Was wir schon immer sein wollten - Julian Mars - E-Book

Was wir schon immer sein wollten E-Book

Julian Mars

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Beschreibung

Drei Jahre sind vergangen, seit Felix und Martin wieder ein Paar geworden sind. Danach haben eine Hochzeit und vier Todesfälle für jede Menge Chaos gesorgt, doch jetzt, kurz vor seinem 30. Geburtstag, fühlt sich Felix endlich angekommen. Na gut, ein paar offene Fragen gibt es immer noch. Macht die offizielle Beziehung mit Martin ihn glücklicher als heimliche Affären mit vermeintlichen Heteros? Und war es wirklich richtig, seine ehemals beste Freundin Emilie nach einem großen Streit aus seinem Leben zu verbannen? Felix beschließt, dem Zaudern ein Ende zu setzen und trifft die Entscheidung seines Lebens … "Was wir schon immer sein wollten" ist der Abschluss von Julian Mars' Felix-Trilogie. Mit lakonischem Witz und erzählerischem Feingefühl treibt der Autor seinen Antihelden auf einen Punkt zu, an dem alle Fragen aus "Jetzt sind wir jung" und der Fortsetzung "Lass uns von hier verschwinden" in einer überraschenden Erkenntnis kulminieren. Trotz vieler Rückgriffe auf die Vorgeschichte(n) steht der Roman für sich. Ein kluges, rasantes und geistreiches Buch über Freundschaft, Liebe und die große Frage, ob das, was wir sind, je dem gerecht werden kann, Was wir schon immer sein wollten.

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julian mars

was wir schon immer sein wollten

julian mars

was wir schonimmer sein wollten

1. Auflage

© 2022 Albino Verlag, Berlin

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

[email protected]

Umschlaggestaltung und Satz: Robert Schulze

Umschlagabbildung: Manuel Moncayo (manuelmoncayo.eu)

Printed in Germany

ISBN 978-3-86300-334-0

Mehr über unsere Bücher und Autor*innen:

www.albino-verlag.de

All alone in the flame of doubtAre we going to lose it all?

Blanche: «City Lights»

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Vor Kurzem hat mich jemand gefragt, was ich mir am meisten wünsche. Und mein erster Gedanke war: Ordnung.

Ich weiß, das klingt langweilig und ziemlich banal. Aber es stimmt. Ich wünsche mir nichts mehr, als endlich Ordnung zu schaffen in diesem Chaos, das sich mein Leben nennt. Doch egal, was ich versuche, es wird immer nur schlimmer. Manchmal erinnert mich das an den Zauberwürfel, den ich zum zehnten Geburtstag bekommen habe. Wochenlang habe ich damals versucht, das blöde Ding zu lösen, und vor jeder einzelnen Drehung habe ich ewig überlegt, weil ich unbedingt alles richtig machen wollte. Habe ich aber nicht. Und als ich irgendwann sicher war, dass ich es niemals schaffen würde, gab ich es ganz auf. Eigentlich war also damals schon klar, was für ein Mensch mal aus mir werden würde. Einer, der viel zu viel nachdenkt. Es trotzdem verkackt. Und am Schluss alles hinwirft.

Mein zehnter Geburtstag ist fast zwanzig Jahre her. Zumindest theoretisch bin ich jetzt also erwachsen. Doch ich denke immer noch oft an damals, wenn ich vor einer wichtigen Entscheidung stehe. Und das kommt ganz schön häufig vor in letzter Zeit. Dann höre ich eine Stimme in mir, die sagt: Jetzt, Felix. Jetzt gerade drehst du an deinem Würfel. Das Problem ist nur, dass ich in dem Moment meistens noch keine Ahnung habe, ob das nun eine gute Idee ist. Oder das Dümmste, was ich tun kann. Das merkt man meistens erst, wenn es schon zu spät ist. Aber wenn man dann panisch wird und alles noch mal zurückdrehen will, hat man eh schon verloren. Egal ob im Spiel oder im echten Leben. Denn man findet nicht mehr zurück, sondern verirrt sich unterwegs und bleibt am Schluss irgendwo stecken, wo man auf gar keinen Fall landen wollte. Nur kann man sein Leben dann nicht so einfach genervt hinters Bett werfen wie ein altes Spielzeug.

Den Zauberwürfel habe ich noch. In letzter Zeit hole ich ihn immer mal wieder aus der Schublade und drehe ein bisschen dran herum. Nicht mehr so verbissen wie früher, sondern mehr zur Ablenkung, wenn ich mir mal wieder nichts sehnlicher wünsche als Ordnung. Denn vor ein paar Tagen kam mir ein Gedanke, der mich seither nicht mehr loslässt: Vielleicht ist es gar nicht der Sinn der Sache, den Würfel zu lösen. Vielleicht muss man einfach so lange drehen, bis einem das Muster gefällt.

Mein Leben war eigentlich nie meines alleine, denn ich habe es immer mit Emilie geteilt. Schon seit ich denken kann, war Emilie meine beste Freundin, und so ziemlich alles Wichtige, was ich bisher erlebt habe, passierte mir entweder mit, trotz oder wegen ihr. Auf jeden Fall war sie meistens in der Nähe, wenn irgendwas Aufregendes geschah. Oder ich habe sie gleich danach angerufen, weil ich ihre Meinung hören wollte. Emilie war sehr lange Zeit der wichtigste Mensch in meinem Leben. Und ich weiß, dass das keiner mehr hören kann, weil ich die Geschichte schon viel zu oft erzählt habe. Aber spätestens seit den großen Ferien nach der vierten Klasse war sie eben nicht mehr nur meine Freundin. Sondern auch meine Schwester.

Der Tag, an dem wir Blutsgeschwister wurden, ist immer noch einer der schönsten in meinem ganzen Leben. Wir hatten uns ins Schlafzimmer meiner Mutter geschlichen, wo Emilie Mamas teuersten Ohrring aus der Schatulle nahm und damit erst mir und dann sich selbst in den Finger stach, bevor wir sie fest aneinanderpressten. Obwohl wir noch so jung waren, wusste ich genau, dass hier gerade etwas Bedeutsames passiert. Und ich war mir sicher, dass ich mich noch lange daran erinnern würde.

«Jetzt sind wir für immer verbunden, Felix», hat sie damals gesagt. Und ich habe ihr geglaubt.

Tatsächlich denke ich immer noch oft an diesen Moment, gerade in letzter Zeit. Aber ich habe schon lange niemandem mehr davon erzählt. Denn diese Verbindung zwischen uns … Die gibt es nicht mehr.

Heute Nachmittag habe ich mit Anna telefoniert. Anna ist meine richtige Schwester, auch wenn ich mit ihr nie Mamas Schmuck durchwühlt habe. Das liegt daran, dass Anna zehn Jahre älter ist als ich und schon immer nur aus ihrem Zimmer kam, wenn es unbedingt sein musste. Bis sie mit achtzehn von zu Hause ausgezogen ist, und zwar schneller, als ich «Lass mich nicht mit diesen Verrückten allein!» rufen konnte. Als Emilie und ich Blutsgeschwister wurden, war Anna also längst weg.

Heute regte sie sich mal wieder über unsere Mutter auf, ein Hobby, das wir eigentlich gemeinsam haben. Doch wie bei fast allem hat Anna auch bei dieser Sache deutlich mehr Ausdauer als ich. Deshalb war ich froh, als es irgendwann an der Haustür klingelte.

«Der DHL-Mann ist da», sagte ich und drückte auf den Öffner. «Ich muss auflegen.»

«Wieso klingelt deiner immer und meiner nie?», fragte Anna verdrossen.

«Weil ich keinen Köter habe, der so groß ist wie ein Kalb und so bissig wie die Weidel», gab ich geduldig zurück. «Außerdem flirte ich immer mit meinem Boten.»

«Das hab ich mit unserem ja auch versucht», maulte meine Schwester.

«Und da wunderst du dich, dass der nicht mehr klingelt?», fragte ich und verabschiedete mich, bevor sie darauf antworten konnte. Ich sah in den Spiegel, öffnete die oberen beiden Knöpfe meines Hemds und danach die Wohnungstür. Doch da trat kein Lieferant aus dem Aufzug. Sondern Emilie.

Ich kann nicht wirklich in Worte fassen, was ich dachte oder fühlte, als ich sie so plötzlich vor mir sah, zum ersten Mal seit einem Jahr. Denn irgendwie dachte und fühlte ich alles gleichzeitig. Ich war so erschrocken, dass ich fast laut geschrien hätte, und merkte doch, dass ein Teil von mir schon die ganze Zeit auf genau diesen Moment gewartet hatte. Ich hätte ihr am liebsten die Tür vor der Nase zugeknallt. Und kämpfte gleichzeitig gegen den kaum auszuhaltenden Drang, sie fest in den Arm zu nehmen. Zumindest, bis mir wieder einfiel, warum wir uns so lange nicht gesehen hatten.

Emilie sprach nicht. Sie stand einfach da und blickte mir tapfer in die Augen. Und nur ihr zitterndes Kinn verriet, dass auch sie nicht wusste, wie sie sich fühlen sollte.

«Ist dein Handy kaputt?», fragte ich irgendwann, damit mal was passierte. «Oder warum kannst du nicht anrufen?»

«Wärst du rangegangen?» Ihre Stimme klang seltsam rau und doch so vertraut, als hätte ich sie vor fünf Minuten das letzte Mal gehört.

«Keine Ahnung», erwiderte ich. Es war die Wahrheit. Ich blickte auf den Autoschlüssel, an dem sie schon die ganze Zeit nervös herumspielte. «Seit wann hast du ein Auto?»

«Mietwagen», sagte sie etwas zu laut. «Und meine Schuhe sind auch neu, bevor du das als Nächstes fragst. Weil es ja nichts Wichtigeres zu klären gibt.»

Ohne es zu wollen, schaute ich auf die hohen Absätze ihrer schwarzen Stiefel. Ich fragte mich, ob sie ernsthaft in diesen Dingern von Hamburg nach Berlin gefahren war, oder ob sie die noch schnell angezogen hatte, bevor sie aus dem Auto gestiegen war. Zuzutrauen wäre ihr beides gewesen.

«Gibt es denn was Wichtigeres zu klären?», fragte ich, als ich ihr wieder ins Gesicht blickte. Mit den länger gewordenen schwarzen Haaren und ihrer verbeulten Lieblingslederjacke sah sie aus wie die Auftragskillerin in einer Comicverfilmung.

«Lässt du mich jetzt rein oder nicht?»

Sie sah mich herausfordernd an, und ich kannte sie immer noch gut genug, um zu wissen, dass sie für ihren Geschmack jetzt ausreichend lange wie ein Hausierer vor meiner Tür gestanden hatte. Ich war mir da noch nicht so sicher. Aber mir war auch klar, dass dieses trotzige Miststück einfach wieder gehen würde, wenn ich sie nicht reinließ. Und ich war zu neugierig, um mir nicht anzuhören, was sie mir zu sagen hatte. Auch wenn ich es mir schon denken konnte. Also seufzte ich schwer, damit sie es auch mitbekam, und machte einen Schritt zur Seite. Emilie antwortete mit ihrem typischen Geht-doch!-Schnaufen und wechselte zufrieden vom Haus- in den Wohnungsflur, was an der eher unbehaglichen Gesamtsituation aber nur wenig änderte. Außer, dass wir uns jetzt ausgerechnet vor meiner Pinnwand gegenüberstanden. Ihr Blick wanderte zu dem Bild, das ich kurz nach Carlos Geburt von uns dreien gemacht und das ich trotz allem nicht abgenommen hatte. Carlo ist Emilies Sohn und – zumindest auf dem Papier – auch meiner. Das hatten wir uns so ausgedacht, weil sie ihr vaterloses Balg versorgt haben wollte, falls ihr etwas zustieß. In einer Zeit, in der wir uns nicht hätten vorstellen können, dass unsere Freundschaft jemals enden würde. Tja.

«Wo ist Carlo?», fragte ich.

«Zu Hause. In Hamburg.»

«Und wie geht’s ihm?»

«Hör zu, Felix.» Wieder klimperte sie mit dem Autoschlüssel. Aber dieses Mal nicht aus Nervosität, sondern um mir klarzumachen, dass sie nicht zum Spaß gekommen war. «Ich weiß, was du vorhast. Und ich musste dir einfach persönlich sagen, dass das ein Riesenfehler ist.»

«Was ich vorhabe?», rief ich. Ich machte einen Schritt zurück und verschränkte die Arme. «Du tust so, als wollte ich eine Bank überfallen.»

«Da würde ich mir weniger Sorgen um dich machen, weil die Chancen besser wären, dass es gutgeht!»

Auf einmal stieg eine kalte Wut in mir hoch, die jede nostalgische Wärme vertrieb, die ich bei Emilies Anblick vielleicht gespürt hatte. Doch ich schluckte den Ärger mühsam wie einen bitteren Zitronenkern. Ich war ja jetzt schließlich erwachsen. Und ich würde mich sicher nicht vor ihr rechtfertigen, denn es wäre eh vergeblich. «Danke für deine ungefragte Meinung», sagte ich also nur. «Ich nehme sie zur Kenntnis.»

«Du hängst zu viel mit deiner Schwester ab», murmelte Emilie wütend. Die beiden hatten sich nie wirklich gemocht. Und dass Anna als Psychologin permanent alle um sich herum therapieren wollte, hatte sie immer besonders genervt.

«Ist ja nicht mehr dein Problem. Und der Rest übrigens auch nicht.»

Emilie holte Luft, doch sie schien sich gerade noch rechtzeitig zu bremsen. Sah ihr gar nicht ähnlich. Und auf einmal wirkte sie verloren, so wie jemand, der zu weit rausgeschwommen war und jetzt erst merkte, dass er es vielleicht nicht mehr zum Strand zurückschafft. Schon wieder war ich kurz davor, sie in den Arm zu nehmen. Verdammt.

«Du glaubst gar nicht, wie sehr du mir fehlst», sagte sie stockend, nachdem sie offenbar lange nach den richtigen Worten gesucht hatte. Sie blickte zu mir hoch und ich sah die Tränen in ihren Augen. Doch ich antwortete nicht. «Würde es helfen, wenn ich mich noch mal entschuldige?», fragte sie.

«Du brauchst dich nicht zu entschuldigen», sagte ich. «Ich bin dir auch nicht mehr böse. Es ist einfach nur … Es ist einfach nicht mehr wie davor.» Ich schluckte. «Und ich glaube, das wird es auch nicht mehr.»

Emilie schniefte leise. Dann nickte sie. Sie drehte sich um und trat den einen Schritt auf die Wohnungstür zu, doch als sie die Hand auf die Klinke legte, hielt sie noch einmal inne. «Muss sich toll anfühlen», sagte sie leise, ohne sich zu mir umzudrehen.

«Was?»

«Mal zur Abwechslung nicht derjenige zu sein, der es verkackt hat.»

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Und ob ich darauf überhaupt etwas antworten wollte.

Doch Emilie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie deutlich lauter fortfuhr: «Nur damit du’s weißt, ich komme wieder. Das wird mein letzter Freundschaftsdienst sein, dich vor dem Fehler deines Lebens zu bewahren.» Dann öffnete sie die Tür einen winzigen Spalt und schlüpfte so schnell hindurch, als würde sie sich einfach in Luft auflösen.

Ich blieb noch eine Weile im Flur stehen und fragte mich tatsächlich kurz, ob ich mir das gerade nur eingebildet hatte. Dann blickte ich noch einmal zu dem Foto von Carlo und uns und von dort zu meinem Kalender, der neben der Pinnwand hing.

«Fehler meines Lebens», murmelte ich.

Noch zehn Tage bis dahin.

