Was sucht die Sardelle auf dem Schnitzel? - Thomas Platt - E-Book
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Was sucht die Sardelle auf dem Schnitzel? E-Book

Thomas Platt

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Beschreibung

Der Sternekoch Thomas Platt lüftet das Geheimnis des guten Essens

Gutes Leben geschieht in der Küche

Fett ist Feind. Reichhaltiges Essen ist uns nicht mehr geheuer. Und doch strahlt am Küchenhimmel Opulenz heller als alles im eigenen Saft. Thomas Platt, Großmeister der Gastrokritik, tritt dem Enthaltsamkeitsterror auf deutschen Tellern entgegen und durchbricht genussvoll den schalen Geschmack des kalorienarmen Alltags.

Mit viel Witz und Leidenschaft lüftet Thomas Platt die Geheimnisse der Sterneköche, lästert über läppische Trends wie die Molekularküche und erinnert an die Urteilskraft der eigene Zunge. Dabei macht der grandiose Gastrosoph aus seiner Überzeugung keinen Hehl: Nur wo üppig gekocht wird, ist auch für die Seele alles in Butter.

  • Einer der besten Restaurantkritiker packt aus
  • Plädoyer gegen den Diätwahn

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THOMAS PLATT

Was sucht die Sardelle auf dem Schnitzel?

Streifzüge eines Restaurantkritikers

Diederichs

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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Weiss | Werkstatt | München

unter Verwendung eines Motivs © shutterstock

Illustration nach dem Anfangszitat © Lena Ellermann

ISBN 978-3-641-08803-3V002

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter:

www.diederichs-verlag.de

Zur Ehre Gottes

Alles wirft Schatten,

sogar das Unsichtbare.

(Roberto Juarroz)

Der Autor weist Emma und ihren besten Freund Chato in die Hochkulinarik ein.

Wie wird man Restaurantkritiker?

Wohin ich meine ersten Streifzüge in ein Gebiet unternahm, das ich später einmal beruflich beackern sollte, weiß ich nicht mehr genau. Vermutlich war es unsere Speisekammer, die mich anzog. Dort standen frisch gekaufte Dosen, deren für damalige Verhältnisse überwältigend bunte Etiketten Ananas, Pfirsiche und Mandarinen aus Amerika verhießen, neben eingemachten Gartengemüsen von eher fahlem Aussehen und selbstgekochten Marmeladen. Anstelle eines Deckels war über diese Gläser prall Cellophan gespannt. Darauf trommelte ich gerne mit den Fingern herum, bis meine Mutter »Thomas, lass das!« rief, einen Satz, den ich später noch oft vernommen habe. Faszination übten auch Waren aus, die mein Vater in den Fünfziger- und Sechzigerjahren von seinen Geschäftsreisen mit nach Hause brachte.

Das Wort »Migros« löst heute noch ein Gefühl unauslöschlicher Schweizer Qualität aus, neben der alles aus unseren Kaufläden verblasst. Großen Anklang fand bei meinen Brüdern und mir »Cenovis Bierhefeextrakt«, eine schwärzliche Creme (wir verglichen sie mit Motorradfett), die wir mit Butter »verdünnt« aufs Graubrot strichen. Vielleicht schmeckte sie uns so vortrefflich, weil kein Schulkamerad etwas Vergleichbares bekam. Das galt auch für unser Olivenöl. »Unseres« deshalb, weil es von den Bäumen um das Familienferienhaus in Bardolino am Gardasee stammte und von einem aromatischen Kolorit war, um das man heute beneidet würde. Damals galt es – wenn überhaupt bekannt – als ordinär wie der Knoblauch. Ein noch viel beliebteres italienisches Erzeugnis ist »Nutella«, aber als es aufkam, war ich kein Kind mehr.

Keine Frage ist mir bislang häufiger gestellt worden: Wie wird man Restaurantkritiker? Manchmal bin ich versucht zu antworten: Dafür muss man geboren sein. Das stimmt natürlich nicht, und selbst wenn dem so wäre, müsste noch eine Menge hinzukommen, bis man die ersten Texte veröffentlicht sieht. Aber eine unbeirrbare Neigung zum Essen als Thema sollte von Natur aus da sein – und außerdem wäre es ganz gut, wenn man beim Kochen keine allzu großmächtigen Ambitionen an den Tag legt. Weil sich die beiden irgendwie beißen, wenigstens ein bisschen, muss man sich entscheiden. Schauspieler haben auch weniger von Filmen als normale Menschen.

Dem Unterhaltungsgewerbe verdanke ich übrigens ansprechende Honorare, sodass ich schon Ende der Achtzigerjahre die wenigen feinen Restaurants kennenlernen konnte, die es im Berlin der Mauerzeit gab. Besondere Fischrassen, seltene Pilze, verwunschene Wurzeln und ferne Kräuter wurden mir alsbald geläufig. Das Drehbuch für den Spielfilm Asterix in Amerika schrieb ich dann sogar in einem Dachgeschoss über einem Restaurant mit Stern im Guide Michelin, Karl Wannemachers »Alt Luxemburg« im Stadtteil Charlottenburg. Es existiert immer noch, und der bedächtige Saarländer steht immer noch hinterm Herd. Seine Werke verkörpern für mich das, was ich unter Substanz verstehe oder aber: den Gerichten nicht nur ein Zentrum oder eine Hierarchie zu verordnen, sondern vor allem ein Herz zu geben.

Mir wird mitunter entgegengehalten, dass ich negativen Aspekten den Vorzug gäbe. Das stimmt einesteils; zum andern aber wird leicht einer meiner Mängel übersehen: Ich lobe mit Vergnügen. Obwohl ich besser schwiege, wenn während eines Lokaltermins alles stimmt. Um in stillem Behagen zu schwelgen. Aber überall, wo dann Steine im Weg liegen, da stolpere ich pünktlich. »Wenn alles in Ordnung wäre und wenn ich dem meisten, was ich lese, zustimmen könnte, dann wäre ich zufrieden«, schreibt der Gelehrte Robert Spaemann und fährt fort: »Ich würde gerne schöne Dinge tun und nicht die Last des Schreibens auf mich nehmen.« Das unterschreibe ich nicht nur – ich eifere ihm nach. Ich tue es im Bewusstsein, dass ein Restaurantkritiker nicht mehr schmeckt (und auch nicht weniger) als der Risottonormalverbraucher. Was ihn vom bloßen Genießer unterscheidet, ist lediglich, dass er gelernt hat, sich durchgängig auf Gaumenreize zu konzentrieren und – nicht minder wichtig – ihnen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Ich hüte meine Zunge also nicht, um dafür die ätherische Essenz einer Speise in ihrer finalen Konsequenz zu erfassen.

