Was Tiere können - Emmanuelle Pouydebat - E-Book

Was Tiere können E-Book

Emmanuelle Pouydebat

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Beschreibung

Die fabelhafte Welt der Anomalie

Spinnen, die mit Lassos jagen, Biber, die die längsten Dämme der Welt bauen, und Papageien, die mit 150 Worten ein Gespräch führen können. Die Intelligenz der Tiere ist erstaunlich und immer aufs Neue unergründlich. Tiere sind Ingenieure, Strategen, Entdecker – und oft erschreckend menschlich. Wie sie uns begeistern und was wir von ihnen lernen können, zeigt uns die bekannte Verhaltensforscherin Dr. Emmanuelle Pouydebat mit eindrucksvollen Geschichten aus ihrer Forschung. Wer bisher glaubte, der Mensch sei das einzig intelligente Wesen auf diesem Planeten, sollte bei der Lektüre auf seine Scheuklappen aufpassen.

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Seitenzahl: 306

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Buch

Tiere sind Ingenieure, Strategen, Entdecker – und oft erschreckend menschlich. Wie sie uns begeistern und was wir von ihnen lernen können, zeigt uns die bekannte Verhaltensforscherin Dr. Emmanuelle Pouydebat mit eindrucksvollen Geschichten aus ihrer Forschung.

Autorin

Dr. Emmanuelle Pouydebat ist Verhaltensforscherin und arbeitet am renommierten Centre national de la recherche scientifique, dem Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Paris. Sie forscht seit über 15 Jahren zu den unglaublichen Phänomenen der Tierwelt, hat zahlreiche Artikel in Fachjournalen veröffentlicht und wurde dafür vielfach mit wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet.

Dr. Emmanuelle

Pouydebat

Was Tiere können

Wie sie denken

Wie sie kommunizieren

Wie sie uns überraschen

Vorwort von Yves Coppens

Aus dem Französischen

von Alexandra Baisch

Die französische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »L’intelligence animale« bei Odile Jacob, Paris.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe März 2019

Copyright © 2017 der Originalausgabe: Odile Jacob

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © gettyimages/Frederic Desmette

Redaktion: Mailin Micke

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

JE ∙ Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-23031-9V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meinen kleinen Primaten, der eben erst anfängt, das Leben zu entdecken

Inhalt

Vorwort von Yves Coppens

Einleitung

Lucy wohnt ganz in meiner Nähe

Die Vergangenheit verstehen, um die Gegenwart zu verstehen

Die Gegenwart verstehen, um die Vergangenheit zu verstehen

Jane Goodalls Schülerin

Jenseits von Afrika, auf dem Weg zum Taï-Nationalpark

Professor Yves Coppens gibt es wirklich!

Was ist Intelligenz, und wie vergleicht man Intelligenz bei verschiedenen Arten?

Was Sie beim Lesen dieses Buchs erwartet

Kapitel 1 – Die Intelligenz, eine rein menschliche Besonderheit?

Ein kleiner Hinweis unter Freunden

Was ist der Mensch?

Der Mensch, dieser Primat

Die Besonderheiten des Menschen

Die Primaten, diese Tiere

Wer hat die ersten Steinwerkzeuge hergestellt?

Homo oder nicht Homo?

Wenn der aufrechte Gang und das Werkzeug zusammenkommen

Warum die Archäologie nicht ausreicht

Primaten und Steinwerkzeug

Und nur der Mensch wurde vom Genie geküsst?

Kapitel 2 – Wer ist der Beste?

Menschliche und nicht menschliche Primaten im Umgang mit Werkzeug

Der Gebrauch von unterschiedlich einsetzbarem Werkzeug

Die Bedeutung von Pflanzen

Der Wettstreit um die Nuss im Labyrinth

Das Labyrinth und die Bonobos

Das Labyrinth und die Orang-Utans

Das Labyrinth und die Gorillas

Das Labyrinth und die kleinen Affen: ein Versuch mit den Kapuzineraffen

Das Labyrinth und die Menschen

Der Einfluss von Lebensweise und Kultur

Die Auswirkungen von Wettstreit

Kapitel 3 – Ohne Daumen, ohne Hände, ohne Cortex und Skelett!

Werkzeuge in der Luft und im Wasser

Die Säugetiere: mit Krallen und ohne opponierbaren Daumen

Die Vögel: ganz ohne Hände

Von Spinnen und Insekten: ohne inneres Skelett und ohne Cortex!

Und im Wasser?

Kapitel 4 – Technik und Kreativität

Konstruktionen und die Manipulation von Objekten im Tierreich

Ist der Gebrauch von Werkzeug wirklich ein Indiz für Intelligenz?

Was sind die neuronalen Grundlagen für Geschicklichkeit und den Gebrauch von Werkzeug?

Wer hat die ersten Werkzeuge hergestellt?

Die Ingenieure unter den Tieren: Erbauer, Schneider, Vermesser … und das ganz ohne Werkzeug!

Kapitel 5 – Wie schafft man es, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein?

Das Navigieren und das Gedächtnis

Haben Sie sich im Wald verirrt, dann folgen Sie einem Schimpansen!

Schimpansengedächtnis versus Studentengedächtnis

Vögel und ihre unzähligen Verstecke

Elefanten vergessen nie etwas, Goldfische hingegen immer alles?

Heimkehren: Das ist manchmal ganz schön kompliziert!

Achtung, Gefahr: Raubtiere!

Magnetismus in trübem Gewässer: die Orientierung der Delfine

Was verhält sich eine Eidechse im Labyrinth?

Wer verfügte als Erster über räumliche Orientierung?

Kapitel 6 – Weitergeben oder nicht weitergeben?

Innovation und soziale und kulturelle Intelligenz

Innovation und Intelligenz: Na, was ist, bist du innovativ oder nicht?

Du kannst Neuerungen durchführen? Dann gib sie doch auch weiter!

Je mehr, desto intelligenter!

Sei intelligent, um kultiviert zu sein, oder sei kultiviert, um intelligent zu sein?

Kapitel 7 – Kooperation, Altruismus oder Empathie?

