Weiberstammtisch - Sabine Herbst - E-Book
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Weiberstammtisch E-Book

Sabine Herbst

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Beschreibung

Umzug von Hamburg nach Ammerleiten, ins tiefste Bayern – Kulturschock vorprogrammiert! Nicht für Josi! Oder etwa doch? In ein Dorf mit mehr Kühen als Einwohnern, dafür aber mit einem wöchentlichen Stammtisch nur für Frauen. Komme, was wolle! Doch hat Josi als Nordlicht und „Zuagroaste“ überhaupt eine Chance, im Dorf aufgenommen zu werden? „Da musst du dich bewähren und in die Gemeinschaft einfügen.“ So ist zumindest die Meinung der Ammerleitner Frauen. Als einem Mitglied des Stammtisches ein langersehnter Wunsch erfüllt werden soll, merkt Josi, dass es nur funktioniert, wenn der „Weiberstammtisch“ zusammenhält.

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Inahltsverzeichnis

Prolog 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

Glossar 

Vollständige e-Book-Ausgabe 2022 

Copyright © 2022 WOLFSTEIN 

ein Imprint der Spielberg Verlagsgruppe, Neumarkt 

Korrektorat: Hanë Bytyqi 

Umschlaggestaltung: © Ria Raven, www.riaraven.de

Bildmaterial: © shutterstock.com 

Alle Rechte vorbehalten. 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. 

(e-Book) ISBN: 978-3-95452-114-2 

www.spielberg-verlag.de

Sabine Herbst, ist in Steingaden geboren und aufgewachsen. Wenn sie nicht gerade mit dem Wohnmobil unterwegs ist oder mit dem Fahrrad die Berge auf und ab fährt, arbeitet sie im Büro um die Ecke. Die Erlebnisse als Reiseleitung oder bei der Grenzpolizei lieferten so manchen Gedankenanstoß für ihre Geschichte. Die Idee, ihr fiktives Erstlingswerk ›Weiberstammtisch‹ zu schreiben, kam aber vom Frauenstammtisch in ihrem Heimatort, der monatlich im Feuerwehrhaus zelebriert wird.

Prolog 

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell sich Dackel fortbewegen können. Waggis krumme Beine fetzten so über den Strand von St. Peter-Ording, dass er einen kleinen Sandsturm hinter sich entfachte. Seine Ohrwatschel flatterten im Wind und es war zu befürchten, dass er gleich abhebt, um sich in die Armada von Drachen einzureihen, die am blauen Himmel ihre Kreise zogen. Josina, von den meisten nur Josi genannt, beobachtete das herzerfrischende Umhertollen ihres Rauhaardackels. Es schien fast so, als würde ihr Hund wissen, dass es für die nächste Zeit sein letzter Strandtag sein sollte und er, so wie sein Frauchen, seinem bajuwarischen Herzen zu folgen hätte.

Im Gegensatz zu ihrem Hund, der sich seiner bayrischen Herkunft immer schon bewusst war und sei es nur, um seinen Dickschädel durchzusetzen, schlugen in Josis Brust zwei Herzen.

Das eine schlug für Ammerleiten und Oberbayern, das andere für Hamburg und den Norden. Sie liebte es, an der Elbe zu sitzen und die Containerschiffe zu beobachten, sich dabei ein fettes Krabbenbrötchen zwischen die Kiemen zu drücken und ihre Gedanken auf die Reise zu schicken.

Gedanken an eine steife Brise, den Sand der Nordsee durch die Finger rieseln lassen, im Watt spazieren und den Batz durch die Zehen drücken. Oh ja – Hamburg und der Norden waren ihre Heimat.

Zu 50 Prozent wenigstens.

Denn da gab es noch das beschauliche, kleine Dorf mit mehr Kühen als Einwohnern, direkt an den Ammergauer Alpen gelegen, mit Blick auf die Hohe Bleick. Unweit der Märchenschlösser von König Ludwig II, lag es eingekuschelt in grüne Wiesen, die wirklich grüner waren, als die Wiesen im Rest von Deutschland.

Bei diesen Gedanken stiegen Erinnerungen in Josi auf: Bilder von den kleinen alten Bauernhäusern, dem Geruch, wenn der Holzofen geschürt wurde – und an ihre Oma. Als Kind hatte sie jedes Jahr ihre Sommer- und Winterferien bei ihr verbracht. Die Nächte im dicken Daunenbett, in dem man sich wie die Prinzessin auf der Erbse fühlte, obwohl die Matratze aus Rosshaar bestand und schon ziemlich durchgelegen war. An das tolle Frühstück, das ihre Oma ihr jeden Tag in der Früh bereitet hatte: warme, frische Kuhmilch und ein Butterbrot mit dick Honig darauf.

 

»Damit was an dich hinwächst«, nuschelte sie vor sich hin und tätschelte ihr die Wange. Oh ja! Wie war das schön als Stadtkind in solch ein Idyll zu kommen. Raus aus den Schuhen und den ganzen Sommer barfuß zu laufen. Sich nach einem Gewitterregen die Füße in den entstandenen Pfützen zu waschen oder bei kühlerem Wetter mit den kalten Füßen in die warmen Kuhfladen zu stellen. Freunde zu haben, die einen nicht danach bewerteten, was man anhatte oder woher man kam, sondern die einen so annahmen, wie man war.

Emmi, Hubert und vor allem Korbinian, der ihr mit zehn Jahren den ersten Schmatzer verpasst hatte. Spiele auf der Tenne, wenn sie sich todesmutig von oben herab in das Heu stürzten und sie danach feststellen musste, dass sie Heuschnupfen hatte.