Das Bemühen um die Verdeutlichung von geschmacklichen Eindrücken kann zu verwegenen Versuchen führen. Für die Klassifizierung von Marmeladen wählte ich unlängst Tonarten, ein Vergleich, den ich als erlaubt betrachte, weil eingekochte Früchte im Gemüt Gefühlsskalen zum Klingen bringen können. Erdbeere ist für mich strahlendes A-Dur, Himbeere G-Dur, Birne D-Dur, Aprikose E-Dur, Pfirsich Es-Dur, Quitte H-Dur, Pflaume D-Moll, Schwarzkirsche H-Moll, Zitrone C-Dur und die bittere Orangenkonfitüre erinnert mich an eine Fuge des Komponisten Frederic Rzewski.

Drei Lehrer nenne ich, die ihre Arbeit bislang noch nicht beenden durften. Es sind Pflanzen, und ich bin mir nicht sicher, ob ihnen genug Dank gesagt ist, wenn ich sie aufesse. Die Birne, Estragon und Petersilie haben eine Gemeinsamkeit: Sie können von Natur aus einen kulinarischen Sog entwickeln, ja, wahre Symphonien des Geschmacks aufführen. Während die von Nuss und grünem Tee berührte Petersilie im Verborgenen wirkt und erst auffällig wird, wenn sie fehlt, öffnet sich mit jeder Rispe Estragon ein derart weites Spektrum, dass ich gerne von der Chiffre oder DNA eines ausgefeilten Menüs spreche. Da nämlich mischen sich Noten von Süßholz beziehungsweise Lakritz mit pfeffrigen, grasigen und medizinalen, die die Zungenspitze für Augenblicke betäuben. Neben ihnen artikuliert sich ganz leicht muffiges Meeresgrün, als hätte ein genialer Gärtner Algen eingekreuzt. Über allem schwebt ein unvergleichliches Parfum. Es dringt in jeden Winkel eines Gerichts, wirkt jedoch nicht so eindimensional wie das ebenfalls dominante Koriandergrün, das ich wegen seiner Präsenz in der Tomatensauce liebe.

Jeden Herbst freue ich mich auf meine erste voll ausgereifte, vor Saft nur so strotzende Birne. Sobald ich von oben in sie gebissen habe, beginnt eine Reise zum Kerngehäuse, die in Windeseile durch verschiedene Aromazonen führt. Apfel- und Zitrusfrische werden gestreift, ein Hauch Lorbeer-Lavendel fliegt auf, und, wenn er sich zu Blütenduft mit einem Unterton von Honig weitet, kommt ihm Pfirsich in die Bahn und – nicht zu vergessen – die anregende Müdigkeit der gelben Melone. Wie ein leuchtendes Pigment bestimmt zuletzt ein Anflug Vanille sozusagen die innere Färbung der Birne.

Diese großen Drei halfen mir, als es darum ging, endgültig persönlichen Gusto zu entwickeln. Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, dass sowohl mein Selbstgefühl als auch meine Existenzerkenntnis vital vom Elan zweier Kräuter und einer Frucht stellvertretend für alle Gottesgaben ungemein beeindruckt sind. Derlei gewinnt man nicht aus Büchern noch durch Denken und Reden allein, sondern durch die Tat. Wenn sie am Herd erfolgt, vermag sie hinabzureichen zu den Quellen.

Ausschlagebend ist dabei – und hierzu möchte mein Buch einen Beitrag leisten –, dass man den leiblichen Genuss und seine Herstellung nicht isoliert vom übrigen Leben. Im Gegenteil, falls es mir gelungen sein sollte, hier und da mit einem Beispiel, einer Metapher oder einem literarischen Verweis zu zeigen, wie tief verankert das Essen in unserer allgemeinen Kultur ist, dann bin ich schon zufrieden. Kaum etwas hat mich in der Vergangenheit mehr gestört, als geschlossene Gemeinschaften, die sich mehr anmaßten, als ihnen zukam. Womöglich bietet die auftrumpfende Gegenwartsküche da noch mehr Anlass als bisher. Indem sie Naturalien unablässig zu Collagen überformt und mit entsprechender Rhetorik begleitet, stiftet sie so manche Gastrozentriker dazu an, Speise- und Getränkesitten in blasierte Zeremonien zu verzerren. »Blick’ hin und geh’ vorüber«, rät der italienische Dichter Dante Alighieri.

Das Erlebnis an der Tafel geht weit über den manchmal zufälligen, manchmal zielgerichteten Kontakt mit materiellen Dingen hinaus. Es kann für tiefes Wohlgefühl sorgen, sogar für Glück. Darüber kann allerdings nicht in Vergessenheit geraten, was sich der amerikanische Denker Richard Rorty als sozialen Beitrag von Romanschriftstellern gewünscht hat: Sie sollten uns helfen, »auf die Quellen der Grausamkeit in uns selbst zu achten und ebenso auf die Tatsache, dass sie in Gebieten auftritt, in denen wir sie nicht bemerkt hatten«. Was wäre, wenn man Romanschriftsteller durch Köche ersetzte?

Ich glaube, meine Mutter Ursula hat so gut wie nichts von mir gelesen. Dafür verließ sie uns zu früh, und ich bin ein Spätentwickler. Das hat sie mir stets versichert, wenn sie mich nach einem meiner zahlreichen Fehlschläge wieder aufrichtete und mir Zuversicht einflößte. Ohne diesen, ohne ihren Mut hätte ich dieses Buch nicht geschrieben.

Thomas Platt, Berlin im Juli 2012

Frühling des Essens

Zu Beginn von Frederico Fellinis Armacord treiben wollmausartige, gelblich-graue, flockige Gespinste aus Pflanzenpartikeln durch Höfe und Straßen. Mal schweben sie beschwingt, mal schaukeln sie auf der Stelle gemäß den eigentümlichen Richtungswechseln des Frühjahrswindes, schließlich rollen sie über den Boden, ballen sich mit anderen zusammen, als fegte da ein unsichtbarer Besen. Mit dem Erscheinen dieser Dolden des Zufalls sind sich alle gewiss im Film des italienischen Regisseurs, dass der Frühling kommt. Zweifel waren ja da. Weniger wohl in Rimini an der Adria, wo der Film spielt, als vielmehr hierzulande. Denn mit der Länge des Winters schwindet allmählich die Zuversicht, Handschuhe, Schal und Mütze je wieder in der Schublade verstauen zu dürfen. Man mag daraus ersehen, dass es nur weniger Monate bedarf, um den Glauben an das Gesetz des immer Wiederkehrenden ins Wanken zu bringen.

