Wasserspiele. - Marlene Hofmann - E-Book

Wasserspiele. E-Book

Marlene Hofmann

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Beschreibung

Der Kurzgeschichten-Band "Wasserspiele" sammelt drei historische Geschichten mit wahrem Kern. Sie spielen auf Schlössern und in ihren Gärten im 18. und 19. Jahrhundert im Sachsen-Altenburgischen. Rauschen. In der einen Sekunde am beliebten Radweg, in der nächsten neben einem malerischen Häuschen an einem wilden Wasserfall. Eine Begegnung im Geist der Geschichte, bei der zwei Kenner eines besonderen Ortes unvermittelt aufeinandertreffen. Konzert mit Fischen. Junge Musiker eines Berliner Ensembles reisen für ihren Auftritt in ein Landschlösschen im Altenburgischen. Doch auf dem Landsitz des gewitzten Freiherrn von Bielfeld erwartet sie für ihre Darbietung eine Kulisse, die sie der Provinz nicht zugetraut haben. Wind in den Segeln und am Ufer ein Schloss. Die Herzogin von Kurland fühlt sich nach langer Krankheit wieder gesund genug für eine Bootsfahrt auf dem Nöbdenitzer Teich und einen Spaziergang durch den idyllischen englischen Garten des Ministers von Thümmel, hin zu der mächtigen 1000-jährigen Eiche, die den Ort bis heute prägt. Doch ist die Genesung von Dauer? Jede Geschichte ist garniert mit historischen Hintergrundinformationen.

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Inhaltsverzeichnis

1. Erzählung

Rauschen.

2. Erzählung

Konzert mit Fischen.

3. Erzählung

Wind in den Segeln und am Ufer ein Schloss.