Zwei Herzen! Zwei Heimaten! Zwei Welten! Wie würde ihre Oma sagen? ›Jetzt ist’s soweit, dass soweit ist!‹ Ja, liebe Oma, jetzt war es so weit. Es war an der Zeit den heimatlichen Hamburger Hafen zu verlassen und sich an fast neue Ufer zu wagen. Sich aus dem Trubel der Großstadt und der Bevormundung ihrer Mutter zu befreien, das blasierte Gehabe ihrer sogenannten »Freunde« hinter sich zu lassen.

All diese Faktoren hatten sie mehr und mehr belastet und ihr schier die Luft zum Atmen genommen. Immer öfter hatte sie sich nach dem satten Grün der Wiesen gesehnt, dem Anblick der Berge, der Leichtigkeit des Seins, die sie in diesem Kleinod in Bayern empfunden hatte und ihr wurde immer klarer, dass jetzt ihre zweite Heimat an der Reihe war. Ammerleiten, ich komme! Oma, ich komme!

Doch so viel Glück war ihr leider nicht vergönnt. Oma, die »Hauser Rosi«, verstarb vier Wochen vor ihrem Umzug nach Bayern. Sie schlief selig auf der Sonnenbank ein, ein Glas »Vitus Spezial« stand neben ihr und Korbinians Kater ruhte auf ihrem Schoß. Und jetzt vermachte sie ihr auch noch ihren kleinen Bauernhof. Wenn das nicht Schicksal war.

Ammerleiten, jetzt kommt die Neue. Die »Hauser Josi«.

Die Wolken hingen tief in den Ammergauer Alpen und es regnete seit einer Woche unerbittlich auf die saftigen, grünen Wiesen. An manchen Stellen bildeten sich schon kleine Tümpel, die sich im Laufe der Tage zu einem stattlichen See verbanden. Das Jungvieh, das sich auf den Weiden befand, stand starr, wie hinbetoniert, als versuchten sie, mit dieser Taktik weniger nass zu werden. Sogar die Glocken, die sie um den Hals trugen, hörte man nicht. Kein Gebimmel, nur das leise Wiederkäuen der Rinder war zu erahnen, wenn der Regen mal ein wenig nachließ.

Der Dorfbach zum Feuerwehrteich hatte sich in den letzten Stunden zu einem kleinen, reißenden Sturzbach entwickelt, der den Pegel des Löschteiches gefährlich ansteigen ließ. Sogar die Entenfamilie beim Teich hatte ihre Siebensachen gepackt und kauerte nun unter dem Vordach des Feuerwehrhauses, um den schlimmsten Regengüssen zu entkommen. Es war die Staulage, die sich am Rande der Gebirgskette oftmals entwickelte und dafür sorgte, dass Regen, Wolken und Nebel nicht mehr abzogen. Oftmals war es auch so, dass die Sonne das Kleinod mit ihren Sonnenstrahlen verwöhnte, wenn im Umkreis von fünf Kilometern schon das schlechte Wetter Einzug genommen hatte.

Im Moment war es der Regen, der sich über Ammerleiten richtig eingenistet hatte und keine Anstalten machte, in nächster Zeit das Weite zu suchen.

Die Bewohner von Ammerleiten hatten sich mit dem Wetter arrangiert. Was blieb ihnen denn auch anderes übrig? Traudl und Walli waren schon seit ungefähr 20 Jahren in Ammerleiten ansässig, während es Emmi und Zenzi sozusagen in die Wiege gelegt bekommen hatten. Emmi hatte es sich zu eigen gemacht, sich nach dem 100-jährigen Kalender zu richten und so die Wetterprognosen zu deuten. Zenzi hatte eine etwas unkonventionellere Methode gefunden, die Kapriolen des Ammerleitner Wetters zu analysieren. Sie beobachtete das Wachstum ihrer Königskerzen und studierte die Gemütslage ihres wetterfühligen Papageis.

Diese Amazonasschönheit, mit Namen Rosa, war nämlich zwei Tage bevor das Wetter umschlug, dermaßen unausstehlich, dass sie Zenzi zuweilen den letzten Nerv raubte. Und das sollte was heißen – war sie doch sonst ein sehr geduldiger und ruhiger Mensch, den fast nichts aus der Ruhe bringen konnte. Aber wenn Rosa loslegte, krächzte, fluchte und wild im Haus herumflog, dann überlegte sich Zenzi so manches Mal, ob Papagei als Grillhendlvariante schmeckte und ob die Federn für ein kleines Kopfkissen reichen würden.

Und jetzt war es wieder so weit. Rosa war außer Rand und Band und bei Zenzi schaute es in der Küche aus, als wäre Frau Holle zu Besuch gewesen. Überall Federn von Rosa, die ihre spinnerten zwei Tage hatte. Doch heute war Zenzi die Ruhe selbst. Sie stieg in ihre Gummistiefel, die im sicheren Abstand zum Wamsler standen, schlupfte in ihren Parka und setzte sich den breitkrempigen Regenhut auf. Schnell steckte sie sich Tabak und Blättchen ein, schlurfte zur Küchentür und drehte sich nochmal zu Rosa um.

»Du depperter Vogel! Jetzt langt’s aber wieder mal für die nächste Zeit! Gott sei Dank, dass das Wetter nicht mehr schlechter werden kann. Es wird echt Zeit, dass sich die Sonne wieder zeigt!«

Rosa zeterte weiter und schrie: »BledeKuah!BledeKuah!«

Zenzi winkte nur ab, schmunzelte und murmelte vor sich hin: »Da hab’ ich dir ja einen schönen Schmarrn beigebracht.« Sie schloss die Haustüre hinter sich und machte sich in Richtung Feuerwehrhaus auf.

