Was uns bleibt ist jetzt - Meg Wolitzer - E-Book

Was uns bleibt ist jetzt E-Book

Meg Wolitzer

4,4
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich warte auf dich am Rande der Welt

Jam durchlebt die erste große Liebe zu Reeve so intensiv wie nichts zuvor. Dann stirbt Reeve und für Jam macht das Leben keinen Sinn mehr. Ein Internat für traumatisierte Teenager soll helfen, und speziell eine exklusive Literaturklasse, der Jam zusammen mit nur vier anderen Schülern zugeteilt wird. Ihre Lehrerin, Mrs Q, gibt ihnen Tagebücher mit. Nichts Neues, denkt Jam, aber als die Jugendlichen dann wirklich nachts darin schreiben, geschieht etwas Unvorstellbares: Sie gelangen nach Belzhar, in die Welt ihrer eigenen Vergangenheit vor dem schrecklichen, alles verändernden Ereignis. Gierig saugt Jam die Zeit mit Reeve in sich auf. Doch mit jeder Seite nähert sich der Tag, an dem sie sich der Wahrheit stellen muss. Ist sie bereit, ihre Zukunft zu opfern, um in der Vergangenheit glücklich zu sein, oder gibt sie der Zukunft eine Chance, sie noch glücklicher zu machen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2015

Bewertungen
4,4 (42 Bewertungen)
25
8
9
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Meg Wolitzer

Was uns bleibt ist jetzt

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis

Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. 1. Auflage 2015

© 2014 by Meg Wolitzer

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem

Titel »Belzhar« bei

Dutton Books for Young Readers, an imprint of Penguin Group LLC, New York

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis

Coverggestaltung: zeichenpool

Coverfoto: plainpicture/André Schuster; David M. Schrader

MG · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15544-5V004

www.cbt-buecher.de

Für meine Söhne Gabriel und Charlie

Prolog

Man hat mich wegen eines Jungen hierher geschickt. Sein Name ist Reeve Maxfield und ich habe ihn geliebt, aber dann ist er gestorben, und nach einem Jahr wusste keiner mehr, was man mit mir anfangen sollte. Letzten Endes einigte man sich darauf, mich hierher zu bringen. Aber wenn du jemanden von den Lehrern oder sonst irgendeinen Mitarbeiter fragst, werden sie garantiert behaupten, ich sei wegen »fortdauernder traumatischer Störungen« hier. Diese Formulierung haben meine Eltern für das Bewerbungsschreiben gewählt, damit ich in Wooden Barn akzeptiert werde, einem Internat, das in der Werbebroschüre als Schule für »emotional fragile, hochintelligente Teenager« bezeichnet wird.

In der Rubrik »Gründe für die Bewerbung« kann man ja wohl schlecht eintragen »wegen eines Jungen«.

Auch wenn es die Wahrheit ist.

Als ich klein war, liebte ich meine Mom und meinen Dad und meinen Bruder Leo, der wie ein Klette an mir hing und ständig bettelte: »Jammy, warte auf mich.« Als ich älter wurde, liebte ich meinen Mathe-Lehrer aus der Neunten, Mr Mancardi, obwohl mein Talent für Mathe eindeutig unterirdisch war. »Ah, Jam Gallahue, herzlich willkommen«, pflegte Mr Mancardi mich zu begrüßen, wenn ich wieder einmal mit noch feuchten Haaren zur ersten Stunde zu spät kam. Im Winter sahen meine Haarspitzen manchmal wie kleine, mit Frost überzogene Zweige aus. »Ich bin entzückt, dass du uns mit deiner Anwesenheit beehrst.« Er sagte es nie in einem hämischen Ton. Ich nehme fast an, er war tatsächlich entzückt.

Dann verliebte ich mich so heftig in Reeve, wie ich mich noch nie zuvor in meinen fünfzehn Jahren in jemanden verliebt hatte. Nachdem ich ihn kennengelernt hatte, kamen mir meine früheren Schwärmereien flach und bedeutungslos vor. Ich begriff, dass es verschiedene Ebenen der Liebe gibt, so wie es auch verschiedene Ebenen der Mathematik gibt. Damals saßen immer einige Genies aus dem Mathekurs für Fortgeschrittene in der Pausenhalle zusammen und begeisterten sich für Parallelogramme. Alle anderen saßen in Mr Mancardis Rechnen für Idioten und glotzten, umnebelt vom Mathedunst, mit offenem Mund auf die Tafel, die ironischerweise auch noch Smart Board genannt wurde.

So ähnlich erging es auch mir. Ich befand mich, ohne es zu wissen, eingenebelt in einen Liebesdunst, bis ich plötzlich begriff, dass es so etwas wie Liebe für Fortgeschrittene gibt.

Reeve Maxfield war einer von drei Austauschschülern, die die zehnte Klasse dazu nutzten, eine Auszeit von ihrem Leben in London zu nehmen, einer der aufregendsten Städte der Welt, um ein Halbjahr in unserem Vorstadtviertel von Crampton, New Jersey zu verbringen und bei Matt Kesman, einem leicht unterbelichteten, aber gut gelaunten Sportfreak und seiner Familie zu wohnen.

Reeve war anders als die Jungs, die ich kannte – anders als Alex, Josh, Matt und wie sie nicht alle hießen. Es war nicht nur der Name, er sah auch anders aus als sie: klug, schlaksig, schlank, mit engen schwarzen Jeans, die tief auf seinen knochigen Hüften saßen. Er sah aus wie ein Mitglied einer englischen Punk-Band aus den Achtzigern, auf die Dad immer noch steht und deren Alben er in speziellen Plastikhüllen aufbewahrt, weil er überzeugt ist, dass sie eines Tages ein Vermögen wert sein werden. Als ich einmal auf eBay nach einer seiner absoluten Lieblingsaufnahmen gefahndet und dabei festgestellt habe, dass ein Käufer ganze sechzehn Cents dafür bot, hätte ich am liebsten losgeheult.

Auf Dads Plattencovern sind meistens irgendwelche Jungs zu sehen, die an Straßenecken herumlungern und über einen Insiderwitz lachen, weshalb sie spöttisch in die Kamera blicken. Reeve hätte perfekt dazu gepasst. Sein dunkelbraunes Haar fiel in das blasse, blasse Gesicht – in England schien es ganz offensichtlich kein Sonnenlicht zu geben. »Wirklich? Gar keines? Völlige Dunkelheit?«, fragte ich, als er genau das einmal behauptete.

»Na ja, mehr oder weniger«, erwiderte er. »Das ganze Land ist wie ein großes, feuchtes Haus, in dem der Strom abgeschaltet ist. Und alle haben Vitamin-D-Mangel, sogar die Queen.« Er sagte es mit todernster Miene. Seine Stimme klang ein kleines bisschen heiser. Und auch wenn ich keine Ahnung hatte, was die Leute in London von ihm hielten, wo sein Akzent ganz normal war, für mich klang seine Stimme wie ein brennendes Streichholz, das an ein brüchiges Papier gehalten wird und in einem leisen Knistern explodiert. Wenn er redete, wollte ich nur noch zuhören.

