei dem es im Taxi gesessen hatte, dem Vergewaltiger in der fast leeren Bahn, dem Kerl, der es auf dem Weg nach Hause überfallen hätte, hätte es den üblichen Weg genommen.

»Er wird dich nicht verstehen«, erwiderte der mehr oder weniger ungebetene Gast. »Er kann Personen wie dich nicht leiden, die nicht in sein Weltbild passen. Er glaubt, sie würden sich ihre Identität ausdenken, lügen, Aufmerksamkeit wollen und er wird sich einen Spaß daraus machen, dir das vorzuhalten.«

›Na wundervoll.‹ »Soll heißen, wenn ich mich oute, lacht er mich erst aus und schlägt mich zusammen, wenn ich Pech habe.«

Der bekannte Fremde nickte. »Geh nicht mit ihm mit.«

Sam warf kurz einen Blick nach draußen. Martin war gerade mit Bezahlen fertig geworden und schon wieder auf dem Weg zurück zum Auto. »Danke für die Warnung.«

Die Person antwortete nicht. Sam wandte den Kopf, die Rückbank war leer. Nur der seltsame Glimmer lag wieder in der Luft, deutlicher als vorher und trotzdem kaum mehr als ein Hirngespinst.

Die Fahrertür ging auf, Martin setzte sich wieder. Martin, der sympathisch war – zu Leuten, die in sein Weltbild passten. Mit dem man sich wohl gut unterhalten konnte – wenn er nicht gerade dabei sein würde, zu erklären, weshalb er sein offensichtlich existentes Gegenüber nicht für existent hielt. Und mit dem Sam von jetzt auf gleich nicht mehr in einem Auto sitzen wollte.

Es griff instinktiv zum Handy und setzte das beste gestresste Gesicht auf, zu dem es fähig war. Alles schon tausendmal gemacht. »Ich glaub, ich muss dir absagen«, erklärte es, bevor der Kerl auch nur dazu kam, die Handbremse zu lösen.

Martin fror mitten in der Bewegung ein und sah einigermaßen verwirrt, beleidigt und ein kleines bisschen sauer aus. »Was hab ich verpasst?«

»Ich…« ›Übliche Ausrede. Zieht bei den Menschen mit der Frisur immer.‹ »Freundin hat grade mit ihrem Freund Schluss gemacht. Und bevor die den ganzen Abend alleine bleibt und irgendwas anstellt…«

Martin nickte so schnell, dass Sam ihm unterstellen musste, gar nicht an den Details interessiert zu sein, die es sich noch hätte ausdenken müssen. »Ich versteh schon«, sagte er. »Darf ich dich wenigstens noch irgendwohin bringen?«

»Passt schon, sie wohnt nicht weit weg. Das Stück kann ich zu Fuß gehen.«

Das Letzte, was es noch von ihm mitbekam, war ein gemurmeltes »Frauen…«, ehe es die Beifahrertür zuknallte und sich mit schnellen Schritten auf in die Richtung machte, in der es die nächste Straßenbahnhaltestelle vermutete.

›Wenn du mir so kommst, dann hätte ich mich gar nicht outen müssen um zu merken, dass du und ich nicht zusammenpassen‹, dachte Sam bei sich und schüttelte den Kopf. Da hatte es doch lieber sein Date mit der Leinwand.

Zwei Tage später tauchten auf den Titelseiten der Zeitungen Bilder von Personen auf, die eine Gruppe Leute zusammengeschlagen haben sollten. Einen der Verdächtigen erkannte Sam wieder.

Erster Akt

1

Montag, 16. Novembereine Stunde später

Sie hatten den Anstand gehabt, seine Wunden zu versorgen. Sie hatten nicht den Anstand gehabt, ihm zu sagen, wohin sie ihn im Anschluss brachten, aber etwas anderes als das Gericht kam nicht in Frage. Das Einzige, was Cassiel entsprechend interessieren sollte, war ob sie ihn noch anhörten oder gleich hinrichteten, aber das kümmerte ihn nicht. Seine Gedanken waren immer noch da unten, immer noch auf der Erde.

›Ich habe das Richtige getan‹, dachte er. ›Ich habe immer das Richtige getan.‹

Die beiden Soldaten, die ihm, kaum dass er wieder im Himmel angekommen war, erst Handschellen angelegt und ihn dann an der Schulter gepackt hatten, führten ihn mitten in das größte Gebäude im Himmel. Vorbei an den Treppenstufen zu den Balkonen, von denen die öffentlichen Urteile gesprochen wurden – immerhin das blieb ihm erspart. Aber selbst dann hätten ihn einfach nur mehr Leute gehört.

›Ich habe das Richtige getan.‹

Sie brachten ihn weiter ins Innere des Gebäudes, blieben aber rechtzeitig stehen, bevor sie die Zellen erreichten, in denen die Todeskandidaten auf ihr Schicksal warteten. Einer der Soldaten klopfte an die Bürotür vor ihnen, unter dutzenden identischen scheinbar zufällig ausgewählt. Ein Schild rechts an der Wand gab Cassiel Auskunft darüber, bei wem er jetzt landen würde.

Jehudiel, stand da. Erzengel. Oberster Richter.

Besagte Person öffnete nur einen Moment später. Er trug die üblichen schwarzen Richterroben, die dunklen Haare sorgfältig im Nacken zusammengebunden und musterte Cassiel aus ebenso dunklen Augen hinter Brillengläsern. Er wirkte übermüdet und überarbeitet, und ließ trotzdem keinen Zweifel daran, dass er seine Arbeit tun würde. Im Namen Gottes zum einen, im Namen der Erde zum anderen.

»Tretet ein, bitte«, sagte Jehudiel, ging selbst einen Schritt zur Seite und setzte sich hinter den Schreibtisch, der fast die Hälfte des Raums einnahm. Die andere war mit Akten, Schränken und Bücherregalen zugestellt, ein einziges Chaos auf den ersten Blick, aber auf den zweiten erkannte Cassiel das System dahinter. »Und nehmt ihm die Handschellen ab.«

Die Soldaten befreiten ihn von den schweren Ketten. Das Metall und die Kraft, mit der es infundiert worden war, damit er sich ja nicht losreißen konnte, waren hier wohl nicht mehr nötig. Die Richter besaßen ganz eigene Möglichkeiten, um ihre Angeklagten an der Flucht zu hindern.

»Lasst uns jetzt allein«, fuhr Jehudiel seelenruhig fort an die Soldaten gewandt und schien Cassiel für den Moment noch gepflegt zu ignorieren. »Ich lasse jemanden rufen, wenn wir hier fertig sind. Und schickt mir Remiel her.«

Die beiden nickten knapp, einen Moment später schloss sich die Tür wieder und ließ Cassiel allein mit dem Richter. Der Gedanke kam auf, dass er zumindest versuchen könnte sich zu wehren, doch weit würde er nicht kommen. Einen Großteil seiner Kraft hatte er auf der Erde verbraucht und was noch übrig war, würde gegen einen Erzengel nicht reichen. Sie standen in der Hierarchie lediglich knapp über Cassiel, doch hatten sie nur ihren Rang und Namen aufgegeben, als sie sich dem Schutz der Erde verschrieben hatten – nicht etwa ihre Macht.

Jehudiel stieß einen tiefen Seufzer aus, dann bedeutete er Cassiel, sich ihm gegenüber auf einen unbequem wirkenden Stuhl zu setzen. »Fangen wir an.«

»Werde ich hingerichtet?«

»Selbst wenn ich das schon wüsste, würde ich mich trotzdem noch mit dir unterhalten wollen«, erwiderte der Richter. »Du bist kein Soldat, das hier ist nicht das Kriegsgericht. Jeder Engel hat das Recht auf einen fairen Prozess und eine Anhörung, so sehr er sich auch versündigt hat.«

›Erstaunlich, wie leicht du das sagen kannst, nachdem ihr erst vor sechshundert Jahren Engel einfach in die Hölle gestoßen habt‹, dachte Cassiel bei sich. ›Aber Gott den Rücken zu kehren ist etwas anderes.‹ »Ich habe mich nicht versündigt, ich habe nur meine Arbeit getan.«

Jehudiel schwieg daraufhin sehr eisern und nahm sich die oberste Akte auf dem Stapel neben sich. Blätterte einmal kurz darin, legte sie weg und wiederholte das Ganze noch dreimal, ehe er die Richtige gefunden zu haben schien. Cassiel beugte sich leicht vor, in der Hoffnung, erkennen zu können, worum es da ging, aber außer seinem Namen konnte er nichts lesen. Das half ihm auch nicht zu neuen Erkenntnissen.

»Du heißt Cassiel?«, fragte der Richter schließlich.

»Ja.«

»Alter?«

»1463.« Nicht alt für einen Engel.

Jehudiel hob eine Augenbraue und wirkte so, als würde das Dinge erklären. Jugendlicher Leichtsinn oder was auch immer, Cassiel wollte es gar nicht so genau wissen. »Beruf?«

»Schutzengel.«

Jehudiel nickte sehr langsam und mit gerunzelter Stirn, machte sich eine Notiz in der Akte vor ihm und kommentierte das nicht weiter. »Dir ist bekannt, weswegen du hier sitzt?«

»Ja«, erklärte Cassiel, konnte das so aber unmöglich stehenlassen. »Aber ich musste das alles tun, es war richtig. Schutzengel tun immer das Richtige.«

Wieder bekam er eisernes Schweigen als Antwort. Dieses Mal gemischt mit einer unterschwelligen Erklärung, dass Jehudiel das bitte für sich allein entscheiden wollte.

»Diese Anhörung dient dazu, dass ich mir ein Bild von den Dingen machen kann, die passiert sind«, erklärte der Richter. »Sie soll mir helfen, ein gerechtes Urteil zu fällen. Ich bitte dich darum, die Wahrheit zu erzählen, sie nicht zu verdrehen und keine wichtigen Details auszulassen. Wenn du das Richtige getan haben solltest, dann werden mich nichts weiter als die tatsächlichen Ereignisse davon überzeugen können.«

»Ja«

»Schwörst du in Gottes Namen, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts anderes als die Wahrheit?«

»Ich schwöre. In Gottes Namen.«

»Gut.« Mit einem erneuten Seufzen schloss Jehudiel die Akte vor sich, nahm mehrere leere Blätter Papier und einen Stift, schrieb eine Überschrift und wartete dann kurz ab, als sollte Cassiel ihm jetzt diktieren, wie es weiterging. »Was ist, grob zusammengefasst, deine Aufgabe als Schutzengel?«

»Ich denke, das wisst Ihr längst.«

»Ich hätte es spätestens in den letzten Tagen erfahren, ja«, erwiderte Jehudiel ein kleines bisschen gereizt. Nicht auszuschließen, dass er unter anderem wegen Cassiel so müde aussah. »Aber ich würde es gerne von dir persönlich hören. Was ist deine Aufgabe als Schutzengel?«

»In Gottes Auftrag über meinen schutzbefohlenen Menschen zu wachen, auf ihn zu achten und vor Gefahren zu bewahren.« Die Worte beherrschte Cassiel im Schlaf. Es würde ihn wundern, könnte es auch nur einer seiner Kollegen nicht. »Und das habe ich getan.«

»Hattest du einen schutzbefohlenen Menschen?«

›Hatte.‹ Das Wort versetzte ihm einen Stich. »Ja. Sam.«

Jehudiel notierte. »Wie sieht die Beziehung eines Schutzengels zu seinem Menschen aus?«

»Der Schutzengel kennt das Leben seines Menschen besser als jeder andere. Er begleitet ihn ab dem Moment seiner Geburt. Er erlebt jeden wichtigen Moment seiner Entwicklung mit, auch dann, wenn sonst niemand da ist. Ein Schutzengel weiß, wann sein Mensch Schutz benötigt. Und er weiß auch, wann es richtig ist, einzugreifen.«

»Wissen die Schutzbefohlenen von ihren Schutzengeln?«

»Wir zeigen uns in der Regel nicht vor ihnen.«

Jehudiel nickte und schien das alles in Stichpunkten zusammenzufassen. »War das, was du mir gerade erzählt hast, auch bei deinem Menschen der Fall?«

Es half alles nichts. »Nicht… direkt.«

»Erläutere das bitte.«

Cassiel nickte und holte tief Luft. Jetzt erst begann er zu ahnen, dass er ein bisschen länger hier sitzen dürfte.

Donnerstag, 15. Oktober

32 Tage vorher

Kurz nach dem Aufwachen funktionierte Sam noch nicht gut genug für zusammenhängende Flüche. Für ein paar eindeutige Worte an den Radiowecker gerichtet reichte es trotzdem, ehe es den Arm ausstreckte und provisorisch ein paar Mal öfter auf das bemitleidenswerte Ding schlug, mitten in die Delle hinein, die durch dieses Jahre alte Ritual zwangsläufig hatte entstehen müssen. Gefolgt von der heimlichen Frage, wie lange es wohl noch dauerte, bis es den Wecker dadurch endgültig zerlegte.