Rauschen.

~~~

Seit dem Ausstellungsaufbau sah er mit anderen Augen auf den Wanderweg entlang dem kleinen Flüsschen.

Statt des Asphalts erblickte er verschlungene, aber gepflegte Waldwege. Über die Wiese plätscherte ein schmaler Bach. Der Rasen war sorgfältig getrimmt, exotische Blüten dufteten und wohlüberlegt platzierte Baumgruppen spendeten Schatten. Das Bild leuchtete nur für einen kurzen Moment vor seinem inneren Auge auf. Dann verdrängte es der Anblick der wirklichen Wiese, der echten Bäume, des Erlebnispfads und des Spielplatzes am Teich.

Aber bereits ein Stück weiter am gleichen Radweg tauchten neue Bilder auf. Erst vorgestern hatte er diese Radierung ausgepackt. Das seltene Motiv hatte lange unbeachtet in Archiven geschlummert und war nur durch einen Zufall wieder ans Tageslicht gekommen.

Er blieb stehen, um die Stelle zu betrachten, wo vor langer Zeit ein kleiner Steinbruch gewesen sein musste. Gegenüber hatte man den Fluss zu einem Wehr gestaut. Der Steinbruch ließ sich nach wie vor an der Wölbung des Geländes erahnen, ein halbrunder Einschnitt in den Berg, den stets das braune Laub der Vorjahre bedeckte. An das Wehr konnte er sich noch erinnern, es war erst vor wenigen Jahrzehnten durch eine Fischtreppe ersetzt worden. Wenn er jetzt aber an den kargen Büschen und den spätsommerlichen Baumstämmen vorbeikam, sah er vor seinem inneren Auge eine völlig andere Szene: einen märchenhaften, eckigen Turm mit Strohdach, der an dieser Stelle stand. Um ihn herum führte ein schmaler Spazierweg. Von dem einsamen Ort aus bot sich eine malerische Aussicht auf das rauschende Wehr. Dahinter weideten Schafe, die ein kleiner Hirtenjunge bewachte.

Heute sah er auf der braunen Bank, wo sonst die Frühpensionierten anstießen, einen altertümlich gekleideten, betagten Herrn sitzen. Mit ungewöhnlich geradem Rücken stützte er sich auf einen filigranen Spazierstock und blickte aufs Wasser. Er trug eine moosgrüne lange Jacke und eine dunkle Kniebundhose, dazu weiße Strümpfe und Lederschuhe. Neben ihm lag ein farblich passender Zylinder. Er musste seinen verwunderten Blick gespürt haben, denn er hob den Kopf und ihre Augen trafen sich. Für einen Moment war es ihm, als sah er unscharf. Er kniff die Lider aufeinander, alles wirkte wieder so wie zuvor.

Dafür zeigte das Gesicht des alten Mannes große Überraschung. Mit einer unerwartet gewandten Bewegung erhob er sich von der Bank, starrte das Flüsschen an und danach ihn, dann den ehemaligen Steinbruch. Er öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Anschließend ging er geradewegs an ihm vorbei auf die Wandertafel zu, die den Sinn der Fischtreppe für Kinder anschaulich erklärte. Er las den Text nicht, starrte nur stirnrunzelnd die vielen Steinblöcke im Wasser an, um die herum sich der kleine Fluss seinen Weg suchte. Größere Zweige blockierten teilweise den Weg des Wassers. Fische konnte er keine entdecken. Als nächstes musterte er sein Gegenüber von Kopf bis Fuß.

Der intensive Blick fühlte sich unangenehm an. Er sah an sich herunter. Verwaschene blaue, lange Jeans, braune Lederschuhe, ein kurzärmliges schwarzes Hemd – keine Kopfbedeckung, keine Jacke, kein Halstuch. Der andere entschloss sich dennoch zu einer angedeuteten Verbeugung.

»Guten Tag, mein Herr«, sagte er und seiner selbstsicheren Stimme war keinerlei Verwunderung mehr anzuhören. »Sie scheinen nicht von hier zu stammen, ich habe Sie noch nie in diesem Landstrich gesehen!«

Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen und blickte sich unsicher um. Das Erinnerungsbild an die außergewöhnliche Grafik war längst verblasst. Zurück blieb der normale Waldweg, den er so gut kannte. Nur der alte Mann, der perfekt zum Stil der historischen Ansicht passte, hielt sich hartnäckig – und sprach auch noch zu ihm! Versteckte Kameras in den Bäumen konnte er nicht erkennen. Weil im Augenblick kein anderer Spaziergänger zu sehen war, entschied er sich für eine höfliche Antwort:

»Sie täuschen sich, ich bin hier aufgewachsen. Aber Sie habe ich noch nie getroffen. Sind Sie Schauspieler? Das Museum veranstaltet demnächst eine geführte Wanderung, Sie würden wunderbar ins Zeitbild passen.«

Mit einem schwer zu deutenden Lächeln winkte der alte Herr ab: »Ich hab vieles gemacht, aber Akteur war ich nie. Wohin wandern Sie denn?«