Die Intelligenz des Herzens

Sie haben nicht das Monopol des Herzens …

Kooperiere und werde intelligent oder sei intelligent und kooperiere?

Ursprung und Entwicklung der Kooperation: schummeln oder nicht schummeln

Altruismus bei Tieren? Warum sprechen wir nicht gleich von Empathie?!

Kapitel 8 – Eine oder mehrere Formen der Intelligenz?

Von einer linearen hin zu einer sich verästelnden Evolution

Mit dem Leben taucht auch die Intelligenz auf

Intelligenz: weshalb sie auftaucht und wie sie sich weiterentwickelt

Mal angenommen, die Menschen wären trotz allem die Intelligentesten …

Von der Unmöglichkeit, Intelligenz zu hierarchisieren

Der Mensch und die Ameise …

Fazit

Über die Absurdität, die tierische Intelligenz beweisen zu müssen

Die Intelligenz, gemessen am Maßstab der Evolution

Wenn ich mal groß bin …

Danksagung

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Register

Vorwort von Yves Coppens

Meine liebe Emmanuelle,

abgesehen von diesen ersten Seiten, die mich in Verlegenheit bringen, muss ich sagen: was für ein schönes Buch, und was für eine elegante Vorgehensweise, den Menschen an seinen Platz zu verweisen; es hält zahlreiche Lektionen für denjenigen bereit, den die Neugier antreibt, sich einfach in dieser Welt umzusehen, indem er bei sich selbst beginnt, dann größere Kreise zieht und schließlich alles betrachtet, was um ihn herum und in ihm ist. Diese Welt, die seit vier Milliarden Jahren auf so wunderbare Weise besteht, steckt voller Ideen, Tricks und Strategien, wie man sich ernähren, sich schützen oder einander verführen kann und dabei weder auf seine Vorlieben noch auf seinen Komfort oder sein Schönheitsempfinden, auf seine Lebensqualität oder seine Sicherheit verzichten muss. Alles Lebendige arbeitet ununterbrochen weiter daran, jedwedes Verlangen bestmöglich zu befriedigen. Seine Vielfältigkeit und Kreativität werden nur durch seine Genetik kontrolliert, die, wie man heutzutage weiß, sehr viel fließender verläuft, als man sich vorgestellt hat. Nur sie kann seine Kapriolen ein wenig eingrenzen und lenken. Wir dürfen nicht vergessen, dass, zumindest momentan, einzig unser Planet (oder vielleicht unser Sternensystem) von dieser Biosphäre umgeben ist, ein paar tausend Meter über und unter uns, ein Erbe, dessen Außergewöhnlichkeit wir tagtäglich besser ermessen sollten; denn dieser Planet birgt einen Schatz an Formen, Farben, Aktivitäten und Ideen, aber auch an Gefühlen, Vertrauen, Komplizenschaft und Zuneigung, gemischt mit Misstrauen und Argwohn als Warn- oder Verteidigungssystem. Diese Großzügigkeit beweist im Übrigen, wie besessen die Natur darum bemüht ist, die Arten, die sie hervorgebracht hat, um jeden Preis zu bewahren, das heißt, jedes Individuum trotz aller Tücken einer Welt, in der Jäger und Gejagte sich mehr oder weniger im Gleichgewicht halten, am Leben zu erhalten. Meine Überlegungen sollen meine Bewunderung für die Naturforscherin, die Sie sind, meine liebe Emmanuelle, aber auch für die Person, die Sie verkörpern, zum Ausdruck bringen. Dem Menschen von Zeit zu Zeit zu sagen, dass es ein Pleonasmus ist, ihn in die Natur zu versetzen, tut seinem Verständnis der Welt gut, lehrt ihn Bescheidenheit und weckt zugleich die Lust, in Ihre Hymne des Lebens einzustimmen. Manche meiner Konferenzen tragen aus Faulheit häufig das unaufgeregte Motto »Die Vergangenheit erleuchtet die Zukunft«; von Ihnen werde ich unter anderem zurückbehalten, dass die Gegenwart auch die Vergangenheit erleuchtet.

Ihr Buch ist ein Genuss, liebe Emmanuelle, ein Spaziergang durch die Welt der Lebenden und über den gesamten Globus.Es beobachtet ohne Ungeduld, denn Geschwindigkeiten sind ebenso unterschiedlich wie die Akteure, und ich weiß Ihre Untersuchungen und auch – oder gerade – die Findigkeit Ihrer Experimente zu schätzen. Sie gehen dabei noch gewiefter vor als das beobachtete Objekt, mit dem Ziel, es immer besser kennenzulernen. Das funktioniert und überrascht – machen Sie, lieber Leser, sich immer auf das Unerwartete gefasst! –, oder es funktioniert nicht, weil jeder, auch ein Beobachtungsobjekt, nun einmal seinen Stimmungen unterliegt und diese respektiert gehören.

Wie Sie wissen, bin ich Naturwissenschaftler, also fühle ich mich in Ihrem Buch besonders wohl (an der Universität von Rennes verbrachte ich ein ganzes Jahr mit Spinnentieren; auf den ersten Blick mag das vielleicht langweilig erscheinen – aber diese Welt erstaunte mich beständig mit ihrem Reichtum, ihrer Diversität und ihrer Genialität). Außerdem bin ich Paläontologe und in meinen Mußestunden auch Paläoanthropologe, daher möchte ich ein kurzes Wort zu unserer Arbeit verlieren.

