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Alle Jahre wieder ...Die gefühlvollsten, lustigsten, spannendsten Weihnachtsgeschichten im kostenlosen Adventskalender-Buch. Weihnachten ist die schönste Zeit des Jahres. Eine Zeit der Sehnsucht nach Geborgenheit und Frieden unter den Menschen. Der besondere Adventskalender für Erwachsene iist für alle, die sich eine unterhaltsame Lesepause in der Vorweihnachtszeit gönnen wollen. Dieses Buch enthält weihnachtliche Kurzgeschichten von: Cicer Arieti, Anne Buchwinkel, Ingo Bartsch, Naoma Clark, Petra Dalquen, Marie Enters, Anna Rosina Fischer, Liliane Fontaine, Daniela Franka, Kerstin Garde, Nadine Gerber, Gina Greifenstein, Franziska Kühnel, Marisa Liehner, G.S. Lima, Lara Lavenza, Elena MacKenzie, Susanne Mischke, Julia Neumann, Claudia Klingenschmid, Lily Schönfuß, Thorsten Steffens, Sabine Strick und Jenna Theiss
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Seitenzahl: 542
Veröffentlichungsjahr: 2018
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
© 2019 Piper Verlag GmbH, München Covergestaltung: Favoritbüro, MünchenCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
1. Dezember
Hölle, Hölle, Hölle
Über die Autorin
Außerdem von Susanne Mischke bei Piper Spannungsvoll
2. Dezember
Merry Christmas, Carol!
Über die Autorin
Außerdem von Kerstin Garde bei Piper Gefühlvoll
3. Dezember
Durchgebrannt
Über die Autorin
Außerdem von Anna Buchwinkel bei Piper Humorvoll:
4. Dezember
Unter dem Kaktuszweig
Über die Autorin
Außerdem
5. Dezember
Ein Klugscheißer zu Weihnachten
Über den Autor
Außerdem von Thorsten Steffen bei Piper Humorvoll
6. Dezember
Die Rache der Schlumbergera
Über die Autorin
Außerdem von Liliane Fontaine bei Piper Spannungsvoll
7. Dezember
Rosas Weihnachten
Über die Autorin
Außerdem von Julia Neumann bei Piper Spannungsvoll
8. Dezember
Der Tote unterm Weihnachtsbaum
Über die Autorin
Außerdem von Sabine Strick bei Piper Spannungsvoll
9. Dezember
Sofies wundersamer Geschenkservice
Über die Autorin
Außerdem von Marisa Liehner bei Piper Gefühlvoll
10. Dezember
Sonnenwendefest
Über die Autorin
Außerdem von Lily Schönfuß bei Piper Humorvoll
11. Dezember
Weihnachtsquatsch und Doppel-H´s
Über die Autorin
Außerdem von G.S. Lima bei Piper Gefühlvoll
12. Dezember
Suche dich – biete mich! – Von einer, die auszog, die große Liebe zu finden.
Über die Autorin
Außerdem von Gina Greifenstein bei Piper Humorvoll
13. Dezember
Ich bin der Weihnachtsmann
Über den Autor
Außerdem von Ingo Bartsch bei Piper Humorvoll
14. Dezember
Die vierte Kerze
Über die Autorin
Außerdem von Marie Enters bei Piper Schicksalsvoll
15. Dezember
»Galway Girl – Winterzauber in den Bergen«
Teil 1: HERZ
1
2
3
Teil 2: HÄNDE
1
2
Teil 3: KRONE
1
2
Über die Autorin
Außerdem von Nadine Gerber im Piper Verlag:
16. Dezember
Eine Tür öffnet sich
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Über die Autorin
Außerdem von Elena MacKenzie bei Piper Gefühlvoll
17. Dezember
Schneebedeckte Herzen
Über die Autorin
Außerdem von Daniela Franka bei Piper Spannungsvoll
18. Dezember
The stars are brightly shining
Über die Autorin
Außerdem von Petra Dalquen bei Piper Schicksalsvoll
19. Dezember
Heiligabend mit den »Munich Lovers«
Über die Autorin
Außerdem von Franziska Kühnel bei Piper Gefühlvoll
20. Dezember
Südlich vom Nordpol
Über die Autorin
Außerdem von Lara Lavenza bei Piper Fantasy
21. Dezember
Schrecklich Nette Weihnachten
Über die Autorin
Außerdem von Anna Rosina Fischer bei Ivi/Piper Gefühlvoll
22. Dezember
Das venezianische Weinhorn
Über die Autorin
Außerdem von Claudia Klingenschmid bei Piper Humorvoll
23. Dezember
Charles’ Christmas Story
Über die Autorin
Außerdem von Naoma Clark bei Piper Humorvoll
24. Dezember
Ach, du Fröhliche
Über die Autorin
Außerdem von Jenna Theiss bei Piper Spannungsvoll
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Von Susanne Mischke
»Frau Millerrr, wie gäht es uns denn haite?«
Martha schlug die Augen auf. An der linken Wand, die in einem schläfrigen Grün getüncht war, hing ein schlichtes Messingkreuz, rechts von ihr stand ein leeres Krankenhausbett und vor dem Fenster nahm sie den vagen Umriss eines Menschen wahr, eines Mannes, der Gestalt nach, der aber seltsam transparent war.
»Wo bin ich?«
Eine dralle Mittvierzigerin mit einem breiten Gesicht und Bäckchen so rot wie ein Nikolausapfel schob sich in Marthas Blickfeld.
»Frau Millerrr, Sie nix mehrrr auf Intensiv, hat man Sie auf Station verlägt. Ich bin Schwäster Bogdana.«
Marthas Oberarm wurde in die Manschette eines Blutdruckmessgeräts gequetscht, die Schwester Bogdana aufpumpte. »Ist sich Bluttdrruck wie Eidechse in Wintärrrschlaff«, konstatierte sie fröhlich. »Was mit Stuhlgang?«
Martha zog es vor, diese Frage zu ignorieren. Sie tastete nach ihrer Brust, während die Schwester den Beutel am Infusionsständer austauschte und dabei erklärte, dass Martha die Zufuhr des Schmerzmittels mit »kleine Rrrad« am unteren Ende des Schlauchs selbst regeln könne.