Wenn man metaphorisch beschreiben wollte, wo der Zeitlauf jetzt angelangt ist, dann bietet sich das Bild eines Tunnels an, dessen tiefster Punkt gerade durchschritten worden ist, und es nun dem Ausgang nähergeht. Mit einem Mal strömt ein Druck von außen auf einen ein, wie er nur lange gestauten Kräften entspringen kann, ein sinnlicher Overload nach der Schmalspurwahrnehmung der kalten Monate. Die Schöpfung stellt ihre Produkte aus und zeigt, was sie kann – eingeleitet von einem Vogelkonzert schon bald nach Mitternacht. Noch durchdringender als die Wärme wirkt im Frühling das Licht, das selbst in die hintersten Winkel der Wohnungen dringt. In seiner Intensität ähnelt es dem der Küste, wo das Meer die Strahlen spiegelt. Überdies wird es noch nicht aufgehalten durch die Blätter der Bäume, deren Schatten später im Jahr als wohltuend empfunden wird. Ein Unterton von Frische liegt in der Luft. Denn nach und nach erst gibt die Natur die gespeicherte Kälte frei.

Wie Herolde des Frühlings fahren alle Cabrios aufgeklappt herum. Zwischen Krokussen, Narzissen und Osterglocken werden Badetücher über noch ein wenig klammes Gras gebreitet, auf denen dann die Winterblässe ausgetrieben werden soll. Die Schönwetterfahrräder kommen aus dem Keller, leicht zu erkennen an den schusseligen Feiertagsfahrern auf den Seitenstreifen der Fahrbahn. Unter der neu erwachten Lebenslust und dem Sonnenhunger liegt jedoch noch etwas anderes: Es ist die Furcht vor der Willkür der Natur, die gerade ihre Muskeln spielen lässt. Mit der Schneeschmelze etwa drohen Überschwemmungen, Stürme können über das Land rasen und der Angst vor dem Klimakollaps neue Nahrung verschaffen. Um daran nicht irre zu werden, entwickeln Menschen Verhaltensmuster, deren Festigkeit und Wiederkehr nicht so recht zu jedermanns fröhlicher Aufgeschlossenheit passen wollen. Zu diesen Verhaltensmustern gehört der Frühjahrsputz, der dem Grind des Winters zu Leibe rückt. Auch wenn er nicht überall mit der gleichen Konsequenz betrieben wird, dürfte er doch viel selbstverständlicher sein als das Fastenritual, das ihm als Idee zugrunde liegt.

Das Fasten selbst, das traditionell am Karsamstag endet, verschwindet trotz des Bedeutungsverlusts von Kirche und Gebot nicht. Im Gegenteil. Ob als Abstinenz, Heilfasten, Frühjahrskur oder nach der Liturgie der Bikinidiät ist es nach wie vor groß in Mode, ganze Branchen leben davon. Überraschenderweise tritt damit der ursprüngliche Sinn des bewussten Hungerns wieder in den Vordergrund, der in der Reinigung des Körpers von den plumpen Winterfetten und den vielen Kohlehydraten begründet war.

Um die Entbehrungen und Einschränkungen der vorausgegangenen Periode so schnell wie möglich zu vergessen, wird die Winterkluft in Kleidersäcken eingemottet und in den Schrank verbannt. Das bleibt zumeist Sache der Frauen, die sich jetzt ins knielange Schürzenkleid mit bedeckter Schulter und in Sandaletten schwingen. Der Mann holt derweil den Grill aus dem Winterlager und befreit ihn von Rost und Schmodder. Im Supermarkt stapeln sich die Grillkohletüten neben den Säcken mit Blumenerde. Doch die erklärte Speise des Frühlings ist nicht die Bratwurst oder das marinierte Nackensteak, beides unter freiem Himmel zu verzehren, sondern der Spargel. Allerdings sprießt er heute äußerst unromantisch unter dicken schwarzen Folien, die, über gewellte Äcker gebreitet, Spaziergänger und Sonntagsausflügler verstören.

Empfindsame Lyriker, die den Belagerungszustand der Schneezeit heil überstanden haben, preisen das Erwachen und schildern seine Farben. Gerade das Bleiche und Unentwickelte der Frühlingspalette – das helle Blau, das leichte Gelb und das linde Grün – vermitteln die Lebendigkeit der Dinge ganz ungefiltert. Die Wucht des Wandels absorbieren auch die Kräfte dessen, der sich daran erfreut. Eine selige Erschöpfung stellt sich ein, nachdem die Sinne draußen für die gegenständliche Welt geschärft wurden; endlich kann man wieder etwas mit ihr anfangen.

Und schon geht es los. Denn da liegt etwas, das dem nun gesteigerten Sinn für das Wirkliche etwas Symbolisches wie zugleich Greifbares zu geben scheint, eine Dimension. Es sind drei, manchmal vier kleine Dinge: Ein Schnitz Zitrone, eine Kaper, die in eine graubraun schimmernde Sardelle gerollt ist, als hielte sie noch Winterschlaf, bilden eine merkwürdige Dreieinigkeit, zuweilen ergänzt zum Lobe des Ganzen noch von einem Zweiglein Petersilie; es fehlt da und dort, um das fromme Bild nicht in den Verdacht des Überdeutlichen zu bringen.

Diese sogenannte Garnitur, die mehr ist als bloße Zierde oder der Beginn eines Ornaments, das sich in den Beilagen dann fortsetzt, gehört zu einem echten Wiener Schnitzel. Allerdings ist es nicht die Speise selbst in vermeintlich saisonaler Unverwechselbarkeit, da sie ja dem Halbschwergewicht angehört und in anderen Jahreszeiten ebenfalls mit Behagen genossen wird, sondern ihre einzigartige Fähigkeit, einen eigentümlichen Appetit zu wecken, im Grunde nichts anderes als Lebenshunger, der lange, viel zu lange unter bleiernen Wolken und dem grauen Schleier des letzten Schnees verharrt hat. Mit dem gleichsam aus seinem Winterpelz befreiten Gelüst kehrt langsam auch das Gespür für Finessen und Nuancen zurück, ohne dass es vom Schnitzel jedoch gleich auf die Probe gestellt würde.

Im Frühling des Essens gibt es viele Gerichte. Sie bauen auf Viktualien, die gerade sprießen, und jedes von ihnen, das so gerne das Grün umspielt, verkörpert eine Erwartung, die erst noch eingelöst werden muss – was beispielsweise im Fall des Frühlingsquarks (und erst recht der Frühlingsrolle) nie hinlänglich vonstattengehen will. Eigentlich müsste die Maienzeit die Wonne des Vegetariers sein, dem die Natur mit Vielfalt und Geschmack bestätigt, dass es auch ohne Tiere auf dem Teller geht; doch wer einmal die Nachbildungen von Schlachterware aus pflanzlichem Protein im Ökoladen gesehen hat, könnte versucht sein, in dieser Inbrunst des Fleischverzichts einen bekehrten Kannibalismus zu sehen, der von seinen Skrupeln berauscht ist.