Und ich wollte ihn ansehen: das blasse Gesicht, die braunen Augen, das schwer zu bändigende Haar. Er war wie ein Becherglas im Chemieunterricht, dessen Inhalt brodelte und überquoll, weil gerade irgendeine interessante Reaktion darin stattfand.

Jetzt habe ich Reeve Maxfield bereits mit Mathe und mit Chemie verglichen. Aber im Grunde genommen spielt bei der ganzen Geschichte nur ein einziges Unterrichtsfach eine Rolle, nämlich Literatur. Damit meine ich nicht Literatur an der Crampton Regional, sondern den Unterricht in Wooden Barn in Vermont, dem Internat, das ich besuchte, nachdem Reeve weg war und ich das Leben nicht länger ertragen konnte.

Aus Gründen, die ich nicht verstand, war ich eine von fünf Schülern in einem Kurs, der sich »Ausgewählte Themen der Literaturgeschichte« nannte. Über das, was in der Klasse vor sich ging, haben wir alle Stillschweigen bewahrt. Aber in unseren Gedanken beschäftigen wir uns andauernd damit, und ich nehme an, das werden wir auch für den Rest unseres Lebens. Was mich am meisten verblüfft und mich einfach nicht loslässt, ist etwas ganz anderes: Wenn ich Reeve nicht verloren hätte, wenn ich nicht in dieses Internat geschickt worden wäre und wenn ich nicht zu den fünf »emotional fragilen, hochintelligenten« Jugendlichen in dieser Klasse für Ausgewählte Themen der Literaturgeschichte gehört hätte, deren Leben auf fünf verschiedene Arten völlig aus dem Ruder gelaufen waren, hätte ich nie etwas von Belzhar erfahren.

1

Himmel noch mal, Jam, steh endlich auf«, sagt meine Mitbewohnerin DJ Kawabata, ein Emo-Mädchen aus Coral Gables, Florida, die, wie sie es selbst ausdrückt, »gewisse Essprobleme« hat. Ihre schwarzen Haare baumeln über meinem Gesicht, als sie sich über mein Bett beugt. DJ hat dafür gesorgt, dass in unserem Zimmer überall Fressalien versteckt sind: Twizzlers, Müsliriegel, Rosinenpackungen, ja sogar eine Plastikflasche mit No-name-Ketchup, auf der Hind’s steht. Vermutlich hofft der Hersteller, dass die Kunden nicht genau hinsehen und das Zeug versehentlich kaufen. Alle diese Sachen sind überall im Raum verteilt und für sogenannte Notfälle gedacht.

Ich bin erst seit einem Tag in Wooden Barn und habe bisher noch keinen solchen Notfall erlebt, aber meine Mitbewohnerin hat mir versichert, dass er irgendwann eintreten wird. »Das ist immer so«, hat sie schulterzuckend gesagt, als sie mir erklärte, wie sich unser Zusammenleben gestalten würde. »Stell dich darauf ein, dass du eine ziemliche Scheiße mitkriegen wirst. Das meine ich natürlich im übertragenen Sinn. Ich bin ja nicht wirklich irre.«

Wirklich Irre haben an diesem Ort nämlich nichts verloren. Wooden Barn ist kein Krankenhaus, und die Leute hier legen großen Wert darauf zu betonen, dass sie absolut gegen Psycho-Medikamente sind. Stattdessen setzen sie darauf, dass die Schule die Leute zusammenschweißt und ihre Heilung fördert.

Ich frage mich, wie das gehen soll. Man hat hier nicht einmal Internet. Es ist komplett verboten, was richtig grausam ist. Sogar Handys werden konfisziert. Es gibt jeweils nur ein uraltes Telefon im Mädchen- und im Jungenwohnhaus. WLAN gibt es auch nicht, sprich, du kannst den eigenen Laptop zum Schreiben benutzen, aber nicht, um zu recherchieren. Du kannst Musik hören, aber wenn du online gehen und neue Songs herunterladen willst, hast du Pech gehabt. Du bist von allem abgeschnitten, was totaler Schwachsinn ist, denn die Schüler hier sind sowieso auf die eine oder andere Art aus der Welt gefallen.

Auch wenn es niemand offen zugeben würde, Wooden Barn ist eine Mischung aus Krankenhaus und Regelschule. Es ist wie ein großes Seerosenblatt, auf dem du kurz verharren kannst, ehe du mit einem Froschsprung zurück ins normale Leben hüpfen musst.

Von DJ weiß ich, dass sie früher in einem auf Essstörungen spezialisierten Krankenhaus war. Bei den Patienten handelte es sich ausschließlich um junge Mädchen. Sie wurden regelmäßig von Schwestern gewogen, die alle diese typischen, mit niedlichen Hundebabys oder Pandabären bedruckten Kinderschwesterblusen anhatten. Wenn das Gewicht zu niedrig war, wurden die Mädchen über Schläuche zwangsernährt.

»Mir ist das auch mal passiert«, sagte DJ. »Eine Schwester hat mich festgehalten und ihren Busen gegen mein Gesicht gequetscht. Als ich hochgeschaut habe, war ich von einem Meer aus kleinen Golden Retrievern umgeben.«

Bei meiner Ankunft lebte DJ bereits seit zwei Jahren in Wooden Barn. Aber heute, am ersten Unterrichtstag, als sie sich über mich beugt und ihre Haare wie einen Vorhang in mein Gesicht hängen lässt, möchte ich nur eines: dass sie weggeht. Aber das tut sie nicht.

»Das Frühstück hast du bereits verpasst, Jam«, sagt sie, als wäre sie meine Mutter oder mein Vater. »Zeit für den Unterricht. Was hast du in der ersten Stunde?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du deine Termine nicht angeschaut?«

»Termine? Wenn du meinen Stundenplan meinst, nein.«

Ich war erst am Vortag angekommen, nach einer sechsstündigen Fahrt mit meinen Eltern und Leo. Mom hatte pausenlos geweint, aber so getan, als hätte sie eine Allergie, während Dad sich total auf das Radioprogramm konzentrierte. »Heute«, verkündete die Radiosprecherin, »widmen wir unsere Show den von den Taliban unterdrückten Stimmen.«

Dad hatte das Radio lauter gestellt und nachdenklich mit dem Kopf genickt, als gäbe es nichts Faszinierenderes, während Mom ihre Augen schloss und vor sich hin weinte, allerdings nicht über die von den Taliban unterdrückten Stimmen, sondern über mich.

Mein Bruder Leo war wie immer, er saß neben mir und drückte irgendwelche Tasten seines versifften kleinen Gameboys, der in seinem Schoß lag. »Hey«, sagte er, als er das nächste Level seines Spiels erreicht hatte und meinen Blick bemerkte.

»Hey.«

»Ohne dich ist es zu Hause richtig bescheuert.«

»Gewöhn dich besser dran«, sagte ich zu ihm. »Unsere gemeinsame Kindheit ist vorbei.«

»Das ist gemein«, beschwerte er sich.