»Welchen Tag haben wir heute?«
»Ist sich heite Doonnerrrstag.«
Am Dienstagmorgen war ihr ein Bypass gelegt worden. Routine, heutzutage. Für die Ärzte, nicht für Martha.
»Also nix Stuhlgang?«, insistierte Schwester Bogdana, schon im Gehen begriffen.
»Nein. Aber, Schwester …«
»Ja?«
»Wer ist der Mann, der da am Fenster steht?«
»Welches Maann? Da nix Maann. Mechten noch Tää?«
Martha nickte. Die Unterhaltung hatte sie angestrengt, sie schloss die Augen und überlegte im Wegdämmern, dass es vermutlich das Schmerzmittel war, das Halluzinationen hervorrief. Ähnliches hatte sie erlebt, als sie in ihren wilden Jahren ein bisschen mit LSD und Pilzen herumexperimentiert hatte. Ich muss aufpassen, dachte sie, dass ich nicht als Morphiumsüchtige hier herauskomme.
»Na, Frau Müller, wie fühlen Sie sich?«
Die Patientin blickte ihn stumm an. Milchiggraue Augen in einem Kranz von Falten.
Martha Müller, geb. 28.2.1943, stand auf dem Krankenblatt, das Professor Dr. Andreas Frowein auf seinem Klemmbrett bei sich trug.
»Frau Müller? Geht es Ihnen gut?«
Die alte Dame nickte geistesabwesend, dann aber kam plötzlich Leben in ihr blasses Gesicht. »Ich habe eine Frage.«
»Nur zu, dazu bin ich ja da.«
»Ist bei der Operation alles gut gegangen?«
»Sicher doch, alles bestens.«
»Gab es irgendwelche Komplikationen?«
»Aber nein, es ist alles glatt verlaufen«, log der Professor und lächelte dabei sein vertrauenerweckendstes Chefarztlächeln. Wozu um alles in der Welt sollte die Patientin erfahren, dass sie während der Operation einen Herzstillstand von fast einer Minute erlitten hatte und um ein Haar ex gegangen wäre? Nein, derlei Vorkommnisse hielt man besser unter dem Deckel. Die Patienten neigten dazu, ein Riesenbohei um solche Lappalien zu machen, und hinterher zogen sie einen für jedes Wehwehchen und für jede winzige Kalamität während der Genesungsphase zur Verantwortung.
»Wissen Sie, Herr Professor, ich hatte da nämlich so ein seltsames Erlebnis …«
Oje, dachte Frowein und schielte auf die Uhr. Um zwei Uhr war Abschlag, das konnte knapp werden.
Schon ging es los, die übliche Geschichte: der lange Tunnel mit dem gleißenden Licht am Ende, dann der Eintritt in diesen wunderbaren Feng-Shui-Garten, in dem es blühte und plätscherte und zwitscherte und wo einen die verstorbenen Lieben mit offenen Armen erwarteten…
Ich möchte einmal einen erleben, der in der Hölle landet, dachte Frowein.
»… und dann, plötzlich, verschwamm der Garten wieder vor meinen Augen, und ich fühlte, wie ich wieder zurückkehrte …«
»Wissen Sie, Frau Müller, solche Erfahrungen sind während einer Anästhesie nicht selten«, unterbrach der Professor den Sermon.
»Ja, aber da ist noch etwas, Herr Professor…«
»Frau Müller, ich darf Ihnen versichern, dass das kein Grund ist, sich zu beunruhigen. Ihre OP verlief reibungslos, Sie werden wieder vollkommen gesund. Es tut mir leid, ich muss jetzt weiter, es warten noch eine Menge Patienten auf mich. Wir sehen uns morgen früh bei der Visite, einverstanden?«
»Frau Millerrr, aufwachen, haben Sie Besuch von Schwäster!«
Schwester Bogdana stopfte die gelben Chrysanthemen in eine Vase und knallte sie auf Marthas Nachttisch. Auf dem Stuhl neben Marthas Bett saß Gertrud im schwarzen Kostüm für den Ernstfall, das Kreuz durchgedrückt, die altbackene Handtasche auf ihren Knien balancierend. Nun reckte sie ihren Schildkrötenhals über die Bettkante.
»Martha, wie geht es dir?«
»Gut«, versicherte Martha und schielte nach dem Fenster. Keine Spur von der Lichtgestalt.
»Wann darfst du nach Hause?«
»Sicher bald. Schließlich befinden wir uns im Zeitalter der Fallpauschalen.« Nach Hause, dachte Martha. Hätte Gertrud doch bloß nicht davon angefangen. Martha lebte in Linden, dem Multikulti-Viertel Hannovers, in dem die Gentrifizierung in letzter Zeit immer rascher voranschritt. Der leicht heruntergekommene Altbau, in dem sie als übrig Gebliebene einer großen WG seit vierzig Jahren wohnte, wurde gerade luxussaniert. Martha war der festen Überzeugung, dass ihre plötzliche Herzschwäche nach zweiundsiebzig Jahren robuster Gesundheit mit ihrer misslichen Wohnsituation zu tun hatte.
Sie wechselte das Thema. »Gertrud, ich habe etwas ganz Seltsames erlebt, als ich in Narkose war …« Als Martha an der Stelle angekommen war, an dem sich der Paradiesgarten mit all den Vögeln, den Schmetterlingen, den verstorbenen Haustieren und den herumhuschenden Engeln quasi vor ihren Augen wieder aufgelöst hatte, unterbrach sie Gertrud: »Das war eine Nahtoderfahrung. So nennt man das, das habe ich neulich im Fernsehen gesehen.« Die goldenen Ohrgehänge an ihren lang gezogenen Ohrläppchen zitterten erregt.
»Das war aber noch nicht alles«, sagte Martha. »Als es durch den hellen Tunnel wieder rückwärtsgegangen ist … also, wie soll ich sagen … ich glaube, es ist jemand mitgekommen.«
»Mitgekommen?« Gertrud vergaß, ihren Mund zu schließen.
»Ja, von… da drüben.«
»Doch nicht etwa Großtante Hedwig!«
»Nein. Die ist bestimmt in der Hölle. Ich weiß nicht, wer es ist. Aber er steht seitdem hier im Zimmer herum, am Fenster.«
Erschrocken fuhr Gertrud herum.
»Er ist nicht immer da«, sagte Martha.
»Er?«
»Ja. Er ist weiß gekleidet und irgendwie durchsichtig und er strahlt ganz hell. Ich glaube, er ist ein Engel.«
Gertrud, die Hände um ihre Handtasche gekrallt, starrte sie entsetzt an. Martha konnte es ihr nicht verübeln, vermutlich hätte sie an Gertruds Stelle dasselbe getan. Beide waren seit Jahr und Tag weder besonders religiös noch dem Esoterischen zugeneigt. Damit hörten die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf.
»Ich bin nicht verrückt«, sagte Martha.
»Ja, ja, gewiss«, sagte Gertrud.
Eine Pause entstand.
»Du solltest mit jemandem darüber reden.«
»Mit wem denn? Mit einem Priester?«
»Mit einem Arzt.«
»Hab ich schon versucht, aber der Professor hier …«
»Nein, nein, mit einem Arzt, der von so etwas Ahnung hat«, sagte Gertrud.
»Von Engeln?«
»Nein, von solchen… psychischen Sachen.«
»Du meinst einen Psychiater.«
»Ja, so etwas in der Art«, nickte Gertrud.
»Ich bin nicht verrückt«, wiederholte Martha.
Gertrud verabschiedete sich. Martha sank zurück in die Kissen. Die helle Gestalt stand jetzt wieder vor dem Fenster, von einem amethystblauen Licht umgeben. Jetzt war Martha, als würde sie etwas flüstern, aber die Worte waren nicht zu verstehen.
Adventszeit. Seit einer Woche war Martha wieder zu Hause. Das Treppenhaus war verstellt mit Säcken voller Putz und Zement, dazwischen lagen Eimer, Holzlatten, Leitern, Pakete mit Badezimmerfliesen, Bierflaschen, Pizzakartons und Handwerkszeug. Bis in den dritten Stock hinauf war es der reinste Hindernislauf. Das ging schon seit dem Sommer so. Neu war das Gerüst auf der Vorderseite des Hauses. Immer wieder erschrak Martha, wenn Handwerker vor den beiden Fenstern ihres Wohnzimmers vorbeigingen und zu ihr hineingafften. Zudem hatten die Arbeiter das Gerüst mit Planen verhängt, und da es nun ohnehin schon dunkel im Zimmer war, schloss Martha auch tagsüber die Vorhänge, um sich vor den Blicken der Arbeiter zu schützen. Sie hätte sich in die Küche setzen können, denn zum Hof hin stand kein Gerüst, aber dort war es kalt. Immer wieder fielen Strom und Gas aus oder sie stellten ihr das Wasser ab. Martha hatte sich einen Campingkocher besorgt, sie achtete darauf, immer einen ausreichenden Vorrat an Kerzen im Haus zu haben und ein paar volle Wassereimer. Die Zentralheizung funktionierte schon seit Monaten nicht mehr, doch zum Glück gab es im Wohnzimmer den großen Kachelofen. Das Hinaufschleppen der Kohlen vom Keller in den dritten Stock war zwar mühsam, zumal in ihrem Zustand, aber wenn dann der Ofen schön warm strahlte, dann dachte Martha jedes Mal trotzig: Prigge, du kannst mich mal! Du kriegst mich nicht klein.
Der Engel saß nun meistens in dem Rattansessel, in dem früher immer ihr Kater Leo geschlafen hatte. Manchmal schwebte er auch als heller Lichtfleck über der Biedermeieranrichte oder im Schlafzimmer zwischen dem Art-déco-Vertiko aus Nussbaumholz und dem Empirebett. Auch wenn Martha ausging, zum Arzt oder zum Einkaufen, hatte sie stets das Gefühl, dass der Engel bei ihr war, obwohl sie ihn draußen noch nie gesehen hatte. Sie erahnte seine Anwesenheit jedoch an einem warmen, sanften Druck, den sie auf ihrem Rücken spürte, genau zwischen den Schulterblättern, so ähnlich wie ein ABC-Pflaster. Anfangs hatte sie sich ein bisschen gefürchtet und natürlich war da immer noch der beunruhigende Gedanke, dass sie womöglich einen an der Waffel hatte. Einen Psychiater wollte sie jedoch nicht aufsuchen, von Ärzten hatte sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt erst einmal genug. Außerdem lebte es sich ganz gut mit dem Engel, denn er war vollkommen anspruchslos. Sie hatte sich angewöhnt, sich mit ihm zu unterhalten. »Es tut mir leid, wie es hier momentan zugeht«, entschuldigte sie sich. »Sie sind sicher Besseres gewohnt, so wie es bei euch da drüben ausgesehen hat. All diese hübschen Springbrunnen …«
Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob man einen Engel duzte oder siezte und sich für Letzteres entschieden. Höflichkeit war nie verkehrt. Bis jetzt hatte er jedoch noch nicht geantwortet, wenn man das gelegentliche leise, unverständliche Flüstern einmal außer Acht ließ. Vielleicht musste sich der Engel erst an sie gewöhnen, so wie sie sich an ihn hatte gewöhnen müssen.
»Bis zum Herbst haben noch die Türken im Erdgeschoss gewohnt und neben mir der alte Schuhmacher. Aber den haben sie vergrault, der ist jetzt in einer Siedlung für betreutes Wohnen in Bothfeld. Die Türken hat der Prigge vermutlich rausgekauft«, erzählte sie ihm eines Abends. »Hat er mit mir ja auch versucht, mit Engelszungen – Verzeihung! – hat er auf mich eingeredet. Aber ich bin nicht käuflich. Wissen Sie, Herr Engel, seit vierzig Jahren wohne ich nun schon hier, eine so schöne Wohnung zu so einem Preis finde ich in Linden nicht mehr, und ich will nicht weg aus Linden, das kommt nicht infrage. Ich wüsste ja gar nicht, wo ich meine ganzen schönen Möbel lassen sollte. Das sind alles kostbare Stücke. Ich habe bis vor drei Jahren in einem Antiquitätengeschäft gearbeitet«, erklärte Martha. »Aber nun bin ich langsam selber eine.« Sie lächelte kokett und zupfte an einer ihrer langen grauen Locken. »Seit klar ist, dass ich nicht nachgeben werde, versuchen sie es mit ihren Terrormethoden – der Prigge und seine bezahlten Schergen. Sein Vorarbeiter, dieser Polanski, hat vermutlich meinen Kater Leo verschwinden lassen, um mich mürbe zu machen. Aber das war ein Fehler. Jetzt gehe ich erst recht nicht. Jetzt müssen sie schon mir persönlich ans Leder. Wahrscheinlich haben sie gehofft, dass ich nicht mehr aus dem Krankenhaus zurückkomme. Zum Teufel mit diesen … oh, entschuldigen Sie bitte!«
»Keine Ursache«, sagte der Engel.
Martha konnte ihn jetzt plötzlich besser sehen. Er trug einen elfenbeinfarbenen Anzug, der seidig glänzte, und sein Gesicht erinnerte sie an das von Cäsar auf alten römischen Münzen. Wäre er ein Mensch, hätte sie ihn auf Mitte vierzig geschätzt. Ein bildschöner Mann war er allemal, ob Engel oder nicht. Nach Flügeln auf seinem Rücken hielt Martha allerdings vergeblich Ausschau.
Er sagte, sein Name sei Nathanael.
»Und was machen Sie hier auf Erden, Herr Nathanael, wenn ich fragen darf?«
Der Engel seufzte tief. »Wissen Sie, Martha, seit über dreitausend Jahren bin ich nun schon an dem Ort, den Sie gesehen haben, zwischen all meinen Kollegen und den guten Menschen. Manchmal würde ich am liebsten vor Langeweile sterben, wenn ich denn sterblich wäre.«
»Ich verstehe«, sagte Martha. »Aber dass Sie ausgerechnet zu mir kommen. Ich meine, ich freue mich sehr darüber und fühle mich geehrt, Herr Nathanael, aber bei mir ist ja nun auch nicht gerade die Hölle los.«
»Apropos Hölle«, sagte der Engel. »Warum lassen Sie sich das bieten, was diese Kerle hier treiben?«
»Ich habe doch schon die Miete gekürzt.«
»Miete gekürzt, Miete gekürzt! Dieser feiste Kerl mit den ekligen Haaren unter der Nase hat Ihre Katze ermordet.«
»Aber was soll ich denn machen?«
»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, sagte Nathanael und seufzte erneut: »Ach, das waren schöne Zeiten, als noch das Alte Testament galt. Ehe dieser Gutmensch aus Nazareth kam und uns den ganzen Spaß verdorben hat. Und ich musste auch noch vor einem Haufen zerlumpter Schafhirten seine Geburt verkünden.« Nathanael schüttelte sein edles Haupt, dann richteten sich seine huskyblauen Augen auf Martha: »Stoßen Sie diesen Kerl doch bei nächster Gelegenheit vom Gerüst!«
»Ein Mord? Nein, das könnte ich nicht«, sagte Martha mit fester Stimme und der ebenso festen Überzeugung, dass der Engel sie nur auf die Probe stellen wollte.
»Hm«, machte Nathanael und hing für den Rest des Abends als schweigsame helle Wolke über dem Fernseher.
Ab und zu war der Engel für Stunden oder auch ganze Tage nicht zu sehen. Martha fragte ihn einmal nach seiner Rückkehr, wo er denn gewesen sei. Er meinte, er würde sich ein wenig umsehen.
Inzwischen ging es stramm auf Weihnachten zu. Gertrud rief an. »Du solltest Weihnachten bei uns verbringen, nicht in deiner Bruchbude.«
»Das ist sehr nett von euch, aber ich möchte lieber hierbleiben«, lehnte Martha ab. Sie mochte ihren Schwager nicht besonders, und wenn sie ganz ehrlich war, ihre ältere Schwester auch nicht.
»Aber du kannst doch an Weihnachten nicht ganz alleine sein«, protestierte Gertrud. »Dann komm doch wenigstens an Heiligabend.«
»Nein, danke. Wir… ich bleibe hier.«
»Überleg dir das lieber noch einmal«, sagte Gertrud mit Grabesstimme und Martha legte auf.
Eines der letzten Tabus, dachte sie. Sie verzeihen einem heutzutage so manche Exzentrizität, aber möchte man den Heiligen Abend alleine verbringen, gilt man als asozial, suizidgefährdet und als Fall für die Psychiatrie. Dabei machte es Martha wirklich nichts aus. Sie war das Alleinsein gewohnt und schätzte es inzwischen sogar. Dass sie in den Augen anderer das Klischee der alten Jungfer verkörperte, war ihr egal.
Aber sie war ja gar nicht allein. Der Heilige Abend mit Nathanael verlief harmonisch. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit aß der Engel zusammen mit Martha Rehrücken und zum Nachtisch Mousse au Chocolat. Dazu tranken sie zwei Flaschen Burgunder und schauten sich später Das Leben des Brian auf DVD an. Der Engel lachte Tränen dabei. Ein bisschen wehmütig dachte Martha an die Heiligabende der letzten zwölf Jahre, die sie auf ähnliche Weise mit ihrer Freundin Doro verbracht hatte. Doro war im Frühling an Krebs gestorben. Martha erkundigte sich bei Nathanael nach ihr, aber er konnte ihr keine Auskunft geben.
»Heißt das, sie ist … Sie wissen schon?«
»Ja, vielleicht hat sie Glück gehabt«, sagte der Engel.
»Wie meinen Sie das?«
»Martha, wenn ich Sie wäre, würde ich alles daransetzen, lieber nicht ins Paradies zu kommen. Aber bis jetzt waren Sie dazu viel zu brav.«
»Ich, zu brav? Ich war schon seit Jahren in keiner Kirche mehr und in den Siebzigern …«
»Ach, das bisschen Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll, wen interessiert denn das? Haben Sie mal die Bibel gelesen, wie es da drunter und drüber geht?«
Martha sah ihn erstaunt an.
»Was ist Ihre Lieblingsspeise?«, fragte Nathanael.
»Ich glaube, es ist ein Kuchen: Himbeerbaiser.«
»Das Paradies ist wie jeden Tag Himbeerbaiser.«
»Ich verstehe«, sagte Martha. »Und die Hölle?«
»Sie dürfen sich die andere Seite nicht so vorstellen wie auf den Bildern des Mittelalters.«
»Aber wie dann?«, fragte Martha.
»Wie die Limmerstraße Freitagnacht um zwölf«, sagte der Engel und lächelte.
Am Vormittag des ersten Weihnachtsfeiertages kam plötzlich kein Wasser mehr aus dem Hahn. Martha machte sich Sorgen, ob die sechs vollen Reserveeimer bis über die Feiertage reichen würden. Wer weiß, am Ende ließ sich bis zum zweiten Januar keiner von den Arbeitern mehr im Haus blicken. Erbost ging sie hinaus ins Treppenhaus und stakste durch das Gerümpel bis nach unten. Sie hatte Glück, Polanski, der Vorarbeiter, war noch da. Er stand auf einer Leiter und schraubte an der Deckenlampe herum, die am Abgang zur Kellertreppe angebracht war.
»Ich möchte, dass Sie sofort wieder das Wasser anstellen«, sagte Martha.
»Nix verstehen«, sagte der Vorarbeiter.
»Ich weiß genau, dass Sie gut Deutsch können, ich habe Sie oft genug mit Herrn Prigge reden hören«, sagte Martha und wiederholte ihre Forderung.
Polanski grinste breit unter seinem Schnäuzer hervor und sagte mit süßlich verstellter Stimme: »Miez, miez, miez …«
Bis dahin hatte Martha nur den Verdacht gehabt, Polanski könnte etwas mit Leos Verschwinden zu tun haben, aber diese Lautäußerung eben wertete Martha als klares Geständnis. Augenblicklich wurde sie von einem heiligen Zorn übermannt. Gleichzeitig fühlte sie die Hand des Engels zwischen ihren Schulterblättern. Der Druck war fester als sonst und viel wärmer und sie hatte nur noch den einen alles beherrschenden Gedanken: Rache!
Sie nahm Anlauf und trat, im wahrsten Sinn des Wortes beflügelt von Nathanaels unsichtbarer Gegenwart, gegen die Leiter. Das Holzgestell geriet ins Schwanken, Polanski verlor den Halt und stürzte mit einem Schrei die steile Kellertreppe hinab. Sie hörte seinen massigen Körper aufklatschen, dann war es ruhig. Sehr ruhig. Martha stieg zögernd zu ihm hinunter. Er lag auf dem Rücken, leblos, sein Kopf war unnatürlich verdreht. Genick gebrochen, diagnostizierte Martha. Entsetzt über ihre Tat lief sie die Kellertreppe hinauf, stolperte durchs vermüllte Treppenhaus nach oben und in ihre Wohnung, wo sie atemlos auf ihr Kanapee sank.
»Jetzt haben Sie mich doch so weit gebracht!«, keuchte sie anklagend, aber ihre Worte verhallten ungehört. Der Engel war nicht da.
»Ach ja! Erst Unheil anzetteln, dann verschwinden«, schimpfte Martha. Dann saß sie in ihrem dämmrigen Wohnzimmer und wartete. Immer wieder blickte sie hinüber zu Leos Rattansessel. Sie wollte so gern mit Nathanael über ihre Tat reden, nie hätte sie ihn dringender gebraucht als jetzt. Aber der Engel ließ sich nicht blicken. Martha ging schließlich zu Bett, verbrachte dort eine schlaflose Nacht, und als Nathanael am Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages immer noch nicht aufgetaucht war, griff sie resigniert zum Hörer und telefonierte mit der Polizei. Wenig später wimmelte es im Haus von Beamten. Martha gab ihre Tat unumwunden zu. Ein Streifenwagen brachte sie aufs Polizeirevier, sie wurde verhört, man nahm ihre Fingerabdrücke und machte Fotos von ihr, dann wurde sie noch einmal verhört, sie unterschrieb ihr Geständnis und man brachte sie in eine Zelle.
Auf der schmalen, harten Pritsche liegend hoffte Martha insgeheim, Nathanael würde sich noch einmal sehen lassen. Aber nichts dergleichen geschah. Dafür kam am nächsten Tag der Kommissar, der sie vernommen hatte, und meinte, sie könne nach Hause gehen, aber er würde ihr dringend empfehlen, einen Therapeuten aufzusuchen.
»Aber ich war es doch. Ich habe diesen Mann umgebracht«, sagte Martha.
»Gute Frau«, sagte der Kommissar. »Wir haben die protokollierten und unterschriebenen Aussagen Ihrer Schwester und Ihres Schwagers. Sie waren von Heiligabend bis zum Mittag des Sechsundzwanzigsten ununterbrochen bei Ihren Verwandten in Neustadt am Rübenberge. Wie können Sie da am Fünfundzwanzigsten Herrn Polanski die Kellertreppe hinuntergestoßen haben?«
Zu Hause wartete Nathanael schon auf sie.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte ihn Martha. »Dass Gertrud die Polizei anlügt, und sogar mein überkorrekter Schwager?«
Nathanael lächelte. »Wissen Sie, Martha, ich habe viele Gesichter. Ich kann auch andere Gestalten annehmen als diese angenehme, in der ich Ihnen erscheine. Ganz andere! Das, was Ihre Schwester und ihr Gatte gestern Nacht von mir zu sehen bekommen haben, glauben Sie mir, Martha, diese Erfahrung wollen Sie wirklich nicht machen.«
Martha gab sich damit zufrieden. Ihr schlechtes Gewissen, was ihren »Totschlag im Affekt« an Polanski anging, hatte sich inzwischen gelegt. Der Mann war ein Rohling und hatte ein unschuldiges Haustier getötet, er verdiente es nicht anders. Auge um Auge. Andererseits – was nützt mir Polanskis Tod?, fragte sich Martha besorgt. Der Prigge wird sich einen anderen Mann fürs Grobe suchen, um mich zu schikanieren. Selbst wenn ich auch noch den Prigge ins Jenseits befördere – es wird ein neuer Prigge kommen. Ich habe keine Chance, das ist nun mal der Lauf der Dinge. Vielleicht sollte ich mir doch einmal Altenheime genauer ansehen …
Am nächsten Morgen war Nathanael verschwunden. Stattdessen stand gegen Mittag plötzlich der Hausbesitzer, Herr Prigge, mit einem großen Strauß rosa Tulpen vor der Tür. Beinahe hätte Martha ihn gar nicht erkannt. Er war wachsbleich im Gesicht und sein ehemals dunkles Haar war auf einmal weiß wie Engelshaar. Dabei war der Mann erst Ende dreißig. Er sagte, er wolle sich für all das Ungemach der letzten Monate bei Martha entschuldigen, und bis zum Abschluss der Umbauarbeiten müsse sie natürlich keine Miete mehr bezahlen.
Der Umschlag, der am Tulpenstrauß angebracht war, enthielt einen Scheck über 2000 Euro. Binnen zwei Tagen waren das Treppenhaus vom Gerümpel befreit, die Planen vor Marthas Wohnzimmerfenster verschwunden und die Zentralheizung wieder in Gang gesetzt. Wann immer danach Wasser oder Strom kurzzeitig abgestellt werden mussten, kam ein Arbeiter und fragte, ob es für Martha zu dieser oder jener Zeit akzeptabel wäre, man würde sich ganz nach ihr richten.
Auf Herrn Prigges wundersame Verwandlung angesprochen, meinte Nathanael nur, der Mann müsse aufpassen, sonst käme er trotz seiner Schandtaten der letzten Jahre am Ende doch noch ins Paradies.
Nathanael kam jetzt nur noch sporadisch vorbei. Er meinte, er habe etwas nachzuholen in Sachen Amüsement und Sünden. Dafür hatte Martha großes Verständnis. Aber er versprach, das nächste Weihnachtsfest auf jeden Fall bei Martha zu verbringen.
Martha holte sich einen neuen Kater aus dem Tierheim. Sie sollte noch fast zwanzig Jahre in dem Haus leben, ehe sie kurz nach ihrem einundneunzigsten Geburtstag friedlich verstarb. Wohin die Reise danach ging, ist nicht bekannt.
Susanne Mischke wurde 1960 in Kempten geboren und lebt heute bei Hannover. Sie war mehrere Jahre Präsidentin der »Sisters in Crime« und erschrieb sich mit ihren fesselnden Kriminalromanen eine große Fangemeinde. Für das Buch »Wer nicht hören will, muss fühlen« erhielt sie die »Agathe«, den Frauen-Krimi-Preis der Stadt Wiesbaden. Ihre Hannover-Krimis haben über die Grenzen Niedersachsens hinaus großen Erfolg.
Der Muttertagsmörder. Kriminalgeschichten
www.piper.de/buecher/der-muttertagsmoerder-isbn-978-3-492-98296-2-ebook
Von Kerstin Garde
James Leary betrat eilig die Lobby des Advist-Gebäudekomplexes im Zentrum von Manhattan. Es war der 21. Dezember um 12:27 Uhr, und James kam gerade von einem Geschäftsessen zurück, das zu seiner äußersten Zufriedenheit verlaufen war. Ein neuer Investor war gefunden, seine Software-Firma somit gerettet. Die gute Laune spürte er bis in die Fingerspitzen.
Es war ein kleiner Geniestreich, dass er ausgerechnet denselben Geldgeber wie die Konkurrenz von Quintessence an Land gezogen hatte. Wenn Jo Bronak das erfuhr, würde er vor Wut in die Tischkante beißen!
Mit einem Pling ging die Tür des Lifts auf. James legte einen Schritt zu, doch mit ihm strömten wahre Massen in den Fahrstuhl. Wie er zu enge Räume hasste! Man fühlte sich wie ein Zündholz in einer Streichholzschachtel. Und dann erklang auch noch Jingle Bells als Fahrstuhlmusik; welcher Scherzbold hatte sich denn das einfallen lassen? Die Damen aus Abteilung 1 lächelten ihn an, sie hofften wohl auf die Gehaltserhöhung, auf die sie ihn neulich angesprochen hatten. Auch der Kerl mit der Hornbrille, dessen Namen er sich einfach nicht merken konnte, warf ihm immer wieder Blicke zu. Irgendetwas war da mit seiner Schwester, Schulden oder Ähnliches, James konnte sich ja nicht alles merken. Jedenfalls hatte der Informatiker um einen Vorschuss gebeten, um seinem Familienmitglied helfen zu können. James hatte das kategorisch abgelehnt!
Ganz langsam bewegte sich der Fahrstuhl nach oben, als hätte er es gar nicht eilig. Ganz im Gegensatz zu James, der aufatmete, als endlich der 8. Stock erreicht war und er aussteigen konnte. »Mr. Leary, hätten Sie einen Moment?«, fragte der Kerl mit der Hornbrille und hechtete ihm nach. »Zeit ist Geld!«, erklärte James und tippte dabei geschäftig auf seine Armbanduhr.
»Es dauert wirklich nur einen Moment! Bitte, Mr. Leary. Mr. Leary, warten Sie bitte. Es ist doch bald Weihnachten!«
James ging einfach weiter und ließ den Angestellten im Flur stehen. Er würde sich nicht erweichen lassen, nur weil irgendwer in der Familie des jungen Mannes Probleme hatte und außerdem Weihnachten war. Weihnachten! Das war ein Fest der Wirtschaft, nicht mehr, nicht weniger. Wie sie alle durch die Straßen rannten, sich in die Geschäfte drängten, um last minute Geschenke zu kaufen, und sich dabei einredeten, es ginge um Liebe! Nein, von diesem Irrsinn wollte er sich nicht die gute Laune verderben lassen. Der Tag hatte doch so ausgezeichnet begonnen. Wenn man mal von den Schneeschauern absah, die seit Tagen über New York hereinbrachen. Schnee hasste er fast genauso sehr wie Weihnachten.
James betrat sein Büro und hängte pfeifend seinen langen Wintermantel an die Garderobe; darunter trug er einen feinen Armanianzug, dazu ein seidenes Hemd und eine farblich abgestimmte Krawatte, die er sich im Spiegel zurechtzupfte. Ohne jede Eitelkeit, aber er konnte verstehen, dass die jungen Dinger aus Abteilung 1 ein Auge auf ihn warfen.
Da bemerkte er in der Spiegelung eine Bewegung. Irritiert drehte er sich um. Eine recht füllige Gestalt saß vor seinem Schreibtisch und fuhr sich wild durch die braunen Locken. Ach ja, das war wohl das Bewerbungsgespräch für 12.30 Uhr! Cassie hatte die Dame offenbar schon hereingelassen. Sei es drum. Die Sache würde schnell erledigt sein, das wusste James auf den ersten Blick.
»Guten Tag, Miss Goodwill, nehme ich an«, sagte er und ging dabei auf die junge Dame zu, die Hand ausgestreckt. Warme Augen, ein roter Schal und deutlich zu viel Hüftspeck für seinen Geschmack.
»Oh ja! Die bin ich! Emma Goodwill, sehr erfreut.« Hektisch schüttelte sie seine Hand, wobei ein eigenartig klebriges Gefühl an ihr zurückblieb.
James zwang sich zu einem Lächeln, dabei wischte er sich seine Hand unauffällig an der Hose ab, während er sich hinsetzte. Ein Blick zum Fenster verriet, dass immer mehr Schnee aus allen Wolken fiel. Er seufzte. Der verstopfte doch nur die Straßen.
»Sie möchten sich also auf die Stelle als zweite Assistentin bewerben?«
»Ja, so ist es. Ich war lange Zeit nicht mehr im Büro, wissen Sie. Die Kinder. Haben Sie Kinder?« Sie legte eine Mappe vor ihn hin.
»Nein…«
»Dann wissen Sie ja nicht, was das alles bedeutet. Ehe man mal wieder Zeit für sich oder gar einen Job hat… Was erzähle ich, man macht es ja auch gerne. Aber irgendwann will man halt wieder zurück, eine Aufgabe haben. Und als ich Ihre Anzeige im New Yorker Tagesanzeiger las, da sagte ich mir… Emma, sagte ich… das klingt einfach großartig. Ein Job mit viel Verantwortung. Und Entwicklungspotenzial. Das ist doch genau das, was du suchst.«
»Ja, ja…« Er faltete die Hände, stützte sein Kinn auf diese und ärgerte sich darüber, dass er wegen des Schneefalls die Windschutzscheiben würde abfegen müssen. Hoffentlich bildete sich in der kurzen Zeit kein Eis. Wo hatte er noch mal den Eiskratzer versteckt?
»Selbstständig sein, flexibel sein, das bin ich alles! Sie sehen also, ich bringe die nötigen Voraussetzungen mit. Ich bin auch bereit, Neues zu lernen und…«
»Schon gut, Miss Goodwill, schon gut. Holen Sie erst mal Luft.«
Emma Goodwill atmete tief ein, lächelte und wippte aufgeregt auf dem Stuhl hin und her. Hoffentlich brach das gute Stück nicht unter ihr zusammen.
»Hören Sie, Miss Goodwill, das klingt ja alles ganz wunderbar. Aber wir bei Advist suchen… nun ja… eine Frau mit Erfahrung, verstehen Sie. Wir sind ein weltweit agierendes Unternehmen, gehören zu den absoluten Größen in der Software- und App-Entwicklung.«
»Ich habe Erfahrung, Mr. Leary. Vor der Geburt meiner Zwillinge war ich die Assistentin bei Jo Bronak von Quintessence. Das ist auch eine Software-Firma, wissen Sie.«
»Ja, ja. Kenn ich.« Die direkte Konkurrenz, der er heute eins ausgewischt hatte. James grinste.
»Und der hat mir auch ein ganz tolles Zeugnis ausgestellt. Alles, was ich jetzt brauche, ist eine Chance, um wieder in den Job zu kommen.«
»Sehen Sie, Miss Goodwill. Genau da liegt das Problem: die Zeit. Wir haben nicht die Zeit, jemanden einzuarbeiten. Außerdem, seien Sie mir nicht böse, passen Sie einfach nicht in unser Team.«
»Wieso sagen Sie das? Sie haben sich meine Unterlagen doch noch nicht mal angesehen.«
»Das kann ich auch so beurteilen.« Auf den ersten Blick eben. Er musterte ihre Figur und schaute dann ganz geschäftig auf den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Dabei fielen ihm ein paar Briefe auf, die vorhin noch nicht hier gelegen hatten. Cassie, seine erste Assistentin, hatte offenbar schon die Post geholt. Ganz oben auf dem Stapel entdeckte er eine Weihnachtskarte aus Kelsey, zumindest war Kelseys verschneite Winterlandschaft das Motiv. Carol… die musste von Carol sein…
»Haben Sie Familie in Kelsey?«, fragte Emma plötzlich, die offensichtlich seinem Blick gefolgt war.
Er stopfte die Karte unter den Stapel und winkte ab. »Bekannte. Nichts Wichtiges.«
»Na, das können Sie mir jetzt aber nicht erzählen.«
»Bitte?«
»Ich habe da doch eben ein ganz kleines Lächeln gesehen.«
»Ich habe gelächelt?«
»Ja, als Sie die Karte aus Kelsey bemerkt haben.«
»Also, das ist doch…« Was ging es diese aufdringliche Person eigentlich an?
»Ich habe ja Familie in Kelsey, mein Bruder lebt dort. Ein wunderschöner kleiner Ort, und zu Weihnachten so herrlich verschneit…«
»Machen wir es kurz und knapp, Miss Goodwill, ich wünsche Ihnen alles Gute bei Ihrer weiteren Suche.« Er hielt ihr abermals die Hand hin. Plötzlich veränderte sich jedoch Emmas Gesichtsausdruck. Ihre Unterlippe schwoll an und bebte. »Aber, Mr. Leary, ich brauche diesen Job wirklich. Ich arbeite halbtags als Kellnerin, das ist harte Arbeit, die schlecht bezahlt wird. Irgendwie muss ich doch auch meine Familie ernähren. Mein Freund, der Vater meiner Kinder, hat mich verlassen, und es ist doch Weihnachten…« Das Totschlagargument in diesen Tagen. Und ein wenig persönliches Drama.
»Merry Christmas, Miss Goodwill.« Er nickte rüber zur Tür. Schließlich war das hier nicht die Heilsarmee.
Miss Goodwill entglitten die Gesichtszüge. Wortlos erhob sie sich und ging. James atmete auf, ging rüber zu dem Waschbecken und säuberte sich die Hände. Was manchen Leuten einfiel… Sah er aus wie ein Samariter? Was gingen ihn die Schicksale der anderen an? Und diese Einmischung in sein Privatleben – unerhört. Jemand Wichtiges aus Kelsey? Also wirklich. Er schielte rüber zu dem Briefstapel, schüttelte dann aber den Kopf. Gefühlsduseleien aus der Vergangenheit hatten hier nichts verloren. Es wartete noch eine Menge Arbeit auf ihn.
* * *
»Autsch!«
James schreckte hoch. Was war das gewesen? Er hatte doch gerade jemanden gehört. Ein Poltern erklang hinter der Tür. Er erstarrte. Was machte er überhaupt noch im Büro? Offenbar war er an seinem Schreibtisch eingeschlafen. Wie spät war es? Er bewegte die Maus und rieb sich die Augen, als ihm 01:30 Uhr auf dem Bildschirm seines Computers angezeigt wurde.
»So ein Mist, wieso ist denn hier kein Licht? Wie soll man sich denn da zurechtfinden?«, hörte er eine Frau fluchen. Daraufhin ertönte ein weiteres Geräusch, als wäre sie gegen etwas gestoßen. Wer war denn um diese Uhrzeit noch im Büro? Sicher keine Angestellte. Er war oft einer der Letzten, die Feierabend machten. Und niemand blieb hier länger als bis 22 Uhr. Folglich musste das da draußen eine Einbrecherin sein. Oder eine Verrückte. Oder beides.
Seine Hand tastete schon nach dem Telefon, in der Absicht, die Polizei zu verständigen, als plötzlich die Tür seines Büros regelrecht aufsprang und eine propere Gestalt entschlossen hereinspazierte.
»Miss Goodwill?« Er traute seinen Augen kaum.
»Na klar, wen haben Sie denn erwartet?« Sie setzte sich einfach auf die Kante seines Schreibtischs und schlug ein Bein über das andere. »Das da draußen ist ja ein Irrgarten. Diese modernen Großraumbüros für Programmierer, ts ts. Ich habe mir das Knie angestoßen, am Kopierer. Sehen Sie nur mal.« Sie deutete auf eine Laufmasche. Irgendwie sah Miss Goodwill anders aus als heute Mittag. Ihre Kleidung war schriller, glitzernder. Und die Haare hochtoupiert. Und diese geschmacklose Strumpfhose hatte sie zuvor auch nicht getragen.
»Hören Sie, das ist nicht lustig. Ich habe Ihnen erklärt, dass Sie für den Job in unserer Firma leider nicht in Frage kommen und…«
»Wer redet denn von dem Job, Jimmy?«
»Wie haben Sie mich gerade genannt?« Das war der Kosename, den Carol ihm gegeben hatte. Er war seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden. »Raus mit der Sprache, was soll das alles? Haben Sie getrunken? Und wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?« Das Wachpersonal war wohl ebenfalls eingeschlafen.
»Das ist doch alles gar nicht wichtig!«
»Das sagen Sie! Wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden, rufe ich die Polizei, darauf können Sie aber wetten.«
»Sie haben es immer noch nicht verstanden, Mr. Leary. Wie schade.«
Er griff nach dem Telefon, doch es erklang kein Tutzeichen, keine Verbindung nach draußen.
»Sehen Sie«, meinte Emma und kicherte.
»Wie haben Sie das gemacht?«
»Ich war das doch gar nicht.«
Er legte genervt auf. »Also schön, was, um Himmels willen, wollen Sie?«
»Ihnen zeigen, was wirklich wichtig ist.«
»Aha. Na, da bin ich aber mal gespannt.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Mit dieser Irren würde er schon fertig werden, wenn es hart auf hart kommen sollte. Miss Goodwill sprang vom Schreibtisch und tänzelte auf ihn zu. Dabei packte sie seinen Arm und zog ihn aus seinem Bürosessel. »Kommen Sie mit, Mr. Leary, dann verstehen Sie, was ich meine.«
Sie schob ihn zum Panoramafenster und öffnete es. Unter ihm die Stadt und deren blinkende Lichter, das Hupkonzert der Autos und natürlich der Schnee. Es hatte etwas Friedliches, obwohl ihm diese Vorweihnachtsstimmung sonst nicht sehr behagte.
»Und jetzt raus mit Ihnen!«, rief Emma und gab ihm einen Stoß über die Brüstung.
»Nicht doch!«, rief James Leary, doch er verlor schon das Gleichgewicht. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle. James kniff die Augen zusammen, spürte den Sog, der ihn rasant in die Tiefe zog und erwartete, jeden Moment aufzuschlagen. Stattdessen landete er keuchend im Vorgarten eines kleinen Einfamilienhauses, und direkt neben ihm Miss Goodwill, die sich ein wenig Schnee von der Schulter klopfte.
Moment mal, dieses Haus kannte er doch! Es gehörte Grandma Elly. Aber wie… wie war das möglich, wie kamen sie hierher? Außerdem war es plötzlich helllichter Tag, obwohl eben noch Nacht gewesen war. Er lachte auf. Jetzt verlor er endgültig den Verstand!
»Wo sind wir?«
»Das wissen Sie doch, Mr. Leary. In Kelsey natürlich. