Wege des Todes - Skandinavien-Krimi - Kirsten Holst - E-Book

Wege des Todes - Skandinavien-Krimi E-Book

Kirsten Holst

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Beschreibung

Ein neuer Fall für den eigentlich frühpensionierten Kommissar Høyer: Der Fabrikant Carl Frederik Bruun teilt seinem Sohn auf dem Sterbebett mit, dass er sein 12-Millionen-Erbe mit seiner ihm bisher unbekannten Halbschwester Karen Jensen teilen muss. Bruun jun. hat jedoch nicht vor, sein Erbe zu teilen, und dann gibt es auf einmal einen Mord im Sommerhaus der Bruuns in Jütland...-

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Kirsten Holst

Wege des Todes - Skandinavien-Krimi

Übersetzt Hanne Hammer

Saga

Wege des Todes - Skandinavien-KrimiÜbersetzt Hanne Hammer OriginalDødens dunkle veje Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1984, 2020 Kirsten Holst und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569537

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1.

Die Luft im Schlafzimmer war warm und stickig. Die Fenster waren geschlossen, die Gardinen zugezogen und im Raum lag ein säuerlicher Geruch nach Desinfektionsmitteln, Tabakrauch, Urin, Medizin und altem Mann. Ein Geruch von Vergänglichkeit und Tod.

Der alte Mann saß halb aufgerichtet, mit im Rücken gestapelten Kissen in seinem Bett und die einzigen Laute, die im Zimmer zu hören waren, waren sein beschwerlicher, pfeifender Atem und die rastlosen Schritte seines Sohnes vom Fenster zur Tür und wieder zurück. Hin und zurück.

Der alte Mann würde sterben.

Er wusste das und sein Sohn wusste das und zum ersten Mal in ihrem Leben waren sie sich – wenn auch aus verschiedenen Gründen – über etwas einig, obwohl keiner von ihnen es laut aussprach: Beide wünschten, dass es bald überstanden war.

»Musst du dauernd hin- und herlaufen?«, fauchte der Alte und sah den Sohn aufgebracht an. »Das macht einen ganz nervös. Setz dich hin.«

Geräuschvoll zog der Sohn einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett, sein Gesicht dem Vater zugewandt. Der alte Mann griff nach den Zigaretten, die auf dem Nachttisch lagen, nahm eine heraus und zündete sie mit einem vergoldeten Ronson-Feuerzeug an.

Der Sohn räusperte sich. »Hältst du das für klug?«

»Mach dich doch nicht zum Idioten«, knurrte der Alte. »Wir wissen beide, dass es darauf nicht mehr ankommt. Jetzt.«

Er nahm demonstrativ einen langen Zug, hielt den Rauch einen Moment tief in den kranken Lungen fest, stieß ihn aus und hustete.

Der Sohn wandte den Kopf ab und blickte starr zur Tür, als sein Vater nach der Speicheltasse griff und Schleim hineinspuckte.

»Warum bist du eigentlich gekommen?«, fragte der Alte, als der Hustenanfall vorbei war. »Wenn du Geld von mir willst, kannst du gleich wieder gehen. Du bekommst nichts. Du musst warten, bis ich unter der Erde bin – aber das wird nicht mehr lange dauern.«

»Ich brauche kein Geld«, entgegnete der Sohn kurz angebunden.

»Na, das ist ja mal was Neues. Dass ich das noch erlebe.« Der Alte schnitt eine Grimasse, während er die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. »Warum bist du dann hier?«

»Weil du krank bist und weil du mein Vater bist und ...«

»Natürlich! Sohnesliebe! Die konntest du mir nicht früher zeigen, was?«

Der Sohn biss die Zähne zusammen und schwieg.

Auch der Alte sagte nichts, nur sein pfeifender Atem war zu hören.

Der Sohn rutschte auf dem Stuhl hin und her, schlug das eine Bein über das andere und sah seinen Vater an. »Du magst mich nicht, stimmt’s?«, sagte er dann. »Das hast du nie getan.«

Der Alte schüttelte resigniert den Kopf. »Du kannst es nicht lassen, dich zum Idioten zu machen. Diese Frage spielt keine Rolle. Es geht nicht um mögen oder nicht mögen, es geht darum, dass du mein Sohn bist. Das ist nun einmal so und ich habe es nie geleugnet. Aber ich gebe gerne zu, dass du eine Enttäuschung warst. Fast von Anfang an. Ich hatte wohl gehofft – vielleicht mehr als erwartet –, dass du mich für eine katastrophale Ehe entschädigen würdest. Das hast du nicht getan, aber deswegen mache ich dir keine Vorwürfe. Es war eine törichte Hoffnung. Deine Mutter war schön, dumm und hatte – wie sich herausstellte – einen miesen Charakter. Leider ähnelst du ihr. Ich habe zu lange gebraucht, um zu begreifen, wie sehr, aber das ist schließlich nicht dein Fehler.«

»Was glaubst du eigentlich, wie es war, die Frucht einer katastrophalen Ehe zu sein und damit aufzuwachsen?«, fragte der Sohn.

»Erspar mir dein Selbstmitleid. Ich verabscheue Sentimentalität und du hast nie Grund gehabt dich zu beklagen. Deine Mutter hat dich immer verwöhnt und als mein Sohn ist dir alles auf einem Silbertablett serviert worden.«

»Alles?«, der Sohn brach in ironisches Gelächter aus. »Und was zum Beispiel?«

»Geld, Position, Prestige. Eine gute Ausbildung, Auslandsreisen. Alles. Das Leben. Dein ganzes Leben, mein Sohn! Und du hast alles vertan. Bei allem, was du angefangen hast, hast du versagt, aber ich habe mich geweigert, das zu erkennen, bis es fast zu spät war. Als ich mich zurückgezogen und dir die Leitung der Firma übertragen habe, hast du eine Chance bekommen zu zeigen, was du taugst. Und du hast gezeigt, dass du nichts taugst. Wenn ich nicht aus Spanien zurückgekommen wäre, um das Schlimmste zu verhindern und dafür zu sorgen, dass verkauft wurde, als noch Zeit dazu war, säßen wir beide – du und ich – heute im Armenhaus. Zum Dank hat mich das elende Klima hier umgebracht.«

»Das war nicht mein Fehler, das war die Konjunktur.«

»Unsinn. Unsere Konkurrenz war derselben Konjunktur unterworfen und ist zurechtgekommen. Offensichtlich gut genug, um unsere Firma aufzukaufen. Ich habe dir eine Firma übertragen, die 60 Millionen Kronen wert war, und nach weniger als vier Jahren haben wir mit Müh und Not noch 12 Millionen dafür bekommen. Das nenne ich Führungsvermögen!«

»Es könnte ja auch sein, dass die anderen Firmen in früheren Jahren eine dynamischere Leitung als einen verknöcherten, konservativen, alten Mann gehabt haben«, entgegnete der Sohn aggressiv, warf dem Vater jedoch gleichzeitig einen schnellen, ängstlichen Blick zu.

Der Alte lachte nachsichtig und hustete.

»Sicher, sicher. Aber der alte, verknöcherte Mann hat wenigstens nicht in unbrauchbare Hardware, Schwindelunternehmen, Pferderennen, große Autos und anderen Schwachsinn investiert, und wie bereits gesagt, habe ich uns gerade noch aus der Misere gerettet. Ich sage uns, denn obwohl dir im Moment wohl nicht einmal die Butter auf dem Brot gehört und ich nicht das geringste Vertrauen in deine Agentur habe, bist du noch immer mein Sohn. Und wenn ich sterbe – was bald sein wird –, erbst du, worauf du legal einen Anspruch hast. Ich habe kein Testament gemacht und gedenke nicht dein Erbe zu beschneiden, obwohl du im Lauf der Jahre schon mehr bekommen hast, als dir zusteht, und beträchtlich mehr, als du verdient hast. Du bekommst dein Erbteil unbeschnitten, und wenn ich dich richtig einschätze, wirst du alles in ein paar Jahren durchgebracht haben, aber das ist dann dein Problem.«

»Natürlich werde ich das nicht. Zwölf Millionen, hältst du mich für einen Idioten?«

»Ja, ehrlich gesagt. Übrigens sind es nicht zwölf Millionen, sondern nur sechs.«

»Sechs? Aber du hast doch gerade gesagt, dass ...«

»Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich sterbe vielleicht, aber ich bin nicht senil. Das Sommerhaus hast du ja bereits und darüber hinaus sind da zwölf Millionen und das Haus, aber das bringt nicht viel. Es ist nicht mehr schick hier zu wohnen. Wenn ich sechs Millionen gesagt habe, dann deshalb, weil du eine Schwester hast.«

»Was habe ich?«

»Du hast richtig gehört. Eine Schwester – oder besser eine Halbschwester. Ich habe eine uneheliche Tochter.«

Der Sohn starrte ihn ungläubig an. »Eine Tochter? Aus der Zeit, bevor ...?«

»Nein. Sie ist sieben Jahre jünger als du – auf den Tag genau. Und das ist im Großen und Ganzen alles, was ich von ihr weiß. Ich habe sie nie gesehen, aber ich weiß, dass es sie noch gibt.«

Der Sohn biss sich auf die Lippe.