Bald bin ich dreißig. Und eigentlich dachte ich, dass mein Geburtstag der perfekte Tag wäre, um genau das zu tun, was Emilie gerade den Fehler meines Lebens genannt hat.

Typisch für sie! Schweigt trotzig in sich hinein, bis es fast schon zu spät ist, und knallt dir dann einen Halbsatz in die Fresse, der dich kalt erwischt wie ein geworfener Hering auf dem Hamburger Fischmarkt. Wobei sie dieses Mal natürlich unrecht hat. Schon alleine, weil sie es gar nicht wissen kann. Wir haben seit einem Jahr nicht mehr miteinander gesprochen und zumindest ich habe mich in dieser Zeit verändert. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber im Großen und Ganzen bin ich eigentlich mit mir zufrieden. Trotz allem. Mein Leben ist zwar immer noch ein ziemliches Chaos. Aber inzwischen denke ich, dass dieses Leben auf der einen und ich als Mensch auf der anderen Seite zwei Dinge sind, die man nicht ständig als Einheit betrachten sollte. Jedenfalls fällt es mir dadurch leichter, mich selbst ganz okay zu finden. Und wenn es stimmt, dass man mit dreißig endgültig erwachsen wird (oder es zumindest sein sollte), dann habe ich in letzter Zeit zum ersten Mal das Gefühl, dafür bereit zu sein.

Als Kind habe ich mir oft ausgemalt, wie es wohl sein wird, wenn ich älter bin. Damals dachte ich noch, das Leben wäre so eine Art Fließband, auf dem die tollsten Freundschaften, das richtige Studium, der perfekte Job und natürlich die große Liebe einfach an einem vorbeifahren, ohne dass man sich irgendwie anstrengen muss. Man müsste nur zugreifen, und sobald man alles eingesackt hätte, wäre man glücklich. Na ja. Inzwischen weiß ich, dass man erst mal selber kurbeln muss, damit sich das Band überhaupt in Bewegung setzt. Die meisten Möglichkeiten erscheinen auch nicht einfach von alleine darauf. Die muss man schon selber auftreiben. Und ich habe lange gebraucht, um das zu kapieren. Also fing ich irgendwann an, panisch alles aufs Band zu packen, was ich in die Finger bekam, um die verlorene Zeit aufzuholen, bis es plötzlich viel zu voll war. Weshalb man sich dann wieder gut überlegen muss, was man tatsächlich braucht und was man besser vorbeifahren lässt. Aber zu lange darf man auch nicht nachdenken, weil vieles sonst schon wieder außer Reichweite ist. Und im Gegensatz zu den Gurken-Makis beim Running Sushi kommt es auch nicht dreimal vorbeigefahren, sondern kracht am Ende scheppernd auf den Boden. Wo man dann die Scherben aufkehren darf.

Was ich sagen will: Ich habe mich lange geweigert, zu verstehen, wie das mit dem Erwachsenwerden so abläuft, wahrscheinlich länger als die meisten anderen. Aber ich glaube, jetzt habe ich es kapiert. Und ich bilde mir ein, dass ich inzwischen weiß, welche von den Sachen auf meinem Band gut für mich sind, und wovon ich besser die Finger lasse. Denn manche Sachen schaffen es doch irgendwie öfters zum Start zurück und kommen immer mal wieder in Griffweite. Und das sind leider nicht alles Gurken-Makis. Da sind auch ein paar interessantere Dinge dabei. Und genau das macht sie ja so gefährlich.

Was ich also gerade gar nicht brauchen kann, ist ein autoschlüsselrasselnder Geist der Vergangenheit, der ungebeten hier reinspaziert und mich auf dumme Gedanken bringt. Deshalb macht es mich wahnsinnig, zu wissen, dass Emilie gerade zufrieden in ihrem Mietwagen sitzt und sich einbildet, genau das geschafft zu haben. Aber wozu? Was verspricht sie sich davon? Und wie zum Teufel kommt sie auf die Idee, trotz allem noch zu wissen, was gut für mich ist und was nicht? Ich bin bald dreißig, verdammt! So langsam könnte man mir doch mal zutrauen, dass ich das selber weiß! Oder?

Seit Emilies Abgang sitze ich an meinem Küchentisch und denke nach. Zum Beispiel darüber, was Anna irgendwann mal gesagt hat: «Bruderherz, manchmal glaube ich, der Mensch, der dich am schlechtesten kennt, bist du selbst.»

Ich seufze. Dann stehe ich auf und hole mir einen Block und einen Stift. Dann stehe ich wieder auf und hole mir eine Flasche Wein. Ich schenke mir ein und mache mir aus Gewohnheit eine Kerze an, obwohl es draußen noch hell ist und viel zu warm. Dann stehe ich erneut auf, hole den ollen Zauberwürfel aus dem Schlafzimmer und spiele ein bisschen dran herum. Doch ich komme der Lösung nicht näher, und das Muster wird ehrlich gesagt auch nicht schöner.

«Vielleicht sind auch einfach die Farben die falschen», murmele ich. Ich lege ihn weg und trinke einen großen Schluck Wein. Dann stehe ich noch einmal auf und hole das Foto von Emilie, Carlo und mir aus dem Flur. Wie schnell die drei Jahre vergangen sind, seit ich es gemacht habe. Und was in der Zeit alles passiert ist! Ich betrachte das Bild eine Weile. Und seufze noch einmal tief. Dann greife ich nach dem Stift und schlage den Block auf.

Bist du zu Hause?», rief ich, als ich vor fast genau drei Jahren Emilies Wohnungstür aufschloss. Auf mein Klingeln hatte sie nicht reagiert, doch seit sie über die Manövrierfähigkeit eines Heißluftballons verfügte, musste das nichts heißen. Ich stellte meine Reisetasche und zwei volle Einkaufstüten in den Flur und horchte. «Em?»

«Ich bin im Schlafzimmer», rief sie endlich matt.

Also bog ich um die Ecke, öffnete die Tür und schaute ins Halbdunkel, wo ich ihre beachtlichen Umrisse auf dem Bett liegen sah. «Alles okay bei dir?»

«Nein», stöhnte sie. «Ich wollte Autogenes Training machen, aber meine Möse brennt zu sehr.»

«Ist das normal?», fragte ich erschrocken. «Oder sollen wir den Arzt anrufen?»

«Wenn Steffi zum ersten Mal im Leben mit Heißwachs hantiert, ist das wahrscheinlich normal!»

Ich verdrehte die Augen. «Du hast noch fünf Tage bis zur Geburt, sollst dich möglichst wenig bewegen und deine größte Sorge ist es, dir die Möse waxen zu lassen? Im Ernst?»

«Erstens ist Steffi ja extra hergekommen, damit ich mich nicht bewegen muss, und zweitens sind es noch mindestens fünf Tage bis zur Geburt. Wenn der kleine Bastard das Zeitmanagement seiner Mutter hat, lässt er sich eher mit zwei Wochen Verspätung blicken.»

«Aber dafür top frisiert», wiederholte ich müde den Witz, den Emilie in den letzten Tagen dreihundertmal gemacht hatte. Ich war gerade aus Berlin angereist, um bis zur Geburt bei ihr zu bleiben. Und auch wenn ich nichts Wichtigeres zu tun hatte, hoffte ich, dass das nicht noch ewig dauern würde. Denn sie hatte sich für meinen Geschmack etwas zu sehr dran gewöhnt, sich bedienen zu lassen.

«Und zweitens», fuhr sie ungerührt fort und winkte dabei mit ihrem Handy, «wollte ich noch ein letztes Mal meinen Zaubergarten sehen, bevor er von diesem kleinen Monster für immer zerstört wird. Ist ja wohl nicht zu viel verlangt.»

«Brandgerodet hast du ja schon selber», murmelte ich. «Und wehe, du willst jetzt, dass ich die Bilder mache.»

«Keine Sorge, längst erledigt.» Sie grinste zufrieden.

«Toll. Du kannst ja dann bei Carlos Hochzeit den Vorher-Nachher-Vergleich präsentieren.»