»Aber es stimmt«, erwiderte ich ungerührt. »Irgendwann wird einer von uns sterben. Dann muss der andere zur Beerdigung gehen und eine Rede halten.«

»Jam, hör auf damit!«, rief Leo.

Ich bereute meine Worte sofort und fragte mich, wieso ich sie überhaupt gesagt hatte. Vielleicht weil ich ständig schlechte Laune hatte. Leo verdiente es nicht, mies behandelt zu werden. Er war erst zwölf und wirkte sogar noch etwas jünger. Manche Schüler seines Jahrgangs sahen aus, als könnten sie bereits selbst Kinder bekommen. Leo sah aus, als könnte er eines dieser Kinder sein. Hin und wieder stellte ihm jemand in der Pausenhalle ein Bein, aber das machte Leo nichts aus. Er hatte gelernt, so etwas an sich abprallen zu lassen. Mit zehn hatte er nämlich eine alternative Welt für sich entdeckt. Seither war er geradezu besessen von Dream Wanderers, einem Videospiel, in dem Zauberwürfel und Lehrlinge und sogenannte Driftlords eine Rolle spielten.

Ich habe immer noch nicht den leisesten Schimmer, was ein Driftlord ist, aber was eine alternative Welt ist, habe ich inzwischen begriffen. Jetzt weiß auch ich, was mein Bruder bereits damals erkannt hatte: dass eine alternative Welt viel besser als die echte sein kann.

»Ich wollte nicht gemein zu dir sein«, sagte ich zu Leo im Auto. »Manchmal überkommt es mich einfach.«

»Mom und Dad haben gesagt, ich soll dich in Ruhe lassen, wenn du so bist, weil du –«

»Weil ich was?«, fragte ich mit einem scharfen Unterton.

»Weil du … so viel durchgemacht hast«, sagte er vage. Er und ich hatten so gut wie gar nicht darüber gesprochen. Leo war so jung und konnte unmöglich verstehen, was ich durchgemacht, was ich gefühlt hatte.

Das Gespräch führte nirgendwohin, also blickten wir aus den Seitenfenstern hinaus, und nach einer Weile schloss Leo die Augen und schlief mit offenem Mund ein. Im Auto hing der Geruch seiner Chips mit Cool-Ranch-Geschmack, die er zuvor in sich hineingestopft hatte. Er tat mir leid, denn im Grunde genommen war er ein Einzelkind. Er hatte keine normale ältere Schwester mehr, sondern eine, die so fertig war, dass sie auf eine Spezialschule gehen musste, die in einem anderen Bundesstaat war und sechs Stunden mit dem Auto entfernt.

Die Ankunft im Internat war ziemlich heftig. Mom fing sofort an, mein Zimmer umzuräumen, während DJ auf ihrem Bett lümmelte und schweigend und eindeutig amüsiert zusah.

»Denk daran, deinem Study Buddy jeden Tag ein paar Schläge zu verpassen, damit die Füllung sich gleichmäßig verteilt«, sagte Mom zu mir, während ich meine Sachen in die Schubladen räumte.

Ich holte ein Glas Tiptree Little Scarlet Strawberry Jam aus meinem Koffer. Die Marmelade hatte Reeve mir an dem Abend geschenkt, an dem wir uns zum ersten Mal geküsst hatten. Ich behielt das Glas einen Moment in der Hand. Es fühlte sich kühl an. Ich würde den Deckel niemals öffnen. Das Einmachglas war fast wie eine Urne mit Reeves Asche darin. Das Siegel würde für alle Zeiten unversehrt bleiben, denn dieses Glas war mir heilig. Vorsichtig stellte ich es in das oberste Fach der Kommode und bedeckte es mit ineinander verhakten BHs und Unterwäsche und einem alten Tweety-Nachthemd.

»Box das Kissen, okay, Jam?«, redete Mom weiter. »Hau es wie einen Dieb, der dir in einer Gasse auflauert.«

»Mom«, sagte ich, während DJ uns ungeniert beobachtete und gar nicht erst so tat, als würde sie weghören. Sie ging mir auf die Nerven. Ich konnte es nicht fassen, dass ich ausgerechnet mit ihr ein Zimmer teilen musste.

»Schüttele es einfach unten und an den Seiten auf«, fuhr Mom fort und zeigte mir, wie ich den Study Buddy malträtieren sollte, jenes übergroße Kissen mit angenähten Armen aus dem Billigladen in Crampton, von dessen Kauf ich sie nicht hatte abhalten können.

Die Frau im Kassenbereich hatte schmunzelnd zugesehen, als wir das Kissen auf das Laufband hievten, und uns dann mit Singsang-Stimme gefragt: »Geht da wohl jemand auf die Fenster Academy?«

Die Fenster Academy ist das versnobte Internat nicht weit von unserem Zuhause in New Jersey, wo die Mädchen eigene Pferde haben und alle himmelblaue Uniformen tragen und kitschige Lieder mit schlechten Reimen singen wie: »Oh Fenster, liebes Fenster, nie vergessen wir unsere Semester …« Mom und ich hatten nur verlegen die Köpfe geschüttelt.

Der Study Buddy war riesig, orange und aus Cord. Ich hasste das Ungetüm, als ich es zum ersten Mal im Geschäft sah, und ich hasste es, als es mit ausgestreckten Armen auf meinem Bett in Wooden Barn lag. Ich hasste sogar den Namen. Study Buddy. Dabei wusste jeder, dass ich gar nicht in der Verfassung war zu studieren.

Aber offenbar war es an der Zeit, mich zusammenzunehmen oder mich am Riemen zu reißen, wie man so schön sagt. Da ich das nicht konnte, blieb nichts anderes übrig, als mich nach Wooden Barn zu verfrachten, wo die gute Luft von Vermont, Ahornsirup und der Verzicht auf Medikamente und das Internet Heilung versprach. Nur dass ich leider unheilbar war.

Und noch etwas anderes ist schrecklich an meinem Study Buddy. Er führt mir vor Augen, dass ich keine Buddys mehr habe. Bevor ich Reeve kennenlernte und von da an jede Minute mit ihm verbringen wollte, hatte ich zwei enge Freundinnen in Crampton, zwei nette, zurückhaltende Mädchen mit langen glatten Haaren – Mädchen wie ich. Wir waren fleißig in der Schule, ohne gleich Streber zu sein, und wir hatten auch schon mal Gras probiert, ohne gleich zu Kiffern zu werden. Für die Leute waren wir einfach hübsch, nett und schüchtern.

Wir gehörten zu den Mädchen, über die man sich keine allzu großen Gedanken machte. Als wir jünger waren, hatten wir uns gegenseitig Zöpfe geflochten und synchrone Tanzschritte eingeübt und am Wochenende reihum zu Hause übernachtet. Bei solchen Gelegenheiten hatten wir meist sehr offen über alles Mögliche geredet, natürlich auch über »Beziehungen«, obwohl von uns dreien nur Hannah Petroski einen festen Freund hatte, Ryan Brown. Die zwei waren richtig eng miteinander und hatten schon beinahe Sex gehabt.

