Die Interessanten - Meg Wolitzer - E-Book
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Die Interessanten E-Book

Meg Wolitzer

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Beschreibung

Nach dem Tod ihres Vaters will Julie Jacobson nur noch eins: raus aus der Tristesse ihres provinziellen Zuhauses. Das Sommercamp an der Ostküste eröffnet ihr eine neue Welt. Eine Welt der Kunst, Kreativität und Freiheit, verkörpert durch die interessantesten Menschen, denen sie je begegnet ist: Ethan, Jonah, Cathy, Ash und Goodman, fünf junge New Yorker, die Julie ihrer Schlagfertigkeit und ihres schwarzen Humors wegen in ihre privilegierte Clique aufnehmen. Die Jahre und Jahrzehnte vergehen, aber nicht jeder der »Interessanten«, wie sie sich selbst halb ironisch nennen, kann aus seinen Begabungen das machen, was er sich als Jugendlicher erträumte. Was bestimmt das Leben – Talent, Glück oder das Resultat der eigenen Entschlossenheit? Meg Wolitzer zeigt an ihren Figuren die Tragik und Komik des Daseins und erzählt davon, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich versteht – vielleicht zu spät –, wer man einmal war und wer man geworden ist. ›Die Interessanten‹ ist ein großer Gesellschafts- und Ideenroman über das Wesen der Kunst und der Freundschaft vor dem Panorama der USA in den letzten vierzig Jahren.

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Seitenzahl: 987

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Meg Wolitzer

DIE INTERESSANTEN

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ›The Interestings‹ bei Riverhead, New York.  

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Riverhead Books, a member of Penguin Group (USA) LLC, a Penguin Random House Company. © 2013 Meg Wolitzer  

»What Have They Done to the Rain« von Malvina Reynolds, Abdruck mit freundlicher Genehmigung: © 1962 Schroder Music Co. (ASCAP). Renewed 1992. Text und Musik von Malvina Reynolds. Alle Rechte vorbehalten. © 2014 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln  

eBook 2014 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Covermotiv: © Lynn Buckley Satz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck  

ISBN eBook: 978-3-8321-8815-3www.dumont-buchverlag.de

Für meine Eltern, die mich dort hinschickten. Und für Martha Parker, die ich dort kennengelernt habe.

While riding on a train goin’ westI fell asleep for to take my restI dreamed a dream that made me sadConcerning myself and the first few friends I had

Bob Dylan, Bob Dylan’s Dream

… nur wenig Talent zu haben … war eine furchtbar lästige Sache … nur ein wenig besonders zu sein, bedeutete, die meiste Zeit zu viel zu erwarten.

Mary Robison, Yours

Teil eins

AUGENBLICKE DERFREMDHEIT

Eins

In einer warmen Nacht Anfang Juli in jenem lange verpufften Jahr trafen sich die Interessanten zum allerersten Mal. Sie waren erst fünfzehn, sechzehn und begannen, sich mit zögerlicher Ironie so zu nennen. Julie Jacobson, eine Außenseiterin, vielleicht sogar ein Freak, war aus schwer verständlichen Gründen ebenfalls eingeladen worden. Sie saß auf dem ungefegten Boden in einer Ecke und versuchte, unaufdringlich, aber nicht kläglich zu wirken, was ein schwieriger Balanceakt war. In dem genial entworfenen, aber billig gebauten Tipi stand die Luft an Abenden wie diesem, wenn kein Wind durch die Fliegenfenster drückte. Julie Jacobson hätte gerne ein Bein ausgestreckt oder den Unterkiefer hin- und hergeschoben, was mitunter ein befriedigendes Knacken in ihrem Schädel verursachte. Aber sie riss sich zusammen. Wenn sie keine Aufmerksamkeit erregte, würde sich auch keiner fragen, was sie eigentlich hier machte. Und sie wusste nur zu gut, dass es keinerlei Grund für sie gab, hier zu sein. Sie hatte es kaum fassen können, dass Ash Wolf ihr früher am Abend an den Waschbecken zugenickt und sie gefragt hatte, ob sie sich nicht mit ihr und ein paar von den anderen treffen wolle. Ein paar von den anderen. Schon die Worte hatten es in sich gehabt.

Julie hatte sie perplex und mit tropfendem Gesicht angesehen und sich dann schnell mit einem dünnen Handtuch von zu Hause abgetrocknet. Jacobson hatte ihre Mutter mit einem roten Wäschestift auf den runzeligen Rand geschrieben, und ihre unsichere Schrift wirkte etwas tragisch.

»Klar«, hatte Julie instinktiv gesagt. Was, wenn sie Nein gesagt hätte, fragte sie sich hinterher mit einem seltsam angenehmen Grauen. Was, wenn sie die leicht hingeworfene Einladung abgelehnt und einfach so weitergemacht hätte wie bisher, dumpf und unbeirrbar, wie betrunken, blind, eine Schwachsinnige, die dachte, das bisschen Glück, das sie habe, reiche vollkommen aus? Aber ihr »klar« an den Waschbecken im Mädchenwaschraum hatte sie hergebracht und in die Ecke dieser fremdartigen, ironischen Welt versetzt. Die Ironie war ihr neu, und sie schmeckte merkwürdig gut, wie eine bis dahin nicht existente Sommerfrucht. Bald schon würden sie und die anderen ständig ironisch reagieren und unfähig sein, eine unschuldige Frage ohne einen leicht abfälligen Unterton zu beantworten. Doch mit der Zeit sollte sich das Abfällige geben, in die Ironie sollte sich Ernsthaftigkeit mischen, die Jahre würden kürzer werden und verfliegen. Und dann, nicht viel später, würden sich alle verschreckt und traurig in ihren starren, fertigen Erwachsenen-Ichs wiederfinden und kaum eine Chance haben, sich noch einmal neu zu erfinden.

An jenem Abend jedoch, lange vor dem Schrecken, der Trauer und der Verfestigung, als sie im Jungen-Tipi Nummer drei saßen und ihre Kleider immer noch bäckersüß von den letzten Trocknerumdrehungen zu Hause rochen, sagte Ash Wolf: »So sitzen wir hier jeden Sommer. Wir sollten uns einen Namen geben.«

»Warum?«, fragte Goodman, ihr älterer Bruder. »Damit die Welt erfährt, wie unglaublich interessant wir sind?«

»Wir könnten uns Die unglaublich Interessanten nennen«, sagte Ethan Figman. »Wie wäre das?«

»Die Interessanten«, sagte Ash. »Das passt.«

Damit war es entschieden. »So lasst uns denn von diesem Tag an«, sagte Ethan, »weil wir eindeutig die interessantesten Leute sind, die verdammt noch mal je gelebt haben, weil wir einfach so verdammt faszinierend und unsere Hirne so übervoll mit intellektuellen Überlegungen sind – lasst uns als Die Interessanten bekannt sein! Und alle, die uns begegnen, sollen tot vor uns zusammenbrechen, weil wir so verdammt interessant sind.« Mit lächerlicher Feierlichkeit hoben sie Pappbecher und Joints, und Julie wagte es, auch ihren Becher mit W & T – einem süßen, bunten Mix aus Wodka und dem Getränkepulver Tang – vor sich hochzuhalten und bedeutsam zu nicken.

»Kling«, sagte Kathy Kiplinger.

»Kling«, antworteten die anderen.

Der Name war ironisch gemeint, und die improvisierte Taufzeremonie spaßhaft angeberisch, trotzdem, dachte Julie Jacobson, sie waren wirklich interessant. Diese Teenager um sie herum, alle aus New York City, waren wie die Mitglieder eines Königshauses oder französische Filmstars. Eigentlich sollten alle in diesem Camp etwas Künstlerisches haben, doch soweit sie es beurteilen konnte, war das hier der heiße, kleine, innere Kreis. Julie hatte noch nie solche Leute getroffen. Sie waren nicht nur im Vergleich mit den Bewohnern von Underhill interessant, dem New Yorker Vorort, in dem sie aufgewachsen war, sondern auch verglichen mit all den anderen da draußen, die ihr in diesem Moment schlecht gekleidet, drittklassig und durch und durch abstoßend vorkamen.

Wenn einer von ihnen in jenem Sommer 1974 aus der tiefen Konzentration auftauchte, mit der sie in ihre Einakter, ihre Animationen, Tanzsequenzen oder ihr Gitarrenspiel versunken waren, schien es ihm, als starrte er auf ein Horrorszenario, und zog es vor, schnell wieder wegzusehen. Zwei Jungen im Camp hatten Ausgaben von All the President’s Men auf dem Bücherbrett über ihrem Bett stehen, neben großen Spraydosen mit dem Insektenschutzmittel Off und kleinen Fläschchen Benzoylperoxid gegen Akne. Das Buch war nicht lange vor Beginn des Camps herausgekommen, und wenn sich die Gespräche in den Tipis abends in rhythmischem Masturbieren oder im Schlaf verloren, lasen sie im Licht ihrer Taschenlampen und dachten: SolcheDrecksäcke, kaum zu glauben!

Das war die Welt, in die sie eintreten sollten: eine Welt der Drecksäcke. Julie Jacobson und die anderen hielten an der Schwelle zu dieser Welt inne, aber was sollten sie auch tun? Einfach hineingehen? Später im Sommer würde Nixon davontaumeln und eine schleimig feuchte Spur hinterlassen, und das ganze Camp würde ihm auf einem alten Panasonic-Fernseher dabei zusehen, den die Besitzer des Camps in den Speisesaal gerollt hatten. Manny und Edie Wunderlich waren zwei alternde Sozialisten von sagenumwobenem Ruf in der kleinen, dahinschwindenden Welt alternder Sozialisten.