Zunächst muss sich der Paläoanthropologe den Kopf darüber zerbrechen, wohin er gehen und wo er graben muss, als Nächstes muss er die Fossilien im Untergrund finden und schließlich verstehen. Wie Sie wissen, habe ich zahlreiche Jahre direkt vor Ort verbracht (zu diesem Zeitpunkt schlief ich häufiger in Zelten oder unter Sternen als in meinem Bett!), und wenn ich tatsächlich ein Stück kaputten Knochen fand, das einem Menschen oder einem Vorfahren des Menschen gehörte, dann war das häufig erst, nachdem wir etwa fünf Tonnen Knochen anderer Wirbeltiere eingesammelt hatten. Die anschließende Untersuchung der Fossilien kann durch beachtliche Fortschritte der Bildgebung nicht ersetzt werden. Diese erlaubt allerdings, tiefer ins Gewebe der Knochen vorzudringen, die Strukturen und die Biomechanik zu verstehen, von den Zellen bis hin zu den Isotopen, und manchmal, wenn das Fossil noch nicht zu alt ist, Überbleibsel der nuklearen oder mitochon drialen DNA zu entdecken, die sie uns freundlicherweise »zurückgelegt« haben. Ich bitte hier um ein wenig – nur ein klein wenig – Nachsicht für die Kurzfassung des vergleichenden anatomischen Examens, seiner Interpretationen und Stolpersteine. Der Paläoanthropologe hat zwei unheilbare Süchte: schnellstmöglich das Alter des Knochenstücks sowie die Abstammung seines Trägers herauszufinden!

Und schließlich müssen Sie wissen, liebe Emmanuelle, aber davon haben Sie vermutlich längst gehört, dass meine Studenten und wissenschaftlichen Kollegen mich »Silberrücken« nannten, was, und das muss ich Ihnen eigentlich gar nicht erklären, der Spitzname des alten männlichen Gorillas ist! Was soll ich dazu sagen, außer, dass ich so ohne Vorwarnung – und wie ich nur durch eine Indiskretion herausfand – in der Familie der Hominiden mit einem Mal zwei Arten auf einmal vertreten musste, was gar nicht so unangenehm ist.

Ich bin mir sicher, dass die Leserinnen und Leser von Ihren zahlreichen, unterschiedlichen und immer außergewöhnlichen Beispielen begeistert sein werden, auf die sie ansonsten wohl kaum stoßen würden; ich bin stolz darauf, zu Beginn dieses »Emmanuelle im Wunderland«-Werks zu Wort gekommen zu sein. Sie haben sich von »Werkzeug« und »Intelligenz« leiten lassen, aber Ihr Buch geht noch sehr viel weiter: Es beschreibt die Gesamtheit des eigenartigen und wunderbaren Phänomens des Lebens. Schon Dostojewski schrieb: »Die Schönheit wird die Welt retten« …

Einleitung

Man schreibt nicht zufällig ein Buch über tierische Intelligenz und ihre Entwicklung. Es ist das Ergebnis eines langen Weges, bei dem sich alle unter uns ohne jeden Zweifel wiederfinden werden – ob nun ein klein wenig, etwas mehr oder voll und ganz …

Lucy wohnt ganz in meiner Nähe

1984. Es gibt Jahre wie dieses, die einen prägen und die Richtung eines Lebens vorgeben. Ich bin elf Jahre alt. Bisher haben mich bebilderte Kinderbücher über die Urgeschichte, die Evolution, Tiere und Dinosaurier begeistert, die meine Mutter mir regelmäßig aus der Schule mitbringt, an der sie unterrichtet. Die Geburt eines kleinen Bruders, den ich beim Aufwachsen erlebe, verändert meinen Blick auf die Entwicklung des Lebens vollständig. Eine weitere Geburt: Die Wurzeln des Menschen – 152 Seiten aus der Feder von Yves Coppens. Die Lektüre dieses Buchs hat mein Bild über die Entstehungsgeschichte des Lebens für immer verändert. Die Zeilen erwecken meine Leidenschaft, mein Denken und meine Fragen. Seite um Seite tauche ich in die ferne Vergangenheit des menschlichen Geschlechts ein. Ich sehe Lucy, den kleinen weiblichen Australopithecus, der in meiner Kinderseele zugleich einem Menschen wie einem Schimpansen ähnelt. Zurückgezogen in meinem Zimmer sehe ich, wie sie Raubtieren entkommt und auf allen möglichen Wegen nach Nahrung sucht. So wie in alten Science-Fiction-Filmen, in denen sich die Epochen auf ungünstige Weise vermischen, stelle ich mir in meiner siebten Etage vor, wie ein Diplodocus durch das Fenster in mein Zimmer sieht und ich ihn ablenke, während Lucy versucht, ihm zu entkommen … Ich will Lucy retten! Im Lauf der Jahre erfahre ich, dass sie vielleicht ertrunken ist, als sie im Alter von 20 Jahren einen Fluss überqueren wollte, und das vor mehr als drei Millionen Jahren. Ebenso finde ich heraus, dass der Diplodocus Lucy niemals gefressen hätte, da er ein Pflanzenfresser war und noch dazu 150 Millionen Jahre vor ihr gelebt hatte …

Sechs Jahre später sehe ich mir im Fernsehen die Sendung La Marche du Siècle an, eine wöchentlich im Fernsehen übertragene Diskussionsrunde. Unter den Gästen ist ein gewisser Yves Coppens … Sein Charme zeigt Wirkung, meine Faszination und meine leidenschaftliche Begeisterung finden Bestätigung. Monatelang sehe ich mir die Aufnahme der Sendung in Endlosschleife an. Der Professor erzählt von Lucy. Von der faszinierenden Lucy, die er zusammen mit seinen amerikanischen Kollegen ein Jahr nach meiner Geburt entdeckt hat. Lucy, eines der berühmtesten Fossilien der Welt. Das erste, das fast komplett und aus einer so weit zurückreichenden Epoche wiederaufgetaucht ist. Dieser bärtige, lustige und liebevolle Mann erzählt, wie der kleine weibliche Australopithecus lebte, sich fortbewegte und überlebte, mit seinen ein Meter zehn in der Umgebung eines lichten Waldes. 52 Knochen, untersucht, erforscht und analysiert für eine der schönsten Geschichten – unsere Geschichte. Lucy sei ein Zweifüßer wie wir, aber vermutlich bewege sie sich noch von Ast zu Ast weiter wie die Schimpansen. Vielleicht sei Lucy kein direkter Vorfahre der Menschen, sondern vielmehr eine Cousine von uns. Ich höre ihm zu, schließe die Augen und sehe, wie Lucy vor über drei Millionen Jahren lebte. Für den Professor gab es zu dieser Epoche »ein regelrechtes Bouquet an Vorläufern des Menschen, von denen Lucy eine der Blumen darstellt«. Mehr als vier Millionen Jahre vor Lucy: der gemeinsame Vorfahre von Menschen und Schimpansen! Zwei Millionen Jahre nach Lucy dann die ersten Menschen! Ich lausche dem Geschichtenerzähler, dem Poeten, dem leidenschaftlichen Wissenschaftler, und Millionen von Jahren laufen vor meinen entzückten Augen ab. Vom siebten Stock meines Hochhausturms aus will auch ich es verstehen. Wie haben sich die Primaten entwickelt? Wer ist dieser berühmte gemeinsame Vorfahre, der uns mit den Schimpansen verbindet? Warum ist Lucy kein Mensch? Was ist das überhaupt, ein Mensch? Ich will die Vergangenheit verstehen, um die Gegenwart zu verstehen. Meine Entscheidung ist gefallen! Wenn ich mal groß bin, will ich Yves Coppens sein.