Von außen betrachtet wirkt sogar das Schnitzel wie eine vegetarische Speise, was Teil seiner Idee ist, wie wir später sehen werden. Aber nun, am Beginn des vor aller Augen anhebenden Fruchtzyklus’, der die gute Laune des Raubtiers verdirbt, indem er Wurst und Braten erst einmal in den Hintergrund drängt, nimmt es eine Ausnahmestellung ein. Wie ein Lächeln, das vom Scherz aus dem Schlummer der indolenten Miene geholt wird, ist es vom ersten Moment an ganz da. Es besitzt eine Präsenz, die nicht erst Wurzeln schlagen muss, und es liegt darum gleichsam vor dem Genießer wie ein vom Wetterbericht empfohlener Tag, auf dessen Verrichtungen man sich selbst dann noch freut, wenn sie Mühe bedeuten. Das gilt ebenfalls für einen Frühling des Zeitgeists, der hoffentlich vor uns liegt.

Sebastian Frank charakterisiert man möglicherweise gar nicht so treffend, wenn man seine großen Erfolge aufzählt oder aber seine Gerichte beschreibt: Dass er 2011 Deutschlands »Koch des Jahres« geworden ist und dass sein Lokal »Horváth« im Berliner Stadtteil Kreuzberg ganz überraschend einen Michelin-Stern gewann … Bei Frank, der in Mödling bei Wien geboren wurde und im tiefen Niederösterreich an der Grenze zum Burgenland aufwuchs, sind es Erscheinung und Werk, ihre verblüffende Einheit, die ihn um einiges mehr ausmachen. In seinem Köchelverzeichnis kommen Edelwaren wie Hummer und Steinbutt kaum vor, umso lieber dagegen Waller und Zander, deren Behandlung hohe Kundigkeit und echten Hang verlangen. In seinem Gesicht sind Witz und Ernst, Kindheit und Gegenwart, heitere Ironie, Handwerkerstolz und junger Ehemann und Vater stets beisammen und wie mit Bedacht mehr gemalt als gezeichnet, nicht einmal ein Fältchen überlässt sich einer Erinnerung oder einem Erlebnis oder einer Emotion zur Gänze.

Nur beim Schnitzel ist es anders. Wenn Frank schildert, wie es gemacht wird und was es bedeutet, verkörpert er Bestimmtheit, vollständige Gegenwart von Geist und Körper, wird aber zugleich mit einer tüchtigen Portion Intuition zu so etwas wie einem Botschafter des Blühens überhaupt. Überliefertes und Vorhandenes benutzt er ungefähr so, wie es der Lyriker Albert Ehrenstein von Mozart gesagt hat: Der Komponist habe beides als Sprungbrett benutzt, um höher und weiter zu fliegen. Und so steigert sich Franks Schnitzelrezept, so traditionell es auch auf den ersten Blick sein mag, zum kunstvollen Furioso des Landläufigen. Wenn dieser Mann einmal ein Kochbuch schreibt, dann kann es eigentlich nur »Frei Schnauze« heißen.

Das Fleisch stammt aus der Oberschale des Kalbs – beim Kauf zu bevorzugen ist Ware aus sogenannter artgerechter Tierhaltung – und wird unter fließendem Wasser abgespült, getrocknet und per ebenem Plattiereisen weit, sehr weit ausgeklopft, sodass es am Ende nur noch eine Stärke von etwa drei bis maximal fünf Millimetern aufweist. Zentimeterschnitzel stellen für Frank eine Katastrophe dar. Das Fleisch wird auf beiden Seiten gesalzen, unter keinen Umständen jedoch mit Pfeffer traktiert. Viele greifen ja nach dem Salzen automatisch zu diesem Allerweltsgewürz und in den meisten Fällen begehen sie damit keinen Fehler. Anders beim Schnitzel, das ähnlich wie das entfernt verwandte Butterbrot (Schnitzel ist schließlich verbrotetes Fleisch) einfach nicht ins Einflussgebiet des Pfeffers gehört. Sodann wird das Fleisch in glattem Mehl gewendet (die Zunft nennt das »mehlieren«) und gleich darauf in Ei, das nur nachlässig verschlagen wurde, um später mit seiner schlierigen Konsistenz zur erwünschten Unregelmäßigkeit der Knusperhülle beizutragen. Die Qualität der Semmelbrösel, in die der feuchte Fladen jetzt muss, ist von entscheidender Bedeutung: Die Brösel sollten, ja müssen unbedingt sehr fein gemahlen sein, gerade so, als stammten sie aus der Kaffeemühle (die manche für diesen Zweck tatsächlich heranziehen). Das oft gesehene Schrot von Brötchen, Semmel, Schrippe oder Weck gehört demgegenüber zu den Brotsünden! Im gut sortierten Fachhandel findet sich gelegentlich das »Mutschelmehl« aus krustenfreiem Weißbrot der Traunsteiner Firma Leimer, das in Momenten von Eile oder Bequemlichkeit Selbstgeriebenes ersetzen mag.

Dann das Braten: In einer schweren Pfanne wird Butterschmalz (auch neutrales Pflanzenöl ist nicht ganz verkehrt – und dem leider immer noch zu selten gehandelten Avocadoöl könnte sogar die Zukunft gehören) ausgelassen. Das Fett darf das Gargut nicht bedecken, soll aber dann und wann als dünnes Rinnsal über es flitzen. Man erhitzt es auf 180 bis 200 Grad, sieht aber zu, dass das Fett nicht zu rauchen beginnt. Heiß anfangen, dann kleiner regeln: »Nur Geduld«, rät Sebastian Frank, »die Pfanne macht das meiste von allein.« Während der ersten zwei bis drei Minuten, die das Schnitzel auf einer Seite zubringt, wird die Pfanne nicht bewegt. Die Panade soll nämlich auf dem Boden aufliegen, eine kurze Weile völlig unbehelligt, um an ein paar Stellen durch Anhängen wirklich dunkle Töne entwickeln zu können. Als ideal wäre das Ergebnis dann anzusehen, wenn ein Farbspektrum von Dunkelbraun bis lichtem Ocker erzielt wird. Nach dem Wenden gerät der Koch in Wallung. Jetzt darf er rütteln und schwenken, das Schnitzel mit Bratfett beziehen und obendrein tüchtig frische Süßrahmbutter in die Pfanne flutschen lassen, denn nun geht es ums Goldgelb. Und ums Soufflieren. Denn das mit dem Ei eingebrachte Wasser löst Teile der Panade und treibt sie in die Höhe, ein Zeichen dafür, dass die Fleischscheibe darunter indirekt gegart wird – in Zeiten der Vakuumzubereitung im Plastikbeutel durchaus modegerecht. Überhaupt haben wir es mit Kurzgebratenem zu tun, das eine künstliche Kruste erhält, die eine über Stunden im Ofen gebildete gewissermaßen simuliert.