»Wir sind nur Millimeter davon entfernt, es zu tun«, hatte Hannah uns eines Wochenendes offenbart. Und obwohl ich mir nicht sicher war, was genau sie damit meinte, nickte ich und tat so als ob. Hannah und Ryan waren ineinander verliebt, seit sie zusammen in Mrs Delahunts Kindergartengruppe gewesen waren. Auf den Teppichresten in der Kuschelecke hatten sie sich zum ersten Mal geküsst.

Nach dem Verlust von Reeve gaben sich meine Freunde anfangs bei mir zu Hause mit ernster Miene die Klinke in die Hand. Ich konnte sie von meinem Schlafzimmer aus hören, wenn sie im Flur standen und mit meinen Eltern sprachen. »Hi, Mr Gallahue«, hieß es dann. »Geht es Jam schon etwas besser? Nein? Kein bisschen? Tja, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Also, ich habe ihr ein paar Zimtplätzchen gebacken …«

Aber wenn sie dann an meine Zimmertür klopften, wollte ich nie sehr lange mit ihnen reden. »Ich wünschte, du würdest endlich darüber hinwegkommen«, hatte Hannah eines Tages zu mir gesagt, als sie auf meiner Bettkante saß. »Du hast ihn doch noch gar nicht lange gekannt. Wie lange war es, ein Monat?«

»Einundvierzig Tage«, sagte ich.

»Okay, ich weiß, dass du eine schwere Zeit durchmachst«, fuhr sie fort. »Ich meine, Ryan ist mein Leben und so weiter, es ist also nicht so, als könnte ich dich nicht bis zu einem gewissen Grad verstehen. Trotzdem …«

»Trotzdem was, Hannah?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie, ehe sie kläglich hinzufügte: »Ich muss jetzt gehen, Jam.«

Wenn Reeve da gewesen wäre, hätte ich zu ihm gesagt: »Nervt es dich nicht auch, wenn Leute sagen: ›Trotzdem, Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen‹ und ihre Stimme dann nach unten wegkippt, als hätten sie den Satz zu Ende gesprochen? So ein trotzdem sagt absolut nichts aus, es zeigt nur, dass du deine Gefühle nicht ausdrücken kannst.«

»Ja, das finde ich auch«, hätte Reeve dann geantwortet. »Leute, die trotzdem sagen, haben den Teufel in sich.«

Er und ich hatten einen ähnlichen Blick auf die Welt. Nachdem ich Reeve verloren hatte, setzte ich kaum mehr einen Fuß vor meine Zimmertür und dämmerte nur noch auf dem Bett vor mich hin. Einmal trug ich mein Tweety-Nachthemd fünf ganze Tage lang. Nach einer Weile ließen sich meine Freunde nicht mehr blicken. Keine Besuche mehr, keine Zimtplätzchen. Meine Eltern versuchten mich zu überreden, wieder in die Schule zu gehen, aber dort starrten mich alle nur an, weil sie genau wussten, wie sehr ich Reeve geliebt hatte. Ich saß mit geschlossenen Augen in der Klasse und kriegte kaum mit, was vor sich ging.

»Erde an Jam«, sprachen die Lehrer mich an. »Jam, hallo?«

Manchmal passierte es, dass ich unter dem roten Licht des Ausgangsschilds der Turnhalle stand oder auf einem Sitzsack in der Bibliothek saß und plötzlich daran denken musste, dass Reeve und ich hier gewesen waren. Woraufhin mich sofort Panik befiel. Dann blieb mir die Luft weg und ich rannte die Pausenhalle entlang und durch den Notausgang nach draußen und immer weiter.

Anfangs rannte entweder einer von den Lehrern oder vom Personal hinter mir her, aber nach einer Weile hatten sie die Nase voll. »Ich bin zu alt für so etwas!«, bellte mir die Schulschwester einmal über die Sportplätze hinweg nach.

»Wenn Jamaica es nicht schafft, einen ganzen Tag in der Schule auszuhalten«, erklärte der Direktor daraufhin meinen Eltern, »sollten Sie vielleicht über andere Lösungen nachdenken.«

Also versuchten sie es mit Hausunterricht. Sie schleppten einen früheren Geschichtslehrer an, der, wie alle wussten, gefeuert worden war, weil er bis obenhin voll mit Wodka in die Schule gekommen war. Er war ein netter Typ und mit seinem traurigen, knautschigen Gesicht sah er aus wie einer dieser Shar-Pei-Hunde. Aber obwohl er nie betrunken bei uns auftauchte, schaffte ich es nicht, ihm zuzuhören, denn ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. »Oh, Jam«, seufzte er. »Ich fürchte, das funktioniert nicht mit uns.«

Nachdem Mom und Dad und mein Bruder Leo sich in meinem Zimmer von mir verabschiedet haben – die drei völlig aufgelöst, ich innerlich leer und wie betäubt –, und nachdem ich mich mit gebratenem Hühnchen mit grünen Bohnen und Quinoa im Speisesaal abgequält habe und von den neuen Gesichtern und Stimmen um mich herum völlig überwältigt war und mich lieber etwas abseits gehalten und kaum ein Wort gesagt habe – nicht zu vergessen nach einer schlaflosen Nacht –, liege ich am ersten Unterrichtstag morgens in meinem Bett, und DJ, die bereits komplett angezogen ist und ihre Haare in mein Gesicht hängen lässt, fragt mich nach meinen Terminen. Ich mache eine vage Handbewegung Richtung Schreibtisch, wo einige meiner Nichtklamotten-Sachen herumfliegen. DJ durchwühlt sie und zieht schließlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig, als sie einen Blick darauf wirft.

»Was ist?«, frage ich sie.

Sie sieht mich seltsam an. DJ ist halb Asiatin, halb Jüdin und hat glatte glänzende dunkle Haare und Sommersprossen im Gesicht. »Du hast Ausgewählte Themen der Literaturgeschichte?«, fragt sie verblüfft.

»Wenn du das sagst.« Ich habe nicht nachgesehen, in welche Klassen man mich eingeteilt hat. Es ist mir egal.