Ihm kam das Gespräch mehr als seltsam vor, doch er wollte nicht unhöflich sein. »Von der Eiche zur Kirche, zum Schloss und dann am Teich vorbei hierher.«

»Mir scheint, hier gibt es überhaupt nichts zu sehen«, sagte der andere, »Ich muss eingeschlafen sein und noch dazu vergessen haben, wo. Ich dachte, ich saß an der Einsiedelei, aber das war wohl ein Tagtraum.«

Ihm fiel keine Erwiderung ein. Höchstwahrscheinlich hatte er sich überarbeitet, er sollte eine Pause einlegen, weniger historische Briefe durcharbeiten. Das Buch musste die Zeit in Anspruch nehmen, die es nun einmal brauchte, um fertig zu werden. Er konnte nicht schneller daran arbeiten.

Er räusperte sich. »Sie haben recht, hier stand eine Einsiedelei«, sagte er dennoch. »Ich kenne das Gebäude nur von einer Radierung von Adrian Zingg. Sie liegt im Archiv des Lindenau-Museums.«

»Lindenau-Museum!«, schnaubte der Alte leise, »Der Bursche hat Einfälle!«

Aber er begutachtete nachdenklich den karg bewachsenen Platz, wo sich einmal eine kleine Eremitage in einem einst prächtigen englischen Garten befunden haben musste. An manchen Stellen wölbte sich der Waldboden uneben. Er trat näher heran und musterte die Erde, stocherte mit seinem Stock im Laub herum.

»Helfen Sie mir hinauf!«, rief er dann und ging bereits auf den Hang zu.

Er schaute sich noch einmal um, als aber niemand zu sehen war, trat er neben den betagten Herrn. Er stützte seinen Ellenbogen, als sich dieser daran machte, den unebenen Hügel zu erklimmen. Sein Atem ging schneller und er hielt einen Augenblick inne, um sich eine Verschnaufpause zu gönnen. Sie schauten auf das leise plätschernde Wasser hinunter.

»In der Tat!«, brummte der seltsame Wanderer. »Hier stand einmal die Einsiedelei. Ein schöner Ort. Es führte ein weit bequemerer Weg hinauf als dieser. Der Eingang lag verborgen dem Wald zugewandt. In der Stille und Einsamkeit lässt es sich nachdenken. Hier kann man seine Gedanken sammeln und neue Kraft schöpfen.«

Er ging noch ein wenig umher und bohrte seinen Spazierstock tief zwischen Zweigen und Moos in den Erdboden. »Ich verstehe nicht, wer das schöne Häuschen weggerissen hat.«

Er brauchte ganz sicher Urlaub. Gleich morgen würde er eine Pause einlegen und den Kollegen sagen, dass sie den Erscheinungstermin für das Buch noch einmal verschieben müssten.

Ein Radler in voller Rennfahrer-Ausrüstung raste unten auf dem Asphaltweg in hohem Tempo vorbei. Der Alte erstarrte erneut.

»Was war das?«, wollte er wissen.

»Nur ein Radfahrer«, antwortete er. Er fing an sich damit abzufinden, dass er gerade im Wald stand und mit einem Hirngespinst Zwiegespräche führte. »Ein äußerst schneller Fahrradfahrer allerdings.«

»Fahrrad?«, fragte der andere, »Eine Art Draisine?«

Das Wort hatte er schon einmal gehört, wusste aber nicht mehr wann und wo. »Das Fahrrad gibt es in einfacher Form seit Mitte des 19. Jahrhunderts«, sagte er – auch, um das Trugbild auf die Probe zu stellen. Es nickte, begann seine Überraschung zu überwinden, sah verstehend, doch ungläubig aus. Dann verlangte es: »Bringen Sie mich zum Schloss!«

Er mochte den Befehlston zwar nicht, wollte für Sinnestäuschungen aber eine Ausnahme machen und half dem Alten den Hang wieder hinunter.

Im Grunde gehe ich schließlich mit mir selbst und meinen wild gewordenen Gedanken spazieren, dachte er. Er rutschte auf dem feuchten Lehmboden aus, ein Zweig knackte laut und ihre Blicke trafen sich. Ein weiteres Mal war ihm, als verschwimme die Welt vor seinen Augen, er musste mehrfach blinzeln, um scharf zu sehen. Sie fanden die Balance wieder, der Alte bohrte seinen Spazierstock tief in den Boden.

Vorsichtig zog er seinen Arm weg und trat einen Schritt zur Seite. Zuerst fiel es ihm nicht auf. Aber er stand auf weichem Rasen. In der Mitte der runden Einbuchtung in den Berg blühten gelbe und rote Blumen in einem Rondell. Mehr Vögel als zuvor sangen ihr Nachmittagslied und in der Nähe rauschte das Wasser fast ohrenbetäubend, als es vom Wehr gestaut aus knapp zwei Meter Höhe herunterstürzte. Direkt neben ihm befand sich eine Natursteinmauer, Rosenbüsche wucherten davor und gaben dem Gemäuer einen märchenhaften Anstrich. Dahinter erhob sich ein kleiner, aus dicken Steinblöcken bestehender Turm. Blumen rankten an der Wand hinauf. Das Dach war strohgedeckt.