«Pst!», machte sie böse. «Wir nennen seinen Namen nicht vorher. Das bringt Unglück.»

«Das eigene Kind einen Bastard zu nennen aber nicht?»

«Was soll ich machen?», fragte sie unschuldig. «Es ist nun mal, was es ist.»

Ich seufzte missbilligend. Dann öffnete ich die Vorhänge der bodentiefen Panoramafenster, um das warme Licht des Sommernachmittags hereinzulassen. «Du bezahlst so eine Wahnsinnsmiete für diese Aussicht und dann sperrst du sie die ganze Zeit aus», sagte ich mit Blick auf die Hamburger HafenCity.

«Das ist doch der wahre Luxus», hörte ich sie hinter mir grinsen. «Außerdem vertrage ich die Klimaanlagenluft nicht mehr, und es ist einfach zu heiß draußen. Hast du an meinen Joghurt gedacht?»

«Hab ich jemals nicht an deinen Joghurt gedacht?»

Ich trug die Einkäufe in die Küche und räumte bis auf zwei Joghurts alles in den Kühlschrank. Dann nahm ich Löffel aus der Schublade, riss zwei Küchentücher ab und ging damit ins Schlafzimmer zurück. Einen der Becher stellte ich auf Emilies Bauch ab, den sie schon seit Wochen nur noch den Thunderdome nannte. Ihre Verdauung hatte sich nämlich genauso verselbstständigt wie ihre Freude an platten Wortspielen.

«Weißt du», sagte sie, während sie sich mühsam aufsetzte und nach ihrer Brille griff, «früher hab ich mich oft gefragt, ob mich irgendwann mal ein Mann so lieben wird, wie ich Bananenjoghurt mit Schokoflakes liebe.»

«Und?», fragte ich.

«Klar. Schon viele sogar.»

Wir mussten beide grinsen. Und ich dachte daran, dass Emilie tatsächlich schon von vielen Männern geliebt worden war. Zumindest auf die Art, zu der die Arschlöcher, die sie sich normalerweise aussuchte, fähig waren. Ausgerechnet der polnische One-Night-Stand, dem sie ihren dicken Bauch verdankte, schien mal kein Vollidiot gewesen zu sein, denn außer dem Braten in ihrer Röhre hatte er ihr noch ein frisch gekauftes Croissant und ein Schmierblatt mit seiner Telefonnummer hinterlassen, als sie am Morgen danach aufgewacht war. Leider hatte sie das eine gegessen und das andere weggeworfen, weshalb jetzt mal wieder ich derjenige war, der sich um sie kümmern durfte. Und dessen Name auf der Geburtsurkunde stehen würde, damit Carlo versorgt wäre. Im Fall der Fälle.

«Echt der Wahnsinn, oder?», fragte Emilie, die meinen Blick auf ihren Bauch falsch interpretierte, und zwar mit voller Absicht. Sie stellte den Joghurt ab und griff sich beherzt an beide Brüste. «Als wäre in jeder noch mal ein Baby drin.»

«Erstens ist das eklig», sagte ich, «Und zweitens hab ich gar nicht – »

«Schon okay. Guck sie dir ruhig genau an, damit du sie so in Erinnerung behältst. Die werden noch früh genug leergetrunken an mir runterbaumeln wie an einer Hundertjährigen.» Sie stutzte kurz. Dann fasste sie sich umständlich um den Bauch herum Richtung Schritt und hauchte: «Dafür sehe ich jetzt anderswo wieder aus wie neun.»

«Wie verbrühte neun», korrigierte ich.

«Keine Sorge, keine Brandblasen zu sehen.» Sie griff nach ihrem Handy. «Beweis gefällig?» Doch plötzlich verzog sie das Gesicht. «Wenn ja, dann lieber schnell. Ich glaube, der Joghurt schlägt schon durch.»

«Ich gehe mal lieber auspacken», sagte ich und trat die Flucht an.

«Soll dich übrigens von Steffi grüßen», rief mir Em hinterher. «Und dir ausrichten, dass sie auf dich warten wird, bis du endlich aufhörst, schwul zu sein.»

«Mhm, danke», murmelte ich, während ich meine Tasche ins Gästezimmer trug.

Em und Steffi kannten sich seit Jahren vom Ballett und hatten sich irgendwann angefreundet, weil beide von den anderen komisch angeguckt wurden. Steffi war die Einzige in der Klasse, die keine reichen Eltern hatte und überhaupt nur mitturnen durfte, weil ihre Tante in der Ballettschule putzte. Emilies Vater hatte zwar einen Haufen Geld. Weil das aber aus dem Betrieb von knapp zwei Handvoll Freudenhäusern stammte, war Em in den Augen der anderen fast genauso unmöglich wie die Nichte der Putzfrau.

«Ich fahre gleich kurz zu meiner Mutter, in Ordnung?», rief ich, während ich auspackte. In Wahrheit wollte ich zu Martin. Aber das musste sie nicht unbedingt wissen.

«Könntest du vielleicht auch morgen bei ihr vorbeigehen?», rief Emilie aus dem Bad zurück.

Ich seufzte leise und wartete, bis die Toilettenspülung zu rauschen aufhörte. «Ich denke schon. Wieso?»

«Ich glaube, meine Fruchtblase ist gerade geplatzt.»

An die nächsten Stunden erinnere ich mich nur verschwommen und in einzelnen Fetzen. Ich weiß noch, dass Emilie im Taxi erst lautstark überlegte, ob das jetzt wirklich schon Wehen waren oder ob sie vielleicht einfach keinen Joghurt mehr vertrug. Bis sie plötzlich ganz still wurde, komisch atmete und dann sagte: «Ich glaube, das ist kein Durchfall mehr, Honey.»

Ich weiß auch noch, dass im Krankenhaus irgendwann ein stämmiger Typ mit schwarzen Ohrsteckern vor uns stand, der sich als Krankheitsvertretung der Hebamme entpuppte. Und dass Emilie, nachdem ich mich als ihr Freund Felix vorgestellt hatte, trotz der Schmerzen noch laut und deutlich «Mein platonischer Freund Felix!» rufen konnte. Ich erinnere mich, wie wir Minuten oder Stunden später im Kreißsaal waren, wo ich Emilies eiskalte Hand hielt und mich fragte, wie sie es nur schaffte, auch in dieser Situation noch so gut auszusehen. Und ich habe noch genau im Kopf, wie sich auf einmal die Stimmung veränderte und irgendjemand halblaut sagte: «Das ist jetzt nicht so ganz optimal.» Ich weiß noch, wie ihre Hand sich in meiner verkrampfte und wie kalt es auch mir plötzlich wurde, als sie mich mit großen Augen ansah und ihr Blick mir sagte: Genau deshalb solltest du auf die Geburtsurkunde! Ich erinnere mich, dass ich mich darauf selbst laut «So ein Schwachsinn!» rufen hörte und mich deswegen alle komisch anschauten. Ich habe auch noch im Kopf, wie irgendjemand den Arzt darauf hinwies, dass es bei Emilies Geburt ebenfalls Komplikationen gegeben hatte, worauf der den Fehler machte, sie nach den genaueren Umständen zu fragen.

«Das weiß ich nicht, verdammte Scheiße!», schrie sie mit verzerrtem Gesicht. «Weil meine Mutter schon lange tot ist, und ich will keine Gelegenheit bekommen, sie heute noch zu fragen! Also tut irgendwas!»

Ich weiß noch, dass darauf erst mal betreten geschwiegen wurde, bis aus irgendeiner Richtung das Wort Kaiserschnitt fiel. Worauf dann doch alles viel schneller ging, als ich es mir vorher vorgestellt hatte. Und ich erinnere mich ganz genau, wie Emilie, Carlo und ich eine wahnsinnig kurze Ewigkeit später in einem Familienzimmer lagen und weinten, alle drei. Wobei Carlo als Erster damit aufhörte, danach eine Weile guckte, als hätte er sich uns irgendwie anders vorgestellt, und schließlich einschlief.

«Jetzt hast du einen Sohn», sagte ich leise, als ich die letzte Träne weggeblinzelte hatte.

«Sag das noch mal, bitte», erwiderte sie.

«Emilie, du hast jetzt einen Sohn.»

Plötzlich lachte sie leise auf. «Oh mein Gott, Honey!», flüsterte sie dann. «Ich glaub, ich hab’s jetzt erst geschnallt!»

Wir blickten noch eine Weile auf das schlafende Wesen mit dem schwarzen Haarschopf in Emilies Arm.

«Soll ich deinen Vater anrufen?», fragte ich dann.

«Besser morgen früh. Er soll es zu Hause erfahren und nicht im Puff. Nachher verschenkt er noch unseren ganzen Schampus.»

«Em?», sagte ich.

«Hm?»

«Ich hätte nie gedacht, dass aus dir mal eine gute Geschäftsfrau wird.»

Sie grinste und wir schwiegen wieder eine Weile.

«Ist doch letztendlich ganz gut gelaufen, alles in allem», murmelte sie irgendwann müde. «Nur schade, dass jetzt keiner meine Punani gesehen hat. Die ganzen Schmerzen für nichts.»

«Keine Sorge, Em. Wir haben alle deine Punani gesehen.»

«Der Hebamme auch?»

«Vor allem der Hebamme.»

«Und, wie hat er dabei geschaut?»

«Sorgenvoll. Aber ich glaube, das galt mehr dem Baby.»

«Na, hoffentlich!», brummte sie und schloss langsam die Augen.

Vorsichtig nahm ich ihr Carlo aus dem Arm und legte ihn in sein Bettchen. Dann setzte ich mich in den Besuchersessel und zog zum ersten Mal seit Stunden mein Handy aus der Hosentasche.

«Ach du Scheiße!», sagte ich, nachdem ich meine Nachrichten gelesen hatte.

Emilie öffnete noch einmal die Augen. «Was ist?»

«Gabriel hat uns gerade zu seiner Hochzeit eingeladen.»

«Heute ist wirklich ein merkwürdiger Tag», murmelte sie.

Dann schlief sie ein.

Als ich mit fünfzehn anfing, nicht mehr nur in der Theorie schwul zu sein, sondern mein ergoogeltes Wissen auch in der Praxis anzuwenden, war Gabriel einer der ersten Homos, die ich kennenlernte. Und er ist der Einzige aus dieser Zeit, mit dem ich heute noch befreundet bin. Genau genommen ist er sogar sowas wie mein bester Freund. Und ich schäme mich ein bisschen, weil ich das lange nicht wahrhaben wollte. Aber Gabriel ist eben nicht nur anders als die meisten Schwulen (was ich damals schon toll fand). Er ist auch anders als der Rest der Welt, zumindest ein bisschen. Gabriel ist der intelligenteste Mensch, den ich kenne, und das ist meistens echt beeindruckend. Manchmal fragt man sich aber schon, ob seine Schrauben da oben nicht vielleicht einen Tick zu fest gedreht worden sind. Andererseits hat ihn das nicht davon abgehalten, eine Karriere als einer von Europas führenden Heraklit-Experten hinzulegen, obwohl er erst Mitte dreißig ist. Wobei das gleichzeitig schon wieder genau das Problem beschreibt. Die meiste Zeit befasst er sich nämlich viel lieber mit Leuten, die schon lange tot sind, als mit denen, die zusammen mit ihm auf dieser Erde wandeln. Was ich ihm aber auch manchmal nicht verdenken kann.

Ich glaube, ich war lange der Meinung, ich hätte Freunde verdient, die mehr so sind wie die bei Grey’s Anatomy. Also irgendwie … besonderer und gleichzeitig normaler vielleicht. Und vor allem mit einem aufregenderen Privatleben als Gabriel, über das man sich nachts stundenlang unterhalten kann, bis der Pager klingelt und man zur nächsten Not-OP muss. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich die meisten Figuren aus solchen Serien auch nicht ertragen könnte, wenn ich die häufiger um mich hätte als für eine Folge pro Woche. Die sehen einfach nur besser aus als echte Menschen. Und wahrscheinlich war ich früher tatsächlich so oberflächlich, dass ich mich davon blenden ließ.

«Guten Morgen», murmelte Emilie.

Carlos leise Beschwerden hatten uns geweckt, als es draußen gerade dämmerte.

«Ich glaube, er hat Hunger», sagte ich.

«Ich glaube, den hab ich auch», erwiderte sie.

«Soll ich mal gucken, ob wir schon was bekommen?»

Emilie war schließlich Privatpatientin. Da musste ja irgendwo was aufzutreiben sein.

«Lass mal, Honey. Ich probiere erst mal, das kleine Monster zu füttern. Und ich hab auch noch Kekse in der Tasche.»

Weil es mir unangenehm war, zu beobachten, wie sie Carlo für ihre Brüste zu begeistern versuchte, drückte ich ein bisschen auf dem Handy rum.

«Sag mal, hab ich das nur geträumt, oder will Gabriel wirklich heiraten?», fragte sie irgendwann.

«Also, wenn, dann haben wir es beide geträumt», grinste ich.

«Sie werden echt so schnell groß.»

Ich wusste, was sie meinte. Obwohl er ein paar Jahre älter war als wir, hatten wir uns tatsächlich oft wie Gabriels Pflegeeltern gefühlt. Und uns auch so benommen. Wir hatten darauf geachtet, dass er sich nicht nur von Spiegelei und Brot ernährte (weil billig und schnell gemacht). Wir hatten ihm gesagt, wann es Zeit war, mal wieder zum Frisör zu gehen. Und wir hatten ihn mehr als einmal eingekleidet. Aber jetzt heiratete unser Baby. Und zwar einen sexy Waliser, den er am Londoner King’s College kennengelernt hatte, wo Gabriel seit ein paar Jahren Professor war. Wir könnten also stolzer nicht sein.

«Hast du ihm von Carlo erzählt?», fragte Em.

«Klar, ich hab ihm ein Foto geschickt.» Ich zeigte ihr das Bild, das ich von uns drei gemacht hatte, nachdem wir das Zimmer bezogen hatten. In ein paar Wochen würde ich es an meine Pinnwand hängen, damit Emilie und ich uns drei Jahre später feindselig davor anstarren konnten.

«Und, was hat er gesagt?»

«Dass mir das Kind gar nicht ähnlich sieht.»

Ein typischer Gabrielismus. So nannte Emilie diese ganz speziellen Sprüche, bei denen man nie wusste, ob er sie witzig meinte oder ob er wirklich mal wieder was Entscheidendes verpasst hatte. Also würde ich es ihm noch mal erklären, nur zur Sicherheit.

«Hast du das Bild auch Martin geschickt?», fragte Em.

«Noch nicht», log ich.

«Und, machst du es noch?»

Martin war neben Gabriel der zweite Schwule, der in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatte. Und vielleicht immer noch spielte, genau das versuchten wir ja gerade herauszufinden. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken.

«Später vielleicht», sagte ich.

Den Strenge-Mutter-Blick hatte sie auf jeden Fall schon drauf. Doch zu meinem Erstaunen sagte sie nichts mehr.

«Muss echt stimmen, dass Stillen die Frauen sanftmütig macht», grinste ich.

«Du kannst froh sein, dass ich gerade nur mein Kind zur Hand habe», brummte sie. «Und das ist zu schade, um es dir an den Kopf zu knallen.»

Der Sohn einer reichen Mutter zu sein, war nicht automatisch so toll, wie es für die meisten wohl klingt. Zumindest dann nicht, wenn sie so durchgeknallt und egozentrisch ist wie meine. Das ganze Geld, das sie mir immer wieder ungefragt rüberschob, hatte aber den Vorteil, dass ich mich zusätzlich zu ihren Launen nicht auch noch mit einer Arbeit rumschlagen musste. Deshalb hielt es mich auch von nichts Wichtigerem ab, dass ich die Monate nach Carlos Geburt zum größten Teil bei Emilie in Hamburg verbrachte. Nach langem Hin und Her hatten wir uns zwar geeinigt, dass es viel zu kompliziert werden würde, wenn ich sowas wie Carlos richtigen Vater spielte. Also hatten wir beschlossen, mich dem Kind eher als eine Art heidnischen Patenonkel zu verkaufen. Trotzdem hatte ich mich natürlich sofort verliebt in den kleinen Kerl. Und anders als ein paar Typen vor ihm hat er das sogar erwidert.

Emilie war sowieso froh, dass ich die meiste Zeit da war und ihr bis aufs Stillen so ziemlich alles abnahm, was Carlo betraf. Im Gegensatz zu mir hatte sie nämlich einen Job. Eigentlich sogar zwei, auch wenn beide eher zweifelhaft waren. Denn neben diversen Belangen im Puff-Imperium ihres Vaters verwaltete sie seit einer Weile noch ihre eigene Kollektion von Fickbegleitprodukten, wie sie sie nannte. Irgendwann hatte sie nämlich mal durchgerechnet, dass ihre vielen Laufhäuser einen derartigen Umschlag an Gleitmittel, Kondomen und Desinfektionsspray hatten, dass es sich locker lohnte, das ganze Zeug direkt aus Fernost zu beziehen. Und nachdem sie die Überschüsse ein paar Mal mit Gewinn bei Ebay losgeworden war, hatte sie sich schließlich einen richtigen Markennamen ausgedacht und eine Website bauen lassen, die inzwischen auch selbstentworfene Dildos führte und ganze drei Angestellte ernährte. Und das war eben Emilie. Noch nie gut darin gewesen, Pläne zu schmieden, die über das nächste Wochenende hinausgingen. Doch sie erkannte eine Chance, wenn sie sich bot, spuckte sich in die Hände, und packte sie bei den Eiern.

«Das hat sie ja toll hingekriegt», befand meine Schwester Anna, als ich im Spätherbst mal wieder in Berlin war und sie und ihren Mann Dirk in Steglitz besuchte. Wir hatten zusammen gegessen und überbrückten gerade die Zeit bis zum Tatort mit Glühwein auf der Terrasse. Es war ein gemütlicher Abend gewesen, bis ich den Fehler gemacht hatte, den beiden ein paar Bilder von Carlo zu zeigen. «Setzt ein Kind in die Welt und lässt dann dich die Arbeit machen», brummte Anna.

«Aber es ist ja keine Arbeit für mich», gab ich zurück. «Ich bin gerne bei Carlo.»

«Und wie lange soll das weitergehen? Ich nehme mal nicht an, dass du die nächsten zwanzig Jahre in ihrem Gästezimmer wohnen willst.»

«Natürlich nicht», sagte ich. «Höchstens achtzehn vielleicht.»

«Ich meine es ernst, Felix! Der Junge gewöhnt sich zu sehr an dich. Und das kann nur in Tränen enden. Glaub mir das.»

Um nicht antworten zu müssen, nahm ich einen großen Schluck aus meiner Tasse.

«Wie geht sie denn um mit dem Kind?», fragte meine Schwester.

«Das Kind heißt Carlo. Und wie soll sie schon mit ihm umgehen? Gut natürlich.»

«Will ich auch meinen, wenn du ihr schon alles abnimmst.»

Ich schwieg. Und ärgerte mich darüber, dass Anna immer alles aussprechen musste, von dem es doch reichte, wenn man es nur dachte. Aber recht hatte sie leider trotzdem oft. Emilie liebte Carlo. Doch sie liebte es eben auch, wenn ich ihn wickelte. Egal ob sie gerade arbeitete oder nicht.

«Du kommst übrigens auch nicht weiter, solange du fremde Kinder babysittest», fuhr Anna unbarmherzig fort.

«Ich bin siebenundzwanzig», sagte ich mit meiner zusammengekratzten Restgeduld. «Vielleicht bin ich jetzt einfach da, wo ich hingehöre.»

«Oh, sicher nicht, Bruderherz. Das habe ich dir schon tausendmal gesagt.»

«Ich weiß, dass du mir das schon tausendmal gesagt hast, Anna. Deshalb werde ich ja jedes Mal wütend, wenn ich es mir noch mal anhören muss.»

Bevor sie antworten konnte, beugte sich Dirk über den Tisch, um mir nachzuschenken. Und er ließ sich Zeit damit. Dann stellte er die Thermoskanne wieder ab und legte seine Hand auf Annas Unterarm.

«Danke!», sagte ich zu ihm und ich meinte nicht nur den Glühwein. Mein buddhagleicher Schwager nickte mir zu und lächelte mit dem Mundwinkel, den Anna nicht sehen konnte.

Ich mochte Dirk. Und ich bewunderte ihn dafür, dass er es mit meiner Schwester aushielt. Denn obwohl ich sie wirklich liebte und manchmal sogar insgeheim dankbar war für ihre übergriffigen Fürsorglichkeiten, hätte ich sie schon längst umgebracht, wenn ich wirklich jeden Tag mit ihr verbringen müsste. Anna war der Meinung, dass sich jeder permanent weiterentwickeln muss. Und in Bezug auf mich bedeutete das, dass ich mir endlich eine Arbeit suchen oder wenigstens noch mal studieren sollte, wie wir es im Sommer sogar eigentlich schon ausgemacht hatten. Doch dann war meine Elternzeit dazwischengekommen, was sogar sie zähneknirschend akzeptiert hatte, zumindest für eine Weile. Aber die war nun offenbar vorbei.

«Hör zu, ich will mich wirklich nicht streiten», sagte ich. «Aber ich verbringe gerne Zeit mit Carlo und Em. Und ich werde nicht damit aufhören, nur weil du mir deswegen auf die Eier gehst, okay?» Ich nahm mein Handy und suchte nach einem Video, von dem ich sicher war, dass es selbst sie erweichen würde. «Guck doch mal! Vorgestern hat er sich ganz alleine auf die Seite gedreht.»

«Großartig», sagte Anna und zündete sich eine Zigarette an. «Ich mich auch.»

Ich warf das Handy wieder auf den Tisch.

«Für jemanden, der unbedingt selber Kinder will, scheinst du sie nicht sehr zu mögen, Schwesterherz.»

Ich merkte, wie die sich beiden einen komischen Blick zuwarfen.

«Was ist?», fragte ich.

«Nichts», sagte Anna, als Dirk gerade den Mund aufmachte.

«Aha.»

«Genau», bestätigte sie. «Aha.»

«Ich drehe mal eine Runde mit Hilde», sagte Dirk. Er stand auf und griff nach der Leine, die neben der Tür hing, worauf der Hund unter dem Tisch vorkam und schon mal zum Gartentor trottete.

«Ist irgendwas?», fragte ich, nachdem die beiden hinter dem Nachbarhaus verschwunden waren.

«Alles bestens», gab Anna zurück.

«Wenn ich was Falsches gesagt habe – »

«Hast du nicht. Und jetzt genug gestritten. Wie läuft’s mit Martin?»

Ich seufzte. Davon abgesehen, dass mir die Antwort auf diese Frage selber nicht klar war, hatte ich keine Lust, das jetzt auch noch zu diskutieren. Denn Anna versuchte schon seit Monaten, mich wieder in eine Beziehung mit Martin zu quatschen, in den sie mindestens genauso verschossen war wie in ihren eigenen Mann.

«Kommst du mit zu Gabriels Hochzeit?», fragte ich also, statt ihr eine Antwort zu geben. Und sie ließ sich tatsächlich davon ablenken.

«Hab schon den Flug gebucht», erwiderte sie.

Gabriel und sie waren nicht eng befreundet, doch sie hatten sich immer gemocht, weshalb er sie ebenfalls eingeladen hatte.

«Willst du dich an das Geschenk von Em und mir dranhängen? Wir kaufen ihm einen richtig schnieken Hochzeitsdress.»

Doch sie schüttelte den Kopf. «Ich arbeite an was Eigenem.»

«Okay», sagte ich. «Und was?»

«Siehst du dann.» Sie drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus. «Und jetzt ab auf die Couch. Fernsehzeit.»

Beim Reingehen schaute ich noch mal aufs Handy und entdeckte eine Nachricht von Martin: ‹Grüß deine Schwester von mir!›

«Kannst du vergessen!», murmelte ich und schloss die Terrassentür.

Also, die Sache mit Martin.

Martin war nicht nur der erste Typ, in den ich mich richtig verliebt habe. Er wurde auch mein erster Freund, und zwar für zwei wirklich schöne Jahre. Wobei ich dazu sagen muss, dass ich schon fast einundzwanzig war, als wir uns kennenlernten, und nicht mehr sechzehn, wie das wahrscheinlich bei den meisten so ist. Andererseits hab ich mich oft wie sechzehn gefühlt, als wir die ganzen ersten Male erlebten, die man als Paar so erlebt. Und vielleicht habe ich mich auch so verhalten. Martin ist zwar nur drei Jahre älter als ich, aber er hatte schon viel mehr Erfahrung mit all dem. Liebe und so. Zuneigung. Respekt. Zärtlichkeit. Ich weiß, dass das kitschig klingt. Aber all das habe ich erst von Martin gelernt. Weil nämlich sowohl meine Eltern als auch der eine beziehungsähnliche Zustand, in dem ich mich Jahre zuvor mal befunden hatte, höchstens abschreckende Beispiele abgaben.

Ich hatte nur Erfahrungen im Rumvögeln, aber in dieser Hinsicht war ich meinem Alter weit voraus. Früher habe ich mich dafür geschämt, an wie vielen Schwänzen ich schon gelutscht hatte, bevor ich meinen ersten richtigen Kuss bekommen habe. Heute sehe ich das gelassener, und das liegt sicher auch daran, dass sich die Gesellschaft endlich geändert hat. Vor ein paar Jahren musste man sich noch schämen, wenn man so viel Sex in Parks und Kellerbars hatte wie ich. Zumindest hatte ich ständig das Gefühl, dass ich das sollte. Heute rennen alle auf irgendwelche Sexpartys, als ob sie ins Freibad gingen, egal ob Homo oder Hetero oder irgendwas zwischendrin, und Emilie verdient einen Batzen Geld damit. Sowas zu organisieren, ist nämlich ihr dritter Job. Hatte ich vorhin vergessen. Außerdem hätten Martin und ich uns nie kennengelernt, wenn ich nicht jahrelang an mehr Schwänzen gelutscht hätte als Emilies Mitarbeiterin des Monats. Denn dann hätte ich wahrscheinlich nicht irgendwann gedacht, dass ich jetzt wirklich dringend mal einen HIV-Test machen sollte. Wo Martin mir dann als Ehrenamtler gegenübersaß und mit starrem Lächeln den von mir ausgefüllten Bogen zu meinen Sexualkontakten studierte. Wie große Liebesgeschichten halt so beginnen.

Wie gesagt, zwei echt schöne Jahre. Dann habe ich ihn betrogen und er ist zur Selbstfindung ins Ausland verschwunden, ohne mir vorher Bescheid zu sagen, weshalb ich ewig nicht wusste, wo er steckte, was zum Teufel eigentlich los war und ob wir jetzt noch ein Paar waren oder nicht. Waren wir nicht mehr, wie ich dann später erfahren habe. Wie große Liebesgeschichten halt so enden.

Danach das Übliche: Die überfällige Aussprache ein Jahr später, die aber vor allem aus Streit und Drama bestand. Natürlich. Also ein Jahr Funkstille, bis zum mehr oder weniger zufälligen Wiedersehen. Noch mal ein Jahr voller sich ab und zu sehen, umeinander herumschleichen, gegenseitig eifersüchtig machen, sich altes Zeug vorwerfen und trotzdem irgendwie nicht voneinander lassen können. Noch mal ein großer Streit und wieder paar Wochen nix. Und ja, es ermüdet mich selbst, während ich das gerade aufschreibe.

Doch dann, eines Abends, als ich im ‹Black Hole› herumhocke, dem übelsten aller üblen Hamburger Fickschuppen, und eigentlich auf jemand ganz anderen warte, sitzt plötzlich Martin neben mir. Weil er mich gesucht hat. Guckt mich mit seinen großen Augen an, die je nach Licht mal blau und mal braun aussehen, und nimmt meine Hand. Und seine fein geschwungenen Lippen, die immer ein Lächeln andeuten, selbst wenn er eigentlich böse ist, sagen sowas wie: «Ich liebe dich immer noch, Felix Lipfels. Und ich weiß, dass es dir genauso geht. Also lass uns den ganzen Scheiß vergessen und einfach noch mal neu anfangen, okay?»

Also, sinngemäß.

Und ganz im Ernst, wer wäre da nicht dahingeschmolzen?

Das war einer der Momente, in denen ich wusste, dass ich jetzt gerade an meinem Zauberwürfel drehe. Ich war mir nur noch nicht sicher, ob vorwärts oder rückwärts. Oder ob das eine besser war als das andere. Und ob ich damit Ordnung ins Chaos bringen oder alles nur noch schlimmer machen würde. Doch das war zufällig der Abend genau jenes Tages, an dem ich im Jugendamt meine Unterschrift unter Carlos Vaterschaftserklärung gesetzt hatte. Emilie würde in ein paar Wochen ein Kind bekommen und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was damit auf mich zukommen würde. Vor allem, falls ihr wirklich während der Geburt was Schlimmes passieren sollte, wie sie die ganze Zeit orakelte. Und weil ich mir inzwischen eh schon sicher war, dass derjenige, auf den ich im ‹Black Hole› eigentlich gewartet hatte, nicht mehr kommen würde, sehnte ich mich plötzlich so sehr nach irgendwas, das mir Halt gab. Weshalb ich nur ganz kurz überlegte, bevor ich mich zu Martins Ohr beugte und sagte: «Lass uns von hier verschwinden.»

Er hielt immer noch meine Hand, als wir die Bar verließen. Ich hob meinen freien Arm und Sekunden später hielt ein Taxi neben uns. Meine einzige echte Superkraft. Wir stiegen ein und Martin nannte dem Fahrer seine Adresse. Als wir ankamen, fummelte er mit der linken Hand einen Geldschein aus dem Portemonnaie und sagte: «Stimmt so.» Bis wir in seinem Schlafzimmer standen, hatten wir uns kein einziges Mal losgelassen.

Ich war noch nie in seiner neuen Wohnung gewesen, doch ich hatte keinen Blick für die Einrichtung. Sondern nur für Martin. Der griff jetzt auch nach meiner anderen Hand und zog mich sanft zu sich. Bis sich unsere Nasenspitzen berührten.

«Hi», flüsterte er. Das erste Wort an mich, seit wir von der Couch im ‹Black Hole› aufgestanden waren. Und als würde er sich auch gerade daran erinnern, sagte er: «Wir sollten duschen.»

Verstohlen musterten wir unsere Körper, als wir uns zum ersten Mal seit vier Jahren wieder nackt gegenüberstanden. Martin war jetzt fast dreißig und er war breiter geworden. Genau die richtige Mischung aus seinen vertrauten Muskeln und neuem Speck. Ich war immer noch so dünn wie früher, deshalb gab es an mir wahrscheinlich weniger zu entdecken.

«Na los», sagte Martin und zog mich ins Bad.

Das Wasser war heiß, wie wir es beide mochten. Er griff nach dem Duschgel und begann, mir die Brust einzuseifen. Dann fuhr er an meinem Bauch herunter und zog eine Augenbraue hoch, weil ich aufstöhnte, als er meinen Schwanz erreichte. Schweigend seifte er ihn ein und beobachtete mich genau dabei.

«Jetzt der Rücken», sagte er und ich drehte mich um.

Ich spürte seine Hände auf meinen Schultern. Die Massage tat gut, aber das war nicht das, was ich wollte. Also schob ich mein Becken nach hinten, bis mein Arsch nach ein paar Zentimetern auf seinen Ständer stieß.