Sam grummelte noch etwas vor sich hin, ehe es schließlich aufstand, mehr vom Hunger getrieben als von tatsächlicher Motivation. Nach dem ersten Kaffee würde sich das geben. Oder nach dem fünften. Kam auf den Tag an.

Es ging mehr aus Gewohnheit, denn aus tatsächlichem Willen in die Küche, machte aus reiner Routine die Kaffeemaschine an und ärgerte sich wie jeden Morgen über sich selbst, das Pulver nicht schon gestern Abend in den Filter geschüttet zu haben – sein Hirn war für das Maß an Fingerfertigkeit einfach noch nicht bereit. Während der Kaffee kochte, folgte ein kurzer Abstecher ins Bad inklusive dem üblichen Grusel vor dem eigenen Spiegelbild, der zur Hälfte aus dem Schreck vor dem nicht vorhandenen Ausgeschlafensein bestand und zur anderen aus dem nicht Einsehenwollen, dass das wirklich Sam sein sollte. Immerhin war Letzteres schon schlimmer gewesen.

Zurück in der Küche war Sams erste Amtshandlung, sich dazu zu überreden, die erste Kaffeetasse direkt zur Hälfte wieder zu leeren, um dann wach genug zu sein, das übriggebliebene Brötchen von gestern Abend mit dem zu belegen, was als Nächstes schlecht wurde.

Sam rieb sich kurz die Augen, trank die Tasse leer und füllte sie gleich wieder nach – heute war offenkundig ein Tag, an dem eine allein nicht reichte – ehe es sich zurück auf den Weg ins Wohnzimmer machte, sich aufs Sofa und in eine flauschige altrosa Plüschdecke kuschelte. Es klappte den mittlerweile etwas altersschwachen Laptop vor sich auf, trank den nächsten Schluck Kaffee, aß den ersten Bissen Brötchen und schaute nach, was es Neues gab. Kunst von Personen vom anderen Ende der Welt, Leute, die sich über Dinge aufregten, über die sich Sam auch aufregen würde, hätte es dafür Zeit und Energie, mit ein bisschen Glück Anfragen für Auftragsarbeiten, zwischendurch auch ernsthafte und wichtige Nachrichten – aber nicht zu viele, das deprimierte nur unnötig. Zum Schluss der obligatorische, tägliche und leider notwendige Blick auf Facebook, um nachzusehen, welches Familienmitglied jetzt schon wieder Geburtstag hatte, heiratete, vor Jahren geheiratet hatte, Kinder bekam oder was sonst noch in einem gutbürgerlichen Leben an Ereignissen anfiel.

Mit einem Seufzen überflog Sam einmal alle Statusmeldungen, die aussahen als könnten sie von Belang sein, ehe es die Seite ganz schnell wieder schloss. Hinterher kamen noch Leute auf die Idee, es wollte sich mit ihnen unterhalten. Es griff wieder zur Kaffeetasse, bereit, sich schöneren Dingen widmen- Es klingelte.

»Verdammt noch eins«, murmelte Sam, stellte die Tasse ab, schälte sich mühsam aus der Decke und hastete zur Tür. »Ich hab dem Postboten gesagt, dass ich um die Uhrzeit nicht aufmache.«

Es drückte minimal missmutig auf den Summer, in der Erwartung, die Haustür zwei Stockwerke weiter unten aufgehen zu hören. Stattdessen drang aus der exakt anderen Richtung erst ein sehr unheilvolles Knacken, dann ein Rumsen an Sams Ohren, das es zusammenfahren und spontan beschließen ließ, dass wer auch immer da an der Tür war oder auch nicht, gerade zu warten hatte.

Sam ging ein paar Schritte zurück ins Wohnzimmer, wagte einen vorsichtigen Blick hinein und wunderte sich schon fast nicht mehr. Das an die Wand gehängte Bücherregal hatte gerade offenkundig beschlossen, umziehen zu wollen und sich von seinem angestammten Platz eigenhändig aufs Sofa befördert. Selbstverständlich und wie es anders nicht sein könnte an die Stelle, an der Sam gesessen hätte, wäre es nicht aus seiner Routine gerissen worden.

Es seufzte. Immerhin war nicht auch noch Staub im Kaffee gelandet.

Cassiel schüttelte den Kopf, mehr aus Enttäuschung über sich selbst als darüber, dass Sam diese Situation nicht hatte kommen sehen. Er hatte schließlich gewusst, dass die Wand das Regal nicht halten konnte, spätestens und erst recht dann nicht, als es mit Büchern vollgestopft worden war.

In diesem Haus lebten so viele Menschen, beinahe hätte er die richtige Klingel nicht gefunden, und um diese Uhrzeit brauchte Sam viel länger, um sich zum Aufstehen zu überreden. Sie hatten beide Glück gehabt.

Er setzte sich zurück an den Schreibtisch, atmete tief durch, schloss einen Moment die Augen, auch wenn er nicht glaubte, sich das erlauben zu können. Er war völlig außer Atem, hatte rennen und Regeln außer Acht lassen müssen, aber es war richtig gewesen. Wie immer war es richtig gewesen.

Sam fand es vielleicht ein wenig zu beruhigend, von keinem anderen Möbelstück angegriffen worden zu sein. Ansonsten hätte es seiner Wohnung unterstellen müssen, sich gegen es verschworen zu haben.

Es räumte das Regal nicht weg, sondern setzte sich demonstrativ daneben, trank den Kaffee aus, aß das Brötchen auf und machte genau da mit seiner Routine weiter, wo es aufgehört hatte. Zog sich an, wie immer Jeans, T-Shirt und Kapuzenpullover darüber an, alles schwarz oder in Grautönen. Alles war grau an ihm, seine Augen, selbst seine Haare ein kleines bisschen – sie waren aschblond und ließen Sam in ungünstigem Licht gerne deutlich älter aussehen als es tatsächlich war. Nur die obligatorische Strickmütze, die seine Oma ihm irgendwann zu Weihnachten geschenkt hatte, war dunkelgrün.

›Die einzige Sache von meiner Familie hier‹, dachte es bei sich und fand die Tatsache ganz in Ordnung.

Es seufzte, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, richtete die Mütze erst und zupfte sie direkt wieder in die schiefe Position, in der sie vorher gewesen war. Dann griff es sich die Autoschlüssel von der Kommode im Flur und verließ mit schnellen Schritten die Wohnung.