Die Vergangenheit verstehen, um die Gegenwart zu verstehen

Mit dem Abitur in der Tasche geht es für mich an die Universität, wo ich mich dem Studium der Anthropologie widmen will. Ich möchte eine Doktorarbeit über die Entwicklung des menschlichen Geschlechts schreiben. Aber da war ich wohl etwas voreilig! Ich lerne Bescheidenheit … Wieder stecke ich in einem Turm, dieses Mal in dem der Universität Tolbiac. Erster unvergesslicher Kurs über die Vorgeschichte von Professorin Yvette Taborin im großen Amphitheater. Endlich sehe ich Lucy wieder. Ohne jedes Schamgefühl und mit höchster Innigkeit gibt sich die Professorin auf dem Podium einer Imitation des wiegenden zweifüßigen Gangs meines kleinen Australopithecus hin!

Vorlesung folgt auf Vorlesung. Ich lerne, auch noch das winzigste Knochenfragment zu identifizieren und die Gattungen zu bestimmen. Ist das ein Primat? Welcher? Stammt das von einem anderen Säugetier? Von welchem? Anhand eines winzigen Fragments von manchmal nicht mehr als einem Zentimeter muss ich bestimmen können, um was für einen Knochen es sich handelt. Ich bin leidenschaftlich bei der Sache und werde unschlagbar bei diesem Spiel. Sehr schnell wird der Drang, Knochen zu entdecken, größer, und meine ersten Praktika führen mich zu archäologischen Ausgrabungen. Eine davon findet bei einem Kollektivgrab aus dem Neolithikum statt, das etwa 9.000 Jahre alt ist und in einer Grotte in Corconne, im Département Gard liegt. Schnell zeichnet sich die Oberfläche des ersten Knochens unter Skalpell und Pinsel ab. Nach und nach kommt er zum Vorschein. In wenigen Wochen entdecke ich so den ganzen Körper eines Kleinkindes. Eine Mischung aus Faszination, Ergriffenheit, Schamlosigkeit und Verstörtheit erfasst mich. Vielleicht, weil diese Epoche noch so nah ist? Vielleicht, weil die Vergangenheit noch viel zu stark in mir nachklingt? Nur dessen bin ich mir sicher: Lucy lebt. Sie lebt in meiner Fantasie. Vermutlich ist auch das der Grund, weshalb ich es nicht fertigbringe, mir die Nachbildung ihres Skeletts im Muséum national d’histoire naturelle anzusehen. Nächste Lektion: Man wird nicht einfach so zu Yves Coppens. Ich muss einen anderen Weg finden, um die Vergangenheit zu verstehen.

Die Gegenwart verstehen, um die Vergangenheit zu verstehen

Da sitze ich also wieder in den Vorlesungen an der Uni und in den Bibliotheken. Ich verschlinge jedes Wort der unterrichtenden Anthropologen, Primatenforscher, Biologen, Evolutionisten, Ethnologen … Ich schwelge regelrecht in den Büchern und Artikeln. Ich sauge die außergewöhnliche Bibliothek mit all ihren Geschichten im Musée de l’Hommeund die Schätze des Muséum national d’histoire naturelle in mich auf. Kein Internet. Das Lesen eines Artikels muss man sich verdienen. Man muss ihn bestellen, geduldig abwarten … Aber wenn der Artikel oder das Buch dann eintreffen, pocht das Herz wie wahnsinnig! Und ein solcher Artikel ist kurz davor, mich wieder ganz für sich zu vereinnahmen. Gierig blättere ich die Seiten um, und jeder Satz inspiriert und durchdringt mich. Ich sehe mich um zehn Jahre zurückversetzt, die Gefühlswelten überlappen sich. Ich verschlinge »Mein Leben mit den Schimpanzsen« von Jane Goodall, einem der drei »Engel« des berühmten Paläoanthropologen Louis Leakey, der sie und zwei weitere Verhaltensforscherinnen in ihrer Arbeit stark förderte. Jane Goodall ist 26, als sie nach Tansania kommt, ins tiefste Tanganjika, um Schimpansen zu erforschen. Alle gehen davon aus, dass sie schon bald wieder nach Hause fahren wird. Aber sie bleibt 50 Jahre und revolutioniert die Primatologie. Sie gibt den Schimpansen Vornamen. Schlimmer noch, sie zeigt die Persönlichkeit eines jeden auf und beschreibt, wie sie Werkzeug herstellen und einsetzen, um sich zu ernähren. Unermüdlich kämpft sie dafür, dass ihre Beobachtungen anerkannt werden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft der damaligen Zeit glaubt ihr nicht und zweifelt stark an der wissenschaftlichen Qualität ihrer Methoden. Doch die vorgefertigten Ideen bröckeln, und endlich beginnt eine fesselnde wissenschaftliche Debatte. Ist das Werkzeug nicht etwas, das dem Menschen eigen ist? Muss man den Schimpansen der Gattung Mensch zurechnen? Muss die menschliche Art neu definiert werden? Mit diesem Buch und allen Artikeln, die daraus hervorgehen, wird mir klar, dass das Erforschen des Verhaltens von Primaten heutzutage ganz elementar ist, um sich mit ihrer Entwicklung und den menschlichen Ursprüngen zu befassen. Verstehe die Affen, dann verstehst du den gemeinsamen Vorfahren und Lucy. Ich will die Gegenwart verstehen, um die Vergangenheit zu verstehen. Meine Entscheidung steht fest! Wenn ich mal groß bin, dann will ich auch zu Jane Goodall werden.