«Genug geduscht», sagte Martin.

Eine Minute später fielen wir ins Bett.

Als wir am nächsten Morgen aufwachten, lagen wir lange schweigend nebeneinander. Ich genoss es, seinen Körper zu spüren, der mir auch nach so langer Zeit noch so vertraut vorkam. Und spielte zum Zeitvertreib mit meinem Lieblingsmuttermal auf seiner Schulter, das aussah wie Pac-Man. Ich glaube, wir trauten uns beide nicht so richtig, etwas zu sagen, weil wir Angst hatten, diese perfekte Nacht zu zerstören, wenn wir jetzt wieder anfingen, alles zu zerreden. Und sie war wirklich perfekt gewesen.

«Ich würde gerne den Tag mit dir verbringen», flüsterte er irgendwann. Er drehte sich zu mir und begann, mit dem Daumen meine Lippen entlangzufahren. Wie er es früher immer gemacht hatte. «Aber ich muss in die Schule.»

«Kannst du dich nicht krankmelden?», fragte ich.

Doch er grinste. «Ich hab ’nen Vokabeltest vorbereitet, weil die Blagen glauben, dass sie kurz vor den Sommerferien keine Hausaufgaben mehr machen müssen. Und den aus der Tasche zu ziehen, wird mir noch mehr Freude bereiten, als hier mit dir im Bett zu liegen, tut mir leid.»

Ich sah ihm dabei zu, wie er ein paar Klamotten aus dem Schrank zog und damit ins Bad ging. Als er wiederkam, sah er aus wie der Lehrer, den ich immer gerne gehabt hätte. Um ihn im Erdkunderaum zu verführen.

«Ich bin um zwei zurück», sagte er, während er seine Armbanduhr anlegte.

«Gut zu wissen.»

Kurz schien er zu überlegen, ob er sich zu mir runterbeugen und mir einen Kuss geben sollte. Doch er entschied sich dagegen. Als er schon fast zur Tür raus war, blieb er aber doch noch mal stehen.

«Felix?», fragte er mit dem Rücken zu mir.

«Ja?»

«Was bedeutet das jetzt?»

Ich überlegte kurz. Dann sagte ich: «Dass es sich gut anfühlt. Und den Rest klären wir, okay?»

Er nickte. Und ging.

Ich blieb noch kurz liegen und freute mich über die erwachsene Antwort, die ich da gerade gegeben hatte. Dann stand ich auf und spazierte nackt durch die Wohnung. Als wir zusammen gewesen waren, hatte er in einer möblierten Besenkammer im Studentenwohnheim gelebt. Deshalb sah ich mich jetzt neugierig in seinen drei Zimmern um. Es war eine dieser klassischen Wohnungen in einem dieser klassischen Hamburger Reihenhäuser aus Klinker, und Martin hatte sie gemütlich eingerichtet. Wenn es ihm mit Möbeln so ging wie mit Klamotten, hatte ihn das nicht mal Mühe gekostet. Im Wohnzimmer sah ich seine Schallplatten durch und legte Robyn auf. Dann ging ich duschen und öffnete danach die Schublade, aus der Martin vorhin seine Unterhose gezogen hatte. Ich grinste beim Anblick der fein säuberlich aufgerollten Boxershorts. Martin hatte es schon immer ordentlich geliebt. Ich im Prinzip auch. Trotzdem war ich zu faul, mir so eine Mühe zu machen. Deshalb fanden meine Unterhosen meistens gar nicht den Weg in die Schublade, weil ich einfach jeden Morgen eine neue aus dem Trockner holte, bis der leer war und ich wieder waschen musste. Aber ich war schließlich auch kein Lehrer. Die hatten bestimmt mehr Zeit als jemand, der gar nicht arbeitete.

Martins Unterhose war mir zu groß, doch dank des Gummizugs hielt sie gerade so. Ich stellte mich vor den Spiegel im Flur und versuchte herauszufinden, ob ich mich in den letzten vier Jahren vielleicht doch verändert hatte. Aber ich sah auch mit fast siebenundzwanzig noch aus wie sechzehn. Ich trat näher an den Spiegel und betrachtete mein Gesicht, doch auch da hatte sich bis auf ein paar mehr blonde Bartstoppeln nicht viel getan. Martins Gesicht hatte sich verändert. Der sah inzwischen nicht mehr aus wie ein Junge, sondern wie ein Mann. Und das stand ihm verdammt gut.

Neben dem Spiegel hingen ein paar der Medaillen, die er mit seiner schwulen Fußballmannschaft gewonnen hatte. Als ich mir die anschaute, zwickte es ein bisschen in meinem Magen. Denn Martin hatte sein Schwulsein schon immer wie ein alle Lebensbereiche bestimmendes Hobby betrieben. Das hatte für Spannungen zwischen uns gesorgt, weil ich das lange ganz anders gehandhabt hatte. Und manchmal immer noch tat. Doch ich hatte ja vorhin beschlossen, dass heute der Tag war, um den Moment zu genießen, und nicht, um sich Gedanken zu machen. Außerdem begann in der Sekunde mein Handy zu klingeln.

«Sag mal, lebst du noch?», rief Emilie dramatisch, nachdem ich rangegangen war.

«Hörst du doch», erwiderte ich.

«Ich hab dir ungefähr fünfzig Nachrichten geschrieben!»

«Tut mir leid, Em. Ich hab noch gar nicht nachgeschaut.»

«Außerdem hab ich gestern Abend auf dich gewartet, du Flachpfeife! Weil ich nicht dachte, dass du die ganze Nacht wegbleibst. Und dann erreiche ich dich nicht mal! Was wäre denn gewesen, wenn das Kind gekommen wäre?»

«Ich dachte, das kommt mit zwei Wochen Verspätung», sagte ich.

«Wenn es mein Zeitmanagement hat», motzte sie. «Wenn es nach dem Vater schlägt, kommt es eher viel zu früh, wenn du verstehst.»

Trotz ihres Ärgers gluckste sie über ihren wieder äußerst geschmackvollen Wortwitz. Und ich lachte mit, schon vor Erleichterung. Seit ich am Tag zuvor meine Unterschrift unter die Anerkennungsurkunde gesetzt hatte, war Emilie wie ausgewechselt. Und all ihre düsteren Gedanken in Bezug auf die Geburt und das Kind schienen verschwunden.

«Und wo bist du jetzt?», fragte sie.

«In der Küche. Ich mache mir gerade Kaffee.»

«In wessen Küche?», rief sie verzweifelt und ich grinste, weil ich es liebte, sie auf die Folter zu spannen. «Martin oder Elias?»

Elias war der Kerl gewesen, auf den ich eigentlich im ‹Black Hole› gewartet hatte, als Martin dort aufgekreuzt war. Doch bis eben hatte ich ihn tatsächlich komplett vergessen, weshalb mir das Grinsen jetzt ein bisschen verging. Auch wenn ich nicht wusste, warum.

«In Martins Küche natürlich», sagte ich.

«Hm», machte Emilie auf eine Art, die nicht erkennen ließ, ob sie das begrüßte oder nicht.

«Martin hat mir erzählt, dass du ihm verraten hast, wo er mich suchen soll», sagte ich. «Also tu jetzt nicht so.»

«Ich weiß nicht, ob ich mich an sowas erinnern kann», gab sie zurück.

Ich brummte unbestimmt. Eigentlich konnte Emilie Martin nicht besonders gut leiden. Dass sie ihm aufgetragen hatte, mich im ‹Black Hole› aufzugabeln, lag also entweder wirklich an einer Art pränataler Unzurechnungsfähigkeit. Oder sie hatte mal wieder irgendwelche anderen Ziele verfolgt, die sie mir aber sicher nicht verraten würde, wenn ich nun danach fragte. Also ließ ich es bleiben.

«Und wann kommst du jetzt?», fragte sie.

«Weiß ich noch nicht. Ich glaube, ich warte, bis er von der Arbeit kommt. Kann also später werden.»