 

Warum machte sich eine über siebzigjährige Frau bei solch einem Sauwetter auf den Weg ins Feuerwehrhaus? War Zenzi Reisacher der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr von Ammerleiten? Versuchte sie zu testen, ob ihre Gummistiefel dicht waren oder hatte sie einfach die Schnauze voll von ihrem wechseljahrgeplagten Papagei?

Nein! Nichts dergleichen! Heute war Freitag. Und freitags war Stammtisch. Weiberstammtisch wohlgemerkt! Was die Männer von Ammerleiten nicht auf die Reihe bekommen hatten – die Frauen von Ammerleiten waren in dieser Hinsicht aktiver und erfolgreicher. Jeden Freitag, egal was passierte, war Stammtisch. Man traf sich ja sonst nicht. Auch nicht in einem so kleinen Dorf, wo jeder jeden kannte und überhaupts. Aber so war es nun mal. Im Winter – und die Winter konnten ganz schön lang sein – blieb man daheim und machte es sich vor dem Ofen gemütlich und erledigte die Sachen, zu denen man im Sommer nicht kam. Es war halt einfach die stade Zeit und da tickten die Uhren wortwörtlich anders. Irgendwie langsamer. Alles fuhr nur noch auf Standgas, fand Walli. Sogar man selbst. Und dann wurde man so richtig faul, nicht nur in Taten, sondern auch in Worten. Und hatte manches Mal auch keine Lust zu reden. Man war halt stad. Die junge Generation würde sagen: »die chillen.«

Zweifellos bestand das Jahr nicht nur aus dem Winter, in dem die Kommunikation auf ein Mindestmaß beschränkt wurde.

Dasselbe galt auch für den Rest vom Jahr. Im Frühjahr, Sommer und im Herbst wurde hart gearbeitet und da die meisten ja eine Landwirtschaft hatten, hieß es den lieben, langen Tag: Zäune flicken, mähen, melken, odeln, Heu machen usw. Sicher, die Ammerleitner trafen sich hier und da, ratschten und tauschten sich aus, aber die wahren und wichtigen Gespräche des Lebens wurden am Stammtisch im Feuerwehrhaus geführt.

 

Als Zenzi sich vor dem prasselnden Regen in das Feuerwehrhaus rettete, schlug ihr schon die heiße Luft entgegen, die sich im Inneren angesammelt hatte. Walli hatte im Laufe des Nachmittages den Holzofen der Stube befeuert und die Temperatur des niedrigen Raumes auf gefühlte 40 Grad erhöht. Die Holzvertäfelung der guten Stube knackte vor lauter Hitze und das Wasser im Topf auf dem alten Kanonenofen dampfte seelenruhig vor sich hin.

›Und das Mitte Juli‹, dachte sich Zenzi und befreite sich von ihrem triefenden Parka. Sie nahm den Regenhut, peilte die Garderobe an und warf ihn in bekannter Manier auf die Rehgeweihe. Getroffen! Jedes Mal, wenn sie ihren Hut auf die Hutablage warf, musste sie an ihren Vater denken, der diese Geweihe der Freiwilligen Feuerwehr gestiftet hatte. Das war schon ewig her, als die Gesetze rund um Ammerleiten noch anders ausgelegt wurden und manch einer vor Hunger, oder auch nicht, sich der Wilderei zugewandt hatte. Mehr musste man dazu nicht wissen. Zenzi grinste, machte sich mit ihrer schmächtigen Statur vor dem Holzofen breit und genoss die wohlige Wärme, die ihre müden Knochen erwärmte. Sie schloss die Augen und träumte von Sonne, Sand und Strand. Stellte sich vor, wie sie ihre Zehen in den heißen Sand buddelte, genussvoll an einer selbstgedrehten Zigarette zog und an einem Aperol Spritz nuckelte. Einfach nur schee!

»Servus Frau Reisacher«, hörte sie etwas aus ganz weiter Ferne.

»He, Zenz, pass auf, dass dein Kotelett net verbrennt!« Zenzi riss erschrocken die Augen auf und erblickte ein neon-pink-grünes Etwas, das in der Türe der Stube stand und vor Nässe nur so tropfte.

Sie rieb sich die Augen und… 

»Servus Traudl! Fesch schaust aus! Heit übersieht man di bestimmt net!«

»Ah, geh! Du immer«, konterte Traudl schnippisch und zog ihre augenkrebsfördernden Regenklamotten aus.

Jedoch war die Farbkombination unter dem ultramodernen Regenoutfit auch nicht gerade etwas für Warmduscher. Traudl hatte sich, trotz ihrer eher traditionellen Einstellung, in eine pinkfarbene Leggings geworfen und sich für einen Longpulli entschieden, der schwarze und neongelbe Streifen hatte. Dazu trug sie neonorange Gummistiefel, die bei jedem Schritt, den sie machte, am Absatz leuchteten. Wäre es jetzt nicht gerade 20:00 Uhr, so würde man auf die Idee kommen, dass die Sonne aufginge. Oder war es doch eher die Landung der Außerirdischen? Zenzi war stumm vor Glück und musste schmunzeln. Frau Huber hatte mal wieder alle Register gezogen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Und? Was macht dein verrückter Papagei? Wird das Wetter jetzt anders oder net?«, erkundigte sich Traudl bei Zenzi, die währenddessen die alkoholischen Bestände des Gemeinschaftsraumes inspizierte.

»Es wird anders. Rosa dreht am Rad und das nicht wenig«, erwiderte Zenzi, griff nach einer Flasche dunklem Weizen (Bier) und einem passenden Glas und machte es sich am Stammtisch gemütlich. Traudl nahm zielstrebig eine Flasche Prosecco, der immer im Kühlschrank vorrätig war, und gesellte sich zu Zenzi an den Stammtisch.