Etwas schien zu fehlen an der Szenerie. Er kramte in seinem Gedächtnis, was es sein könnte. Mit Wasserrauschen und Vogelgesang war es nicht leise im Wald, aber doch merkwürdig still. Still. Erst bei diesem Wort bemerkte er das Fehlen des vertrauten Hintergrundrauschens der Autobahn. Er zwinkerte und bohrte die Fingernägel verkrampft in die Handflächen, wie um sich davon zu überzeugen, dass er nicht schlief. Alles kam ihm vor wie immer, nur die Umgebung war anders, obwohl er noch an der gleichen Stelle stand.

Wieder fing sich sein Gegenüber als erstes. Auch ihm war der Unterschied aufgefallen. Diesmal bot er ihm den Arm und sagte: »Lasst mich Ihnen die Einsiedelei zeigen.«

Er führte ihn zu einer Steintreppe, die sich hinter einem kleinen Kellereingang in den Berg bohrte. Große Felsplatten formten einen viel bequemeren Weg hinauf auf die Anhöhe. Die Rosen dufteten, unzählige Insekten summten – sicher mehr als er den ganzen Sommer gesehen hatte. Sie erreichten ein kleines Aussichtsplateau von dem man das sprudelnde Wasser und das Blumenrondell noch besser betrachten konnte. Einen Hirtenjungen und Ziegen entdeckte er jedoch nicht. Auch die vier Spaziergänger, die sich auf der Grafik über das Geländer neben dem Fluss beugten, fehlten. Womöglich war er jetzt einer von ihnen. Hinter seinen Schläfen rauschte es, als wenn dort ebenfalls Wasser aus großer Höhe herabstürzte.

»Kommen Sie«, sagte der alte Herr, während er hinüber zum Eingang des kleinen Turms ging. Den offenen Raum durchquerten sie mit nur wenigen Schritten, dann standen sie am einzigen Fenster und sahen unter sich erneut das schäumende Wasser. Der alte Mann sank auf eine mit Moos gepolsterte Steinbank und legte den Zylinder wieder neben sich.

»Draußen tobt das Leben, Ereignisse überschlagen sich, Menschen kommen und gehen. Hier finden Sie einen Ort zum Ausruhen, an dem die Zeit stillsteht. Aber noch schöner ist die Eiche. Kennen Sie den Eichbaum, den man ‚die Tausendjährige‘ nennt?«

Er nickte stumm, überwältigt von dem Augenblick, von der anderen Sicht auf die Dinge, die ihm so vertraut gewesen waren. Langsam ließ er den Blick über die bekannte unbekannte Landschaft schweifen, versuchte sich den Klang des rauschenden Wassers, des Gesangs der Waldvögel und der Stille des Waldes einzuprägen. Er spürte die Kühle des Mauerwerks unter seinen Fingerkuppen. Konnte Wald intensiver nach Wald riechen und Rosen blumiger duften? Es kam ihm vor, als lebte er sonst in einer Welt, die blasser, nebeliger, verblichener war als diese hier. Sein Begleiter erhob sich wieder und trat neben ihn ans Fenster.

»Für mich wird es nun Zeit zu gehen. Auch wenn ich leider nicht mehr von Ihrer Welt sehen durfte«, sagte er mit wohlwollender Stimme und schaute ihn direkt an. »Aber es ist besser so.« Seine Augen strahlten hell und kein bisschen alt, sie schienen nicht zu dem Greis zu gehören.

Er nickte langsam. »Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Einsiedelei gezeigt haben!«, sagte er aufrichtig. Er fühlte sich verwirrt, beinahe schwindelig, schwitzte und zupfte an seinem Hemdkragen.

»Leben Sie wohl«, verabschiedete sich der alte Herr und setzte seinen Zylinder wieder auf. Zusammen verließen sie das Waldhäuschen durch die niedrige Tür. Der Alte bewegte sich elegant trotz des Stocks, kaum schwerfällig. Bei seiner leichten Verbeugung hob er den Hut ein wenig an. Ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal. Die Luft schien zu flimmern, als hinge Wärme über dem Waldboden.

Im nächsten Moment stand er alleine am Waldrand. Er schloss die Augen. Das ohrenbetäubende Rauschen des Wassers fehlte, es plätscherte vergleichsweise still. Die Vögel sangen gedämpfter, nur hier und da ein Ruf. Der Duft der Rosen war verschwunden, aber der Waldboden unter ihm roch noch erdig nach dem Laub vergangener Jahre, wenn nicht sogar Jahrhunderte. In der Ferne donnerten Lastwagen über die Autobahn, ein ewiges Dröhnen im Hintergrund, der Sound dieser Zeit.

Als er die Augen wieder öffnete und sich umsah, stand er auf dem Hang, um ihn herum Gestrüpp und heruntergebrochene Äste. Er drehte sich. Kein Rosengarten, kein Wehr, kein kleines Türmchen im Wald mehr. Sein Schuh stieß an etwas Hartes. Er bückte sich und hob eine Scherbe zwischen braunen Blättern hervor. Ein Stück von einem gewöhnlichen, roten Ziegelstein – ein Gruß aus einer vergangenen Zeit.

Der historische Kern.

Personen.

Hans Wilhelm von Thümmel.