Jane Goodalls Schülerin

Von nun an bin ich motiviert, Affen zu beobachten, also beschließe ich, mein Glück im Zoo von Thoiry zu versuchen, um so meine Universitätsausbildung zu vervollständigen. Das ist zwar weniger exotisch als Tansania, aber für den Anfang komme ich dort einfacher hin. In diesem Zoo befindet sich die größte Gruppe in Gefangenschaft gehaltener Tonkean-Makaken. Ich bin die glücklichste aller Studenten, und das Abenteuer dauert insgesamt zwei Jahre. Meine Aufgabe besteht hauptsächlich darin, herauszufinden, wie die Tiere aus ihrem Gehege ausbüxen, um dann die Ordnung im ganzen Zoo durcheinanderzubringen. Erster Tag der Beobachtung, sechs Uhr morgens. Ich bin allein in diesem Bereich und habe vier Stunden, bevor die ersten Besucher eintreffen. Die Tierpfleger haben mich vorgewarnt: Die Makaken büxen aus, haben keine Angst vor Menschen, dafür aber große Zähne! Früh am Morgen richte ich mich vor ihrem riesigen Gehege voller Bäume, Büsche und Baumstämme ein, und sogar Schafe sind darin, von denen sich die Makaken gerne spazieren tragen lassen. Ich habe fast das ganze Gehege im Blick, das auf einer Seite von einem Bach, auf der anderen von einem Gitter begrenzt wird. Erste anstehende Aufgabe: die Affen zählen. Oh, wow … 54! Zweite Aufgabe: sie identifizieren und ihnen einen Namen geben. Als wäre ich eine erfahrene Jane Goodall, gehe ich davon aus, dass sie mich entweder nicht bemerkt haben oder aber meine Gegenwart mehr oder weniger ignorieren. Kurzzeitig schweife ich gedanklich ab, denke einen Moment lang an meine kleine Lucy, kehre urplötzlich wieder in die Gegenwart zurück, beschließe, sie besser erneut zu identifizieren und zu zählen. Etwa ein Dutzend fehlt. Mit einem Mal höre ich verdächtige Geräusche hinter mir. Ein leises Angstgefühl überfällt mich. Langsam drehe ich mich um und entdecke, was ich bereits befürchtet habe: Etwa ein Dutzend Makaken steht mit gebleckten Zähnen vor mir! Die Eckzähne eines Tonkean-Makaken: vier Zentimeter lang. Ganz offensichtlich bin ich hier nicht erwünscht, und ich lerne eine erste Verhaltensweise von Makaken kennen: die Einschüchterung. Sie haben mich umkreist, und hinter mir ist nur Wasser. Kein Ausweg. Ich habe keine andere Wahl, als mich ihnen zu stellen. Dementsprechend versuche ich, sie meinerseits einzuschüchtern, baue mich vor ihnen auf, bewege meine Arme und zeige meine kleinen Eckzähne. Sie verschwinden! Sie haben sich zwar mein ganzes Material gekrallt, aber sie verschwinden. Erste Lektion: Verliere dich niemals in deinen Gedanken. Zweite Lektion: Lerne zu beobachten.

Mehrere Wochen der Habituation1 sind notwendig, damit die Makaken meine fragwürdige Gegenwart etwas vergessen und ich sie alle auseinanderhalten kann. Jetzt kann ich tatsächlich mit dem eigentlichen Beobachten beginnen, und die Schlussfolgerung lässt keinen Zweifel zu: Die Makaken büxen aus, indem sie zum einen Tunnel unter dem Gitter graben, und zum anderen, indem sie den Bach schwimmend durchqueren. Nächster Schritt: den zuständigen Tierpfleger überzeugen, der der felsenfesten Überzeugung ist, Affen seien weder in der Lage zu schwimmen, noch könnten sie einen Tunnel graben. Dritte Lektion: Trotze den Gewissheiten. Nach dieser ersten Mission kann ich mich endlich der wissenschaftlichen Beobachtung dieser Tonkean-Makaken und anderer Primaten des Zoos widmen, wie zum Beispiel der Lemuren, der Mandrille und der Berberaffen. Nach und nach werde ich mit den sozialen Interaktionen zwischen den Individuen vertraut, ihren Allianzen und Putschversuchen, ihrem Spielen und Erlernen. Und die Fragen stürmen nur so auf mich ein. Unterscheiden sie sich tatsächlich so sehr von uns? Inwiefern war Lucy anders? Wie nehmen sie mich wahr? Sehen sie mich als Fremdkörper ihrer Gruppe? Als ihrer Art nicht zugehörig? Würden sie mich akzeptieren? Ich versuche, in der Praxis Antworten auf diese letzten Fragen zu finden, indem ich ein paar der Gehege betrete. Zuerst gehe ich zu den Lemuren. Sie interessieren sich nicht sonderlich für mich. Die ersten Tage sind sie etwas neugierig, doch dann ignorieren sie mich schnell, mit Ausnahme von ein paar jungen Lemuren, die sich mir immer wieder auf die Schenkel setzen, von wo ihre Mütter sie postwendend abholen. Als Nächstes wiederhole ich dieses Experiment bei den Berberaffen. Seit ihrer Ankunft vor sechs Monaten war noch niemand in ihrem kleinen Gehege. Es ist eine übersichtliche Gruppe: ein Männchen und zwei Weibchen. Vorsichtig trete ich ein und schließe die Tür hinter mir. Dann setze ich mich hin und warte ab. Schnell errege ich großes Interesse bei den Weibchen. Sie setzen sich auf mich und fangen an, mich zu berühren. Die Interaktionen wechseln zwischen verschiedenen Gesichtsausdrücken und dem Herumzupfen an meinem T-Shirt. Dieses Erlebnis ist ganz anders als das bei den Lemuren. Ich beschließe, sie einfach machen zu lassen, spüre aber, dass dieser Moment der Nähe schnell ausufert. Abwechselnd klettern die beiden Weibchen auf meinen Kopf und fangen an, die Zähne zu blecken. Eckzähne von Berberaffen: drei Zentimeter lang! Ich bin nicht mehr Herrin der Lage: Die Weibchen ziehen an meinen Haaren, reißen sie mir büschelweise aus. Dazu stoßen sie schrille Schreie aus und hüpfen mir immer wieder auf den Kopf. Eifersucht? Unsicherheit? Ich weiß es nicht. Ich rühre mich nicht. Dann tritt das Männchen auf den Plan. Ziemlich aggressiv stellt es sich zwischen uns und stößt die Weibchen zurück. Sie raufen miteinander. Ich bewege mich nicht. Schließlich lassen mich die Weibchen in Ruhe und beziehen an der gegenüberliegenden Seite des Geheges Stellung, von wo aus sie mich beobachten. Das Männchen kauert sich neben mich. Sein Gesichtsausdruck wirkt friedlich, hin und wieder wirft es mir einen flüchtigen Blick zu. Dann fängt es an, meine Haare und schließlich meine Arme zu inspizieren. Das Männchen nimmt mich genau unter die Lupe, entlaust mich! Vierte Lektion: Schreibe den Tieren keine menschlichen Verhaltensweisen zu und wahre die Distanz.

Jenseits von Afrika, auf dem Weg zum Taï-Nationalpark

Die Ausgrabungen, Thoiry … So viele Abenteuer, die nach und nach mein Denken bestimmen. Sie bestärken mich noch mehr darin, sowohl zu Yves Coppens als auch zu Jane Goodall werden zu wollen. Jede Art ist ganz eigen, im selben Maß wie jedes Individuum. Die Frage nach der Disparität und den Gemeinsamkeiten zwischen dem Menschen und anderen Tieren lässt mich nicht mehr los. Zurück an der Universität und vertieft in die wissenschaftliche Lektüre wird eine weitere grundlegende Komponente zu etwas ganz Offensichtlichem: die Umgebung. Die Gefangenschaft spiegelt selbstverständlich keine natürliche Umgebung wider. Dann wiederum verändert sich die Umgebung im Lauf der Zeit und spielt eine wesentliche Rolle für die Evolution der Arten und folglich auch für das menschliche Geschlecht. Die Morphologie der Arten passt sich dem jeweiligen Lebensumfeld an. Doch was ist mit dem Verhalten? Lucy lebte umgeben von Bäumen und Freiflächen. Inwiefern beeinflusste diese Umgebung ihr Verhalten? Die von Jane Goodall erforschten Schimpansen kennen ihre Umgebung und erkunden ihr Lebensumfeld, um sich zu ernähren, und manchmal benutzen sie dazu Werkzeug. Wie passen sie sich dem Wald und seinen Veränderungen an? Wie finden sie Nahrung? Wenn ich verstehen will, was uns von den anderen Tieren unterscheidet und wie sich die Intelligenz entwickelt hat, dann muss ich verstehen, wie die Tiere in ihrem natürlichen Umfeld leben. Ich muss ihren Lebensraum mit eigenen Augen sehen, auch um mir vorstellen zu können, wie der von Lucy ausgesehen haben könnte. Welchen Einschränkungen müssen sich die Tiere stellen? Mir bietet sich eine Gelegenheit, die ich sofort beim Schopf ergreife: die Elfenbeinküste. Zwischen zwei Putschversuchen geht es für mich nach Abidjan. Ich sehe jetzt noch das Gesicht meines Vaters am Flughafen vor mir, der hin- und hergerissen war zwischen dem Drang, mir zu sagen: »Los geht’s!« oder aber: »Du kommst sofort mit nach Hause!« Doch meine Eltern gehören nicht zu denen, die den Träumen eines anderen im Weg stehen. Ankunft am Abend in Abidjan. Beim Verlassen des Flugzeugs ein überwältigendes Gefühl, als mir Hitze und erdrückende Feuchtigkeit entgegenschlagen. Wir fahren in den Westen des Landes, in den Süden des tropischen Waldes des Taï-Nationalparks. Am nächsten Tag sehr früh aufstehen, dann geht es für zwei Tage in den Dschungel. Ich werde von Willy begleitet, einem ivorischen Guide, der den Wald kennt wie seine Westentasche und einen fragt, warum man denn so verrückt ist und in ebendiesen Wald hineinwill. In diesem Moment denke ich nicht mal an die Spinnen und anderen pelzigen oder schuppigen Tiere, die hier auf uns warten. Willkommen in einer anderen Welt: im Regenwald. Bei jedem Schritt wird mir klar, wie anders die Umgebung hier ist. Alle Sinne sind hellwach und entdecken neue Gerüche, neue Geräusche. Ab und an sehe ich gerade mal drei Meter weit. In jedem Moment werden mir die ökologischen Einschränkungen deutlicher bewusst, mit denen die Tiere hier konfrontiert sind. Nacheinander kommen wir an Ameisenhaufen vorbei, in die man besser nicht hineintritt, an Spuren von Nilpferden, die kurz zuvor vorbeigekommen sein müssen, Vogelspinnen, die sich aufrichten, und dem Gerippe eines Elefanten, das man wegen des Ebolavirus nicht anfassen darf. Plötzlich ein Geräusch, etwas weiter weg. Schimpansen. Sie trommeln. Sie schlagen mit Händen und Füßen auf große Baumwurzeln oder Stämme, wie sie es immer dann tun, wenn sie auf andere Gemeinschaften treffen oder aber anzeigen wollen, wo sie sich aufhalten oder wo sich eine Nahrungsquelle befindet. Willy kann sie genau verorten. Wir werden versuchen, sie tags darauf zu sehen. Für heute Abend ist es zu spät. Die Schimpansen richten sich für die Nacht oben in den Bäumen ein. Keine Chance, sie zu finden. Am nächsten Morgen sehr früh aufstehen. Willy hofft, dass wir uns den Schimpansen nähern können, wenn sie am Aufwachen sind. Wieder tauche ich in diese undurchdringliche Waldwelt ein, und dann geschieht das Unerwartete. Nach vier Stunden Gehzeit bleibt Willy unvermittelt stehen. Die Schimpansen sind ganz in der Nähe. Reglos stehen wir da, und noch nie zuvor waren meine Sinne so aufs Äußerste gespannt. Wir warten etwa fünf bis zehn Minuten, dann findet das Wunder statt. Ein großes Männchen. Wunderschön, stattlich, beeindruckend. Es geht in gerade mal fünf Metern Entfernung an uns vorbei, bleibt stehen, sieht uns an, geht weiter. Schneller könnte mein Herz gar nicht pochen. Ich stehe mit weit aufgerissenen Augen da, bin ganz überwältigt, schaffe es nicht zu filmen, sondern beobachte den Schimpansen, wie er sich frei in seiner Umgebung bewegt. Damit er uns nicht abhängt, müssen wir joggen, bisweilen sogar rennen. Seine Anpassung an die Fortbewegung im Wald kommt hier zu voller Geltung. Denn er bewegt sich ganz leichtfüßig und kommt in diesem bisweilen überaus dichten Wald problemlos voran, wohingegen wir jeden Moment mit Lianen, Ästen, riesigen Wurzeln und irgendwelchen Löchern zu kämpfen haben, während wir versuchen, mit ihm mitzuhalten. Obwohl ich sportlich bin, ist es nicht einfach, bei 30 Grad Celsius durch einen Wald mit einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent zu rennen. Wir halten durch, so lange es geht, also genau genommen nicht sehr lange, allerhöchstens eine Stunde. Dann gesellt sich ein weiterer Schimpanse zu unserem, und zusammen klettern sie unglaublich schnell in die Baumwipfel hinauf, wo wir sie nicht mehr sehen können. Wie stellt er es an, sich nicht zu verirren, sich in dieser Dunkelheit fortzubewegen und diese ganzen Hindernisse zu überwinden? Wie orientiert er sich? An den Bäumen? Am Boden? An Geräuschen? Wie findet er Obstbäume? Wie findet er Nüsse, die er mit Steinen knackt? Wie findet er seine Beute? Wie geht er Raubtieren aus dem Weg? Was hätte Lucy an seiner Stelle gemacht? Was haben die Menschen darüber hinaus erfunden? Eine sehr kurze Erfahrung, aber so viele Antworten auf meine Fragen und neue Fragen, die dadurch aufgeworfen werden. Die Bilder aus Afrika helfen mir, meine Vorlesungen besser zu verstehen und meine Grundlagen zu erweitern. Mir wird klar, inwiefern diese Fragen, die ich mir stelle, auch für zahlreiche andere Arten gültig sind, und ich weiß, dass mich noch sehr viele Abenteuer erwarten.