»Kuckuck«, ertönte es auf einmal an der Tür und ein roter Regenschirm betrat den Raum. Dahinter hatte sich Emmi versteckt, die Jüngste aus der Stammtischtruppe. Sie versuchte den Schirm vom Wasser zu befreien, aber es gelang ihr nicht wirklich. Immer wieder verhedderte sich das rote Monstrum in der noch geöffneten Tür und Emmi wurde nasser als zuvor. Das Wasser des Regenschirmes pladderte nur so auf sie herunter.

»Jetzt komm endlich rein Emmi. Das kann man ja nicht mit anschauen, was du da fabrizierst. Und außerdem wird’s saukalt da herinnen.«

Traudl schwang sich von der Eckbank auf und versorgte den Holzofen mit neuem Nachschub. Endlich! Emmi hatte den Kampf mit ihrem Regenschirm gewonnen. Sie zog ihre Lodenjacke aus, entledigte sich ihrer Schuhe und Wollsocken und platzierte die Kleidungsstücke in der Nähe des Ofens.

»Schee«, schnaufte Emmi. »Endlich raus aus den Schuhen.«

»Wie man nur das ganze Jahr barfuß springen kann?«, entgegnete Traudl.

»Irgendwann wirst Rheuma haben. Wirst schon sehen.«

Emmi juckte es überhaupt nicht mehr, was Traudl da vor sich hinschwafelte. Sie kannte die Sprüche ihrer Nachbarin, die nie ein Blatt vor den Mund nahm. Sie musste einem immer reindrücken, dass sie sich für etwas Besseres hielt. Großbäuerin! 60 Milchkühe! Riesen Deutz! Ein Ehemann, der seine Holde machen ließ, wie sie gerade wollte. Hauptsache er hatte seine Ruhe vor seiner resoluten Frau. Eine Tochter, die den vielversprechenden Namen Sissi bekommen hatte. Man ist halt wer. Hier konnte Emmi natürlich nicht mithalten. So dachte Traudl zumindest.

»Was willst denn? Mit deinen 30 Kühen…«

So äußerte sich Traudl öfter in der Vergangenheit. In letzter Zeit hatte sie sich dann mit ihren Bemerkungen doch etwas zurückgehalten, als sie registrierte, dass 30 Kühe auf Biobasis und dem entsprechenden Hofladen doch rechten Anklang in der Bevölkerung fanden. Ganz ruhig wurde sie dann, als Emmis »Ammerleitner Liebe«, ihre eigene Käsekreation, zum Verkaufsschlager in der Region wurde.

Emmis rotblonde Haarpracht verschwand kurz hinter der selbstgezimmerten Theke auf der Suche nach dem passenden Getränk für den Abend. Sie war sich unschlüssig, wie so oft in ihrem Leben, wenn sie die Qual der Wahl hatte.

›Radler oder ein Helles? Oder doch ein Weizen? Und dann war da ja noch ein Rotwein! Oh mei o mei!‹

Plötzlich rumpelte es gar fürchterlich und Emmi erschrak sich dermaßen, dass sie sich sauber den Kopf beim Auftauchen aus den Niederungen der Theke anschlug. Sie hielt sich die Radlerhalbe an die lädierte Stelle und blickte benommen in Richtung der Geräuschquelle. Es war Walli, die es sich wieder nicht hatte nehmen lassen, mehr als geräuschvoll in die gute Stube hereinzupoltern und zu rufen: »Na Mädels! Alles fit im Schritt?«

Dabei grinste sie spitzbübisch, weil sie genau wusste, wie sehr das Traudl auf die Palme bringen würde. Aber heute kam keine Reaktion ihrerseits. Traudl erzählte nämlich Zenzi gerade ganz ausführlich, wo sie sich das neue Regenensemble gekauft hatte und lobte den Onlinehandel in den höchsten Tönen und wie toll das doch sei, dass man jetzt in Ammerleiten auch die Möglichkeit hatte, am Duft der großen weiten (Internet) Welt teilzuhaben.

Und eines musste man Traudl lassen: Traditionen hin oder her – es lebe der Trachtenverein und der katholische Frauenbund – aber wenn man etwas am PC zu machen hatte (zumal sonst keiner im Dorf so ein Gerät bis dato hatte), dann hieß es nur: »Geh zur Traudl, die macht’s dir dann.«

Bestellungen, Emails, Adresssuche – kein Problem. Traudl war up to date und erledigte fast alles. Walli hatte es sich, während Traudls Vortrag über den Onlinehandel im Oberland schon auf der Eckbank bequem gemacht, knuddelte die Kissen zusammen und stopfte sie sich zwischen Lehne und ihren Rücken.

»Mei hab’ ich heut wieder Rücken«, stöhnte sie kurz auf und rieb sich mit der rechten Hand ihre Wirbelsäule.

»Der Deutz von deinem Mann, Traudl, der tutmirnochdasletzteKrautraus! So eine Mistkarre! Immer muss dein Alter vorher schon am Bulldogg’ rum schrauben, bloß damit er sich das Geld für eine g’scheite Reparatur sparen kann. Und was ist dann? Weil er einfach zu deppert ist, hab’ ich jetzt das Geschiss und muss den Schmarrn, den er da fabriziert hat, ausbaden!«

Sie griff sich mit ihrer Hand an die Stirn und verdrehte die Augen. Traudl meinte nur, dass sie nicht so jammern und sie lieber froh sein solle, dass sie etwas verdiene.

Emmi und Zenzi schauten sich nur an, schmunzelten und prosteten sich zu. The same procedure as every Friday. Walli und Traudl! Es war einfach kein gescheiter Stammtisch, wenn sich Traudl und Walli nicht necken konnten.

Da saßen sie nun: die Emmi, die Traudl, die Walli und die Zenzi und sinnierten über die Ungerechtigkeiten der Welt, regten sich über ihre Männer und Kinder auf, erzählten, bis zu einem gewissen Punkt, ihre Sorgen und ihr Leid oder berichteten, was sie so Neues erfahren hatten. Meist handelte es sich hierbei um brandneue Ereignisse aus dem Gemeinderat oder dem neuesten Klatsch und Tratsch, den man beim hiesigen Metzger aus Ludwigswies gehört hatte. Wie gesagt: Die wirklich wichtigen Dinge wurden nur im Feuerwehrhaus besprochen.

Nach dem dritten Weizen oder der zweiten Flasche Prosecco kam es dann schon vor, dass die alte Stereoanlage aktiviert wurde und Helene Fischer ihre Lieder zum Besten gab. Dann wurde das Stüble in Ammerleiten kurz zur Disco umfunktioniert und vier Frauen im besten Alter standen auf den Stühlen und auf der Eckbank und grölten: Atemlos!

Heute war dem nicht so. Eine brisante Neuigkeit war Thema Nummer Eins am Weiberstammtisch.

»Jetzt scheint es ja amtlich zu sein, dass wir eine neue Nachbarin bekommen«, stellte Walli fest und nahm einen großen Schluck von ihrer Radlermass.

Sie wischte sich mit ihrer nicht gerade feingliedrigen Hand die Reste des Getränkes vom Mund und stellte die Mass mit voller Wucht auf den Stammtisch. Das goldene Nass schwappte über den Rand der Mass und sorgte für eine kleine Pfütze, die sich in Richtung Traudl bewegte.

»Du bist und bleibst ein grobmotorischer Saubär!«, meinte Traudl kurz angebunden und sprang vom Stuhl auf, um einen Lappen zu holen.

»Ich bin ja eher skeptisch, was die Neue angeht. Und wenn mich einer fragen würde, was ich davon halte, dann…«

»Aber dich fragt halt bei dieser Sache keiner. Und du kannst dich noch so aufregen. Ändern kannst eh nix. Also nimm’s wie’s kommt«, konterte Walli.

»Irgendwie ist es schon komisch, wenn auf einmal jemand fast Fremder im Haus der Hauserin wohnt«, sinnierte Zenzi, während sie sich eine Zigarette drehte.

»Auf der anderen Seite, ist es ja so, als ob die Rosi in jung da einzieht. Nur, dass wir halt nicht mehr so jung sind.«

»Du lässt ja heut’ wieder Weisheiten von dir. Da zieht’s mir ja fast die Gummistiefel aus. Hast was in deinen Tabak gemischt oder hast einfach deinen Melancholischen?«, fragte Traudl nach.

Zenzi sagte nichts, presste nur ihre Lippen aufeinander und durchbohrte Traudl fast mit ihrem Blick.

»Also ich freu mich schon ganz narrisch, dass ich die Josi wieder treff’«, gab Emmi zur Antwort, um schnell das Thema zu wechseln.

»Das muss jetzt schon an die sieben Jahre her sein, dass ich sie das letzte Mal getroffen habe. Ich glaub, sie war dazwischen schon noch in Ammerleiten, aber ich war entweder beim Kinderkriegen oder im Stall. Und so haben wir uns seitdem nicht mehr gesehen!«

 

Sie legte sich auf die Eckbank, wackelte mit den Zehen und schwelgte in ihren verbliebenen Erinnerungen.

»Zum 70. von der Rosi. Da hab’ ich sie das letzte Mal mit ihrem Vater gesehen. Das ist ja jetzt auch schon wieder drei Jahre her«, stellte Walli fest.

»Auf Rosis Beerdigung war ja nur der Tom. Im Ausland war sie zu der Zeit. So hat’s zumindest der Lechleitner erzählt. Wird schon alles so passen mit der neuen Hauserin.«

 

Traudl dagegen war sich wegen des Neuankömmlings immer noch nicht sicher was sie davon halten sollte.

Sie nahm immer wieder den Lappen in die Hand, um die nicht mehr vorhandene Bierlache vom Tisch zu entfernen. Und je mehr sie putzte und schrubbte und die geschichtsträchtige Patina der Tischoberfläche entfernte, umso aufgebrachter wurde sie.

»Eine aus der Stadt! Ich weiß ja net! Und dann auch noch aus Hamburg. Ihr wisst doch, was das für ein… ein Sündenpfuhl ist. So jemand bringt doch nur Unruhe ins Dorf. Wer weiß, wie die ist und was die so macht. Und lass das noch ein’n scharfen Has’ geworden sein. Dann drehen unsere Mannsbilder gleich wieder durch«, zeterte Traudl. Sie schleuderte den Lappen Richtung Waschbecken und trank ihr volles Glas Prosecco in einem Zug aus.

»Also mein Mann dreht da nicht durch«, grübelte Walli.

»Der hat nur sein komisches Esoterikzeugs im Kopf und sonst nicht viel. Dein Sepp, liebe Emmi, wird halt wieder Stielaugen bekommen und anfangen zu sabbern. Tut mir leid, wenn ich das so sage, aber ein Kostverächter ist der ja auch nicht.«

Emmi wusste das und das war das Einzige, was sie richtig narrisch werden ließ. Da sie aber der sanfte und harmoniebedürftige Typ war, schluckte sie ihren Ärger runter und hoffte, dass er ihr doch treu bleiben würde.

Neuester Anlass für derartige Gedanken war die neue Helferin für Haus und Stall: Paulina, 25 Jahre, und aus Polen! Gut Holz vor der Hütt’n, lange, schwarze Haare und eigentlich nett, sehr nett sogar. Vor allem ihre vier Buben waren ganz vernarrt in sie, weil sie viele lustige Geschichten aus ihrer Heimat wusste, die sie mit ihrem polnischen Akzent so blumig erzählte, dass sich die Vier vor Lachen bogen. Und auch der Sepp war, so glaubte sie, vernarrt in sie. Aber nicht wegen ihres Dialektes, sondern eher wegen ihrer körperlichen Attribute. Paulina bemerkte es gar nicht, was für eine Schleimspur Sepp hinter sich zog, wenn er mit ihr redete. Männer halt!

 

»Was soll’s«, meinte Zenzi und zog an ihrer Zigarette. »Ändern können wir es eh nicht. Und eigentlich wissen wir ja auch gar nix oder fast nix von ihr. Wir kennen sie ja nur, als sie noch als Kind die Ferien bei der Rosi verbracht hatte. Und so ohne kann sie gar nicht sein, sonst wär’ sie ja auch später nicht nach Ammerleiten gekommen, um die Hauserin zu besuchen. Vielleicht ist sie ja a ganz a Nette!«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte Traudl und schenkte den anderen und sich einen »Vitus Spezial« ein.

Dieses Gesöff war eine Kreation vom Burgmeier Vitus, Wallis Schwiegervater. Zur innerlichen und äußerlichen Anwendung sehr zu empfehlen. Der Weiberstammtisch zog allerdings die innere Nutzung vor.

»Hören wir auf mit der ganzen Kaffeesatzleserei. Wir beobachten das Ganze und dann sehen wir weiter«, entschied Walli, um all dem Diskutieren und Spekulieren ein Ende zu setzen. »Leicht wird sie es nicht haben, die Neue. Die muss sich schon erst mal bewähren, bevor ich der einen »Vitus Spezial« geb.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, stimmte ihr der Rest des Stammtisches zu.

 

Der »Gemeinderat« von Ammerleiten hatte seinen Standpunkt bekräftigt. Fast alle Argumente waren gegeneinander abgewogen und man war zu einer durchaus qualitativ hochwertigen und sozialkritischen Lösung gekommen:

Kommst du als Zuagroaster nach Ammerleiten, auch wenn verwandtschaftliche Bande zu Einheimischen bestehen, dann musst du dich erst einmal bewähren und in die Gemeinschaft einbringen, bzw. richtiger wäre einfügen/unterordnen. Und zwar so, dass du am Ende nicht als oberg’scheiter Hergelaufener dastehst und bis zum Nimmerleinstag bei der Dorfgemeinschaft sozusagen verschissen hast. Eine Gratwanderung für jeden neuen Mitbürger, aber machbar.

Bis jetzt hatte sich die prozentuale Zuwanderung nach Ammerleiten, sehr zum Gefallen von Traudl, glücklicherweise bei null gehalten. Und wenn es nach ihr ginge, dann könnte das auch so bleiben. Neue Gemeindemitglieder bringen Unruhe ins Dorf. Xaver hätte gesagt: Das innere Gleichgewicht stimmt nicht mehr. Der »Flow« ist nicht mehr da. Und alles, was Traudl nicht kalkulieren konnte, war ihr ein Dorn im Auge. Schöne Aussichten für das neue Mitglied von Ammerleiten.

 

Ja dann »Prost« oder vielleicht besser »Gute Nacht!«

Kann jemand mal das krummhaxige Etwas entfernen? Ich wäre schon wieder fast auf die Schnauze gefallen! Andauernd springt der narrische Hund einem zwischen die Beine!« Josis Vater war schier am Verzweifeln.

»Josina Lechleitner!«, rief er nun etwas energischer.

»Wenn du jetzt den Waggi nicht gleich in irgendein Zimmer sperrst, dann packe ich ihn in einen der Umzugskartons!«

Josi krabbelte aus dem halb abgebauten Schlafzimmerschrank und hörte ihren Vater weiter fluchen. Sie gab Lukasz, einem polnischem Umzugshelfer, den Akkuschrauber und ging zu ihrem Vater, der gerade dabei war, die Lampen zu entfernen.

»Hast du mich gerufen, Papa?«, fragte sie scheinheilig und nahm die Lampe in Empfang.

»Wer ist auf die hirnvernagelte Idee gekommen, dir einen Dackel zu schenken?«, polterte er los.

»Ich glaube das warst du, nein, ich weiß es ganz sicher. Du hast mir Waggi mitgebracht, als du Oma letztes Jahr besucht hattest.«

Tom konnte sich noch ganz gut daran erinnern, dass er seiner Tochter diesen verrückten Hund mitgebracht hatte. Aus einer Bierlaune heraus, besser gesagt, nach einem kapitalen Rausch, den er nach einem Saufgelage mit Ignaz hatte, nahm er diesen kleinen Welpen mit.

Ein kleiner, verwaister Hund! Er konnte einfach nicht anders. Und nun hatte er den Salat! Der sehr agile Rauhaardackel raubte ihm den letzten Nerv.

»Ich weiß, mein Mädchen.«

Tom stieg die Trittleiter runter und machte sich ins nächste Zimmer auf, um dort die Deckenlampe zu entfernen. Mit einem lächelnden und einem weinenden Auge half er heute seiner Tochter beim Umzug nach Bayern. Auf der einen Seite freute er sich, dass seine Josi nun ihre bayrischen Wurzeln entdeckt hatte, auf der anderen Seite wusste er auch, dass er sie so schnell nicht mehr wiedersehen würde. Sie würde nicht mehr jeden Freitag zu ihm ins Restaurant kommen und sich den Bauch vollschlagen. Keine Vater-Tochter-Gespräche mehr auf längere Sicht. Er rieb sich kurz die Augen und stieg die Leiter hoch, um sich wieder ans Werk zu machen.

Josi krabbelte wieder in den Schlafzimmerschrank zurück und ging Lukasz zur Hand. Es war nicht so, dass es ihr leichtfiel, Hamburg den Rücken zu kehren. 32 Jahre waren kein Pappenstiel. Aber es war nun an der Zeit die Großstadt zu verlassen und in Ammerleiten neu anzufangen.

Der Umzug lief nach Plan und im Oktober konnte sie bei Dr. Marder als Tierärztin anfangen. Und außerdem hielt sie, außer ihrem Vater, nichts mehr in Hamburg.

›Na ja, fast nicht mehr. Mutter ist ja auch noch da‹, dachte sich Josi und ihr wurde bewusst, dass sie ihre Mutter mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vermissen würde. Papa ja, aber Mutter eher nicht. Zu groß waren die Unterschiede zwischen Mutter und Tochter. Bei Josina schlugen einfach Vaters Gene mehr durch. Wenn Intellekt und Flusigkeit aufeinandertreffen, dann klappt das vielleicht mit dem Nachbarn, aber definitiv nicht mit Josis Mutter.

Josi half Lukasz den Schrank die Treppe herunterzutragen und in den Transporter zu hieven.

›Es ist schon erstaunlich, dass man alles Hab’ und Gut, das sich über Jahre lang angesammelt hatte, in einen Transporter bekommt‹, überlegte Josi. Und mit jedem Karton, der in den Transporter geladen wurde, kam sie ihrem Ziel näher.

Zwei Stunden später war es dann soweit. Es war alles verstaut. Der Transporter war bis oben hin voll und ihr alter VW-Bus ächzte unter dem Sammelsurium von Pflanzen und anderem losen Krimskrams, der keinen Platz mehr im LKW gefunden hatte. Die Wohnung war jetzt besenrein und die Schlüssel waren übergeben worden. Es konnte also losgehen. Noch nicht ganz, denn jetzt kam der schwerste Teil des Abschiedes. Der Abschied von ihrem Papa. Tom stand verloren vor der Haustüre und beobachtete das letzte emsige Treiben der Umzugsmannschaft.

›Mach dich jetzt nicht zum Affen und fang an zu heulen‹, konzentrierte er sich. ›Sei stark, sei tapfer! Ach verdammt, was soll’s.‹

Er lief auf Josi zu, die gerade verzweifelt versuchte, Waggi auf dem Vordersitz des Busses in seine Transportkiste zu bekommen. Er umarmte sie so fest, dass Josi fast keine Luft mehr bekam. Da hing sie nun in den Armen ihres Papas und drückte ihren Kopf an seine Brust.

»Pass auf dich auf mein Mädchen«, schluchzte er und nahm einen weiteren Anlauf seine Stimme wieder in den Griff zu bekommen.

»Sowieso Papa!«

Josi versuchte nun die Starke zu sein und ihrem Papa in dieser Abschiedszeremonie Halt zu geben. Es misslang ihr gänzlich. Beide hingen nun aneinander und heulten wie die Schlosshunde.

»Ich komme Weihnachten zu Dir. Wie versprochen. Vielleicht auch schon vorher, wenn ich es nicht mehr aushalte. Aber spätestens, allerspätestens Weihnachten.«

»Das will ich wohl hoffen«, seufzte Josi und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie holte sich ihr Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich kräftig.

Abermals zog Tom seine Tochter an sich und wollte sie einfach nicht loslassen.

»Aber jetzt muss ich los!«

Sie versuchte sich aus der Umarmung zu lösen, nahm das Gesicht ihres Vaters zwischen ihre beiden Hände und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange.

»Ich hab’ dich ganz doll lieb, Papa!«

»Das habe ich dich auch und wie.«

Tom hatte sich ein wenig beruhigt, schnaufte tief durch, umarmte seine einzige Tochter nochmals kurz und heftig.

»Und jetzt fahr los. Grüß’ mir die Berge und sag dem Ignaz einen schönen Gruß, solltest du ihn in nächster Zeit mal treffen.«

»Mach ich!«

Josi zog den Autoschlüssel aus ihrer Jeanslatzhose und ging zum Bus. Dort wurde sie schon mit lautem Gekläffe von Waggi begrüßt.

»Dann packen wir es mal, was Waggi?«

Sie startete den alten T2, der beim dritten Mal auf Anhieb mit der obligatorischen schwarzen Rauchwolke ansprang. Ihr Vater stand in der Straße und winkte ihr hinterher, was das Zeug hielt. Josi machte dasselbe und hupte wie wild dazu. Die Karawane hatte sich Richtung Süden in Bewegung gesetzt.

 

Deutschland: Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2020. Dies sind die Abenteuer von Josina Lechleitner, die mit ihrem Rauhaardackel Waggi nach Bayern unterwegs ist, um die endlosen Weiten Bayerns zu erforschen, neues Leben zu entdecken und landestypische Bräuche zu leben. Viele Lichtjahre von Hamburg entfernt, dringt Josi Lechleitner in die bayrische Galaxie vor, die mancher schon gesehen, aber nie einer verstanden hat.

Gute 800 Kilometer lagen nun vor ihr. Der Kleintransporter mit ihrem ganzen Besitztum war ein gutes Stück vor ihr und rauschte auf der A7 in Richtung Bayern. Josi nahm sich für die Strecke etwas mehr Zeit. Erstens, weil sie es wollte und zweitens, weil sie nicht anders konnte.

Ihr guter, alter fahrbarer Untersatz hatte doch schon satte 40 Jahre auf dem Buckel und war nicht der schnellste, dafür aber ein treuer und zuverlässiger Begleiter und das schon seit 14 Jahren. Sie bekam den Oldtimer von ihrem Vater zum 18. Geburtstag geschenkt und Josi hatte schon manches wilde Abenteuer mit ihm bestanden. Griechenland, Nordkap, Süditalien waren für den Bulli kein Neuland mehr. Sie blickte kurz aufs Navi, das ihr mitteilte, dass sie in 775 Kilometern rechts abbiegen musste. Sie musste laut lachen.

»Hast du das mitgekriegt, Waggi? 775 Kilometer geradeaus. Voll krass!«

Waggi rührte sich nicht. Nach den ersten 10 Kilometern Dauerkläffen und Protestieren, weil er in der Hundebox den Weg nach Ammerleiten antreten musste, war er nun endlich eingeschlafen und schnarchte vor sich hin. Josi machte das Radio an und drückte die Musikkassette in das Kassettendeck.

›It´s my life…‹ John Bon Jovi dröhnte durch die alten scheppernden Boxen. Josi kurbelte das Seitenfenster herunter und ließ sich den Wind durch die langen schwarzen Haare wehen. Sie sang aus vollem Halse mit und schlug mit der rechten Hand den Takt auf dem Lenkrad dazu. It´s my life! Wie passend in dieser Situation. Ihr Leben! Ihre Entscheidung! Endlich! Frei, frei, frei!

Sie konnte es noch gar nicht glauben, dass sie just in diesem Moment auf dem Weg in ihr neues Leben war. Ein Neuanfang nach diesem anstrengenden, aufreibenden letzten Jahr. Sie hatte sich endlich aus den Ketten ihrer Mutter gelöst und das gemacht, was sie schon viel früher hätte machen sollen. Auf den Tisch hauen. Ihrer Mutter Paroli bieten und nicht immer ducken und alles runterschlucken, nur um ihre Ruhe zu haben. Wie befreiend doch die Wochenenden für sie als Kind immer waren, als sie zu ihrem Vater ging. Dort durfte sie so sein, wie sie war.

Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, als sich ihre Eltern trennten. Zwölf Jahre war sie damals. Sie hatte heimlich so bitterlich geweint und wollte mit ihrem Papa mit. Gesagt hatte sie aber nichts. Hätte sie doch nur, dann wäre sie mit Sicherheit bei ihrem Vater aufgewachsen und nicht bei ihrer doch sehr unterkühlten Mutter.

»Disziplin und Anstand sind alles!« Das war ihr Leitspruch.

›Als ob das alles wäre. Wie wäre es mal mit Nestwärme und Kuscheleinheiten gewesen, liebes Mütterlein?‹

Josi musste aufpassen. Ihre Gedanken kreisten in der Vergangenheit und nicht dort wo sie hingehörten: auf die A7.

Und dann dieses dumme letzte Jahr. Die vielen Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter bezüglich ihres Umzuges nach Bayern. Die Trennung von ihrem langjährigen Freund Jens. Gut, das war auch nicht mehr das Gelbe vom Ei. Besser, es war wie ein Ei ohne Dotter. Warum sie überhaupt mit Jens vier Jahre zusammen war, das konnte sie beim besten Willen nicht mehr nachvollziehen. Phlegmatismus? Gewohnheit? Egal. Es war vorbei. Der Schlussstrich war gezogen, der Kompass genordet. Das allein zählte. Sie kam peu à peu ihrer neuen Heimat entgegen. Von Hamburg bis ins tiefste Bayern. Und nur das zählte in diesem Moment. Nach vorne schauen, nicht zurück. Jetzt und hier. Das allein zählte. Ein Selbstfindungstrip der besonderen Art und das ohne Therapie und Sitzungen.

Nach gefühlten 25 Stunden Autofahrt und einigen Pinkelpausen für Waggi machte sie kurz vor Würzburg Rast und versuchte auf dem Fahrersitz zu schlafen. Waggi hatte sich indes durchgesetzt und saß ohne Hundebox neben ihr. Es war einfach nicht mehr auszuhalten gewesen. Er heulte und randalierte so in der Kiste, dass Josi sich gezwungen sah, ihrem selbstbewussten Rauhaardackel den Freiraum zu gewähren, den er gewohnt war.

Sie versuchte die Augen zu schließen, um wenigstens ein wenig zu schlafen. Der Erfolg hielt sich in Grenzen. Entweder schnarchte ihr Beifahrer dermaßen penetrant, dass sie kein Auge zutun konnte oder die Lichter der vorbeifahrenden Autos störten sie bei der Nachtruhe. Hundemüde gab sie um 4:00 Uhr in der Früh auf.

Sie ging mit Waggi nochmals Gassi, nahm einen letzten Schluck lauwarmen Kaffee aus der Thermoskanne und setzte sich etwas erschlafft, aber glücklich hinter das Steuer.

»Noch 300 Kilometer Waggi, dann bist du wieder in deiner Heimat. Kannst laufen bis zum Abwinken, frische Luft einatmen und dich im hohen Gras wälzen.«

Waggi musste niesen. Passt! Er war damit einverstanden. Die folgenden gut 250 km verliefen einschläfernd ereignislos. Dann, am Rastplatz Allgäuer Tor…

»Waggi, Waggi! Schau doch mal! Da sind sie endlich! Die Berge!«

Da waren sie. Die langersehnten Berge. Imposant und majestätisch erhob sich die Gebirgskette am Horizont. Strahlender Sonnenschein, dazu ein blauer Himmel, der mit ein paar Schäfchenwolken verziert war. Der reine Wahnsinn! Schon fast kitschig! Die neue Heimat war nun nicht mehr weit entfernt.

 

Klack, klack! Klack, klack, Klack! Klack, klack, klack…

›Was ist das denn jetzt für ein Geräusch?‹, rätselte Josi. ›Mach jetzt bloß nicht schlapp, du gutes, allerbestes Auto!‹

Josi versuchte es mit Gutzureden, aber das Klackern blieb. Gleichzeitig verringerte sich die die Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h auf knappe 70.