Die Interessanten saßen im Jungen-Tipi drei zusammen, weil die Welt unerträglich war, sie selbst aber nicht. Julie erlaubte sich eine weitere kleine Bewegung, verschränkte die Arme auf die eine, dann auf die andere Weise. Noch immer wandte sich ihr niemand zu und bestand darauf zu erfahren, wer dieses unbeholfene, rothaarige Mädchen eingeladen hatte. Noch immer wollte niemand, dass sie ging. Sie sah sich im dämmrigen Tipi um, wo alle träge auf den Etagenbetten und hölzernen Bodenlatten saßen, wie Leute in einer Sauna.

Der grobschlächtige, ungewöhnlich hässliche Ethan Figman, dessen Züge leicht plattgedrückt wirkten, als presste er das Gesicht gegen eine unsichtbare Glaswand, hockte mit schlaff geöffnetem Mund und einer Schallplatte auf dem Schoß da. Er war einer der Ersten, die ihr aufgefallen waren, als ihre Mutter und ihre Schwester sie vor ein paar Tagen hergefahren hatten. Er hatte einen weichen Jeanshut aufgehabt und alle um sich herum auf dem Rasen begrüßt, hatte bei den Koffern mit angefasst, sich von den Mädchen in platonische Umarmungen ziehen lassen und den Jungen kumpelhaft die Hände geschüttelt. Die Leute riefen: »Ethan! Ethan!«, und er wandte sich ihnen nacheinander zu.

»Der Kerl sieht lächerlich aus«, hatte Julies Schwester Ellen leise gesagt, als sie nach ihrer vierstündigen Fahrt von Underhill aus ihrem Dodge Dart gestiegen waren und auf dem Rasen standen. Er sah tatsächlich lächerlich aus, doch Julie hatte das Gefühl, diesen ihr völlig unbekannten Jungen beschützen zu müssen.

»Nein, tut er nicht«, sagte sie. »Er sieht ganz normal aus.«

Sie waren Schwestern, nur sechzehn Monate auseinander, aber Ellen, die Ältere, hatte dunkle Haare, ein verschlossenes Gesicht und überraschend vernichtende Ansichten, die nur zu oft in dem kleinen Ranchhaus zu hören waren, in dem die beiden mit ihrer Mutter Lois lebten. Ihr Vater Warren war im Winter an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Julie würde nie vergessen, wie es gewesen war, so nahe mit einem Sterbenden zusammenzuleben, besonders, was es bedeutet hatte, das einzige, pfirsichfarbene Bad mit ihrem armen Vater teilen zu müssen, der es, sich entschuldigend, ständig in Beschlag gehalten hatte. Mit vierzehneinhalb hatte sie ihre erste Periode bekommen, viel später als alle, die sie kannte. Doch fast immer, wenn sie ins Bad musste, war es besetzt. Mit einer Riesenschachtel Kotex in ihrem Zimmer hockend, hatte sie über den Gegensatz nachgedacht zwischen sich, die »ins Frausein eintrat«, wie es in dem Film hieß, den ihnen ihre Gymnastiklehrerin vor langer Zeit schon gezeigt hatte, und ihrem Vater, der in etwas ganz anderes eintrat, an das sie nicht denken wollte, das ihr aber ständig vor Augen stand.

Im Januar war er gestorben, was eine zermürbende Qual, jedoch auch eine Erleichterung gewesen war, die sich gleichermaßen nicht fassen und nicht vergessen ließ. Der Sommer kam, und die Leere blieb. Ellen wollte nirgends hin, aber Julie konnte nicht einfach den ganzen Sommer mit diesem Gefühl zu Hause sitzen und ihrer Mutter und ihrer Schwester zusehen, die sich genauso fühlten. Es hätte sie verrückt gemacht, beschloss sie. In letzter Minute dann schlug ihre Englischlehrerin dieses Camp vor, das noch einen freien Platz hatte und Julie ein Stipendium gewährte. Niemand in Underhill fuhr in Camps wie dieses, nicht nur weil es sich keiner leisten konnte, es wäre einfach niemand auf die Idee gekommen. Alle blieben zu Hause und fuhren in die dürftigen örtlichen Tagescamps, lagen stundenlang im Schwimmbad, jobbten bei Carvel oder hingen in ihren drückend heißen Häusern herum.

Niemand hatte wirklich Geld, und niemandem schien es viel auszumachen. Warren Jacobson hatte in der Personalabteilung von Clelland Aerospace gearbeitet, ohne dass Julie eine Vorstellung davon gehabt hätte, was genau das bedeutete, aber immerhin hatte er so viel verdient, dass die Familie einen Pool in dem kleinen Garten hinter dem Haus anlegen und unterhalten konnte. Und als Julie plötzlich dieser Platz in einem Sommercamp angeboten wurde, bestand ihre Mutter darauf, dass sie ihn annahm. »Wenigstens einer in dieser Familie sollte etwas Spaß haben«, sagte Lois Jacobson, die frische, unsichere Witwe von zweiundvierzig Jahren. »Das hatte schon eine Weile keiner mehr.«

An diesem Abend im Jungen-Tipi drei schien Ethan Figman so selbstsicher wie auf dem Rasen am ersten Tag. Selbstsicher, sich seiner Hässlichkeit, die ihn ein ganzes Leben begleiten würde, jedoch wahrscheinlich bewusst, begann er, auf der Plattenhülle auf seinem Schoß Joints zu drehen. Er tat es gekonnt. Es sei sein Job, sagte er, und es gefiel ihm ganz offensichtlich, etwas mit seinen Händen tun zu können, auch wenn er gerade keinen Kugelschreiber oder Bleistift in ihnen hielt. Er zeichnete Trickfilme und verbrachte Stunden damit, die Seiten der kleinen, ihm ständig hinten in den Gesäßtaschen steckenden Spiralnotizbücher mit kurzen Filmen zu füllen. Jetzt kümmerte er sich liebevoll um winzige Mengen Korn, Stängel und Blüten.

»Figman, mach schneller, die Eingeborenen werden unruhig«, sagte Jonah Bay. Julie wusste noch so gut wie nichts über die Freunde, aber sie wusste, dass Jonah, ein gut aussehender Junge mit blauschwarzem, schulterlangem Haar und einem Lederbändchen um den Hals, der Sohn der Folksängerin Susannah Bay war. Lange Zeit sollte seine berühmte Mutter Jonahs Hauptunterscheidungsmerkmal bleiben. Er hatte es sich angewöhnt, wahllos ein »die Eingeborenen werden unruhig« einzustreuen, wobei es diesmal wenigstens ansatzweise zu passen schien. Alle waren unruhig, wenn auch keiner ein Eingeborener war.

An diesem Juliabend war Nixon noch einen Monat davon entfernt, wie ein verrottetes Gartenmöbel vom Rasen des Weißen Hauses entfernt zu werden. Gegenüber von Ethan saß Jonah mit seiner Stahlsaitengitarre zwischen Julie Jacobson und Cathy Kiplinger eingeklemmt, die sich den ganzen Tag im Tanzstudio bewegte und streckte. Cathy war kräftig und blond und weit fraulicher, als es den meisten Fünfzehnjährigen angenehm gewesen wäre. Zudem war sie »emotional viel zu anstrengend«, wie jemand später einmal unverblümt bemerkte. Sie gehörte zu der Art Mädchen, die Jungen einfach nicht in Ruhe lassen können. So unermüdlich wie automatisch stellten sie ihr nach. Manchmal drückten sich ihre Brustwarzen wie die Knöpfe eines Sofakissens durch den Stoff ihres Gymnastikanzugs, und alle mussten sie ignorieren, wie Brustwarzen in ihrer Unberechenbarkeit eben zu ignorieren waren.

Über ihnen allen, oben auf einem der Etagenbetten, lag Goodman Wolf, ausgestreckt einsdreiundachtzig groß, sonnenempfindlich, und wirkte mit seinen kräftigen Beinen in Khaki-Shorts und Büffelsandalen fast übertrieben maskulin. Wenn diese Gruppe einen Führer hatte, dann war er es, und im Moment mussten alle zu ihm aufsehen. Zwei anderen Jungen, die im Tipi Nummer drei wohnten, war vor dem Treffen der Freunde hier höflich, aber mit Nachdruck gesagt worden, sie sollten sich den Abend über nicht blicken lassen. Goodman wollte Architekt werden, hatte Julie gehört, allerdings schien er zu wenig darüber nachzudenken, wie es kam, dass Gebäude stehen blieben oder Hängebrücken das Gewicht all der Autos tragen konnten, die über sie fuhren. Er war körperlich nicht ganz so atemberaubend wie seine Schwester, denn sein gutes Aussehen wurde durch seine unreine, stopplige Haut etwas getrübt. Aber trotz seiner Unvollkommenheiten und seiner zur Schau gestellten Faulheit besaß er eine beeindruckende Präsenz. Im vorangegangenen Sommer war Goodman während einer Vorstellung von Warten auf Godot oben auf die Beleuchtungsplattform geklettert und hatte die Bühne für volle drei Minuten in Dunkelheit getaucht, nur weil er neugierig war, was geschehen würde – wer schreien und wer lachen und wie viel Ärger er bekommen würde. Im Dunkeln sitzend hatte sich mehr als eines der Mädchen insgeheim vorgestellt, wie Goodman auf ihr lag. So groß wie ein Holzfäller, der versuchte, ein Mädchen zu vögeln, oder nein, mehr wie ein Baum, der versuchte, ein Mädchen zu vögeln.