»Doch, du bist drin«, sagt sie. »Es ist immer deine erste Stunde. Hast du eine Ahnung, wie außergewöhnlich das ist?«

»Nein. Wieso?«

DJ setzt sich ans Fußende meines Betts. »Diese Klasse ist legendär. Die Lehrerin, Mrs Quenell, unterrichtet nur, wenn sie Lust dazu hat. Letztes Jahr hat sie beispielsweise beschlossen, den Kurs gar nicht erst anzubieten. Sie sagte, es wäre nicht die richtige »Mischung« an Schülern, was auch immer man darunter zu verstehen hat. Aber selbst wenn sie eine Klasse übernimmt, heißt das noch lange nicht, dass man auch reinkommt. Das schafft so gut wie niemand. Man müht sich ab, um genommen zu werden, und am Ende wird man doch wieder einer anderen Klasse zugeteilt. Diesen Sommer habe ich total rumgeschleimt und ihr geschrieben, wie wichtig es für mich ist, im Herbst ihren Unterricht zu besuchen, weil ich Literatur als Hauptfach im College nehmen will. Wenn ich das Glück hätte, in ihre Klasse gehen zu können, würde mir das den Weg ebnen – genau das habe ich geschrieben. Aber meine Arschkriecherei hat nicht funktioniert, ich bin wieder nur in dem regulären Kurs gelandet, wie alle anderen auch. Es ist ein echter Witz.«

»Na ja«, sage ich. »vielleicht kannst du froh sein, dass sie dich nicht genommen hat.«

»Die Antwort höre ich immer«, erwidert DJ entnervt. »Und dann bin ich erst recht scharf darauf, in diese Klasse zu kommen. Das Ganze geht nur über ein Halbjahr und endet vor den Weihnachtsferien. Und man liest nur einen Autor.«

»Einen einzigen Autor im Halbjahr?«

»Ja. Allerdings ist es immer ein anderer. Mrs Quenell ist schon sehr alt«, fährt DJ fort. »Sie ist die Einzige, die sich mit Mrs anreden lässt. Alle anderen Lehrer sagen am ersten Unterrichtstag: ›Sagt Heather zu mir‹ oder ›Nennt mich Ishmael‹ in dieser Wir-sind-beste-Freunde-und-ihr-könnt-uns-alles-sagen-Art. Alle, nur Mrs Quenell nicht. Und noch etwas ist ziemlich merkwürdig: Manche Schüler werden in ihre Klasse aufgenommen, ohne dass sie sich dafür beworben haben. Zum Beispiel du. Meistens sind es nur fünf oder sechs. Es ist die kleinste und elitärste Klasse der ganzen Schule.«

»Du kannst meinen Platz haben«, sage ich großzügig.

»Wenn das so einfach wäre! Das Halbjahr hindurch tun alle aus dieser Klasse so, als wäre es keine große Sache, aber danach behaupten sie, es hätte ihr Leben verändert. Ich würde zu gerne wissen, auf welche Weise es ihr Leben verändert hat. Fragen kann man sie nicht, denn alle, die in der Klasse waren, sind nicht mehr an der Schule. Mrs Quenell nimmt Schüler aus unterschiedlichen Jahrgängen auf, aber alle haben entweder ihren Abschluss gemacht oder sind weggegangen. Ich schwör dir, diese Klasse ist wie ein Geheimbund.« DJ sieht mich an, halb beindruckt, halb feindselig, und sagt: »Also. Raus damit. Was ist so besonders an dir?«

Ich denke einen Augenblick über ihre Frage nach. »Nichts«, antworte ich. Außer Reeve gibt es nichts, was in meinem Leben je besonders gewesen ist. Und seither bin ich ein antriebsloses, langhaariges Mädchen, dem alles egal ist und das sich nur noch mit seiner eigenen Trauer beschäftigt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich in Mrs Quenells Kurs gekommen bin. Ich will das auch gar nicht. Auf eine Klasse Fortgeschrittener, die extra hart schuften, kann ich verzichten. Mir wäre es lieber, das Jahr über in den hinteren Reihen eines Klassenzimmers abzuhängen und vor mich hinzudämmern, während der Lehrer vorne sich immer mehr in die Frage hineinsteigert, ob Huckleberry Finn ein Rassist ist oder nicht.

Stattdessen muss ich wahrscheinlich »am Unterricht teilnehmen«. Aber ich will nirgendwo teilnehmen. Die Welt soll sich ohne mich weiterdrehen und mich in Ruhe die Augen schließen und den Schultag verdösen lassen. In Wooden Barn kapiert man das anscheinend nicht.

Ebenso wie DJ nicht kapiert, dass ich alleine sein will, sondern mich dazu zwingt, aufzustehen und mich anzuziehen. »Los jetzt«, sagt sie und fuchtelt mit den Händen. Ihre Nägel sind graugrün lackiert.

»Bist du meine Mami, oder was?«

»Nein, deine Zimmergenossin.«

»Und mich aus dem Bett zu jagen, ist Teil dieses Jobs?«, frage ich unfreundlich. »Das ist mir neu.«

»Tja, jetzt weißt du es«, erwidert DJ. Trotz ihres Verhaltens und der penetranten Neugier bei meiner Ankunft, als meine Eltern mit ins Zimmer gekommen waren, scheint sie ihre Aufgabe als Mitbewohnerin sehr ernst zu nehmen. Sie schafft es, mich aus dem Bett zu locken, und drängt mich, vor der ersten Stunde eine Kleinigkeit zu essen. »Du musst bei klarem Verstand sein, wenn du hingehst.«

»Muss ich nicht.«

»Glaub mir, das musst du. Hier. Iss.« Was für eine Ironie – ausgerechnet das Mädchen mit der Essstörung drängt ihrer Mitbewohnerin Essen auf. An DJ scheint diese Ironie jedoch völlig vorüberzugehen, denn sie hat bereits einen platt gedrückten Müsliriegel mit S’more-Geschmack unter ihrer Matratze hervorgezogen.

Ich nehme den Riegel und schlinge ihn hinunter, obwohl er wie mit Kies durchsetzter, gepresster Straßendreck schmeckt. Ich frage sie nicht, aus welchem Grund ich auf sie hören sollte, wo ich sie doch kaum kenne und nichts von ihr weiß, außer dass sie total verkorkst ist, denn sonst wäre sie nicht in Wooden Barn gelandet. Andererseits gilt das auch für mich.

»Es ist nur zu deinem Besten«, hatte Dad einige Abende zuvor gesagt, als ich meinen Koffer packte, den ich in den Jahren zuvor nur im Sommer für das Feriencamp gepackt hatte.

Und Mum, die immer die Wahrheit herausposaunt, wenn sie unter Stress steht, hatte hinzugefügt: »Wir wissen uns nicht anders zu helfen, Kleines!«

Nicht nur, dass man mich nach Wooden Barn verbannt hat, jetzt habe ich auch noch einen platt gedrückten, fad schmeckenden Müsliriegel gegessen. DJ schiebt mich zur Tür hinaus. Der üppig grüne Campus ist eigentlich recht hübsch. Aber auch das ist mir egal. Statt also in einem blassblauen einstöckigen Vorstadthaus in der Gooseberry Lane Nummer 11 in Crampton New Jersey zu wohnen, schleppt sich mein halbtotes Ich über den Campus eines abnormalen Internats in Neuengland, das sich den Anschein gibt, als wäre es normal. Überall sind Bäume und Pfade, die sich durchs Gelände winden, und Schüler mit Rucksäcken.

»Siehst du das?«, fragt DJ und deutet auf ein großes rotes Holzgebäude. »Das war früher einmal eine Scheune – daher hat die Schule auch ihren Namen, logo. Jetzt wird darin ein Teil des Unterrichts abgehalten. Es ist eindeutig das schönste Gebäude. Mrs Quenells Kurs findet natürlich dort statt.« Sie führt mich hinein und geht mit mir einen langen Gang entlang. Die alten, polierten Holzböden ächzen und stöhnen unter unseren Füßen. Die Schüler schlendern herum und vertreiben sich die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn.