Die Garnitur aus Sardelle, Kaper und Zitrone gehorcht zunächst einmal der Aufgabe jeder Ausschmückung: Sie soll verschönen, den Anblick des Gerichts mit seinem Wert versöhnen. Im Fall des Schnitzels besteht der Reiz in einem Fokus, einem deutlich sich abhebenden Sichtpunkt, der die eintönige Fläche der Panade wie mit einem Auge versieht. Zugleich aber gibt die Anordnung aus Fisch, Beere und Zitrusfrucht ein Rätsel auf – mindestens so groß »wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«, von dem der rabiate französische Poet Lautréamont in den Gesängen des Maldoror spricht. Auch wenn der Dichter den Zufall ausdrücklich ins Spiel bringt, scheint es sich dennoch – sagen wir es vorsichtig – um einen Zusammenhang zu handeln. Es könnte zum Beispiel das Spielzeug eines sehr ernsten Kindes sein oder ein religiöses Symbol. Oder Rudimente eines untergegangenen Gerichts, dem hier ein Epitaph gesetzt wird. Oder einfach nur der Versuch, dem Plastisch-Konkreten des Schnitzels etwas eher Abstraktes, gleichsam Geistiges entgegenzusetzen. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass dergleichen der Schnitzelzier zugrunde liegt, ist dennoch deutlich zu spüren, dass es sich bei ihr nicht um eine weitere Illustration des äußeren Scheins handelt, auf den viel ankommt in unseren konventionalistischen und auf Bilder versessenen Zeitläufen, die auf Transparenz stolz sind wie die Partei der Borderliner auf ihre Empathie.

Dass wir den Zusammenhang nicht kennen, macht das Bild genauso wie das ebenfalls nicht rein zufällige Zusammentreffen einer Sardelle und einer Kaper mit einer Zitrone auf einem Stück Schnitzel zum Rebus. Vielleicht will dieses Bilderrätsel überhaupt nicht gelöst und mithin entzaubert werden, sondern soll ein Kitzel bleiben, der den Esser daran hindert, dass etwas, das einmal bloß ein großer Gedanke gewesen ist, für den Herzen und Teller brachen, verschlungen wird wie eine Schüssel Pansen vom Hofhund.

Doch die Suche nach Antworten hört deswegen nicht auf. Erklärungen, vielleicht nicht gleich vollständige oder endgültige, aber immerhin einleuchtende Vorschläge wird finden, wer sich der Geschichte des Schnitzels vergewissert. Was wir heute über seine Entstehung wissen, spielt sich viel mehr auf dem Gebiet der Legende und dem Synoptischen des Mythos ab, als dass eine mit intensivem Quellenstudium betriebene Tatsachenforschung bündige Ergebnisse lieferte. Ursprünglich soll es sich um eine Fastenspeise der Juden von Byzanz gehandelt haben – oder vielmehr einer Fastenvermeidungsspeise, die den zahlreichen rituellen Verboten des mosaischen Glaubens Rechnung trägt, indem sie diese lieber umgeht als bricht. Demnach habe man in Ostrom das Fleisch in eine Brothülle gesteckt, um den Rabbi über den wahren Charakter des Mahls zu täuschen. So unglaubwürdig das auch manchem vorkommen mag, es hat den Common Sense, den frugalen Charme des mythischen Geschehens und die vernünftige List der Legende auf seiner Seite, ohne die historische Erzählung einfach nicht auskommt. Immerhin wäre mit dieser kulturgeschichtlichen Volte erklärt, warum fades Kalbfleisch (das deshalb heutigentags von Kosttäuschern gerne einmal durch billiges Putenfleisch ersetzt wird) den Vorzug vor würzigem Schwein erhält und ebenfalls, wieso eine umständlich zu machende und viel Abwasch verursachende Hülle überhaupt sein muss.

Nun brauchen wir der jüdischen Wanderung nur folgen, auch wenn dafür keine genauen Karten existieren, und schon sind wir zwischen Alpen und Apennin, irgendwo in Oberitalien. Als die Türken sich anschickten, Konstantinopel endgültig einzunehmen, drängten sie nämlich eine gewaltige Fluchtwelle vor sich her, die sich beinahe ins gesamte westliche Europa ergoss und ihm eine gesunde Injektion Orientalismus verpasste. Unter den Exilanten befanden sich auch Juden, die ein Rezept mit sich führten, das den osmanischen Eroberern offensichtlich nicht in die Hände gefallen war; denn sonst würde man ja heute an den Bosporus fahren, um ein Schnitzel im originären Zustand unter Messer und Gabel zu nehmen und nicht an die Donau oder ans Ufer der Olona. Die nämlich fließt durch Mailand, der nächsten Station der Speise. In der lombardischen Metropole verließ sie sozusagen das Ghetto und wurde zum Mailänder Kotelett (Costoletta oder Cotoletta alla milanese), das samt Knochen paniert wird.

Es kann dies auch nur der Ort gewesen sein, an dem die Sardelle ins Licht der Geschichte trat. Zum einen sind Kombinationen von Fleisch und Fisch dort nichts Ungewöhnliches – man denke nur ans Vitello tonnato, das Kalb mit Thun vereinigt, als ob nichts wäre, oder so manches Stockfischrezept. Zum anderen aber könnte – wir sind nach dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453 bereits in der Hochrenaissance angelangt – das Motiv, ein Fischlein auf der Krume in Szene zu setzen, auch in Zusammenhang stehen mit einer der Manien des Zeitalters: die Dinge zu verrätseln, mit verdeckten Bedeutungen zu spielen und ihren metaphorischen oder gar mirakulösen Gehalt höher zu setzen als die schnöde Wirklichkeit mit ihren tausend Stolpersteinen. Überspitzt gesagt, könnte man geradezu von einer Christianisierung des Schnitzels reden, wenn man bedenkt, dass es sich beim Fisch um eines der ältesten Symbole des Erlösers handelt, desjenigen, der das Brot brach – was die Theorie durchs Hinzutreten des geriebenen Backwerks noch glaubhafter macht.