Viel später sollten die Leute, die einmal im Camp mit ihm gewesen waren, übereinstimmend sagen, es mache Sinn, dass Goodman Wolf derjenige sei, dessen Leben einen so beunruhigenden Verlauf genommen habe. Natürlich waren sie überrascht, wenn auch nicht so sehr, wie sie versicherten.

Die Wolfs kamen, seit sie zwölf und dreizehn waren, in dieses Sommercamp, das übrigens Spirit-in-the-Woods hieß. Sie waren wichtige Bestandteile davon. Goodman war groß, direkt und verunsichernd, Ash zart und offenherzig, eine Schönheit mit langem, glattem hellbraunen Haar und traurigen Augen. Manchmal nachmittags, mitten im Improvisationskurs, wenn die Klasse sich in einer erfundenen Sprache unterhielt oder muhte und blökte, lief Ash Wolf plötzlich aus dem Theater zurück in ihr leeres Mädchen-Tipi, legte sich aufs Bett, aß Junior Mints und schrieb in ihr Tagebuch.

Ich fange an zu glauben, dass ich zu viel fühle, schrieb Ash zum Beispiel. Die Gefühle fließen wie Wasser in mich hinein, und ich bin ihnen hilflos ausgeliefert.

Heute Abend hatte sich die Fliegentür mit einem Zittern hinter den Jungen geschlossen, und dann waren die drei Mädchen von der anderen Seite des Kiefernwäldchens gekommen. Insgesamt waren sie zu sechst in der spitz nach oben zulaufenden Zeltkonstruktion, die nur von einer einzigen Glühbirne erleuchtet wurde. Den ganzen Sommer über würden sie sich hier so oft wie möglich treffen und die nachfolgenden anderthalb Jahre auch immer wieder in New York City. Einen gemeinsamen Sommer würden sie hier noch haben. Während der etwa dreißig Jahre danach trafen sich nur noch vier von ihnen. Sie trafen sich, wann immer sie konnten, aber natürlich war das etwas völlig anderes.

Julie Jacobson war zu Beginn dieses ersten Abends noch nicht zu der weit besser klingenden Jules Jacobson geworden, die Verwandlung fand erst eine kleine Weile später statt. Als Julie hatte sie sich immer völlig falsch gefühlt. Sie war schlaksig, und ihre Haut lief schon bei der kleinsten Herausforderung rot und fleckig an: wenn sie etwas verlegen machte, wenn sie heiße Suppe aß oder eine halbe Minute in die Sonne ging. Ihr rehfarbenes Haar hatte erst kürzlich im La-Beauté-Salon in Underhill eine Dauerwelle bekommen. Jetzt schämte sie sich für die Pudelfülle auf ihrem Kopf. Die stinkende chemische Prozedur war die Idee ihrer Mutter gewesen. Während des Jahres, in dem ihr Vater starb, war Julie unablässig damit beschäftigt gewesen, an ihren gesplissten Haare zu zwirbeln, und ihr Haar hatte sich wild gekräuselt. Manchmal entdeckte sie ein einzelnes, zahllose Male gespaltenes Haar, und sie riss daran und lauschte dem Knacken, wenn es wie ein winziger Zweig zwischen ihren Fingern brach. Es war ein Gefühl wie ein stiller Seufzer.

Irgendwann sah ihr Haar wie ein geplündertes Nest aus. Ein Haarschnitt und eine Dauerwelle könnten helfen, meinte ihre Mutter, doch als sich Julie im Spiegel des Salons sah, rief sie: »Ach du Scheiße!«, und rannte hinaus auf den Parkplatz. Ihre Mutter lief ihr hinterher und meinte, es werde sich geben und schon morgen nicht mehr so weit abstehen.

»Oh, Schatz, das bleibt nicht so pusteblumig!«, rief Lois Jacobson ihr über die Autos hinweg hinterher.

Jetzt, hier unter diesen Leuten, die seit zwei, drei Jahren in dieses Theater-und-Kunst-Sommercamp in Belknap, Massachusetts kamen, wirkte Julie, die pusteblumige, pudelige Außenseiterin aus dem unbekannten Ort knapp hundert Kilometer östlich von New York City, überraschend spannend. Allein, indem sie hier waren, zu dieser vorbestimmten Zeit in diesem Tipi, verführten sich die sechs gegenseitig mit Größe – oder der Annahme möglicher Größe. Schlummernder Größe.

Jonah Bay zog einen Kassettenrekorder über den Boden, schwer wie ein Atomkoffer. »Ich habe ein paar neue Kassetten«, sagte er. »Wirklich gute akustische Musik. Hört euch nur diesen Riff an, ihr werdet staunen.« Die anderen lauschten pflichtbewusst, weil sie seinem Geschmack vertrauten, auch wenn sie ihn nicht verstanden. Jonah schloss die Augen beim Zuhören, und Julie betrachtete ihn in seinem Zustand der Versenkung. Die Batterien verloren bereits an Kraft, und die Musik schien von einem ertrinkenden Musiker gespielt zu werden, doch Jonah, offenbar ein begabter Gitarrist, gefiel das, und so mochte Julie es auch. Sie nickte mit dem Kopf zum Rhythmus der Musik. Cathy Kiplinger verteilte weitere W & Ts, den eigenen schüttete sie in eine zusammenklappbare Campingtasse von der Sorte, die nie richtig sauber wurde. Jonah meinte, sie sehe aus wie eine Miniaturausgabe des Guggenheim-Museums. »Und das ist nicht als Kompliment gemeint«, fügte er hinzu. »Eine Tasse sollte nicht zusammenklappbar und wieder zu öffnen sein. Es ist bereits ein vollkommenes Objekt.« Wieder nickte Julie, wie zu allem, was gesagt wurde.

Während der ersten Stunde sprachen sie über Bücher, vor allem von unzugänglichen europäischen Schriftstellern. »Günter Grass ist letztlich Gott«, sagte Goodman Wolf, und die beiden anderen Jungen stimmten ihm zu. Julie hatte noch nie von Günter Grass gehört, aber das würde sie niemals zugeben. Sollte sie jemand fragen, würde sie darauf bestehen, dass auch sie Günter Grass liebe, aber, und das wollte sie zu ihrem Schutz mit hinzufügen: »Ich habe nicht so viel von ihm gelesen, wie ich gern hätte.«

»Für mich ist Anaïs Nin Gott«, sagte Ash.

»Wie kannst du das sagen?«, fragte ihr Bruder. »Die ist so voller hochgestochener Mädchenscheiße. Ich hab keine Ahnung, warum die Leute sie lesen. Anaïs Nin ist die schlechteste Autorin, die je gelebt hat.«

»Anaïs Nin und Günter Grass haben beide einen Umlaut im Namen«, bemerkte Ethan. »Vielleicht liegt da der Schlüssel zu ihrem Erfolg. Ich besorge mir auch einen.«

»Wie kommst du dazu, Anaïs Nin zu lesen, Goodman?«, fragte Cathy.

»Ash hat mir gesagt, ich soll was von ihr lesen«, antwortete er. »Und ich mache alles, was meine Schwester sagt.«

»Vielleicht ist Ash ja Gott«, sagte Jonah mit einem schönen Lächeln.

Ein paar von ihnen sagten, sie hätten Taschenbücher mit ins Camp gebracht, die sie für die Schule lesen müssten. Ihre Leselisten für den Sommer ähnelten sich, mit robusten, pubertätsfreundlichen Schriftstellern wie John Knowles und William Golding. »Wenn man sich’s richtig überlegt«, sagte Ethan, »ist der Herr der Fliegen das genaue Gegenteil von Spirit-in-the-Woods. Das eine ist der totale Alptraum und das andere Utopia.«

»Yeah, die sind diametral verschieden«, sagte Jonah, denn das war ein anderer Ausdruck, den er gern benutzte. Aber, dachte Julie, wenn jemand »diametral« sagte, musste dann nicht »verschieden« folgen?

Über die Eltern wurde auch geredet, allerdings weitgehend mit Verachtung. »Ich glaube einfach nicht, dass mich die Trennung meiner Mutter und meines Vaters etwas angeht«, sagte Ethan Figman und saugte nass an seinem Joint. »Die beiden sind komplett mit sich selbst beschäftigt, was bedeutet, dass sie mir so gut wie keine Beachtung schenken. Besser könnte es für mich nicht sein. Obwohl es nicht schlecht wäre, wenn mein Vater hin und wieder was zu essen im Kühlschrank hätte. Wie ich höre, ist es der letzte Schrei, für sein Kind was zu essen zu haben.«

»Komm ins Labyrinth«, sagte Ash, »da wirst du bestens umsorgt.« Julie hatte keine Ahnung, was das Labyrinth sein mochte – ein exklusiver privater Club in der Stadt mit einem langen, gewundenen Eingang? Sie konnte nicht fragen und riskieren, als unwissend dazustehen. Wobei, auch wenn sie nicht wusste, warum gerade sie eingeladen worden war: Dass Ethan Figman hier war, schien genauso unerklärlich. Er war ein unscheinbarer Wicht, und seine Unterarme leuchteten vor lauter Ausschlag wie eine brennende Zündschnur. Ethan zog niemals sein Hemd aus. Die freie Zeit zum Schwimmen jeden Tag verbrachte er unter dem heißen Blechdach des Trickfilm-Schuppens. Sein Lehrer Old Mo Templeton hatte offenbar in Hollywood für Walt Disney persönlich gearbeitet und sah auf schon unheimliche Weise aus wie der alte Gepetto in Disneys Pinocchio.