Sam wohnte noch nicht lange hier – sehr wohl aber schon seit gefühlten Ewigkeiten in dieser Stadt, die ihm über die Zeit versehentlich ans Herz gewachsen war. Trotzdem wunderte es sich immer noch jedes Mal, wenn es aus dem Haus trat, dass es erstens nicht gleich von etwas überfahren wurde und zweitens wieder einmal einen Parkplatz hatte finden können, der keine halbe Weltreise entfernt war. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem sich das ganze Glück ins Gegenteil kehren und es ein sehr großes Problem haben würde, aber bis dahin verschwendete es lieber keinen Gedanken daran.

Sams Auto hatte schon vor Jahren bessere Tage gesehen. Das genaue Alter hatte wahrscheinlich nicht einmal der Händler gekannt, und sobald irgendein Teil den Geist aufgab, war es das gewesen. Die Reparatur würde mehr kosten, als das Fahrzeug wert war und Sam glaubte ohnehin nicht, dass es überhaupt noch Ersatzteile gab. Aktuell aber machte es seine Arbeit noch erstaunlich gut, erstaunlich zuverlässig und, auch wenn es nicht danach aussah, auch erstaunlich bequem. Abgesehen von der Tatsache, dass es drei Anläufe brauchte, um zu starten.

Dieses Mal erbarmte sich der Motor schon beim zweiten Versuch. Sam hob eine Augenbraue, erklärte den Tag spontan zu seinem Glückstag und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Der morgendliche Berufsverkehr löste sich gerade wieder auf, wenn Sam unterwegs war. Dennoch gehörte es zu den unausweichlichen Charakteristika von Großstädten und solchen, die es werden wollten, dass der Verkehr zu jeder Tages- und Nachtzeit an eine Katastrophe grenzte. Das kurze Stück über die Autobahn war Sam nur die erste Woche im neuen Job gefahren, denn das hatte sich schnell als Anfängerfehler herausgestellt. Die neue Route war zwar nur marginal schneller, sparte dafür aber gewaltig Nerven.

›Wenn ich was finde, was genauso viel Geld gibt und kein Auto braucht, dann bewerbe ich mich darauf‹, dachte Sam nicht zum ersten Mal, seufzte und nahm hin, dass das hier schon die vierte rote Ampel in Folge war. So viel zum vermeintlichen Glückstag.

Die Ampel schaltete auf grün, und die Autoschlange bewegte sich quälend langsam wieder vorwärts. Sam gab so etwas wie Gas und bereute insgeheim, sich nicht doch noch Kaffee mitgenommen zu haben. Diese Kreuzung war die schlimmste, brauchte mit Abstand am meisten Geduld, und kurz bevor es sie überqueren konnte, schaltete die Ampel wieder um.

»Ist das euer Ernst?«, murmelte Sam, bremste wieder ab und lehnte sich mit der Stirn gegen das Lenkrad. »Das waren vielleicht zwei Sekunden Grün, wollen die mich eigentlich…«

Im nächsten Moment quietschte es beunruhigend laut. Sam schaute auf, nur um von links jemanden mit irrsinniger Geschwindigkeit über die Kreuzung rasen zu sehen, der nur durch schieres Glück mit niemandem sonst zusammenstieß und innerhalb einer halben Sekunde wieder hinter Hochhäusern verschwand.

»Okay«, murmelte es langsam und langgezogen und schaute leicht ungläubig auf die Kreuzung, bis ein Hupen es auf die erneut grüne Ampel aufmerksam machte. »Ich beschwer mich nie wieder.«

Der Rest des Weges verlief ohne weitere Zwischenfälle – gemessen an dem, was heute schon passiert war, war das aus Sams Sicht auch gar nicht mehr nötig – und es kam nicht als letztes zur Arbeit, was ihm den Ärger ersparte.

Natürlich hatte es den Job behalten. Cassiel überlegte immer noch hin und her, ob er Sam nicht eindrücklicher hätte warnen müssen, sowohl vor Martin, dem zum Glück gekündigt worden war, als auch vor der Einrichtung an sich. Er und so gut wie alle anderen Schutzengel fanden es nach wie vor äußerst fragwürdig, wie zu viele Menschen dachten, dass Gott und der Himmel funktionierten. Was Gott anging, wussten sie das zwar selbst nicht, ihn zu fragen war für gewöhnliche Engel unmöglich, und die fünf Seraphim, die es könnten, taten das entweder nicht oder sprachen nicht darüber. Gerade waren es nicht einmal fünf - einer war Erzengel geworden, einer verschwunden, einer in die Hölle gestürzt worden, einer kaum mehr als ein Gerücht und den fünften würde keiner mit solchen Dingen behelligen.

Aber von dieser Sache abgesehen waren die Kirche und Sam schon immer zwei Dinge gewesen, die nicht so recht zusammenpassen wollten. Zum einen glaubte es nicht an Gott, zum anderen hatte es sich bis heute nicht in de Einrichtung geoutet, wovon Cassiel auch jederzeit abgeraten hätte. Die Leute machten nicht den Eindruck, als würden sie sein Geschlecht verstehen oder verstehen wollen und auch wenn das durchaus anders ging, ein Einzelfall war das leider nicht.

›Aber es braucht das Geld ja‹, dachte er. ›Es hat so viel Besseres verdient als das alles, es hat ein besseres Leben verdient, eine bessere Arbeit, es soll endlich seinen Traum leben können. Aber bis das möglich ist, braucht es das Geld. Alles Geld, was es bekommen und sparen kann.‹

Insgeheim dürften sie beide nicht damit gerechnet haben, dass es schon so weit gekommen war. Bezahlbare Wohnungen zu finden, in denen Sam nichts passierte, war eine kaum machbare Aufgabe gewesen. Cassiel hatte mehrfach verhindern können, dass das Auto in sich zusammenfiel wie das metallene und leicht rostige Kartenhaus, das es darstellte, auch wenn er bis heute nicht wusste, was genau er da eigentlich getan hatte. Er kannte sich halbwegs mit den technischen Dingen aus, die die Menschheit mittlerweile wie selbstverständlich benutzte, aber auch ihm fiel es zusehends schwerer, den Fortschritt zu verstehen und mit ihm Schritt zu halten.

Cassiel rieb sich die Augen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Gefühl sagte ihm, dass es in Ordnung war, durchzuatmen und sein Verstand tat das ebenfalls. Die alten Leute, denen Sam das Essen brachte, konnten kaum harmloser sein und deren Schutzengel, so sie noch welche hatten, dürften ein ausgesprochen ruhiges Leben führen. Er hingegen wurde wahlweise wachgehalten, weil tatsächlich etwas passierte, etwas passieren könnte oder aus reiner Sorge um Sam heraus. Viele Dinge, die er Tag für Tag tat, waren nicht unbedingt notwendig, um Sams Leben zu retten, dennoch waren sie wichtig. Sie bewahrten es vor Schaden, unterstützten es und vor allem waren sie richtig.