Ausdrücklich ergibt sich dann noch einmal eine Portion Sinn, wenn die Blütenknospe des Kapernstrauchs die verdeckte religiöse Intention unterstreicht. Die nur sehr kurze Öffnungsphase der Blüte inspirierte schon die Autoren des Alten Testaments, die Kaper nicht nur im Kochtopf, sondern auch als Sinnbild der Vergänglichkeit zu verwenden. Kaum poetischer und durchaus profaner könnte man sie ausdrücken, als es der rechtmäßige Herzog von Mailand nach einem antikisierenden Mimenspiel getan hat; seine Worte lassen sich auch auf die Botschaft der Sardelle münzen: »Das Fest ist jetzt zu Ende, unsre Spieler, wie ich Euch sagte, waren Geister und sind aufgelöst in Luft. Wir sind solcher Zeug wie der zu Träumen, und dies kleine Leben umfasst ein Schlaf«, spricht Prospero in Shakespeares letztem Stück, dem Sturm.

Die weitere Historie gehört natürlich eher zum Stoff, aus dem das Wachsein ist. Mit dem Vordringen der Österreicher nach Norditalien geriet das Schnitzel in die Hände von schneidigen Rittmeistern und ihrer Stiefelknechte, deren wohlausgebildeter Instinkt für Freizeit und Genuss das enorme Potenzial der Messerspeise unverzüglich gewittert haben muss. Bald darauf fand das Schnitzel sich in Kaffeehäusern und Kaschemmen der Stadt wieder, die ihm seinen endgültigen Namen gegeben hat. Und zwar nicht nur den Ruf-, sondern gleich auch den Familiennamen, der aus einer Verniedlichungsform eines Schnitzes vom Fleisch besteht. Neben dem kleinen Schwarmfisch und der grünen Beere wurde auch die Zitrone kurzerhand gekapert und ebenfalls in die Hauptstadt der Habsburger verschleppt, zunächst wohl – genauso wie in der Poebene – als Würze und Verdauungshilfe, dann aber auch zum Zeichen der Unterwerfung des Landes der Zitronen. Im Schatten des Stephansdoms, dessen Architektur zwar Patisserie nahelegt, traten Kartoffel und Gurken hinzu, der Wurzel- und der Gemüseaspekt, Feld und Garten. Das ist folgerichtig. Und logisch ist auch deren Zubereitung. Denn ein Gericht mit einer derartig ausgeweiteten Bratoberfläche kann keine Begleitung neben sich dulden, die ebenfalls aus der Pfanne kommt, ja noch nicht einmal eine warme. Deshalb wurden aus beiden Salat, ersterer eher süßlich gehalten, der andere à la crème sowie mit relativ viel Salz.

Den Kartoffelsalat eine »Sättigungsbeilage« zu nennen, ist ein Unding. Ein Verrat sogar. Dies nicht allein, weil es sich dabei (wie bei der »Standardsituation« im Fußballkommentatorendeutsch) um eine materialistische Propagandaprägung handelt, die hinter den Eisernen Vorhang gehörte und dort den Mangel (auch den der Fantasie übrigens) bemänteln sollte, sondern auch, weil es seiner Funktion nicht gerecht wird. Der Kartoffelsalat liegt eben darum mit auf dem vom Fleisch zu weiten Teilen beanspruchten Porzellan, weil er so etwas wie eine Gegenmasse oder »Hauptlage« darstellt. Sie wird mit ihrem spezifischen Gewicht notwendig, weil das Gericht sonst monothematisch bliebe. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, die Gedanken auf grundlegende Eigenschaften des Geschmacks zu lenken, die im Wirbel des Gourmetjargons und der Fachidiotie so gut wie nie zur Sprache kommen – nämlich das aktive und das passive Aroma. Aktiv sind in diesem Fall Kartoffelsalat und Garnitur gleichermaßen, wohingegen das Schnitzel dem Passiven zuzuordnen ist. Seine Röstrinde wäre gemütlich zu nennen, während das Innere fast neutral bleibt und hauptsächlich als Bissqualität registriert wird, ein Umstand, der unbestreitbar auf der passiven Seite zu Buche schlägt.

Man kann vom Schnitzel aus den Kartoffelsalat betrachten oder von der Warte des Salats aus das Fleisch – stets bleiben es Perspektiven einer einzigen, kategorialen Sache, wohingegen der Gurkensalat und der in jüngeren Tagen hinzugekommene, womöglich erst im Berlin der Mauerzeit eingeführte Preiselbeerkompott als reine Zugaben naturgemäß in eigenen Tiegeln serviert werden sollten.

Obgleich das Schnitzel für sich genommen so etwas wie ein kulinarisches Minimum darstellt – der Philosoph Leibniz würde von einer »Monade« sprechen –, lebt es gleichwohl vom Austausch mit den übrigen Komponenten des Tellers. Dem großen Schauspieler und nicht minder großen Bonvivanten Axel Milberg wird die Äußerung zugeschrieben, die Dressings von Kartoffel- und Gurkensalat dürften mitunter zum Fleisch »hinübersäfteln«, um den in die Panade eingedrungenen Zitrussaft mit Essig und überhaupt einem Mehr an fruchtig-frischer Feuchtigkeit zu bereichern. Bei seinem eigenen »Kieler Kartoffelsalat«, der mit Apfel, Ei, Gewürzgurkenwasser und schließlich Apfelessig getaktet ist, ersetzt der Wahl-Münchener übrigens das Öl durch eine Zwiebel-Béchamel (»Ich mach’ mir meine Mayonnaise selber«), die das Buttrige des Schnitzels aufnimmt und aufs Geschmeidigste weiterführt.

Genauso gut kann alles ganz anders gewesen sein. Ebenso wie auf dieser Seite auch etwas gänzlich anderes stehen könnte. Dass etwa das Panieren keine neuartige Technik in Wien gewesen sein kann, davon zeugt ja allein schon das viel ältere Backhendl. Und dass eine Hülle aus Teig oder Brosamen überhaupt zu den uralten Verpackungs- und Konservierungsmethoden zählt, versteht sich fast von selbst.

»Doch Skepsis allein hat noch keine gute Geschichte zugrunde gerichtet. Das besorgen schon viel eher Nachahmungen, Spielarten und Varianten«, heißt es bei G. K. Chesterton. Und, das könnte auch sein, die Politik. Weitgehend unbekannt sind die Geheimgänge und verwinkelten Pfade ohnehin, die zwischen der Steuerung des Gemeinwesens und bestimmten Speisen verlaufen, die eine politische Bedeutung für sich in Anspruch nehmen können. Am Beispiel des Schnitzels haben sich Autorenkollege Julius Grützke, kurz studiert und hoch gebildet, und der Autor dieses Buches einmal folgende grundsätzliche Gedanken gemacht:

Panierte Politik

Wer die Macht hat, braucht sich ums Essen nicht mehr zu kümmern. Das übernehmen die Regierten. Politiker scheinen sich auf Banketten und Diners zu ernähren, deren Kosten von Steuerzahlern und Lobbyisten beglichen werden. Aber nicht nur als Lieferant und Zahlmeister sorgt sich der Untertan um seine Herrschaft. Die Angst vor falscher Ernährung bis zur Vergiftung des Staatsoberhauptes stellt ein uraltes, wenn auch selten noch direkt angesprochenes Thema dar. Dass es diese Sorge aber immer gegeben hat, lässt sich auch daran erkennen, wie viel von den Essgewohnheiten und Lieblingsspeisen der führenden Politiker überliefert ist.