Als Julie die Wirkung von Ethan Figmans nass gelutschtem Joint spürte, stellte sie sich vor, wie sich sein Speichel mit ihrem auf der Zellebene verband, und das widerte sie so an, dass sie lachen musste und dachte: Wir sind alle nicht mehr als ein wimmelnder, in sich zusammenfallender Zellhaufen. Ethan, stellte sie fest, sah sie eindringlich an.

»Hmm«, sagte er.

»Was?«

»Verräterisches insgeheimes Kichern. Du da drüben solltest es vielleicht etwas ruhiger angehen lassen.«

»Ja, vielleicht sollte ich das«, sagte Julie.

»Ich behalte dich im Auge.«

»Danke«, sagte sie, und Ethan wandte sich wieder den anderen zu. In ihrem unsicheren berauschten Zustand hatte sie das Gefühl, dass Ethan sich zu ihrem Beschützer gemacht hatte. Sie blieb bei ihren berauschten Gedanken und sah eine Collage menschlicher Zellen das Tipi füllen und diesen hässlichen, freundlichen Jungen formen, das gewöhnliche Nichts, das sie selbst war, das hübsche, zarte Mädchen gegenüber von ihr, den ungewöhnlich anziehenden Bruder des schönen Mädchens, den leise sprechenden, sanften Sohn einer berühmten Folksängerin und zu guter Letzt auch die sexuell selbstbewusste, etwas sperrige Tänzerin mit der blonden Haarmähne. Sie alle waren nichts als zahllose Zellen, die sich verbunden hatten, um diese besondere Gruppe zu formen – und Julie Jacobson, dieses unscheinbare Nichts, liebte diese Gruppe, wie sie plötzlich beschloss. Sie war in sie verliebt und würde es für den Rest ihres Lebens bleiben.

Ethan sagte: »Wenn meine Mutter meinen Vater verlassen und meinen Kinderarzt vögeln will, wollen wir hoffen, dass er sich die Hände mit Seife gewaschen hat, nachdem er die Finger im Arsch eines Kindes stecken hatte.«

»Moment mal, Figman, wir müssen also annehmen, dass dein Kinderarzt seinen Patienten die Finger in den Arsch schiebt, deinen eingeschlossen?«, sagte Goodman. »Ich hasse es, das sagen zu müssen, Mann, aber das darf er nicht. Das ist gegen den hippokratischen Eid. Du weißt schon: Erstens, keine Finger in den Arsch.«

»Nein, das macht er nicht. Ich wollte nur eklig sein, damit ihr mir zuhört«, sagte Ethan. »So bin ich eben.«

»Okay, kapiert: Dich ekelt die Trennung deiner Eltern also an«, sagte Cathy.

»Was Ash und ich nicht wirklich nachvollziehen können«, sagte Goodman, »weil unsere Eltern so glücklich wie frisch Verheiratete sind.«

»Ja. Mom und Dad geben sich vor unseren Augen praktisch Zungenküsse«, sagte Ash, tat angewidert und klang doch stolz.

Julie hatte die Wolfs am ersten Tag des Camps kurz gesehen, und die beiden hatten einen kraftvollen, jugendlichen Eindruck auf sie gemacht. Gil war Investmentbanker bei der neuen Firma Drexel Burnham und Betsy, seine künstlerisch interessierte, hübsche Frau, offenbar eine ambitionierte Köchin.

»Du tust so, Figman«, fuhr Goodman fort, »als wäre dir deine Familie scheißegal, tatsächlich aber ist sie das nicht. Ich denke, du leidest unter ihr.«

»Nicht dass ich das Gespräch von der Tragödie meines kaputten Elternhauses abbringen möchte«, sagte Ethan, »aber es gibt weit größere Tragödien, über die wir reden könnten.«

»Zum Beispiel?«, fragte Goodman. »Dein komischer Name?«

»Oder das Massaker von My Lai«, sagte Jonah.

»Oh, der Sohn der Folksängerin kommt auf Vietnam, wann immer es geht«, sagte Ethan.

»Schnauze«, sagte Jonah, doch er war nicht sauer.

Einen Moment lang waren alle still. Es war verblüffend schwer zu sagen, wie man sich verhalten sollte, wenn Grausamkeit plötzlich auf Ironie traf. Offenbar machte man am besten eine Pause, wartete und fing dann mit etwas anderem neu an, auch wenn es schrecklich war. Ethan sagte: »Nur um das klarzustellen: Ethan Figman ist kein so fürchterlicher Name. Goodman Wolf ist viel schlimmer. So heißen Puritaner. Goodman Demut Wolf, Ihr werdet am Silo verlangt.«

In ihrem bekifften Zustand dachte Julie, das sei alles Ulk oder das, was in ihrem Alter als Ulk durchging. Das geistige Level war nicht sehr hoch, aber der Geist war aktiviert und bereitete sich auf seinen Einsatz vor.

»An der Schule unserer Cousine in Pennsylvania«, sagte Ash, »gibt es ein Mädchen, das Crema Seamans heißt.«

»Das erfindest du jetzt«, sagte Cathy.

»Nein, tut sie nicht«, sagte Goodman. »Es stimmt.« Ash und Goodman wirkten plötzlich aufrichtig und ernst. Falls sie eine gemeinsame geschwisterliche Nummer abzogen, hatten sie eine überzeugende Masche entwickelt.

»Crema Seamans«, wiederholte Ethan nachdenklich. »Das klingt wie eine Suppe aus verschiedenen … Samenflüssigkeiten. Ein Sperma-Medley. Den Geschmack musste Campbell’s sofort wieder aus dem Angebot nehmen.«

»Hör auf, Ethan, du bist mal wieder komplett eklig«, sagte Cathy Kiplinger.

»Nun, Ethan ist Künstler«, sagte Goodman.

Alle lachten, und dann sprang Goodman ohne jede Vorwarnung von seinem oberen Bett und brachte das ganze Tipi zum Wackeln. Mit einem Satz stand er auf dem Fußende von Cathy Kiplingers Bett, genauer gesagt auf ihren Füßen, sodass sie sich verärgert aufsetzte.

»Was soll das?«, fragte sie. »Du zerquetschst mir die Füße. Und du riechst. Gott, was ist das, Goodman? Cologne?«

»Ja. Es heißt Canoe.«

»Also, ich find’s eklig.« Aber sie stieß ihn nicht weg. Er blieb stehen und griff nach ihrer Hand.

»Widmen wir Crema Seamans einen Augenblick der Andacht«, hörte sich Julie sagen. Nicht ein Wort hatte sie heute Abend sagen wollen, und kaum dass sie sprach, fürchtete sie, einen Fehler gemacht zu haben. Sie sollte sich da nicht hineinbegeben. In was, dachte sie. In sie. Aber vielleicht hatte sie ja auch keinen Fehler gemacht. Die anderen sahen sie aufmerksam an, schätzten sie ab.

»Das Mädchen aus Long Island spricht«, sagte Goodman.

»Goodman, die Bemerkung lässt dich irgendwie schrecklich wirken«, sagte seine Schwester.

»Ich bin irgendwie schrecklich.«

»Nun, es lässt dich irgendwie nazi-schrecklich wirken«, sagte Ethan. »Als benutztest du eine Art Code, um alle daran zu erinnern, dass Julie Jüdin ist.«

»Ich bin auch Jude, Figman«, sagte Goodman. »Genau wie du.«

»Nein, bist du nicht«, sagte Ethan. »Denn auch wenn dein Vater Jude ist, deine Mutter ist es nicht. Du brauchst eine jüdische Mutter, sonst werfen sie dich in den Abgrund.«

»Die Juden? Die sind nicht gewalttätig. Die Juden haben das My-Lai-Massaker nicht auf dem Gewissen. Im Übrigen habe ich nur Spaß gemacht«, sagte Goodman. »Jacobson weiß das, oder? Ich habe sie nur etwas hochgenommen, stimmt’s, Jacobson?«

Jacobson. Es war aufregend zu hören, wie er sie so nannte, obwohl sie nie gedacht hätte, dass das ein Junge tun würde. Goodman sah sie an, und sie musste sich zurückhalten, um nicht aufzustehen, die Hand auszustrecken und die Weiten seines goldenen Gesichts zu berühren. Sie war einem Jungen, der so großartig aussah wie er, noch nie so lange so nahe gewesen. Julie wusste nicht, was sie tat, als sie ihre Tasse erneut hob, aber er sah sie immer noch an, wie alle anderen auch.

»Oh, Crema Seamans, wo immer du seiest«, sagte sie laut, »dein Leben wird tragisch enden. Viel zu früh wirst du einem Unfall zum Opfer fallen … einem Unfall mit einem Tier-Entsamungsgerät.« Das war eine zweideutige, unsinnige Bemerkung mit einem erfundenen Wort, doch überall aus dem Tipi kamen anerkennende Geräusche.

»Seht ihr, ich wusste, ich habe sie nicht ohne Grund eingeladen«, sagte Ash und wandte sich an die anderen. »Entsamung, weiter so, Jules!«

Jules. Da war sie, genau in diesem Moment: die mühelose Verschiebung, die alles veränderte. Die schüchterne, unbedeutende Julie Jacobson, die zum ersten Mal in ihrem Leben zustimmendes Johlen geerntet hatte, war plötzlich, leichthin zu Jules geworden, was ein weit besserer Name für eine sich unbeholfen fühlende Fünfzehnjährige war, die verzweifelt nach Beachtung lechzte. Die Leute hier hatten keine Ahnung, wie sie normalerweise genannt wurde. Während der ersten Tage im Camp hatten sie kaum von ihr Notiz genommen, obwohl sie, die Neue, natürlich alle genau studiert hatte. In einer neuen Umgebung war es möglich, zu jemand anderem zu werden. Jules, hatte Ash sie genannt, und sofort folgten ihr alle anderen. Julie war jetzt Jules und würde es immer bleiben.