Unterdessen ging Sam weiter seiner Arbeit nach. Hin und wieder warf Cassiel einen Blick auf die Erde, durch das kreisrunde Fenster zur Erde auf dem Tisch. Als Portal taugte es nicht, war lediglich ein Ausblick und gab Schutzengeln die Möglichkeit, Situationen besser einschätzen zu können. Es kostete Kraft, das Fenster konstant offen zu halten, was streng genommen auch gar nicht Sinn der Sache war, aber sicher war sicher.

›Und es braucht mich doch.‹

Sam setzte sich wieder ins Auto, war fast fertig für heute. Cassiel atmete insgeheim auf, die Arbeit selbst mochte verhältnismäßig sicher sein, aber all der Verkehr war ihm bis heute suspekt. Er konnte nicht umhin, sich ständig alle möglichen Szenarien vor Augen zu führen, in denen Sam nur zu leicht umgebracht werden könnte und er auch, bei dem Versuch es zu schützen. Sollte es dazu kommen, würde er trotzdem ohne Zögern handeln.

Cassiel rührte in seinem längst erkalteten Tee herum. Er hätte die einsetzende Müdigkeit unterdrücken sollen und diese Aufgabe mit Sicherheit auch erledigt, hätte Cassiel mehr als einen Schluck davon getrunken. Dann aber war das Bücherregal dazwischengekommen, die Kreuzung mit dem Fahrer, der sich viel zu wenig um seine Umwelt geschert hatte, und auf dem Rückweg, das spürte Cassiel in aller Deutlichkeit, würde auch irgendetwas passieren. Und jetzt, da Sam gerade die letzte Portion Essen abgeliefert hatte, musste er besonders aufmerksam sein.

Es wurde spätestens dann offensichtlich, als Sam nicht direkt wieder nach Hause fuhr, sondern einen altbekannten Umweg nahm. Ein Geschäft für Künstlerbedarf lag in der Richtung, und Cassiel erinnerte sich, dass Sam letztens die Farbe ausgegangen war.

›Ist es richtig, einzugreifen?‹, fragte er sein Gefühl. Die Antwort war ein klares Ja.

Dann galt es, keine Zeit zu verlieren. Cassiel stand auf, schaffte es dabei gerade so, den Becher voller Tee nicht umzuwerfen, konzentrierte sich. Auf die Erde, auf den Ort an dem er jetzt sein musste, und auf Sam. Immer auf Sam.

Einen Moment später wurde die Luft warm um ihn herum, stickig und vor allem unglaublich laut. Der Verkehr dröhnte in seinen Ohren und hallte wider, bis er nicht mehr unterscheiden konnte, was nun tatsächlich existentes Geräusch war und was nicht. In den ersten Sekunden auf der Erde ertappte sich Cassiel mittlerweile regelmäßig bei einem »Früher war alles besser«.

Immerhin wurde er nicht auch noch von Leuten begrüßt. Früher waren die Menschen bei dem Anblick eines Engels fast gestorben vor Angst, dann hatten sie sich vor ihm auf die Knie geworfen, bis heute wurde teilweise auf ihn geschossen und seit kurzem machten sie Fotos. Nichts war schlimmer als Fotos.

Cassiel blinzelte, versuchte gar nicht mehr, sich an die relative Dunkelheit verglichen mit dem Himmel zu gewöhnen und orientierte sich so. Fand das Geschäft recht zügig und ging hinein, bevor es zu spät war. Noch hatte er genug Zeit, um herauszufinden, was hier hoffentlich nicht das Problem werden würde.

Im Geschäft befand sich zum Glück niemand, auch die Verkäuferin nicht. Wahrscheinlich war sie gerade in den hinteren Räumen beschäftigt. Cassiel schloss die Augen, um sich nicht unnötig von all den fremden Dingen ablenken zu lassen, die er zum größten Teil nicht einmal verstand und sich auf sein Gefühl zu konzentrieren, das ihm sagte, was er hier zu tun hatte. Es führte ihn quer durch den Laden bis zu dem Regal mit den Aquarellfarben.

Sam waren die Rottöne ausgegangen, deswegen würde es auch herkommen. Cassiel konnte zwar nicht sehen, inwiefern die Farben allein dafür sorgen sollten, dass es in Gefahr geriet, aber da er das gar nicht herausfinden wollte, beseitigte er sie einfach gleich.

Er nahm sich jeden einzelnen der kleinen farbigen Blöcke aus dem Regal heraus, konzentrierte sich kurz darauf, im nächsten Moment zerfielen sie zu Staub. Auf der Erde ging das so leicht, denn hier war schon der schwächste Engel fast allmächtig. Manchen Soldaten stiegen die ständigen Einsätze deswegen zu Kopfe.

Cassiel zerstörte sicherheitshalber nicht nur das eine Rot, von dem er ausging, das Sam es brauchte, sondern auch noch fast alle anderen. Es war richtig so. Als sich die letzte Farbe zwischen seinen Fingern auflöste, atmete er kurz vor Erleichterung auf, mehr würde er erst zeigen, wenn er im Himmel war. Er wandte sich um, wollte den Laden und die Erde so schnell wie möglich wieder verlassen-

»Entschuldigung?«

Cassiel blieb wie angewurzelt stehen. Die korrekte Reaktion wäre gewesen, einfach weiter zu gehen, aber der Schreck hinderte ihn daran. Natürlich hatte ihn jetzt noch jemand sehen und damit zwingen müssen, menschlich zu tun.

Er entdeckte die Verkäuferin, die wieder hinter der Kasse aufgetaucht war und ihn nun mit einem ebenso skeptischen, wie überraschten Blick musterte. Sie konnte mit seiner gesamten Erscheinung nichts anfangen, nicht dass ihr das zu verübeln war, angefangen bei der Tatsache, dass er barfuß war, bis hin zu den Aussparungen im Stoff seines Oberteils auf Höhe der Schultern. Darunter waren zwei lange, offene und scheinbar kaum verheilte Wunden zu sehen, seine eingezogenen Flügel. In diesem engen Raum war kein Platz für sie.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Verkäuferin nach einem Moment, mit für die Situation erstaunlich selbstbewusster Stimme.