»Jo, DJ! Bist du in Perrinos Physik Teil A?«, ruft ein Junge zu uns herüber.

»Ja«, erwidert DJ misstrauisch. »Warum?«

»Ich bin auch drin.«

»Was für ein unglaublicher Zufall«, sagt sie.

DJ scheint ziemlich beliebt zu sein. In Crompton wäre das undenkbar gewesen. Andererseits war es eine ziemliche Überraschung, als mein Beliebtheitsgrad in die Höhe schoss, nachdem ich jahrelang nur eines der vielen austauschbaren langhaarigen netten Mädchen gewesen war. Als ich anfing, meine Zeit mit Reeve zu verbringen, wurden einige aus der Clique, die darüber entschied, wer an der Schule von Bedeutung war, auf mich aufmerksam. Allen war aufgefallen, wie Reeve sich im Kunstunterricht neben mich gesetzt hatte, damit ich ihn zeichnen konnte. An dem Tag hatten wir nah beieinander gesessen, und sofort machte das Gerücht die Runde, das zwischen uns etwas am Laufen sei.

Was auch erklärt, warum Dana Sapol, das Mädchen, das in Crampton den größten Einfluss hatte und nie besonders nett zu mir gewesen war, tatsächlich von ihrem Spind aufgeblickt und zu mir gesagt hatte: »Meine Eltern gehen am Samstag mit Courtney der Nervensäge zu meinen Großeltern. Es ist also Partytime. Komm doch auch. Der heiße Austauschschüler wird ebenfalls da sein.«

Ich tat so, als wäre es nichts Besonderes, dass sie mich einlud, was es aber natürlich war. Dana hatte mich auf dem Kieker, seit sie in der zweiten Klasse ohne Unterhose in die Schule gekommen war. Ich fand es durch Zufall heraus, als sie kopfüber am Klettergerüst hing. Zum Glück war ich die Einzige, die es bemerkte. »Dana, du hast deine Unterhose vergessen«, zischte ich ihr zu und stellte mich vor sie, damit die anderen sie nicht sahen.

Man hätte erwarten können, dass sie mir dankbar gewesen wäre. Ich hatte es gesehen, bevor alle anderen es bemerkt hatten. Aber sie tat so, als hätte ich etwas Skandalöses über sie herausgefunden, das ich ab sofort gegen sie verwenden könnte. Nicht dass ich das jemals getan hätte. Aber der Verdacht allein reichte für sie aus. Die Jahre vergingen, und Danas Unterhosenpanne hätte ein Insider-Witz zwischen uns werden können, über den wir lachten, aber dem war nicht so. Sie war entweder gemein zu mir oder sie ignorierte mich – bis zu dem Augenblick, als sie mich zu ihrer Party einlud.

Ich drehte mein Zahlenschloss und gab mich mäßig interessiert. So als wäre es egal, ob ich eingeladen würde oder nicht und ob Reeve dort sein würde oder nicht. Als hätte ich Samstagabend etwas anderes zu tun, außer bei Hannah oder Jenna zu übernachten oder shoppen zu gehen und mir Jeans anzuschauen oder mit meinen Eltern und Leo einen Spieleabend zu veranstalten. Bis zu diesem Moment hatten mir diese Abende nichts ausgemacht, ja ich hatte sie sogar genossen, aber plötzlich konnte ich es nicht fassen, dass ich meine Zeit mit so etwas verplemperte.

Denn ich wollte nur noch mit Reeve zusammen sein. Er spukte in meinen Gedanken herum. Reeve erklärte mir, die Kesmans wären sehr darauf bedacht, dass er sich die richtigen Freunde aussuchte. Was nur zu verständlich war. Im Vorjahr hatten die Kesmans ein Mädchen aus Dänemark zu Gast gehabt, das andauend Clogs trug und Gras rauchte. Als Reeve im Jahr darauf zu ihnen kam, durchsuchten sie als Erstes sein Gepäck nach verbotenen Substanzen.

»Oder nach Clogs«, hatte Reeve damals überlegt.

Er hielt nichts von irgendwelchen Substanzen und ich auch nicht. »Falls ich so paranoid sein und eine ganze Tafel Cadbury Dairy Milk und eine Tüte Crisps in mich hineinstopfen will, brauche ich kein Kraut dazu«, hatte er gesagt. Was ich ziemlich lustig fand.

»Cadbury Dairy Milk«, wiederholte ich. »Crisps. Und dann deine Aussprache. Ich liebe es, wenn du englische Sachen sagst.«

Reeve tat mir den Gefallen und sagte noch mehr solche Sachen, rief »bloody hell« oder nannte irgendwelche pompösen Namen wie »Duke und Duchess von Soundso«.

Ich stand im Schulkorridor vor meinem Klassenzimmer und schwamm in einem Meer aus Gedanken an Reeve – an seine Stimme und sein Gesicht –, aber DJ riss mich heraus. »Konzentrier dich. Die Stunde fängt gleich an. Und dass du mir danach auch ja alles haarklein erzählst«, sagte sie und schob mich durch die Tür.

2

Ich heiße alle herzlich willkommen«, sagt Mrs Quenell, als wir uns um den Tisch gesetzt haben. Wir, das sind nur vier Leute. Die Klasse ist sogar noch kleiner, als DJ prophezeit hat. Zu meiner Überraschung gibt es keine laute, nervige Glocke, die den Unterrichtsbeginn verkündet. Die Leute in Wooden Barn sind wohl so sensibel, dass ein schrilles Gebimmel ihnen den Rest geben könnte. Stattdessen blickt unsere Lehrerin auf das winzige Ziffernblatt ihrer Armbanduhr an ihrem schmalen Handgelenk und runzelt leicht die Stirn, wie man das immer tut, wenn man auf die Uhr blickt.

Mrs Quenell sieht aus wie eine elegante, graziöse Großmutter. Ihre aus dem Gesicht gestrichenen Haare erinnern mich an bleichen Schnee. Ich schätze sie auf Ende siebzig. Sie hebt den Kopf, blickt uns an und sagt: »Ich habe gehofft, dass alle pünktlich zur ersten Stunde erscheinen würden, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Wir haben viel Arbeit vor uns, daher würde ich gerne sofort anfangen, auch wenn noch eine Schülerin fehlt.«

Ich frage mich, um wen es sich dabei handelt. Vielleicht ist sie ebenfalls neu, hat aber im Unterschied zu mir keine Mitbewohnerin, die sie aus dem Bett holt und ins Klassenzimmer schleppt. Womöglich schläft sie noch tief und fest und will niemanden sehen, so wie ich.