Jonah Bay zupfte an den Saiten der alten Gitarre seiner Mutter. Susannah Bay hatte in den späten Fünfzigern in diesem Camp Gitarrenunterricht gegeben, bevor ihr Sohn geboren wurde. Seitdem tauchte sie jeden Sommer unverhofft auf, auch nachdem sie berühmt geworden war, und gab ein improvisiertes Konzert. Offenbar würde es in diesem Sommer nicht anders sein. Niemand wusste, wann sie kam, nicht einmal ihr Sohn, aber sie kam. Jonah spielte ein paar vorbereitende Töne, gefolgt von einem raffinierten Zupfen, dabei schien er seinem Tun kaum Beachtung zu schenken. Er gehörte zu den Menschen, deren musikalische Fähigkeiten völlig mühelos und ungezwungen wirkten, wie angeboren.

»Wow«, sagte Jules oder formte das Wort wenigstens mit den Lippen – sie war nicht sicher, ob sie ihm einen Ton verlieh, während sie Jonah zusah. Jules stellte sich vor, dass er in ein paar Jahren so berühmt wie seine Mutter sein würde. Susannah Bay würde ihn in ihre Welt ziehen, ihn auf die Bühne rufen, es war unvermeidlich. Im Moment schien es so, als wollte er eines der Lieder seiner Mutter anstimmen, zum Beispiel The Wind Will Carry Us, doch stattdessen spielte er Amazing Grace zu Ehren des Mädchens aus der Schule von Goodman und Ash Wolfs Cousine in Pennsylvania, ob es nun existierte oder nicht.

Sie hatten kaum mehr als eine Stunde zusammengesessen, dann kam eine der abendlichen Patrouillen ins Zelt, eine kurzhaarige Weblehrerin und Rettungsschwimmerin aus Island namens Gudrun Sigurdsdottir. Gudrun hatte eine klobige, unzerstörbare Stablampe dabei, die aussah, als wäre sie dazu gedacht, beim nächtlichen Eisfischen benutzt zu werden. Gudrun warf einen Blick in die Runde und sagte: »Also dann, meine jungen Freunde, ich stelle fest, dass ihr Pot geraucht habt. Das ist absolut nicht cool, auch wenn ihr es vielleicht annehmt.«

»Sie irren sich, Gudrun«, sagte Goodman. »Das ist nur der Geruch von meinem Canoe.«

»Wie bitte?«

»Von meinem Cologne.«

»Nein, nein. Ich würde sagen, ihr feiert hier eine Pot-Party«, fuhr Gudrun fort.

»Nun«, sagte Goodman. »Richtig ist, dass es eine pflanzliche Komponente gab. Aber jetzt, da Sie uns auf unseren Fehler aufmerksam gemacht haben, wird so etwas nicht wieder vorkommen.«

»Das mag ja so sein, aber ihr verkehrt auch mit dem anderen Geschlecht«, sagte Gudrun.

»Wir verkehren nicht«, sagte Cathy Kiplinger, die sich auf dem Bett neben Goodman aufgesetzt hatte. Beiden schien es nichts zu machen, so nahe beieinander gesehen zu werden.

»Nein? Dann sage mir doch bitte, was ihr hier macht!«

»Wir halten eine Versammlung ab«, sagte Goodman und stützte sich auf einen Ellbogen.

»Ich weiß, wann ich zum Besten gehalten werde«, sagte Gudrun.

»Doch, das stimmt. Wir haben eine Gruppe gebildet, und die wird unser Leben lang bestehen«, sagte Jonah.

»Nun«, sagte Gudrun, »ich möchte nicht, dass ihr nach Hause geschickt werdet, also brecht das jetzt ab. Und ihr Mädchen geht bitte sofort zurück auf eure Seite hinter den Kiefern.«

So traten die drei Mädchen hinaus und ließen das Tipi in einem langsamen, losen Verbund hinter sich, den Strahl ihrer Taschenlampen auf den Weg vor sich gerichtet. Jules lief den Pfad entlang, hörte jemanden »Julie?« sagen, blieb stehen und drehte sich um. Der Lichtkegel ihrer Lampe fiel auf Ethan Figman, der ihr gefolgt war. »Ich meine, Jules«, sagte er, »ich war nicht sicher, wie du lieber genannt wirst.«

»Jules ist okay.«

»Gut. Also, Jules?« Ethan kam näher und blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie das Gefühl hatte, in ihn hineinsehen zu können. Die anderen Mädchen gingen ohne sie weiter. »Bist du nicht mehr ganz so high?«, fragte er.

»Nein, es geht wieder, danke.«

»Es sollte eine Kontrollmöglichkeit dafür geben. Einen Knopf seitlich am Kopf, den man drehen kann.«

»Das wäre gut«, sagte sie.

»Kann ich dir etwas zeigen?«, fragte er.

»Deinen Kopfknopf?«

»Ha, ha. Nein. Komm mit, es geht schnell.«

Sie ließ sich den Hügel hinunter zum Trickfilm-Schuppen führen. Ethan Figman öffnete die unverschlossene Tür. Drinnen roch es nach Plastik, leicht verbrannt, und Ethan schaltete das Neonlicht ein, das den Raum stotternd in seiner ganzen Pracht zeigte. Überall hingen Zeichnungen: Zeugnisse der Arbeit dieses absonderlich begabten Fünfzehnjährigen, und hier und da fiel auch etwas Aufmerksamkeit für die Arbeit der anderen Trickfilmschüler ab.

Ethan fädelte einen Film in einen Projektor und schaltete das Licht aus. »Also«, sagte er, »was ich dir gleich zeige, ist der Inhalt meines Gehirns. Schon als kleines Kind habe ich nachts im Bett gelegen und mir einen Trickfilm vorgestellt, der in meinem Kopf spielt. Die Geschichte ist folgende: Da ist dieser schüchterne kleine Junge namens Wally Figman. Er lebt bei seinen sich ständig streitenden, schrecklichen Eltern, und er hasst sein Leben. Also holt er jeden Abend, wenn er endlich allein in seinem Zimmer ist, einen Schuhkarton unter dem Bett hervor, und in dem ist dieser winzig kleine Planet, eine Parallelwelt namens Figland.« Er sah sie an. »Soll ich weitererzählen?«

»Natürlich«, sagte sie.

»Eines Abends findet Wally Figman heraus, dass er die Fähigkeit besitzt, in den Schuhkarton hineinzuschlüpfen. Sein Körper schrumpft zusammen, und er tritt in die kleine Welt ein, in der er plötzlich kein unscheinbarer Winzling mehr ist, sondern ein erwachsener Mann, der Figland kontrolliert. Im Fighaus – da wohnt der Präsident – sitzt eine korrupte Regierung, und Wally muss das in Ordnung bringen. Oh, und habe ich schon gesagt, dass der Film komisch ist? Es ist eine Komödie. Oder soll wenigstens eine sein. Du verstehst schon, denke ich. Oder vielleicht auch nicht.« Jules wollte antworten, doch Ethan redete nervös immer weiter. »Egal, das ist auf jeden Fall Figland, und ich weiß nicht mal, warum ich dir den Film zeigen will, aber ich tu’s, und jetzt geht es los«, sagte er. »Ich hatte heute Abend im Tipi die Idee, es könnte die vage Möglichkeit geben, dass du und ich, dass wir etwas gemeinsam haben. Du weißt schon, ein Einfühlungsvermögen, und dass du den Film vielleicht magst. Aber ich warne dich, vielleicht hasst du ihn auch. Sei auf jeden Fall ehrlich. So in der Art«, sagte er mit einem nervösen Lachen.

Auf dem Laken an der Wand leuchtete das helle Rechteck eines Trickfilms auf. FIGLAND stand da zu lesen, und Comicfiguren begannen herumzuhüpfen und zu plappern, und ihre Stimmen klangen alle ein wenig wie die von Ethan. Die Wesen auf dem Planeten Figland waren entweder wurmartig, phallisch oder misstrauisch schielend, auf jeden Fall aber hinreißend, während Ethan selbst im überschüssigen Licht des Projektors anrührend hässlich aussah und die fleckige, raue Haut auf seinem Arm ihren eigenen dermatologischen Cartoon zu tragen schien. Die Wesen auf Figland fuhren Straßenbahn, spielten an Straßenecken Akkordeon, und ein paar brachen ins Figmangate Hotel ein. Die Dialoge waren gleichzeitig böse und witzig. Ethan hatte eine Figland-Ausgabe von Spirit-in-the-Woods geschaffen, mit jüngeren Versionen seiner Personen in einem Sommercamp. Jules sah, wie sie ein Lagerfeuer entzündeten, sich zu zweit davonschlichen, um zu knutschen, und einmal schliefen sogar zwei miteinander. Die buckelnden, ruckenden Bewegungen und der Schweiß, der durch die Luft spritzte und Anstrengung zeigen sollte, waren ihr endlos peinlich, aber die Peinlichkeit wurde gleich von Ehrfurcht überdeckt. Kein Wunder, dass Ethan hier im Camp so geliebt wurde. Er war ein Genie, das sah sie jetzt. Sein Film war faszinierend – sehr schlau und sehr witzig. Dann war er zu Ende, und das Ende der Filmspule schlug gegen das Gehäuse des Projektors.