Professor Yves Coppens gibt es wirklich!

Nach meiner Rückkehr aus Afrika kenne ich mich mit den Einschränkungen der Umgebung besser aus. Dieser Punkt bestimmt nun all meine Fragestellungen. Wie interagieren die Arten mit ihrer Umwelt? Wie passen sie sich ihr an? Welche Strategien müssen sie anwenden, um zu überleben und Nahrung zu finden, die manchmal nur schwer zugänglich ist? Inwiefern unterscheidet sich das Verhalten von Lucy von dem anderer Primaten, darunter auch dem des Menschen? Worin unterscheidet sich das Verhalten des Menschen von dem anderer Primaten beziehungsweise dem anderer Tiere? Meine Überlegungen werden präziser. Hoffnungsvoll mache ich mich an die schwierige Suche, eine Finanzierung für meine Doktorarbeit zu finden. Dabei entdecke ich die Marcel-Bleustein-Blanchet-Stiftung, die Stipendien an motivierte junge Leute verleiht, damit sie ihrer Berufung nachgehen können. Verschiedene Bereiche sind hier vertreten, wie Journalismus, Kunst, Medizin, Paläoanthropologie, Literatur etc. In der Jury sitzen zahlreiche berühmte Menschen, darunter Professor Yves Coppens, der 1963 selbst einer der Stipendiaten war. Ich bewerbe mich. Dafür muss ich eine Bewerbungsmappe ausfüllen, in der ich meine Berufung und mein Projekt erläutere. Es fällt mir nicht schwer, meine Leidenschaft in Worte zu fassen, und was das Projekt betrifft, so gebe ich an, die Fähigkeiten zu Handhabung und Gebrauch von Werkzeugen bei Primaten untersuchen zu wollen. Ich frage mich, ob meine kleine Lucy Werkzeuge benutzte und ob das Leben in den Bäumen das Erwerben von Greiffähigkeiten nicht begünstigte. Obwohl dort sehr viele Bewerbungen eingehen, bin ich optimistisch. Eine unerträgliche Wartezeit beginnt, während der ich abwechselnd zum Tennisunterricht und zu Biologievorlesungen gehe. Monate verstreichen. Acht, um genau zu sein. Die Wartezeit zieht sich endlos. Und dann, an einem ganz gewöhnlichen Morgen, schalte ich mein Handy ein und habe eine Nachricht von einem Herrn auf der Mailbox, der mir mitteilt, meine Bewerbung sei von der Jury der Stiftung ausgewählt worden. Er beglückwünscht mich und stellt sich vor … Yves Coppens. Ich verstehe nicht so recht, ein eigenartiges Gefühl bemächtigt sich meiner. Ich höre die Nachricht erneut an, einmal, zweimal, fünfzigmal. Er ist es. Vermutlich war mir das schon zu Beginn klar, aber mein Gehirn verarbeitet es einfach nicht. Professor Yves Coppens gibt es also wirklich?