Cassiel löste sich aus seiner Schreckstarre, suchte kurz nach Worten und setzte ein leichtes Lächeln auf, in der Hoffnung, die Arme nicht noch mehr zu verschrecken. »Danke, nein«, sagte er so leise er konnte, denn es würde lauter wirken. »Ich komme zurecht.«

Ihre Miene entspannte sich etwas. »Gut. Wenn Sie etwas brauchen, dann sagen Sie ruhig Bescheid.«

Cassiel nickte, nur um sich direkt umzudrehen und hinter einem Regal außer Sichtweite der Verkäuferin zu verschwinden. Dann schloss er die Augen, konzentrierte sich auf den Himmel und spürte, wie er sowohl das Geschäft als auch die Erde verließ. Einen Moment später kühlte die Luft ab, er spürte Weite um sich herum und fand sich in seinem Büro wieder.

Jetzt erst erlaubte er sich das Aufatmen. Und wie immer das Bereuen, nicht doch noch geblieben zu sein, nicht noch ein wenig gewartet zu haben. Vielleicht hätten sie sich getroffen.

Sam kannte den Laden mittlerweile so lange, dass es ganz genau wusste, wo es parken musste, um erstens zuverlässig einen Platz zu bekommen und zweitens den Gebühren zu entgehen.

Es stieg aus, nahm sich vor, auf dem Rückweg noch schnell beim Bäcker gegenüber vorbei zu schauen, weil es bei all dem ausgelieferten Essen wieder vergessen hatte, auch an sich zu denken, und ging mit schnellen Schritten die zwei Straßen entlang, bis der Laden in Sichtweite kam.

Sam hielt es immer noch für ein Unding, dass kaum jemand das Geschäft kannte oder zu schätzen schien, denn obwohl das Angebot breit gefächert und hochwertig war, erschraken sich die Leute immer, wenn sie einen zweiten Kunden antrafen. Auch heute war es innen wieder deprimierend leer, nur Sara hielt stellvertretend für die Geschäftsführung die Stellung. Sie war etwas blass um die Nase, doch als sie Sam erkannte, beherrschte daraufhin ein Lächeln ihr Gesicht. Zum einen, weil es garantiert Geld hier lassen würde, zum anderen, weil sie sich im Laufe der Zeit immer besser verstanden hatten.

›Ich sollte sie mal auf einen Kaffee einladen‹, dachte Sam bei sich. ›Vielleicht wird ja was draus. Schlimmer als der Kerl von neulich kann sie ja beim besten Willen nicht sein.‹

»Lange nicht gesehen«, wurde es von einer grinsenden Sara begrüßt. »Taugen die neuen Pinsel doch nichts?«

»Die könnten besser nicht sein«, erwiderte Sam, musste sich nicht lange umsehen, sondern ging gleich zu den Aquarellfarben. »Ich brauch nur neue Farben.«

Sara hob eine Augenbraue. »Die hast du letzte Woche auch gekauft.«

»Hab viel experimentiert.«

»Wenn das so ist«, erwiderte sie. »Kann man eins von deinen Bildern eigentlich irgendwo sehen?«

›Wenn die Zeit und die Gesellschaft reif dafür sind, dann hoffentlich überall‹, dachte Sam bei sich und wollte es nicht laut sagen, weil es zu sehr nach dem abgehobenen Künstlerklischee klang, mit dem es nicht wirklich etwas zu tun haben wollte. Stattdessen überlegte es eine Weile herum, bis ihm zumindest halbwegs richtige Worte einfielen. Online wurde es für seine Kunst zumindest manchmal gefeiert, im realen Leben war die Sache ungleich komplizierter. »Ich kann die Originale schlecht herbringen, die sind zu groß«, erklärte es, was bis auf zwei Ausnahmen gelogen war. »Und ich krieg es nicht hin, sie vernünftig zu fotografieren, damit sie auch anständig aussehen.«

Alles in allem eine schlechte Ausrede. Aber Sara nickte trotzdem und tat wenigstens so, als würde sie schon verstehen. »Schade«, erwiderte sie. »Aber ich kenne das, wenn das Licht einfach nicht stimmen will. Und bevor die Bilder dann gar nicht mehr wirken...«

Sam nickte und wandte sich ab, was nicht unbedingt das die höflichste Geste war, aber zumindest trat Sara das Thema so nicht noch breiter. Es suchte im Regal nach dem richtigen Farbton, fand auch alle erdenklichen, inklusive denen, die es lieber selbst anmischte anstatt sie zu kaufen – nur das Rot schien nicht mehr da zu sein.

Sam runzelte die Stirn, schaute lieber noch einmal nach. Dass in diesem Laden etwas ausverkauft war, erschien ihm reichlich unwahrscheinlich, doch die Farben blieben verschwunden.

»Sag mal«, begann es und schaute nun doch wieder zu Sara hinüber, die sich in eine herumliegende Zeitschrift vertieft hatte, »hast du vergessen, die Farben nachzufüllen? Das Rot ist leer.«

»Wie, das ist leer?« Sie kam hinter dem Tresen hervor, ging zu Sam hinüber und musste sich das wohl selbst anschauen. Verständlich. Ebenso wie ihre Reaktion, die aus zwei gehobenen Augenbrauen und einem sachten Kopfschütteln bestand. »Das gibt’s doch nicht, ich hätte schwören können, das gerade noch alles eingeräumt zu haben… Die neue Lieferung Farben kam erst gestern. Seltsam.«

»Vergessen mitzubestellen?«

»Kann sein, würde ich der Chefin aber nicht zutrauen.«

Sam auch nicht. Nach allem was es mitbekommen hatte, war besagte Chefin nämlich penibel und streng mit sich und ihrer Angestellten.

»Ich kann im Lager suchen gehen, wenn du willst.«

Sam schüttelte den Kopf. »Passt schon«, erwiderte es, wusste allerdings selbst nicht ganz genau weshalb. »Ich komm die Tage nochmal wieder und dann solltet ihr ja wieder welche haben.«

Sara nickte. »Ich kümmer mich drum«, sagte sie und fuhr fort, als sie merkte, dass Sam sich gen Ausgang begab. »Trotzdem noch ’nen schönen Tag!«

»Dir auch.«

Sam verließ den Laden, trat auf den Bürgersteig – und blieb prompt wieder stehen. Blinzelte. Und war sich dann leider noch sicherer, den Glimmer in der Luft hängen zu sehen.