»Gott, Ethan«, sagte Jules zu ihm, »das ist toll – und irrsinnig witzig.«

Ethan strahlte sie an, offen und unkompliziert. Es war ein bedeutender Augenblick für ihn, aber sie verstand nicht, warum. Unglaublicherweise schien ihm ihre Meinung wichtig zu sein. »Du findest ihn wirklich gut?«, fragte er. »Ich meine, nicht einfach nur technisch gut, weil da gibt es viele. Du solltest nur sehen, was Old Mo Templeton kann. Er ist so eine Art Ehrenmitglied von Disneys ›neun alten Männern‹. Wenn man so will, ist er der zehnte.«

»Das ist wahrscheinlich wirklich dumm von mir«, sagte Jules, »aber ich weiß nicht, was das bedeutet.«

»Oh, das weiß hier keiner. Es gab neun Trickfilmzeichner, die mit Walt Disneys die großen Klassiker gemacht haben, Filme wie Schneewittchen. Mo kam später dazu, aber er war offenbar bei vielen Sachen dabei. In den Sommern, in denen ich hier war, hat er mir alles beigebracht, und ich meine alles.«

»Das sieht man«, sagte Jules. »Ich finde es toll.«

»Die Stimmen sind auch alle von mir«, sagte Ethan.

»Das habe ich gemerkt. Man könnte den Film im Kino zeigen oder im Fernsehen. Er ist wundervoll.«

»Das macht mich so froh«, sagte Ethan. Er stand lächelnd vor ihr, und sie lächelte ebenfalls. »Was soll man da sagen?«, fuhr er mit sanfterer, belegter Stimme fort. »Du findest ihn toll. Jules Jacobson findet meinen Film toll.« Und während sie es noch genoss, den fremden Namen laut ausgesprochen zu hören, und während ihr bewusst wurde, dass sie sich damit weit besser fühlte als mit der dummen, alten Julie Jacobson, tat Ethan etwas absolut Erstaunliches: Er schob seinen dicken Kopf auf sie zu, drängte mit seinem massigen Körper nach und drückte sich von Kopf bis Fuß an sie. Sein Mund legte sich auf ihren. Sie hatte schon gespürt, dass er nach Pot roch, doch so ganz aus der Nähe war es noch schlimmer, da dünstete er etwas Pilziges, Fiebriges, Überreifes aus.

Sie zuckte mit dem Kopf zurück und sagte: »Moment mal, was?« Er hatte sich wahrscheinlich überlegt, dass sie sich irgendwie ähnlichen waren: Er war beliebt, aber etwas eklig, sie war noch neu, kraushaarig und unscheinbar, hatte jedoch bereits die Aufmerksamkeit und Zustimmung der anderen erlangt. Sie konnten sich zusammentun, sie konnten sich verbinden. Die Leute würden sie als Paar akzeptieren, es würde sowohl logisch als auch ästhetisch Sinn ergeben. Auch wenn sie ihren Kopf von seinem gelöst hatte, drückte sein Körper immer noch gegen ihren, und er fühlte sich wie ein Klumpen an – »ein Klumpen Kohle«, könnte sie den anderen Mädchen in ihrem Tipi sagen und sie so zum Lachen bringen. »Es war ähnlich wie … Wie heißt das Gedicht aus der Schule noch? Meine letzte Herzogin?«, würde sie sagen, um so auch gleich etwas Wissen zu demonstrieren. »Es war wie Mein erster Penis.« Jules wich einige Zentimeter von Ethan zurück, sodass sie sich nicht mehr berührten. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie. Ihr Gesicht glühte. Es musste an etlichen Stellen rot geworden sein.

»Ach, vergiss es«, sagte Ethan mit heiserer Stimme, und sie sah, wie sich sein Ausdruck änderte, als hätte er kurzerhand beschlossen, in seinen Selbstschutz-Ironie-Modus zu schalten. »Dir muss nichts leidtun. Ich denke, ich finde schon einen Weg, mit meinem Leben klarzukommen. Einen Weg, mich nicht gleich umzubringen, weil du nicht mit mir rumknutschen wolltest, Jules.« Sie sagte nichts, sondern sah hinunter auf ihre gelben Clogs auf dem staubigen Schuppenboden. Eine Sekunde lang dachte sie, er würde sich wütend abwenden und sie dort stehen lassen, und dass sie dann allein durch das Wäldchen zurückmüsste. Jules sah sich über herausstehende Baumwurzeln stolpern, und am Ende würde Gudrun Sigurdsdottir mit ihrer schweren Stablampe nach ihr suchen und sie finden, wie sie zitternd an einen Baum gelehnt dahockte. Aber Ethan sagte: »Ich will deswegen kein Theater machen. Ich meine, seit Anbeginn der Zeit sind Leute von anderen zurückgewiesen worden.«

»Ich habe noch nie im Leben jemanden zurückgewiesen«, sagte Jules mit fester Stimme. »Obwohl«, fügte sie hinzu, »ich so was auch noch nie jemandem erlaubt habe. Was ich meine, ist, ich war noch nie in so einer Situation.«

»Oh«, sagte er. Er stapfte neben ihr den Hügel hinauf. Oben angekommen, wandte er sich ihr zu, und sie rechnete mit einer sarkastischen Bemerkung, doch er sagte nur: »Vielleicht liegt es gar nicht an mir, dass du es nicht mit mir tun willst.«

»Wie meinst du das?«

»Du sagst, du hast noch nie jemanden zurückgewiesen oder es einem erlaubt«, sagte er. »Du bist also völlig unerfahren und deshalb vielleicht nur nervös. Deine Nervosität könnte deine wirklichen Gefühle verbergen.«

»Glaubst du das?«, fragte sie zweifelnd.

»Es könnte sein. Das geht Mädchen manchmal so«, sagte er übertrieben erfahren. »Ich mache dir einen Vorschlag.« Jules wartete. »Überleg es dir noch einmal«, sagte Ethan. »Verbring mehr Zeit mit mir, und wir sehen, was geschieht.«

Es war eine vernünftige Bitte. Sie konnte mehr Zeit mit Ethan Figman verbringen und mit dem Gedanken spielen, Teil eines Paares zu werden. Ethan war etwas Besonderes, und ihr gefiel es, dass er sie ausgesucht hatte. Er war ein Genie, und das zählte bei ihr eine ganze Menge, wie sie begriff. »Also gut«, sagte sie schließlich.

»Danke«, sagte Ethan und fügte fröhlich hinzu: »Fortsetzung folgt.«

Er brachte sie bis zu ihrem Zelt. Jules ging hinein, stand da und machte sich bettfertig. Sie zog ihr T-Shirt aus und öffnete den BH. Auf der anderen Seite des Tipis lag Ash Wolf bereits im Bett. Ihr Schlafsack war mit rotem Flanell gefüttert und mit lassoschwingenden Cowboys bedruckt. Jules nahm an, dass er einmal ihrem Bruder gehört hatte.

»Wo warst du noch?«, fragte Ash.

»Oh, Ethan Figman wollte mir einen seiner Filme zeigen. Und dann haben wir angefangen zu reden, und es wurde … Es ist schwer zu erklären.«

Ash sagte: »Das klingt ja geheimnisvoll.«

»Nein, es war nichts«, sagte Jules. »Ich meine, es war was, aber es war merkwürdig.«

»Ich weiß, wie sie sind«, sagte Ash.

»Wer?«

»Diese merkwürdigen Momente. Das Leben ist voll von ihnen«, sagte Ash.

»Wie meinst du das?«

»Nun«, sagte Ash, stand auf und setzte sich neben Jules. »Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass man sich während seines ganzen Lebens auf die großen Momente vorbereitet, verstehst du? Aber wenn sie dann da sind, fühlt man sich manchmal total unvorbereitet, oder sie sind nicht so, wie man gedacht hat. Und das ist es, was sie merkwürdig macht. Die Wirklichkeit ist ganz anders als die Fantasie.«

»Das stimmt«, sagte Jules. »Genauso ging es mir eben.« Überrascht sah sie das hübsche Mädchen neben sich an. Es schien, dass Ash sie verstand, dabei hatte Jules ihr gar nichts erzählt. Der ganze Abend bekam eine außergewöhnliche Bedeutung – oder viele verschiedene außergewöhnliche Bedeutungen.

Ein erster Kuss, hatte Jules gedacht, sollte einen wie ein Magnet mit der anderen Person verbinden, und Magnet und Metall sollten in einem zischenden Gebräu aus Silber und Rot verschmelzen. Der Kuss eben hatte nichts dergleichen getan. Jules hätte Ash gern alles darüber erzählt, und sie begriff, dass so eine Freundschaft begann: Eine Person gesteht einen Moment der Merkwürdigkeit, und die andere Person beschließt, zuzuhören und die Situation nicht auszunutzen. Jules und Ash wurden Freunde. Sie sprachen auf diese indirekte Weise miteinander über sich selbst, und dann versuchte Ash, sich an einem Mückenstich auf ihrem Schulterblatt zu kratzen, kam aber kaum heran und bat Jules, etwas Galmei-Lotion daraufzustreichen. Ash zog sich den Ausschnitt ihres Nachthemds herunter, und Jules tupfte etwas von der hellrosa Flüssigkeit auf den Stich. Sie roch wie nichts sonst, appetitlich und penetrant zugleich.

»Warum, glaubst du, riecht dieses Galmei-Zeugs so?«, fragte Jules. »Meinst du, es riecht wirklich so, oder haben den Geruch nur ein paar Chemiker in einem Labor zufällig für die Tinktur ausgesucht, und jetzt denken alle, so riecht Galmei nun mal?«

»Keine Ahnung«, sagte Ash.

»Vielleicht ist es wie mit Ananasbonbons«, sagte Jules.