»Wie ihr sicher wisst, nennt sich diese Klasse Ausgewählte Themen der Literaturgeschichte«, fährt Mrs Quenell fort. »Ich werde jetzt von Platz zu Platz gehen und euch bitten, euren Namen zu sagen und uns etwas über euch zu erzählen. Mag sein, dass ihr euch untereinander bereits kennt, aber ich kenne euch noch nicht. Außer auf dem Papier.«

Neben mir sitzen noch drei andere Schüler an dem ovalen Eichentisch in dem kleinen, hellen Raum: ein Junge, Typ ordentlich gebügelt, mit frisch gestutzten schwarzen Haaren und einem gestreiften Button-down-Hemd; ein wunderschönes afroamerikanisches Mädchen mit Dreadlocks und kleinen, fluoreszierenden Perlen an den Haarspitzen, und schließlich noch ein Junge, dessen Gesicht unter einem grauen Hoodie versteckt ist. Er hat nicht nur die Kapuze hochgezogen, sondern den Kopf auch noch auf die verschränkten Arme gelegt und das Gesicht weggedreht.

Vielleicht hat er bemerkt, dass ich ihn beobachte, denn er dreht sich in meine Richtung. Die Bewegung ist ruckartig und kommt überraschend, wie bei den riesigen Meeresschildkröten im Zoo, wenn sie plötzlich den Kopf drehen. Anders als die Meeresschildkröten sieht der Junge gut aus, wenn auch auf eine feindselige Art. Man sieht ihm an, dass es ihm genauso geht wie mir und er überall lieber wäre als hier an diesem Ort. Im Gegensatz zu ihm kann ich meine Gefühle besser kaschieren. Distanziertheit ist mehr mein Stil als Feindseligkeit.

Der Junge zieht die Kapuze vom Kopf und sein langes blondes Haar fällt auf seine Schultern. Ich kann ihn mir gut auf einem Surfbrett oder einem Snowboard vorstellen, wie er irgendetwas Gefährliches tut und seine Haare im Wind wehen. So einer ist das also, denke ich. Einer von den Waghalsigen, die ich noch nie leiden konnte. Reeve mochte sie genauso wenig wie ich.

»Da sind die Typen wieder«, sagte er einmal, als einige dieser Jungs gemeinsam in die Cafeteria stürmten. »Sie sind hier, um sich ihre tägliche Ration Angeber-Proteine abzuholen.«

»Acht Millionen Gramm rohes Haifleisch«, sagte ich.

Während ich also den Kapuzenjungen anstarre, wirft er mir einen Blick zu, der so viel heißt wie: »Glotz nicht so.«

Verlegen drehe ich mich weg und blicke aus dem Fenster, so als rechnete ich damit, draußen die verspätete Schülerin zu entdecken, die sich abhetzt, um noch zum Unterricht zu kommen.

Mrs Quenell wendet sich dem afroamerikanischen Mädchen links von ihr zu. Sie gehört zu der Sorte Mädchen, die nur über die Straße gehen muss, um von Leuten aus einer Model-Agentur angesprochen zu werden, die ihnen ihre Visitenkarte in die Hand drücken und sagen: »Ruf mich doch einfach mal an.« Ihre Haltung ist so aufrecht, wie ich es sonst nur von Seepferdchen kenne.

»Wie wäre es, wenn du anfängst«, sagt unsere Lehrerin.

»Okay«, sagt das Mädchen nach einem Augenblick unbehaglichen Schweigens. »Ich heiße Sierra Stokes.« Sie hält inne, als wäre damit alles Wesentliche gesagt.

Mrs Quenell sagt: »Möchtest du uns nicht noch etwas mehr über dich erzählen?«

»Ich komme aus Washington, DC und bin schon seit dem Frühjahr hier in Wooden Barn. Davor«, fügt Sierra etwas steif hinzu, »bin ich eine Zeit lang nicht zur Schule gegangen. Ich schätze, das ist alles.«

»Vielen Dank«, sagt Mrs Quenell zu ihr. Dann fordert sie den ernsthaften Jungen mit einem Nicken zum Sprechen auf. Er hat einen kantigen, sehr männlichen Kopf, den er wahrscheinlich schon hatte, als er durch den Geburtskanal seiner Mutter rutschte.

»Ich bin Marc Sonnenfeld«, sagt er, und ich denke sofort Debattierklub, wahrscheinlich sogar Präsident. »Ich komme aus Newton, Massachusetts und lebe bei meiner Schwester und meiner Mom. Ich war Sprecher der Schülerverwaltung und Präsident des Debattierklubs.«

Ha.

»Aber dann war plötzlich alles ganz schrecklich und jetzt kenne ich mich gar nicht mehr aus.« Er schweigt einen Augenblick, dann sagt er: »Ich denke, das ist alles.«

»Danke, Marc.« Mrs Quenell dreht sich zu dem blonden Jungen mit der Kapuze und sagt: »Nun gut, wieso stellst du dich nicht als Nächstes vor?« Sein Schweigen dauert so lange, dass es schon unhöflich ist. Er tut so, als hätte er sie nicht gehört. Als er schließlich den Mund aufmacht, spricht er ganz leise und tonlos, sodass ich ihn über den Tisch hinweg kaum hören kann.

»Eine Stimme«, sagt Mrs Quenell daraufhin. »Mehr haben wir nicht.« Keiner von uns weiß, was sie meint. Sie scheint es darauf anzulegen, uns in Verwirrung zu stürzen und uns zappeln zu lassen.

»Ähm, wie bitte?«, fragt Marc.

»Wir haben alle nur eine Stimme«, sagt Mrs Quenell. »Und die Welt ist so laut. Manchmal denke ich, die Stillen« – sie nickt dem Jungen ohne Manieren zu – »haben begriffen, dass man Aufmerksamkeit am besten dadurch erhält, indem man nicht laut herumschreit, sondern flüstert. Denn dann müssen alle besonders genau hinhören.«

»Das war nicht meine Absicht«, sagt der Junge plötzlich etwas lauter. »Ich rede so, das ist alles. Ständig heißt es, ich soll meine Stimme für drinnen benutzen. Das habe ich getan. Und jetzt kommen Sie und wollen meine Stimme für draußen hören, oder wie?«

Mrs Quenell lächelt ganz leicht, und ich bin mir gar nicht sicher, ob die anderen es überhaupt bemerken. »Nein, nur deine echte Stimme«, sagt sie. »Wie auch immer sie sich anhört. Ich hoffe, wir finden es heraus.«

Was ist das nur für eine Lehrerin? Ich weiß nicht, wann sie scherzt und wann sie es ernst meint. Ich fühle mich unwohl hier, und die Klasse ist so klein, dass ich das vor den anderen nicht verbergen kann. In einer so kleinen Runde kann man überhaupt nichts verbergen. Dass der Kurs über ein volles Halbjahr gehen soll, ist unerträglich. Wenn ich mich umschaue, habe ich das untrügliche Gefühl, dass es den anderen genauso ergeht wie mir.

Aber unsere Lehrerin tut so, als bemerke sie das nicht. Sie ist ganz auf den Kapuzenjungen konzentriert und wartet darauf, dass er sich uns vorstellt. Als er es schließlich tut, scheint ihn das die letzten Kräfte zu kosten. »Ich bin Griffin Foley«, sagt er.

Dann schweigt er wieder. War’s das schon?

»Herzlich willkommen, Griffin«, sagt Mrs Quenell und wartet.