Das Wochenende verstreicht, und mein Leben nimmt eine neue Richtung. Ich schreibe mich für die Doktorarbeit ein. Würde Professor Coppens wohl akzeptieren, mein Doktorvater zu werden? Ich beschließe, es zu versuchen. Ich rufe ihn an, vereinbare einen Termin. Das wäre erledigt. Der Termin steht.

Ein paar Tage vergehen, dann endlich ist der Moment des überwältigenden Treffens gekommen. Im angesehenen Collège de France. Wartezimmer des Büros von Professor Coppens. Ich komme zu früh, eine ganze Stunde zu früh … Ich warte. In einem Zustand höchster Anspannung! Seine Assistentin sagt mir, er rufe mich herein, wenn er so weit sei. Mein Verstand sagt mir, ich solle verschwinden. Mein Herz, ich solle bleiben. Das Unvorstellbare geschieht. Seine Tür geht auf, er sieht mich an und bittet mich herein. Sein Büro ist riesig, überall liegen Bücher herum, ein paar Knochen und Zähne eines Mammuts. Als er sieht, wie ich die Fragmente des Dickhäuters bewundere, kann er nicht umhin, mir zu erzählen, woher sie stammen und was es mit ihnen auf sich hat. Auf seine Aufforderung hin stelle ich ihm mein Forschungsprojekt vor, meine Fragestellungen, die Experimente, die ich dafür durchführen will. Ich stimme seiner Theorie nicht zu hundert Prozent zu, spiele aber mit offenen Karten. Er reagiert positiv darauf. Also wage ich es, ihn um das Unmögliche zu bitten: mein Doktorvater zu werden. Nichts ist unmöglich. Es dauert sehr lange und geht gleichzeitig sehr schnell. Er erläutert mir seine Vorstellung der Doktorarbeit und das, was er von mir erwartet – in der Funktion als mein zukünftiger Doktorvater! Nichts wird mehr so sein wie zuvor. 2004, 20 Jahre nachdem ich Die Wurzeln des Menschen gelesen habe, verteidige ich meine Doktorarbeit. Ich liefere ein paar Antworten. Vor allen Dingen die, dass Menschen bei Weitem nicht die Einzigen sind, die präzise Handgriffe ausführen können, und dass sie auch nicht die Einzigen sind, die über spezifische Besonderheiten verfügen. Unablässig geistern die Fragen durch meinen Kopf. Es ist gar nicht so leicht, wie man denkt, menschliche Besonderheiten zu bestimmen. Mir scheint es nunmehr unerlässlich, eine größere Zahl Arten miteinander zu vergleichen, und ich werde meine Karriere diesem Ziel widmen. Jane Goodall hat unglaubliche Entdeckungen bei den Schimpansen gemacht. Aber wie sieht es mit den Fähigkeiten anderer Arten aus? Sind nur die Menschenaffen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet? Verfügen andere Affen nicht über dieselben Fertigkeiten? Und was ist mit anderen Säugetieren? Was mit Vögeln und mit Wirbellosen? Was weiß man letztlich von Tieren, die noch nicht ausreichend untersucht wurden, um ihre Rolle in der Frage um die Evolution von Primaten und die menschlichen Ursprünge zu verstehen?

Was ist Intelligenz, und wie vergleicht man Intelligenz bei verschiedenen Arten?

Über welche Fähigkeiten verfügten Lucy, die verschiedenen Arten des menschlichen Geschlechts und der gemeinsame Vorfahre von Schimpansen und Menschen? Weshalb ist Lucy ein Australopithecus und kein Mensch? Besitzen Menschen noch mehr Fähigkeiten als andere Primaten, um nicht zu sagen als andere Tiere? Wodurch zeichnet sich der Mensch aus? Die Fähigkeiten der Arten, untereinander zu vergleichen, ist ganz wesentlich, um Antworten auf diese Fragen zu finden, gegen gewisse vorherrschende Ansichten anzugehen und die menschliche Intelligenz besser hinterfragen zu können. Die Vorstellung, Menschen seien intelligenter als andere Arten, ist zunächst einmal ganz selbstverständlich im Verstand vieler Menschen verankert, bei gelehrten ebenso wie bei unkundigen. Bei den Wirbeltieren scheinen Säugetiere und Vögel am intelligentesten zu sein. Innerhalb der Säugetiergruppe werden Affen, Elefanten, Wale und Delfine als am intelligentesten eingestuft. Bei den Primaten scheinen die Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans) intelligenter zu sein als Meerkatzenverwandte (Makaken, Meerkatzen etc.) und die Menschen intelligenter als Menschenaffen. Stimmen diese Behauptungen? Lässt sich die Intelligenz von so unterschiedlichen Arten überhaupt miteinander vergleichen? Menschen, die unter anderem des artikulierten Sprechens mächtig sind und über die Fähigkeit der Nachahmung und der »Theory of Mind« verfügen (also die Fähigkeit, Absichten anderer Personen zu erkennen), werden für gewöhnlich als die intelligentesten Tiere erachtet. Tatsächlich sehen sich die Menschen kategorisch als Referenzpunkt für jeden Vergleich, obwohl wir mit der Entstehung unserer recht jungen Gattung vor gerade mal drei Millionen Jahren doch einigen Abstand zur Entstehungsgeschichte des Lebens haben, die vor etwa vier Milliarden Jahren ihren Anfang nahm. Gewisse Kriterien, die man hinzuzieht, um Intelligenz nachzuweisen, führen jedoch unweigerlich dazu, menschliche Überlegenheit, aber auch Abweichungen innerhalb der menschlichen Familie herauszustellen. Das gilt zum Beispiel für die artikulierte Sprache: Früher sprach man Stummen das Denken ab, ebenso den Tieren.

Die Gattung Mensch wird folglich übergreifend als die intelligenteste Art erachtet, wobei unterschwellig immer die Idee anklingt, dass mit jeder neu auftauchenden Menschenspezies automatisch ein Zuwachs der Intelligenz einhergeht.