Selbst wenn sich ein Schlachtenlenker wie Napoléon wenig Zeit fürs Faible seiner Landsleute nahm, weiß man doch, dass er gern Hühnchen aß, um seinen nervösen Magen nicht allzu sehr zu belasten. Doch das Wissen um den Speiseplan eines Herrschers bringt ihn nicht nur als Menschen dem Bürger näher, sondern kann auch seine Politik illustrieren. So lässt sich die Nachkriegsgeschichte Deutschlands auch anhand der Leibspeisen ihrer Kanzler charakterisieren. Von Adenauers rheinischem Traditionsgericht »Himmel un Ääd« über das Salzwiesenzicklein als Leibspeise des Lübeckers Willy Brandt bis zu Helmut Kohls pfälzischem Saumagen zieht sich eine Linie durch die deutschen Regionen und ihre volkstümlichen Spezialitäten.

Seit allerdings das Kanzleramt in Berlin steht, scheinen sich die Amtsinhaber auf einen Klassiker der europäischen Küche geeinigt zu haben, der keinen Rückschluss auf ihre landsmannschaftliche Herkunft erlaubt. Sowohl dem Sozialdemokraten Schröder als auch der konservativen Angela Merkel wird wie ihren Ministern, Staatssekretären und Beratern Wiener Schnitzel aufgetischt – eine bedeutsame kulinarische Gleichschaltung. Dass dieses flach geklopfte und panierte Fleisch zum Wahrzeichen der Berliner Republik geworden ist, lässt tief blicken und weckt Zweifel am Selbstverständnis unserer Regierung.

Zunächst einmal ist das Wiener Schnitzel ein Gericht von Weltruf, das überall mit der deutschen Sprache und unserem Kulturraum in Verbindung gebracht wird. Dabei kommt diese Rezeptur, wie gesagt, eigentlich aus Byzanz und hat über Mailand die Alpen überquert, um in der Doppelmonarchie ihren einprägsamen Namen zu erhalten. Es ist eine im besten Sinne urbane Spezialität, die man ohne großen Aufwand zubereiten und zu jeder Zeit essen kann und die eher ins Gasthaus gehört als an den heimischen Herd. Ihre Beliebtheit unter den Kanzlern und Kabinettsmitgliedern verschiedener Couleur zeigt an, dass die Politik aus der Provinz in der Hauptstadt angekommen ist. Und auch aus der Wohnung in die Öffentlichkeit. Erwachsen ist sie allerdings nicht geworden.

Jedes Kind mag Wiener Schnitzel, und das kommt nicht von ungefähr. Fleisch, in der gerösteten Brotkruste um seinen ohnehin geringen Eigengeschmack gebracht, lässt sich mit Ketchup oder anderen Würzmitteln in jede Richtung manipulieren. Was den Kindern daran so gefällt, nimmt auch die Politiker für das Tellergericht ein: Es ist eindeutig, ohne sich festzulegen. Wer Wiener Schnitzel bestellt, wirkt entschieden, verrät aber nichts über sich – außer, dass er mit dem Strom schwimmt. Als Wahl folgenlos, wirkt es gleichzeitig volksnah. Was schließlich auf dem Teller liegt, ist der Sieg der Oberfläche über die Substanz. Wie könnte man das besser illustrieren als mit einem bis zum Carpaccio flach geklopften Stück aus der Kalbsoberschale in kross gebackener Panade?

Auch die eifrig geführte Debatte, wo das beste Schnitzel gebraten wird, wirkt aufgesetzt und müßig. Die Unterschiede zwischen den Gaststätten sind längst eingeebnet und beschränken sich auf verschiedene Garnituren und Beilagen – ähnlich wie bei den Parteien. Und so ist das Schnitzel zum Symbol einer Republik geworden, die sich um feste Grundsätze drückt. Wenn sich der Fleischersohn Franz Josef Strauß eine Schweinshaxe vornahm, sagte er gleichermaßen etwas über seine Herkunft, seine Statur und sein politisches Wollen aus. Die Schnitzelesser von Berlin hingegen genügen lediglich einer geschichtslosen Konvention. Kein Wunder, dass ihre Politik so nichtssagend ist: Wie das Fleisch vom unschuldigen Kalb, wappnet sie sich mit einem Schild aus Semmelbröseln und Ei gegen den Appetit der Wirklichkeit.

Nachzutragen wäre noch, dass die Wahl des Schnitzels in einem Restaurant, das sich der feinen Küche verschrieben hat, im Grunde einen Nichtwähler verrät, der sich trotzdem entscheiden muss und womöglich schon mit der Eigenständigkeit einer unerbittlichen Salatsauce überfordert wäre. Doch was immer dem Kellner als frommer Speisewunsch ins Ohr geflüstert wird, es vermag den Nachruhm zu gefährden: »Mit jemandem regelmäßig zu dinieren ist ein entsetzlicher Keulenschlag für dessen Chancen, sich uns als historische Persönlichkeit einzuprägen«, steht irgendwo im Nachlass von Marcel Proust. Heute kann man den Satz auch als vorweggenommenen Kommentar auf die Jubeljahre der Republik verstehen.

Wiener zweier Herren

»Schwäbisches Rahmschnitzel vom Schweinerücken mit frischen Pilzen, handgeschabten Spätzle und Marktsalaten« offeriert das Eberbacher »Hotel Krone Post« im Frühjahr 2012; in der benachbarten »Pizzeria Milano« ragen neben Jäger-, Rahm- und Zigeunerschnitzel das »Schweineschnitzel Gorgonzola« mit Nudeln sowie das mit Käse und Vorderschinken überbackene »Parmigiana Schnitzel« mit Fleischsoße hervor. Wenig weiter, in der Speisegaststätte »Zum Lamm«, verwöhnt Inhaber Fritz Wolff seine Gäste mit Schnitzel »Jäger Art« und »Zigeuner Art« (vor dem Mainstream-Tribunal, zu dem die Talkshows des Staatsfernsehens verkommen sind und in denen sich die vorherrschende Meinung keineswegs als wohlmeinende Herrschaft geriert, müsste Herr Wolff wirklich gute Gründe dafür angeben, warum er Letzteres nicht »Sinti- und Roma-Art« genannt hat) und beim Konkurrenten, der »Ratsstube zur Traube« unterhält Familie Koch eigens eine Schnitzelkarte mit sechs Positionen, darunter ein der heimatlichen Kurpfalz verpflichtetes »Kochkäseschnitzel mit Beilage nach Wahl und Salat« sowie das vom Aussterben bedrohte »Cordon Bleu«, wiederum mit Beilage nach Wahl und Salat ohne Wahl.

Im nicht einmal einem Dutzend Kilometer entfernten »Schlosshotel Hirschhorn« im südhessischen Teil des Odenwaldes serviert das Burgfräulein mit einmaligem Vergesslichkeitsgedächtnis auf der Terrasse hoch über dem Neckar irgendwann doch noch »Wiener Kalbsschnitzel«. Diese südwestdeutsche Wortschöpfung soll Missverständnissen bezüglich der Fleischqualität vorbeugen. Denn die Verwendung von Schweinefleisch, die aus einem Wiener Schnitzel eines »Wiener Art« werden lässt, kennzeichnet die volkstümliche Variante. Sie hat ja immerhin für sich, dass sie würziger, ja fleischiger ist als das vom Geschmacksbild her zum Vegetarischen hinneigende Original. Vorausgesetzt, der Rohstoff entstammt nicht der Massentierzucht, die auf die würdeloseste und abstoßendste Weise eine wässrige Art Tofu vom Schwein erzeugt.

BRENNER, Berlin

Die Mutter war Tänzerin, der Vater Dirigent, der Sohn ist Koch. Robert Lasarow kocht so prägnant in Richtung Heavy Herd, dass sogar Kettenzigarrenraucher davon noch etwas mitkriegen.

Im Balkanrestaurant »Zum Bootche«, das die Vierburgenstadt Neckarsteinach mit einem sowohl adriatischen als auch internationalen Flair versorgt, stehen gleich sieben Varianten zur Auswahl. Wagemutige wählen – nach einem Seitenblick auf die örtliche Apotheke – das mit Schinken, Käse und sauren Gurken gefüllte »Schnitzel Slavonia«, und können dereinst noch ihren Enkeln davon erzählen. Zur gleichen Stunde wird im Heidelberger »Essighaus« in einer blechernen Sauciere Bratensaft zum Schnitzel gereicht. Auf dass es flutsche.

Diese Impressionen sind beileibe nicht aufs Neckartal beschränkt, sondern begegnen einem überall in Deutschland – und in der Regel als Durchschnittlauch, wenn man nicht gleich auf unterstem Niveau abgefüttert wird – und das auch noch mit einer Humorlosigkeit, die einem auch bei jenen blutigen Laien auffällt, die sonntags ihre Jonglierkünste in den städtischen Parkanlagen zur Schau stellen. Als Zubrot haben sich beinahe durchweg Pommes frites und Salat – seit Jahrzehnten schon kürzt man das frittierte Schnitzel, Pommes frites und Salat mit »Schniposa« ab – durchgesetzt, vermutlich weil die gesottenen Kartoffelstäbchen unverhohlen an das Kind im Gast appellieren, dessen Liebe zum Eindeutigen mehreren Industriezweigen Butter aufs Brot schmiert. Der Nachwuchs im Binnenland meidet natürlich Fisch, sodass die meisten Wirte die gerollte Applikation auf der Röstrinde weglassen – als sollte es der Fantasie des Hungrigen überlassen bleiben, das Wort Sardelle in die Luft über die Panade zu schreiben. Durch die Welt der Fakten, Realitäten und nackten Tatsachen geistern sowieso Denkblasen sonder Zahl, meistens leere. Aber einige von ihnen füllen sich wenigstens mit ein paar Stichworten, wenn der Gast von der jungen Generation übernommene Häuser betritt, die seinen, des Gasts Namen, mit einiger Berechtigung tragen.

Sie heißen Adler, Lamm, Löwe, Hirsch und Schwan. Oder Weißes Rössel, Roter Ochse, Grüner Baum. Oder aber Linde, Krone und Engel. Deutsche Gasthäuser tragen nicht von ungefähr Namen, die in der Heraldik eine Rolle spielen. Damit berufen sie sich auf ein Fundament, das von längst vergessenen Vorfahren errichtet wurde. Man könnte auch von einer Tradition der Tradition sprechen, denn namentlich ihre Gerichte treten auf, als wären sie immer schon da gewesen und könnten auch in alle Ewigkeiten hinein nicht mehr verbessert werden. Ja, sie erscheinen als derart endgültig, als hätte es nie einen evolutionären Pfad gegeben. In gewisser Weise spiegelt sich das auch in der vorwiegend rustikalen Einrichtung der Wirtshausstube. Selbst dort, wo moderne Elemente wie Entlüftungsschlitze, Sprinkleranlage und Heizkörperverkleidung angebracht wurden, ordnen sie sich unauffällig in jene konservative Behäbigkeit ein, zu der Fachwerkstreben, Kassettendecken, kasemattenartige Spannbögen, klebrig verstaubte Zwölfender und schmiedeeiserne Kronleuchter maßgebliche Beiträge leisten. Manche davon erinnern in ihrer unauffälligen Skurrilität an vielarmige indische Göttinnen auf Deutschlandtrip.

In der wahren Erscheinungsform der Gaststätte ist der Inhaber zugleich auch der Wirt, und die Familie assistiert nach Leibeskräften. Als ein Ort, an dem Essen und Trinken gleichberechtigt sind, sollte er sein Refugium von morgens bis tief in die Nacht geöffnet halten. Dass es in Stadt oder Dorf bestens eingebunden ist in das Netz aus Wegen und Verpflichtungen, versteht sich von alleine. Querulanten und andere Feinschmecker mögen einwenden, dass in der Küche mit allerlei Hilfsmitteln wie gekörnter Brühe und Bratensaftkonzentrat hantiert wird. Dabei sind diese kulinarisch eingefriedete Voraussetzungen für niedrige Preise, große Portionen und Soßennachschlag. Zudem fällt auf: Das klassische Wirtshaus (man darf es ruhig auch »Lokal« titulieren, ohne dass sich jemand auf den Schlips getreten fühlt) scheint bedrohliche Konkurrenz nicht wirklich ins Kalkül zu ziehen. Entweder der erwartungsvoll Eintretende bekommt es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich ungefähr so wie ein Staatsbetrieb verhält, oder aber mit der entschlossenen Munterkeit von Überzeugungstätern, die sich noch trauen, einen Edelzwicker in den grünlich schimmernden Römer zu füllen.