»Ich komme von einer Farm etwa anderthalb Meilen von hier«, fährt er fort. »Ich habe bisher immer schlechte Noten in Literatur gehabt. Nur damit Sie vorgewarnt sind.« Danach sackt er wieder in sich zusammen.

»Vielen Dank«, sagt Mrs Quenell. »Die Warnung ist angekommen.«

Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Der Knauf kracht so heftig gegen die Wand, dass es mich nicht wundern würde, wenn er einen Krater ins Gemäuer gerissen hätte. Überrascht drehen wir uns alle um und sehen, wie ein Mädchen in einem Rollstuhl versucht, sich selbst ins Klassenzimmer zu manövrieren. »Oh, verdammt«, sagt sie, als ihr Rucksack am Türrahmen hängen bleibt.

Alle am Tisch, einschließlich Mrs Quenell, springen auf, um ihr zu helfen, und alle sind verlegen über die demonstrative Zurschaustellung unserer Hilfsbereitschaft. Sierra ist als Erste bei dem Mädchen, sie nimmt den Rucksack vom Rollstuhl, damit genug Platz ist. Das Mädchen rollt durch die Tür. Sie ist klein, rothaarig und zierlich. Und sie ist in heller Aufregung. Bei ihrem Anblick kommt mir sofort das Wort flammend in den Sinn.

»Ich weiß, es gibt keine Entschuldigung für mein Zuspätkommen«, sagt das Mädchen fast hysterisch. »Ich will hier auch ganz bestimmt nicht den Trumpf als Krüppel ausspielen – oh, Verzeihung, ich meine natürlich physisch benachteiligt. Sie brauchen mir gar nicht erst zu versichern, dass Sie selbstverständlich Verständnis dafür haben, wenn ich zu spät komme«, fügt sie hinzu.

Ein Blick auf unsere Lehrerin sagt mir, dass von Verständnis keine Rede sein kann, das hat das Mädchen im Rollstuhl nur noch nicht kapiert. Vermutlich hat man ihr eingeredet, alle Lehrer in Wooden Barn seien total unkompliziert und fürchterlich nett zu ihren Schülern. Womöglich könnte ein einziges strenges Wort dazu führen, dass ein Schüler danach völlig von der Rolle ist. Aber Mrs Quenell sagt: »Ich habe nichts dergleichen vor. Ganz im Gegenteil, ich möchte, dass das nie wieder passiert. Vor uns liegt viel Arbeit. Ich will keine Sekunde verlieren.«

Das Mädchen wirkt wie vor den Kopf geschlagen. Ich wette, bisher haben alle sich darum bemüht, sie nur ja nicht aufzuregen, so wie man das auch bei mir versucht hat.

»Tut mir leid«, sagt sie. »Ich habe den Dreh noch nicht raus.«

»Ich verstehe. Aber irgendwie wirst du das schaffen müssen«, sagt Mrs Quenell. Ihre Reaktion kommt mir etwas hart vor. »Wenn du so durch dein Leben gehst, dann verpasst du zu viel.«

Erst da wird mir klar – und den anderen wahrscheinlich auch, denn wie sich herausstellt, ist das Mädchen genauso neu an der Schule wie ich –, dass sie nicht mit dieser Behinderung auf die Welt gekommen ist, sondern erst seit Kurzem im Rollstuhl sitzt. Plötzlich interessiert es mich brennend, was mit ihr passiert ist. Sie hat keinen Gips an den Beinen, es handelt sich also nicht um einen Knochenbruch. Aber die Beine sehen auch nicht verkrüppelt aus wie bei der Bösen Hexe des Ostens aus dem Zauberer von Oz, kurz bevor sie unter dem Haus verschwindet. Sie sehen aus wie ganz normale Beine in blauen Jeans, nur dass sie ganz offensichtlich ihren Dienst verweigern.

»Es ist furchtbar schwer«, sagt das Mädchen und klingt dabei sehr jung.

»Das weiß ich«, erwidert Mrs Quenell etwas freundlicher. »Schwer. Das ist das treffende Wort. Ich bin ein sehr großer Befürworter von treffenden Wörtern. Das war ich schon, seit ich denken kann.«

Sie schließt die Augen und scheint sich an etwas zu erinnern, scheint eine bestimmte Vorstellung längst vergangener Zeiten heraufzubeschwören. Ich frage mich, ob sie nicht bereits zu alt ist, um noch zu unterrichten. Sie kommt mir ziemlich unberechenbar vor – mal ist sie ungeduldig, dann wieder mitfühlend.

Mrs Quenell öffnet die Augen und sagt zu dem Mädchen: »Du hast bereits zwei Dinge gelernt, seit du hier bist. Erstens: Unpünktlichkeit mag deine Lehrerin nicht. Zweitens: Treffende Wörter dagegen umso mehr. So, und jetzt würden wir gerne auch etwas lernen, und zwar über dich.«

Das Mädchen wirkt nicht gerade begeistert. »Was denn zum Beispiel?«

»Reihum haben alle ihre Namen genannt und etwas über sich erzählt. Jetzt bist du dran.«

»Ich heiße Casey Cramer«, sagt das Mädchen mürrisch. »Casey Clayton Cramer. Drei C«, fügt sie hinzu.

»Was?«, sagt Marc. »Drei C? Sind das Noten?«

»Nein. Casey. Clayton. Cramer. Alle drei Namen beginnen mit C.«

»Oh«, sagt er. »Verstehe.«

Wir sitzen da, in unangenehmem Schweigen, und bemitleiden Casey Cramer, die nicht laufen kann und schon den ersten Rüffel der Lehrerin abbekommen hat. Trotzdem warten wir darauf, dass Casey fortfährt: »Ich sitze im Rollstuhl, weil …« Aber sie sagt nichts dergleichen. Sie hat genug geredet.

Und das heißt, wie ich mit einem flauen Gefühl im Magen feststelle, dass nun ich an der Reihe bin.

Du musst ihnen nichts Wichtiges erzählen, spreche ich mir Mut zu. Vor allem nichts von Reeve oder was mit dir passiert ist. Du musst nur irgendeine Kleinigkeit sagen, so wie alle anderen auch. Du musst ihnen nur einen Knochen hinwerfen.

Mrs Quenell sieht mich mit ihren klaren, wachen Augen an und sagt: »Also gut, du bist dran.«

Sie wartet. Mir bleibt keine Wahl. Dass ich keine Lust habe, zählt nicht als Ausrede. Ich bin sicher, Mrs Quenell würde sich damit nicht abspeisen lassen. Ich starre auf die Holzmaserung des Tisches, die plötzlich genauso interessant wie Casey Cramer in ihrem Rollstuhl ist. Ich starre und starre. Schließlich blicke ich auf und fange an. »Okay, mal sehen. Ich heiße Jam Gallahue.« Ich halte inne, in der Hoffnung, dass Mrs Quenell sich damit zufriedengibt.

Was sie natürlich nicht tut.

»Weiter«, sagt sie.

»Na ja«, sage ich mit gesenktem Blick. »Eigentlich heiße ich Jamaica, weil meine Eltern ihre Flitterwochen dort verbracht haben und ich dort gezeugt