›Warst du hier?‹, dachte Sam und wusste nicht einmal genau, an wen es das eigentlich richtete. ›Was ist passiert, dass du hier warst?‹

Es schüttelte den Kopf und schlug sich die Gedanken wieder aus dem Bewusstsein, die hatten noch nie etwas gebracht. Stattdessen ging es wie geplant zum Bäcker gegenüber, kaufte sich Kaffee und Kuchenteilchen für jetzt und Körnerbrötchen für heute Abend, setzte sich ins Auto und beschloss spontan, immer noch nicht nach Hause zu fahren. Ohne die Farbe konnte es sein geplantes Motiv ohnehin nicht malen, zudem fehlte ihm immer noch das letzte bisschen Inspiration und eine goldene Herbstsonne spähte zwischen Wolkenschlieren hindurch auf die Welt. Solche Tage würde es nicht mehr oft geben, bis der Winter kam.

Unter der Woche und um diese Uhrzeit waren die zahlreichen Parks und anderen etwaigen Grünflächen noch von so wenigen Leuten bevölkert, dass sie Sam erstens nicht ablenkten und es zweitens noch einen ruhigen Platz in der Sonne fand. Zudem war der Ort hier weit genug von allen größeren Schulen und der Universität entfernt, so sehr sie auch über die ganze Stadt verteilt war.

Sam trank in Ruhe seinen Kaffee aus, ließ sich einen Teil des Gebäcks für später übrig und holte Skizzenbuch, Bleistifte und Radiergummi aus seiner Umhängetasche. Es verließ seine Wohnung grundsätzlich nur mit Zeichenmaterial. Ohne fühlte es sich falsch an, nicht richtig angezogen und nicht nach sich selbst.

Wenn Sam zeichnete, dann passierte ihm nichts. Ausnahmsweise lag das nicht an Cassiel, denn wenn Sam zeichnete, gab es für ihn generell nicht viel zu tun. Vielleicht sollte er die Gelegenheit zur Pause nutzen, denn die Idee fühlte sich nicht falsch an, aber er mochte Sams Bilder einfach viel zu sehr, um nicht bei ihrer Entstehung zusehen zu wollen.

Dennoch, gerade musste er die Vernunft siegen lassen, wenn er nicht am Schreibtisch einschlafen wollte. Abgesehen davon bekam er ein schlechtes Gewissen wegen der Farbe, weswegen Sam nicht hatte malen können – es war ohne Zweifel richtig gewesen, aber manchmal fühlte es sich nicht so an.

Cassiel stand auf, nahm sich einen neuen Becher und verließ sein Büro. Mit ein bisschen Glück reichte ein neuer Tee aus, um ihn bis heute Abend wachzuhalten.

Das Gebäude hier war nur eines von vielen, in denen die Schutzengel arbeiteten und einen Großteil ihres gesamten Lebens verbrachten. Es hatte einen labyrinthartigen Aufbau, um so viele Büros wie möglich unterzubringen, wirkte beengt und erdrückend, wenn man nicht daran gewöhnt war. Sowohl der Flur als auch die Räume selbst waren deutlich breiter und größer als auf der Erde, allein Cassiels Büro hatte knapp die Maße von Sams gesamter Wohnung, und trotzdem reichte es kaum aus. Engel brauchten Freiraum, um sich wohlzufühlen, sie brauchten Platz und die Weite. Nicht wenige bekamen Panik, wenn sie zum ersten Mal ein irdisches Haus betraten.

Es war fast totenstill im Flur und Cassiel bemühte sich redlich, keinen Lärm zu machen. Ein paar seiner Kollegen kamen ihm zwischendurch entgegen, sie trugen dieselben simplen, weiten und charakteristisch fliederfarbenen Pullover und Hosen, keine Schuhe, alles darauf ausgelegt, lange getragen zu werden ohne unbequem zu ein. Sie hatten ebenso etwas mehr Farbe im Gesicht als der Rest des Himmels,mit Ausnahme der Soldaten vielleicht. Anstatt sich vernünftig zu grüßen nickten sie sich nur kurz zu, sie wären ohnehin zu müde gewesen, um großartig Worte zu wechseln. Die Erschöpfung war am Ende ein ständiger Begleiter bei ihrer Arbeit, sie bekamen alle zu wenig Schlaf, und waren unter anderem deswegen verpflichtet, Pausen von mehreren Monaten bis Jahren einzulegen, wenn ihr Mensch gestorben war oder das Recht auf Schutz verloren hatte. Bei einem Großteil der Schutzengel lagen die Nerven ständig blank und ein wesentlicher Teil ihrer Interaktionen bestand darin, sich das Leben nicht noch schwerer zu machen.

Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass sie ihre Arbeit freiwillig erledigten. Sie standen in der Hierarchie ganz unten, hatten keine Ehrerbietung zu erwarten und gewürdigt wurde ihr Tun von kaum jemandem. Dass trotzdem Jahr für Jahr neue Schutzengel dazukamen, lag an einer bestimmten Tatsache: für sie war dieser Beruf das einzig Richtige, Bestimmung und am Ende Lebenssinn. So war es auch bei Cassiel gewesen, er hatte sich am Tag seiner Volljährigkeit direkt beworben und seitdem nicht einmal an seiner Entscheidung gezweifelt.

Er betrat die Teeküche und fand sie glücklicherweise beinahe leer vor, so musste er nicht auch noch auf den Tee warten. Er hielt seinen Becher ins Spülbecken, tippte einmal auf das längliche Rohr darüber und füllte ihn auf, brachte das Wasser danach mit einer kleinen Menge Energie aus seinen Fingerspitzen zum Kochen und versenkte schlussendlich einen der Teebeutel darin, die schon vorbereitet in einem Regal lagen. Bis heute wusste Cassiel nicht, wer seiner Kollegen sich die Mühe machte, um ihnen allen ein klein wenig davon zu ersparen.

Das alles erledigte er mit routinierten Handgriffen, wandte nur so viel Konzentration wie nötig auf. Der Rest seiner Gedanken hing bei Sam fest, so wie zu jeder Tages- und Nachtzeit. Schutzengeln wurde geraten, so viel professionelle Distanz wie möglich zu ihren Menschen zu halten, aber das konnte sich Cassiel nicht vorstellen.

2

Montag, 16. November

drei Stunden später

Jehudiel schrieb seinen letzten Satz fertig, war mittlerweile beim sechsten Blatt Papier angekommen. Wenn Cassiel sich allerdings den leeren Stapel anschaute, den der Richter sich hatte bringen lassen, dann waren sie sehr weit davon entfernt, fertig zu sein.