»Wovon redest du?«

»Na ja, die schmecken überhaupt nicht nach Ananas, aber wir haben uns so an sie gewöhnt, dass wir denken, so schmeckt Ananas, verstehst du? Und an richtige Ananas denkt kein Mensch mehr. Höchstens vielleicht noch auf Hawaii.« Sie machte eine Pause und sagte: »Ich würde irrsinnig gerne mal Poi probieren. Schon seit ich in der vierten Klasse zum ersten Mal davon gehört habe. Man isst es mit den Händen.«

Ash sah sie an und begann zu lächeln. »Das sind seltsame Überlegungen, Jules«, sagte sie. »Aber auf eine gute Weise. Du bist witzig«, fügte sie nachdenklich gähnend hinzu. »Alle haben das heute Abend gedacht.« Jules’ Witzigkeit schien Ash Wolf entgegenzukommen. Es war genau das, was sie, neben der Galmei-Lotion, von Jules brauchte. In Ashs Familie und Welt war alles perfekt und glatt, und hier gab es ein witziges Mädchen, das in seiner Unbeholfenheit und Eifrigkeit amüsant, tröstend und wirklichrührend war. Die anderen Mädchen im Tipi führten ihre eigenen Gespräche, gleich neben ihnen, doch Jules hörte kaum, was sie sagten. Sie waren nichts als ein Hintergrundgeräusch, das wahre Drama spielte sich zwischen ihr und Ash Wolf ab. »Du schaffst es noch, dass ich vor Lachen durchdrehe«, sagte Ash. »Aber versprich mir, dass du mich nicht zum Durchdrehen bringst.« Jules wusste nicht, was sie meinte, doch dann begriff sie: Ash hatte ihrerseits einen Witz machen wollen, ein Wortspiel. »Ich meine … mach mich nicht wahnsinnig«, erklärte Ash, und Jules lächelte höflich und versprach, das werde sie nicht.

Jules dachte an die Mädchen, mit denen sie zu Hause befreundet war, an ihre Milde, ihre Treue. Sie sah sie vor sich, wie sie in der Schule zu ihren Spinden gingen, das Haar trugen sie mit Spangen gebändigt oder in wilden Dauerwellen, ihre Cordjeans machten beim Gehen ein leise reibendes Geräusch. Sie sah sie alle vor sich, unbemerkt und unsichtbar. Es war, als verabschiedete sie sich von diesen Mädchen hier in diesem Zelt mit Ash Wolf auf ihrem Bett.

Der Beginn ihrer Freundschaft wurde kurz von Cathy Kiplinger unterbrochen, die ins Tipi kam, ihren großen, komplizierten BH auszog und ihre beiden Frauenbrüste befreite. Jules dachte, dass diese Kugeln genauso wenig in dieses konisch geformte Tipi passten wie ein eckiger Pflock in ein rundes Loch. Jules wünschte, dass Cathy nicht hier bei ihnen wäre und auch Jane Zell nicht und die düster dreinblickende Nancy Mangiari, die manchmal Cello spielte, als wäre sie auf einer Kinderbeerdigung.

Wäre sie allein mit Ash hier zusammen gewesen, hätte sie ihr alles erzählt. Aber sie waren von den anderen umgeben, und jetzt reichte Cathy Kiplinger in ihrem langen rosa T-Shirt einen Heidelbeerkuchen herum, den sie nachmittags in der Bäckerei im Ort gekauft hatte, und dazu eine verbogene Gabel aus dem Speisesaal. Jemand – war es die stille Nancy oder vielleicht Cathy? – sagte: »Gott, der schmeckt wie Sex!«, und alle lachten, auch Jules, die sich fragte, ob Sex, wenn er wirklich gut war, tatsächlich ein Genuss wie ein Heidelbeerkuchen war, so klebrig und so weich.

Das Thema Ethan Figman war damit für den Abend gestorben. Der Kuchen machte ein paarmal die Runde, alle bekamen blaue Lippen, wie ein eigener Stamm, und dann legten sie sich in ihre Betten, und Jane Zell erzählte ihnen von ihrer Zwillingsschwester, die unter einer furchterregenden neurologischen Störung litt und sich manchmal wieder und wieder ins Gesicht schlug.

»O mein Gott«, sagte Jules, »wie schrecklich!«

»Sie sitzt völlig ruhig da«, sagte Jane, »und plötzlich fängt sie an, sich zu ohrfeigen. Wo immer wir hingehen, macht sie eine Szene, und die Leute flippen aus, wenn sie es sehen. Es ist fürchterlich, aber ich habe mich daran gewöhnt.«

»Man gewöhnt sich an alles«, sagte Cathy, und die anderen stimmten ihr zu. »Ich zum Beispiel tanze«, fuhr Cathy fort, »aber ich habe diese riesigen Brüste. Es ist, als trüge ich Postsäcke mit mir herum. Aber was soll ich machen? Ich will trotzdem tanzen.«

»Und du solltest tun, was du willst«, sagte Jules. »Wir alle sollten in unserem Leben versuchen zu tun, was wir wollen«, fügte sie mit plötzlicher, unerwarteter Überzeugung hinzu. »Ich meine, wozu sonst der ganze Aufwand?«

»Nancy, warum holst du nicht dein Cello und spielst uns etwas vor?«, sagt Ash. »Etwas mit Atmosphäre. Etwas Stimmungsvolles.«

Obwohl es bereits spät war, holte Nancy ihr Cello aus der Gepäckecke, setzte sich mit weit geöffneten Beinen aufs Bett und spielte voller Konzentration den ersten Satz einer Cello-Suite von Benjamin Britten. Cathy kletterte auf eine Truhe, den Kopf gefährlich nahe an der schrägen Decke, und begann, sich mit den langsamen, freien Bewegungen einer Go-go-Tänzerin in einem Käfig zu winden. »So mögen es die Jungs«, sagte Cathy selbstbewusst. »Sie wollen sehen, wie du dich bewegst. Sie wollen deine Brüste hin und her schwingen sehen, als könntest du sie damit vor den Kopf schlagen und ausknocken. Sie wollen, dass du dich verhältst, als hättest du Macht, obwohl du weißt, dass sie gewinnen würden, wenn es zum Kampf käme. Sie sind so durchschaubar, du musst nur ein bisschen mit den Hüften wackeln, dich im richtigen Rhythmus wiegen, und schon hast du sie in der Hand. Dann sind sie wie Zeichentrickfiguren, denen die Augäpfel an Federn aus dem Kopf springen. So wie bei Ethans Filmhelden.« Wie eine Schlange bewegte sich ihr Körper unter dem rosa T-Shirt, und hin und wieder schob sich der Stoff so hoch, dass eine Andeutung von Schamhaardunkelheit sichtbar wurde.

»Wir sind das Moderne-Musik-und-Porno-Tipi!«, rief Nancy begeistert. »Ein Rundum-Service-Tipi, das die künstlerischen und die perversen Bedürfnisse jedes Mannes befriedigt!«

Die Mädchen waren in Hochstimmung, überdreht. Die schlichte Musik und das Lachen trieben aus dem Zelt und wanden sich zwischen den Bäumen hindurch hinüber zu den Jungen, eine Nachricht in der Dunkelheit, vor der Nachtruhe. Jules überlegte, dass sie nichts mit Ethan Figman gemeinsam hatte. Aber sie war auch nicht wie Ash Wolf. Sie existierte irgendwo auf der Achse zwischen Ethan und Ash, weniger widerwärtig, aber auch weniger begehrenswert – weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmt. Es war richtig gewesen, sich nicht auf Ethans Seite zu schlagen, einfach nur, weil er es wollte. Wie er gesagt hatte: Ihr musste nichts leidtun.

Während der nächsten paar Wochen des zweimonatigen Camps verbrachten Ethan und Jules viel Zeit miteinander. Wenn sie nicht mit Ash zusammen war, dann mit ihm. Einmal saßen sie im abendlichen Dämmerlicht am Swimmingpool, um den Kamin des großen grauen Hauses der Wunderlichs auf der anderen Seite der Straße schwirrten Fledermäuse, und sie erzählte ihm vom Tod ihres Vaters. »Wow, erst zweiundvierzig war er?«, fragte Ethan und schüttelte den Kopf. »Himmel, Jules, das ist noch so jung, und es ist so traurig, dass du ihn nie wiedersehen wirst. Er war dein Dad. Wahrscheinlich hat er dir all die kleinen Liedchen vorgesungen, oder?«

»Nein«, sagte Jules und ließ die Finger durchs kalte Wasser fahren. Aber da erinnerte sie sich plötzlich, dass ihr Vater doch einmal ein Lied für sie gesungen hatte. »Halt«, sagte sie überrascht. »Einmal schon. Ein Volkslied.«

»Welches?«

Sie begann, mit unsicherer Stimme zu singen:

»Just a little rain falling all around,

The grass lifts its head to the heavenly sound,

Just a little rain, just a little rain,

What have they done to the rain?«

Sie hielt unvermittelt inne. »Sing weiter«, sagte Ethan, und Jules fuhr verlegen fort:

»Just a little boy standing in the rain,

The gentle rain that falls for years.