»Wie heißt sie, deine ... Tochter?«

»Karen. Karen Jensen. Sie trägt den Nachnamen ihrer Mutter. Sie hieß Aase«, fügte der Alte hinzu und plötzlich schien ein anderer Ton in seine Stimme zu kommen, aber der Moment war so kurz, dass der Sohn es sich vielleicht nur einbildete. »Zu einem bestimmten Zeitpunkt habe ich überlegt ... aber zum einen glaube ich nicht an Scheidungen und zum anderen ... nun ja, ich hatte ja dich und damals habe ich noch immer gehofft, dass ...«

»Lebt sie noch? Die Mutter, meine ich?«

»Nein.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Sie ist vor ungefähr einem Jahr gestorben.«

»Weiß das Mädchen, dass ...«

»Dass ich ihr Vater bin? Wohl kaum. Ihre Mutter war sehr verbittert. Was ich ihr nicht verdenken kann.«

»Aber wenn niemand weiß ...«

Der Alte lächelte nachsichtig. »Aber es weiß jemand. Ich bin im Kirchenbuch als Karen Jensens Vater eingetragen. Ich habe natürlich auch bezahlt, eine einmalige Summe, mein Anwalt hat alles geregelt, mach dir also keine falschen Hoffnungen.«

»Heißt das, dass diese ... dass sie genauso viel erbt wie ich? Dass sie die Hälfte bekommt?«

»Genau.«

»Das ist doch verrückt. Du wirst ein Testament machen müssen.«

»Warum?«

»Um ihr Erbe zu begrenzen. Das kann man, das weißt du mit Sicherheit. Sie braucht nur ihren Pflichtteil zu bekommen. Es ist doch Wahnsinn, einem völlig fremden Mädchen mehrere ... Millionen zu hinterlassen.«

Der Alte warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Soweit ich weiß, gibt es andere wildfremde Mädchen, die – und ohne den Segen der Kirche – mindestens genauso viel bekommen haben, deshalb verstehe ich nicht, warum du dich so aufregst. Wenn die Firma Carl F. Bruun und Sohn noch existieren würde, wäre das etwas anderes. Dann hätte ich schon längst die nötigen Maßnahmen getroffen, um die Firma nicht teilen zu müssen, aber das ist nicht länger aktuell und jetzt bleibt es so, wie ich gesagt habe.«

»Du willst also einem wildfremden Mädchen ...«

»Sie ist fünfunddreißig.«

»Dann sagen wir eben einer wildfremden Frau, und ihr willst du dein halbes Vermögen vererben!«

»Die Reste davon, ja.«

»Einem unehelichen Kind, dass du dir mit einem billigen Frauenzimmer zugelegt hast.«

Der Alte richtete sich im Bett auf. »Pass auf, was du sagst. Ich kann noch immer ein Testament aufsetzen und ich verrate dir, dass ich nur eine Frau gekannt habe, auf die der Ausdruck, den du eben gebraucht hast, passt – nämlich deine Mutter.«

Der Sohn schwieg, während ein Wangenmuskel zitterte.

»Ja, aber warum?«, fragte er schließlich. »Warum?«

»Weil sie meine Tochter ist. Möglich, dass sie grässlich ist, ich weiß es nicht, ich kenne sie, wie gesagt, nicht. Aber jedenfalls hat sie mich nie enttäuscht. Deshalb bleibt es dabei.« Der alte Mann schloss die Augen. »Sei so nett und geh jetzt. Du ermüdest mich. Und du brauchst nicht öfter hierher zu kommen. Ich glaube nicht an deine Sohnesliebe, deine Besuche sind mir keine Freude und dir bestimmt auch nicht. Du kommst doch nur aus bloßer Konvention.«

Der Sohn stand auf. In seinem Gesicht arbeitete es.

»Aber Vater ...«

Der alte Mann öffnete die Augen und sah ihn kalt an.

»Geh!«, sagte er. »Kannst du mich nicht wenigstens in Frieden sterben lassen?«

 

Carl Bruun junior setzte sich in seinen neu erworbenen BMW 735. Das größte Schnäppchen aller Zeiten. Erst gut drei Jahre alt, nur ein Vorbesitzer und das für 365.000 Kronen. So gut wie geschenkt für das Geld, aber so etwas konnte der Alte nicht verstehen.

Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, doch dann kam er ins Grübeln und sah eine Weile mit leerem Blick auf die nasse Fahrbahn.

Zwölf Millionen!

Er hatte mit zwölf Millionen gerechnet.

Natürlich brauchte er Geld.

In dem Punkt hatte der Alte Recht.

Die Agentur war ein Flop gewesen. Kundenstamm inklusive. Es hatte nach dem besten Geschäft aller Zeiten geklungen. Er hatte Büroräume gemietet und eine Sekretärin eingestellt, die die laufende Büroarbeit erledigen und die Bestellungen entgegennehmen sollte. Von den Massen von Kunden. Sie verdiente nicht einmal ihren eigenen Lohn, sondern strickte von morgens bis abends Pullover, wenn sie nicht – der Telefonrechnung nach zu urteilen – Telefonate mit der Familie und Freunden in Timbuktu oder Rio führte oder wo zum Teufel das Weib auch anrief. Und dann waren da die Büromiete und die Ausgaben für die Hardware und diesen Wirtschaftsprüfer, der ihm mit feierlicher Stimme geraten hatte, die Eigentumswohnung zu verkaufen. Er hätte ja noch das Sommerhaus. Okay, er hatte verkauft. Er war quasi obdachlos und was hatte es genutzt? Nichts, gar nichts. Er hatte noch immer Schulden von über einer Million und sie wuchsen mit jedem Tag, der verging. Verdammt noch mal, er musste doch auch leben.

Zwölf Millionen!

Er hätte seine Schulden bezahlen und die Agentur vergessen können; richtig angelegt, hätte der Rest genug gebracht, um anständig zu leben. Vielleicht in Spanien, in Portugal oder auf den Kanarischen Inseln. Da sparte man auch Geld durch die Wärme. Das elende Sommerhaus schluckte Öl wie andere ihren Whisky. Eine Minute Wärme pro Zentiliter.

Der Alte wusste nicht, dass die Eigentumswohnung verkauft war.

Der Alte wusste auch nicht, dass er sich den BMW gekauft hatte.

Er brauchte nicht alles zu wissen.

Aber vielleicht wusste er es trotzdem.

Er hatte es immer verstanden, anderer Leute Geheimnisse auszugraben.

Seine eigenen Geheimnisse hatte er offenbar geheim halten können.

Zwölf Millionen!

Der Alte hielt ihn für einen Idioten, aber man brauchte weder ihn noch das Staatsexamen in Mathematik, um sich ausrechnen zu können, dass die Hälfte von zwölf Millionen sechs Millionen waren.

Sechs Millionen und eine lausige alte Villa, nein, die Hälfte einer lausigen alten Villa. Und dann kamen noch Erbschaftssteuer und Teilungsgebühren und weiß der Teufel, was noch hinzu, sodass er bestimmt nur noch vier Millionen haben würde, wenn seine Schulden erst bezahlt waren, und wer konnte schon von vier Millionen anständig leben, es sei denn, man fand ein bombensicheres Geschäft?

Ein bombensicheres Geschäft?

Vielleicht ließ sich mit dem Hurenkind reden.

Vielleicht sah sie zudem noch gut aus.

Nein, zum Teufel, sie war seine Schwester, das ging also nicht. Zwar nur seine Halbschwester, aber trotzdem.

Karen Jensen.

So hieß sie also. Und ihre Muter hieß Aase.

Vielleicht war Karen Jensen für ein Joint Venture zu haben.

Aber wenn nicht, dann ...

Karen Jensen.

Warum hatte er den Vater nicht gefragt, wo sie wohnte?

Wo sie geboren worden war?

Hier im Land musste es Tausende Karen Jensens geben.

Aber verreist war der Alte nie.

Er konnte sich noch an seine Schritte auf dem Gartenweg erinnern. Jeden Abend um 18.30 Uhr, pünktlich auf die Minute.

Es lag also nahe, dass sie hier aus der Stadt war.

»Sie wurde geboren, als du sieben warst – auf den Tag genau.«

Karen Jensen musste zu finden sein.

Auf die eine oder andere Weise.

Die zwölf Millionen mussten zu finden sein.

Auf die eine oder andere Weise.

Ein völliger Idiot war er schließlich doch nicht. Fast war es schade, dass der Alte nicht mehr da sein und sehen würde, dass er sich in seinem Sohn ganz und gar geirrt hatte.

Er drehte den Zündschlüssel um, legte den Gang ein und fuhr langsam vom Bordstein weg.

2.

Beck, L. O. Beck, Privatdetektiv, legte den Hörer auf, lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und starrte leer in die Luft, während er nachdenklich den Mund spitzte und zerstreut mit Daumen und Zeigefinger an der Unterlippe zog.

Dann richtete er sich entschlossen auf, beugte sich vor und zog die unterste Schreibtischschublade auf.

This called for a drink!

L. O. Beck liebte es, sich als dänischen Philip Marlowe der Achtzigerjahre zu sehen. Vor zehn Jahren war er der Philip Marlowe der Siebziger gewesen und davor ... nein, so weit zurück mochte er nicht denken.

Der Whisky in der untersten Schreibtischschublade gehörte mit ins Bild.

Beck schenkte sich einen steifen Whisky ein, legte die Füße auf die Schublade, die er offen gelassen hatte, trank einen Schluck und blieb mit dem Becher in der Hand sitzen.

»Sie sollen ein Mädchen für mich finden!«

So lautete der Auftrag.

Er hatte ihren Namen bekommen, ihr Geburtsdatum und die Namen der Eltern.

»Geboren wo?«, hatte Beck gefragt.

»Unbekannt. Aber vermutlich hier in der Stadt.«

»Vermutlich?«

»Ja.«

»Das wird schwer werden«, hatte Beck gesagt. Es war immer gut, die Klienten auf eine ansehnliche Rechnung vorzubereiten. »Es muss mehrere Hundert mit diesem Namen geben, und wenn wir nicht mit Bestimmtheit wissen, wo sie geboren wurde, dann ...«

»Wenn es einfach wäre, würde ich nicht Ihre Hilfe brauchen.«

Vorgestellt hatte der Mann sich nicht. Nur eine Stimme am Telefon. Älter vielleicht. Oberklasse. Ein Anwalt? Oder vielleicht der Vater des Mädchens?

»Was mache ich, falls, oder besser wenn ich sie gefunden habe? Gibt es eine Telefonnummer oder eine Adresse, die ich ...«

»Nein. Ich rufe Sie an. Wann glauben Sie, haben Sie etwas?«

Beck sah auf seinen Kalender. Heute war Montag. Wenn er beim ersten Versuch Glück hatte, konnte er den Auftrag vielleicht in ein paar Tagen erledigen, aber es war besser, sich auf der sicheren Seite zu bewegen.

»Ich verspreche nichts, aber Sie können es Montag versuchen.«

»Den Sechzehnten?«

»Ja.«

Am anderen Ende der Leitung war es kurz still. »Geht es nicht früher?«, fragte die Stimme dann.

»Das kann ich nicht versprechen. Der Auftrag ist ...«

»Ja, das weiß ich. Er ist schwierig. Aber wenn Sie ihn zufrieden stellend erledigen, bekommen Sie eine Extravergütung.«

»Ich werde es versuchen«, hatte Beck gesagt. »A propos Extravergütung ... mein Honorar beträgt 1.500 Kronen pro Tag.«

»Ausgezeichnet.«

»Plus Spesen«, hatte Beck sich beeilt hinzuzufügen. »Und 3.000 bar im Voraus. Sie können mir einen Scheck schicken.«

»Sie haben das Geld in einer Stunde«, hatte die Stimme gesagt. »Und dann habe ich noch ein paar Bedingungen. Zunächst einmal absolute Diskretion.«

»Natürlich, das ist das A und O in ...«

»Und ich meine hundert Prozent Diskretion. Versuchen Sie nicht herauszufinden, wer ich bin, und stellen Sie keine Fragen. Verstanden?«

»Klar«, hatte Beck gesagt. »Keine Fragen und absolute Diskretion.«

Er hatte noch mehr sagen wollen, aber der andere hatte ihn unterbrochen. »Ich rufe Freitagvormittag an. Zwischen zehn und elf.« Dann war der Hörer aufgelegt worden.

Beck trank einen Schluck von seinem Whisky und sah auf die Uhr.

Vielleicht war das Ganze nur ein Witz, aber das würde sich innerhalb von 50 Minuten zeigen. Er kannte niemanden, der 3.000 Kronen für einen Witz opfern würde, er brauchte also nur abzuwarten. Darin war er gut. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er mit Warten und das passte ihm ausgezeichnet. Beck war ein ziemlich fauler Mensch. Das war nichts, worauf er besonders stolz war, es war einfach eine Tatsache. Er machte sich nichts aus harter Arbeit – weder geistiger noch körperlicher Art –, vielleicht mochte er gerade deshalb seinen Job. Er war fast zufällig in diese Branche hineingeraten, damals. Nach dem Abitur und dem Militärdienst hatte er sich einige Jahre herumgetrieben, ohne richtig zu wissen, was er wollte. Schließlich hatte er sich bei der Polizei beworben. Bis er herausfand, dass das nicht sein Ding war, hatte er Schule und Probezeit absolviert. Die Arbeit war zu langweilig und es gab zu viel davon.

»Was zum Teufel willst du dann machen?«, hatte sein Vater ihn resigniert gefragt, als Beck wieder gekündigt und sich eine Zeit lang zu Hause in Jütland herumgetrieben hatte.

Beck hatte nur mit den Schultern gezuckt. Er hatte keine Ahnung, bis er über eine Annonce stolperte, in der das Jütländische Detektivbüro, Dänemarks älteste Detektei, einen Mitarbeiter suchte.

Die Detektei hieß Karl Christensen, und dass es die älteste Detektei war, stimmte offensichtlich, denn Karl Christensen war mitten in den Siebzigern. In seinen Broschüren hatte er damit geprahlt, für das berühmte Pinkerton Detektivbüro gearbeitet zu haben. Er hatte ihn mit drei Monaten Probezeit eingestellt und Beck hatte sofort erkannt, dass er hier am richtigen Platz war. Neben der Erledigung kleinerer Aufgaben, die Karl Christensen ihm in den ersten Monaten überlassen hatte, hatte er seine Zeit darauf verwandt, einen Bericht über Karl Christensen auszuarbeiten, den er ihm an dem Tag vorgelegt hatte, an dem die Probezeit endete.

Dieses Mal hatte Beck wirklich gute Arbeit geleistet. Der Bericht war ziemlich umfassend, aber der Name Pinkerton kam nirgendwo darin vor. Während des Zeitraums, in dem Karl Christensen angeblich dort beschäftigt gewesen war, hatte er sich Becks Bericht zufolge teils in Deutschland, teils an der Ostfront aufgehalten.

Karl Christensen hatte den Bericht gründlich studiert, gesagt, dass Beck ein Gespür für den Job hätte und ihn als seinen Kompagnon eingestellt.

Drei Jahre später war Dänemarks ältester Detektiv ruhig und friedlich in seinem Bett gestorben und Beck hatte das Büro allein weitergeführt.

Beck liebte seinen Job. Er verlangte weder große Gehirntätigkeit noch körperliche Anstrengungen, abgesehen von den Tausenden von Kilometern, die er im Laufe der Jahre bei der Beschattung von Leuten gewandert sein musste, aber selbst das amüsierte ihn.

Die Fälle, die er bearbeitete, waren meistens banal. Untreue Ehegatten, verschwundene Ehemänner und ausgerissene Kinder, aber für ihn wurden sie nie zur Routine, denn in seinen Augen gab es keine zwei gleichen Fälle.

Dieser Fall nun ging entschieden über das Übliche hinaus.

Nicht die Aufgabe selbst, aber die Geheimniskrämerei drum herum.

Normalerweise hätte er nicht viele Gedanken darauf verschwendet, wer ihn beauftragt hatte und warum, aber jetzt erwischte er sich dabei, wie er darüber nachdachte.

Keine Fragen – das war die Bedingung.

Und genau das ließ reihenweise Fragen aufkommen.

Beck dachte noch nach, als eine Dreiviertelstunde später ein Bote ein kleines, flaches Päckchen ablieferte und ihn um eine Quittung bat.

In dem Päckchen lagen 3.000 Kronen in kleinen Scheinen.

Um einen Witz handelte es sich hier jedenfalls nicht.

 

Es war so lächerlich leicht, dass er sich fast unanständig vorkam, das volle Honorar dafür zu verlangen. Als würde man einem Kind Bonbons klauen. Aber die Stimme am Telefon gehörte keinem Kind, verdammt noch mal!

Die Stimme rief pünktlich um halb elf am Freitagvormittag an.

»Haben Sie etwas herausgefunden?«

»Ja, es war schwer, aber es ist mir gelungen. Ihre Karen Jensen ...«

»Nennen Sie sie nicht meine Karen Jensen«, unterbrach der andere kalt.

Beck seufzte. »Gut, die bewusste Karen Jensen, Tochter der Sekretärin Aase Jensen und des Direktors Carl Fredrik Bruun, wurde hier in der Stadt geboren und lebt auch noch hier. Sie ist Bibliothekarin, ledig und hat mit ihrer Mutter zusammen in einem Haus im Hybenvej gewohnt. Nach dem Tod der Mutter hat sie das Haus verkauft und ...«

»Ja, gut. Aber sind Sie sicher, dass sie es ist?«

»Hundert Prozent. Ich kann Ihnen Kopien von ...«

»Das ist nicht nötig.«

Beck zögerte kurz. Es schien fast, als hätte der andere das Interesse verloren. Möglicherweise endete es damit, dass er den Rest seines Honorars in den Wind schreiben konnte.

»Sie ist, wie gesagt, umgezogen und ihre jetzige Adresse lautet Sandagervej 111. Sind Sie sicher, dass Sie nicht die Kopien haben wollen, die ...«

»Nein, kein Bedarf«, sagte der andere.

»Gut, dann ... ich weiß nicht, soll ich Ihnen eine Rechnung schicken?«, fragte Beck nach einer weiteren Pause.

»Wie viel schulde ich Ihnen?«

Beck musste kurz mit sich kämpfen. Normalerweise rechnete er nicht mit halben Tagen, er war Montag mit der Sache beauftragt worden und jetzt war Freitag. Fünf Tage.

»4.500«, sagte er.

»Sie nehmen auch, was Sie kriegen können«, antwortete der andere.

Arsch, dachte Beck. Laut fügte er hinzu: »Plus Mehrwertsteuer.«

»Sie haben nichts von Mehrwertsteuer gesagt, als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben.«

»Das muss ich getan haben«, sagte Beck. »Darauf mache ich immer aufmerksam. Aber dafür brauchen Sie ja keine Spesen zu zahlen. Das macht dann ungefähr 6.000 Kronen, 6.150, um genau zu sein.«

»Die Steuer kann doch unmöglich 1.600 Kronen betragen«, protestierte der andere.

»Fünf Tage zu 1.500 Kronen macht 7.500 Kronen, plus Mehrwertsteuer 1.650, das sind 9.150 minus 3.000 Vorschuss. Ich komme auf nichts anderes als 6.150 Kronen«, beharrte Beck sanft. »Aber ich schicke Ihnen gerne eine Rechnung.«

»Nein, das ist in Ordnung. Ich schicke Ihnen das Geld.«

Beck erwog, die Extravergütung zu erwähnen, kam jedoch zu dem Schluss, dass das unklug wäre.

»Ja, dann ...«, begann er.

»Ich habe gedacht ...«, unterbrach der andere. »Wenn Sie im Moment nicht zu viel zu tun haben ... ich habe faktisch noch einen Job für Sie.«

»Noch ein Mädchen?«, fragte Beck.

»Nein, dasselbe Mädchen. Ich möchte, dass Sie ihre Bekanntschaft machen.«

Beck nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn an. »Was?«, fragte er ungläubig.

»Ich möchte, dass Sie sie kennen lernen.«

»Wie?«

»Darüber können Sie sich den Kopf zerbrechen.«

»Das gleiche Honorar?«

»Ja.«

»Darf sie wissen, wer ich bin?«

»Das ist egal. Gehen Sie so vor, wie Sie es für richtig halten. Aber vielleicht sollten Sie sich als Berater ausgeben.«

»Und wenn es klappt?«

»Finden Sie heraus, ob sie weiß, wer ihr Vater ist.«

»Ist das alles?«

»Ja. Schaffen Sie das?«

»Ich habe ein paar Aufträge, die ...«

»Können die nicht warten?«

»Vielleicht. Muss es direkt sein?«

»So schnell wie möglich.«

»Okay. Ich fange an, sobald ich das erste Honorar bekommen habe.«

»Das bekommen Sie heute. Und ich rufe Sie an und erkundige mich, wie es läuft. Übrigens, was für ein Auto fahren Sie?«

»Einen Ford Escort.«

»Neu?«

»Nein. In meinem Job muss man ...«

»Ja, verstehe. Aber für diesen Job sollten Sie etwas Schickeres mieten, denke ich. Schreiben Sie es aufs Spesenkonto.«

»Der Prinz auf dem weißen Ross?«

»So ungefähr, ja. Etwas in der Richtung. Ich melde mich.«

Dann wurde der Hörer aufgelegt.

Beck schüttelte den Kopf.

Der Mann war verrückt.

Er zog die unterste Schublade auf, nahm die Flasche heraus, schenkte sich einen Whisky ein und prostete sich zu.

War es so seltsam, dass er seinen Job liebte? Hier war alles möglich.

3.

»Ach, du meine Güte«, flüsterte die Bibliothekarin der Kinderbuchabteilung und stupste ihre Kollegin aus der Erwachsenenabteilung, Linda Warming, in die

Seite, als L. O. Beck die Bibliothek betrat. »Es gibt doch verdammt viele Sorten Leser.«

Linda warf Beck, der mitten in der Tür stehen geblieben war und jetzt den halb geschmolzenen Schnee von sich abschüttelte, einen schnellen Blick zu.

»Der da?«, sagte sie. »Der will nichts ausleihen. Vielleicht will er in den Lesesaal.«

Hätte man Linda gefragt, woher sie das wissen wollte, hätte sie mit der Antwort Schwierigkeiten gehabt. Wahrscheinlich hätte sie gesagt, dass er nicht wie jemand aussah, der Bücher auslieh, aber, da musste sie ihrer Kollegin Recht geben, es gab viele Sorten Leser. Weder der grüne Lodenmantel, der passende Hut, die braune, gut gebügelte Hose noch die teuren Schuhe gaben den Ausschlag. Auch nicht die Tatsache, dass Beck wie ein Mann aussah, der genug Geld hatte, sich die Bücher zu kaufen, die er lesen wollte, das hatten schließlich viele ihrer Kunden. Und auch nicht, dass er nicht einmal wie jemand aussah, der überhaupt Bücher las.

Würde Linda wirklich gefragt – aber das wurde sie nicht –, hätte die Antwort wohl gelautet, dass Beck wie ein Mann aussah, dem nichts daran lag, etwas umsonst zu bekommen, das alle anderen genauso leicht bekommen konnten. Und damit hätte sie Recht gehabt.

Beck blieb mit dem Hut in der Hand stehen und ließ den Blick durch den Raum wandern. Er streifte uninteressiert die beiden Frauen in der Ausleihe, registrierte kurz den kleinen eingefallenen Mann, der an einem Schreibtisch saß und versuchte, sich hinter einem Schild zu verstecken, auf dem BIBLIOTHEKAR stand, und erblickte schließlich die Tür zum Lesesaal. Die Bibliothek war klein und überschaubar, die kleinste Filiale der Stadt mit nur fünf, sechs Angestellten, sein Glück, denn so war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er Karen Jensen hier finden würde.

Er wusste, dass sie hier war. Er hatte sie zwei Tage lang beschattet und war ihr vor ein paar Stunden bis zur Tür gefolgt.

»Was hab ich gesagt!«, flüsterte Linda triumphierend ihrer Kollegin zu, als Beck im Lesesaal verschwand.

Karen Jensen sah fragend auf, als Becks Schatten über den Schreibtisch fiel, an dem sie Karteikarten bearbeitete.

Der Schatten eines Lächelns zeigte sich in ihren Augen und wuchs fast unmerklich, als Beck höflich und fast ein wenig unsicher fragte: »Entschuldigung, kann ich hier etwas über Münzen finden?«

Ein Lächeln, von dem Beck annahm, dass es bedeuten sollte: »Wir wissen doch beide ausgezeichnet, dass das Numismatik heißt, warum spielen Sie den Unwissenden?«

Wieder lächelte Beck leicht verlegen. Ein Lächeln, das sagte: »Ja, natürlich weiß ich das, und ich weiß, dass Sie das wissen, aber ich bin ein bescheidener Mensch, der sich nicht mit seinem Wissen brüstet.«

»Über Münzen? Ja, natürlich«, sagte Karen Jensen, schob die Karteikarten zur Seite und stand auf. »Ich werde Ihnen helfen. Möchten Sie etwas ausleihen oder nur im Lesesaal hineinschauen?«

»Nur hineinschauen«, antwortete Beck. »Sehen Sie.« Er steckte die Hand in die Tasche und zog eine kleine Schachtel heraus. »Ich habe kürzlich einige Münzen von einem alten Onkel geerbt. Eigentlich war er kein Numismatiker«, Beck lächelte schwach, »deshalb glaube ich nicht, dass er auch nur die leiseste Ahnung gehabt hat, was das für Münzen sind und was sie wert sind. Bestimmt ist er irgendwann über sie gestolpert. Es sind nur zehn Stück, deshalb habe ich mir gedacht, dass sie leicht zu finden sein müssen, wenn Sie einen Katalog oder so etwas haben.«

»Was sind das für Münzen?«, fragte Karen Jensen interessiert.

Beck nahm den Deckel von der Schachtel und ließ die Münzen auf den Tisch fallen. Ein älterer Mann am anderen Ende des Raums hob irritiert den Blick von dem Buch, das vor ihm lag.

Karen Jensen studierte eine Münze nach der anderen.

»Es sind alles dänische«, sagte sie dann. »Das wird uns helfen.«