»Nach dem, was du jetzt erzählt hast«, begann der Richter, »würdest du sagen, dass deine Beziehung zu Sam den zuvor genannten Regeln entsprochen hat?«

Cassiel kam nicht einmal dazu, den Mund zu öffnen, als die Bürotür hinter ihm aufflog und ein weiterer Engel hineinkam. Sie trug fast die gleiche Kleidung wie Cassiel, deutlich förmlicher und edler allerdings, und vor allem hatte sie Schuhe an. Ungewöhnlich für Schutzengel, aber auf einzelne Menschen passte sie schon lange nicht mehr auf. Sie hatte ihr dunkelblondes Haar streng zurückgebunden, und funkelte sie beide an, ihr Blick ebenso kühl wie ihre blauen Augen.

»Ihr habt ohne mich angefangen?«, stellte sie fest und ließ es sich vermutlich nur nach einer Frage anhören, um ansatzweise höflich zu wirken.

»Es war nicht meine Aufgabe, auf dich zu warten, Remiel«, erwiderte Jehudiel ruhig, stand unterdessen auf und rückte ihr einen Stuhl an seiner Seite zurecht. Cassiel hätte auch nicht zu träumen gewagt, dass die Vorsteherin der Schutzengel hier war, um ihn zu unterstützen. »Du warst anfangs noch nicht involviert und bist noch keine Zeugin gewesen. Außerdem hast du dich verspätet.«

»Ich habe mich mit Michael unterhalten, um die Situation auf der Erde zu klären. Wir haben hier ein weitaus größeres Problem als eine Anhörung nach Protokoll!«

»Setz dich bitte«, antwortete Jehudiel darauf, wartete aber nicht auf sie. »Cassiel, entsprach deine Beziehung zu Sam den Vorgaben?«

›Nichts als die Wahrheit.‹ »Nein.«

»Natürlich hat sie das nicht«, warf Remiel ein, kaum dass sie saß. »Wir zeigen und nicht. Wir schützen nur, wenn das Leben unseres Menschen bedroht ist und nicht bei Kleinigkeiten!«

»Wir schützen, wenn es richtig ist«, erwiderte Cassiel. Remiel hatte die Regeln ebenso wenig gemacht wie er, sie hatte sich ebenso daran zu halten und vor allem hatte sie sie ebenso wenig nach ihrer Vorstellung zu biegen. »Und es war richtig. Es war immer alles überall richtig.«

»Deine Gefühle für Sam haben dein Urteil getrübt«, erwiderte Remiel scharf. »Distanz zu wahren garantiert, dass das nicht passiert, du hättest es auf der Stelle melden müssen als du gemerkt hast, dass-«

»Remiel. Bitte.« Mit einem Seufzen nahm sich Jehudiel ein neues Blatt. »Cassiel, hattest du Gefühle für deinen Menschen?«

»Ja.« Es wussten ohnehin schon alle.

»Die du nicht hättest haben dürfen«, erklärte Remiel.

»Ich denke, das haben wir in der Zwischenzeit herausgearbeitet«, erwiderte der Richter und fuhr seelenruhig fort, weiter an Cassiel gewandt. »Haben deine Gefühle zu Sam dein Urteilsvermögen beeinflusst?«

»Ich…« Er schüttelte den Kopf und fuhr dann fort, weil das alleine keine sinnvolle Antwort darstellte, das wusste er selbst. Je länger er nachdachte… »Ich weiß nicht. Ich kann es nicht sagen. Tut mir leid.«

Jehudiel hob eine Augenbraue. Er schaute kurz zu Remiel hinüber, doch die pflichtete ihm ausnahmsweise nicht bei. »Kannst du das erläutern?«

»Ich habe getan, was richtig ist«, erwiderte Cassiel. »Das war immer so. Das war bei den Menschen vor Sam so. Ich habe mich gewundert, warum manche Dinge nötig gewesen sind, aber das waren sie alle. Das waren sie immer. Sie waren alle richtig.«

Jehudiel schien nicht wirklich zu verstehen, aber das hatte wohl auch niemand erwartet. Er zeigte es lediglich deutlich weniger offen als die meisten anderen Engel. »Kannst du zweifelsfrei ausschließen, dass dein Urteil beeinträchtigt wurde?«

»Nein.«

»Und das ist das Problem«, murmelte Remiel kopfschüttelnd. »Ganz genau das ist das Problem.«

Cassiel wusste nicht, was er sagen sollte. Noch mehr darauf beharren, dass das alles richtig gewesen war, konnte er beim besten Willen nicht, und so sehr das Argument bei Schutzengeln zählte, so wenig tat es das offensichtlich vor einem Richter. Aber es blieb sein einziges Argument.

»Ist die Tatsache, dass ich in Sam…« Er räusperte sich, schaffte es dann doch nicht, das in der Deutlichkeit zu sagen. Jetzt hätte er gerne erst recht dazu gestanden, und trotzdem brachte er es einfach nicht über sich. »Dass ich Gefühle für Sam hatte, ist das jetzt immer noch so relevant?«

»Ich denke, es ist sicher zu sagen, dass diese Tatsache alles losgetreten hat«, erwiderte Jehudiel. »Zumindest nach dem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte. Und ich würde gerne weiter von dir hören, wie es weitergegangen ist.«

»Ich habe nur getan, was…«

»Hast du ansatzweise eine Ahnung, was du alles damit angerichtet hast?«, fragte Remiel. Cassiel bildete sich hoffentlich nur ein, dass sie gefährlich nach vorne gezuckt war. »Weißt du, was gerade auf der Erde los ist? Du hättest dich von diesem Menschen lossagen sollen, du hättest dich unter Kontrolle haben sollen, du hättest ihn nicht lieben dürfen, dann wäre das alles nicht passiert!«

»Ihr könnt mir nicht verbieten, Gefühle zu haben!«

»Doch, das kann ich.«

›Bitte was?‹ »So funktioniert das nicht!«

»Ruhe«, unterbrach Jehudiel sie. »Das hier wird auch so schon lange genug dauern. Beruhigt euch beide.«

Remiel sah nicht begeistert aus, aber sie schwieg. Und gab Cassiel allein mit ihrem Blick zu verstehen, dass er auch nicht weiter diskutieren sollte – nicht dass er das vorgehabt hatte.

»Fahren wir fort. Erzähl mir bitte von den Ereignissen, die die ganze Sache ausgelöst haben.«

Cassiel nickte, holte wieder tief Luft. Wohl fühlte er sich nicht dabei, aber aus der Sache kam er nicht mehr heraus.

Freitag, 23. Oktober

24 Tage vorher

»Ihr verdammten…« Sam biss sich auf die Zunge und schluckte den Rest herunter. Die Verantwortlichen konnten es sowieso nicht hören und vom Fluchen löste sich die Straßensperre auch nicht in Luft auf. »Ich will doch nur Kaffee!«



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