And the grass is gone,

The boy disappears,

And rain keeps falling like helpless tears,

And what have they done to the rain?«

Als sie fertig war, sah Ethan sie immer noch an. »Das schafft mich«, sagte er. »Deine Stimme, der Text, alles zusammen. Du weißt, worum es in dem Lied geht, oder?«

»Um den sauren Regen, denke ich«, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Atomversuche.«

»Weißt du eigentlich alles?«

Er zuckte erfreut mit den Schultern. »Ach«, sagte er, »ich kenne das Lied aus der Zeit, als es herauskam. Da war Kennedy Präsident, und die Regierung hat all die überirdischen Atomversuche gemacht. Dadurch kam Strontium 90 in die Atmosphäre, und der Regen hat es auf die Erde gespült, wo es ins Gras drang und von den Kühen gefressen wurde, und die haben Milch gegeben, die von Kindern getrunken wurde. Von kleinen radioaktiven Kindern. Es war ein Protestlied. War dein Dad politisch engagiert? Ein Linker?«, fragte er. »Das ist ziemlich cool. Mein Dad ist ein verbitterter Trauerkloß, seit meine Mom ihn verlassen hat. Du weißt doch, die Kämpfe zwischen Wally Figmans Eltern in meinem Zeichentrickfilm? Das Schreien und Jammern? Ich denke, du kannst dir vorstellen, woher ich meine Ideen habe.«

»Mein Vater war nicht politisch«, sagte Jules. »Und er war bestimmt kein Linker, wenigstens kein engagierter. Ich meine, er war Demokrat, aber sicher kein radikaler«, sagte sie und musste über die Absurdität der Vorstellung lachen. Doch dann brach sie ab und dachte, dass sie ihren Vater gar nicht so gut gekannt hatte. Warren Jacobson war ein ruhiger Mann gewesen, seit zehn Jahren bei Clelland Aerospace angestellt. Einmal hatte er seinen Töchtern, ohne dass sie gefragt hatten, erklärt: »Meine Arbeit, das bin nicht ich.« Jules hatte jedoch nicht nachgehakt und gefragt, was er damit meinte. Sie hatte ihn so gut wie nie nach etwas über sich gefragt. Er war dünn und blond gewesen, hatte seine Last getragen, und dann war er mit zweiundvierzig gestorben. Der Gedanke, dass sie ihn nie richtig würde kennenlernen können, wühlte sie auf, und dann weinten sie, Jules und Ethan, gemeinsam, was zu unvermeidlichem Küssen führte, das diesmal längst nicht so schlimm war, schließlich schmeckten beide gleichermaßen nach Rotz und Wasser, und es kümmerte Jules nicht, dass sie keine Erregung verspürte. Sie war einfach nur verzweifelt, weil ihr Vater tot war. Ethan ahnte, dass das genau die Art Vorspiel war, die Jules Jacobson brauchte.

So ging es weiter mit ihnen, und Jules rechnete damit, dass es noch mehr solche Momente geben würde. Jules’ Leben veränderte sich im Camp schnell, wie in einem Daumenkino ging es voran. Sie war ein Niemand gewesen, und jetzt gehörte sie fest zu diesem Freundeskreis und wurde für ihren bis dahin unbekannten verschlagenen Humor bewundert. Jules war interessant, war Ashs dicke Freundin, und Ethan betete sie an. Zudem war sie mit ihrer Ankunft zu einer Schauspielerin geworden, hatte sich in Stücken versucht und Rollen übernommen. Dabei hatte sie erst nicht einmal vorsprechen wollen. »Ich bin auch nicht annähernd so gut wie du«, sagte sie zu Ash, aber Ash erwiderte: »Du weißt doch, wie du bist, wenn wir alle zusammen sind? Wie toll das ist? Sei auf der Bühne einfach genauso. Komm aus dir heraus. Du hast nichts zu verlieren, Jules. Ich meine, wenn nicht jetzt, wann denn dann?«

Die Theatergruppe würde Edward Albees Der Sandkasten aufführen, und Jules bekam die Rolle der Grandma. Sie spielte sie als uraltes, aber lebendiges Weib und sprach mit einer Stimme, die sie neu in sich entdeckt hatte. Ethan erteilte ihr Sprechunterricht und erklärte ihr, wie er die Stimmen für Figland geschaffen hatte. »Du musst genauso sprechen, wie du es in deinem Kopf hörst«, sagte er. Sie hatte noch nie eine Frau getroffen, die so alt war wie die Grandma, die sie spielte. In der Vorstellung wurde sie von zwei Schauspielern auf die Bühne getragen und sanft abgesetzt, und noch bevor sie ein Wort sagte, fing das Publikum an zu lachen, allein wegen ein paar wiederkäuender Bewegungen. Das Lachen rief neues Lachen hervor, sodass einige der Zuschauer bei ihrem ersten Satz laut losprusteten, darunter eine leicht erregbare Kursleiterin, die förmlich schrie. Jules sei ein Kracher, sagten alle, als es vorüber war. Ein absoluter Kracher.

Das Lachen verzauberte sie dieses und jedes nachfolgende Mal. Es machte sie stärker, ernster, entschlossener, sie verzog keine Miene. Später dachte Jules, dass dieses prustende, anerkennende Lachen sie von dem traurigen Jahr geheilt hatte, das hinter ihr lag. Aber nicht allein das Lachen hatte sie geheilt, es war das ganze Camp, als wäre es eines jener alten europäischen Kurbäder.

Eines Abends sollten alle auf dem großen Rasen zusammenkommen, weitere Informationen dazu gab es nicht. »Ich wette, die Wunderlichs werden verkünden, dass es zu einem Syphilis-Ausbruch gekommen ist«, sagte jemand.

»Oder vielleicht ist es wegen Mama Cass«, meinte jemand anderes. Cass Elliot, die Sängerin von The Mamas and the Papas, war ein paar Tage zuvor gestorben, offenbar war sie an einem Schinkensandwich erstickt. Das mit dem Schinkensandwich sollte sich als Gerücht erweisen, gestorben war sie jedoch tatsächlich.

»Wann geht es denn endlich los? Die Eingeborenen werden unruhig«, sagte Jonah, während sie warteten.

Ethan und Jules saßen zusammen auf einer Decke. Er legte den Kopf an ihre Schulter und war neugierig, wie sie reagieren würde. Zunächst reagierte sie gar nicht. Daraufhin legte er den Kopf in ihren Schoß, machte es sich bequem und sah in den dunkler werdenden Himmel und zu den im Wind ruckenden, zwischen den Bäumen aufgehängten japanischen Lampions hinauf. Wie auf ein Stichwort begann Jules über seinen Lockenkopf zu streichen, und bei jedem neuen Mal schloss er glücklich die Augen.

Manny Wunderlich trat vor die Versammlung und sagte: »Hallo, hallo! Ich weiß, ihr fragt euch, was eigentlich los ist, und so halte ich mich nicht lange mit großen Vorreden auf, sondern stelle euch unseren ganz besonderen Überraschungsgast vor.«

»Seht doch«, sagte Ash ein Stück neben ihnen. Jules reckte ihren Kopf, damit sie zwischen den Leuten vor ihr hindurchsehen konnte, und sah eine Frau in einem abendroten Poncho mit einer Gitarre um den Hals über den Rasen kommen, um ihren Platz auf dem Podium einzunehmen. Es war Jonahs Mutter, die Folksängerin Susannah Bay! Sie war auf eine Art schön, wie nur wenige Mütter schön waren, mit langem, glattem schwarzen Haar, das genaue Gegenteil von Jules’ Mutter mit ihrem Topfschnitt und den Polyester-Hosenanzügen. Die Leute applaudierten.

»Einen guten Abend, Spirit-in-the-Woods!«, sagte die Folksängerin ins Mikrofon, als sich alle beruhigt hatten. »Habt ihr einen guten Sommer?« Eine Reihe bestätigender Rufe waren zu hören. »Glaubt mir, ich weiß, das hier ist der beste Ort auf der Welt. Ich habe selbst ein paar Sommer hier verbracht. Nichts ist dem Himmel so nahe wie dieser kleine Fleck Erde.« Dann schlug sie laut ihre Gitarre an und begann zu singen. Ihre Stimme war live genauso kräftig wie auf ihren Platten, und sie sang einige Lieder, die alle kannten, dazu ein paar Folksong-Klassiker, bei denen das Publikum mitsingen sollte. Vor ihrem letzten Lied sagte sie: »Ich habe heute Abend einen alten Freund mitgebracht, der gerade in der Gegend war, und ich möchte ihn einladen, zu mir auf die Bühne zu steigen. Barry, würdest du bitte kommen? Barry Claimes, liebe Leute!«

Unter Applaus trat der terrierbärtige Folksänger Barry Claimes, ehedem Mitglied des Sechzigerjahre-Trios The Whistlers und im Sommer 1966 zufällig kurz der Freund von Susannah Bay, mit einem Banjo um den Hals aufs Podium zu ihr. »Hallo, Lads und Ladies!«, rief er der Menge entgegen. Die Whistlers hatten bei ihren Konzerten und auf den Plattencovern immer Rollis und Mützen getragen, aber Barry hatte mit Beginn seiner Solokarriere 1971 damit aufgehört. Er trug ein weiches, kariertes Hemd, das ihn wie eine Art Bergsteiger aussehen ließ, schob sich sein gewelltes braunes Haar hinter die Ohren, winkte den Camp-Bewohnern freundlich zu und fing an, Banjo zu spielen. Susannah stimmte auf der Gitarre mit ein. Die beiden Instrumente kamen zusammen und zogen sich verschämt wieder zurück, kamen erneut zusammen und intonierten schließlich das Vorspiel zu Susannahs Erkennungslied. Erst leise, dann kräftiger begann sie zu singen:

»Ich wandere durchs Tal, ich wandere durchs Grün,

Und versuche zu verstehen, warum ich dir nicht genüge.

Wolltest du mich so, wie sie war?

Wohnt allein das in deinem Herzen?

Ich bete, dass der Wind uns …

dass der Wind uns … auseinanderträgt …«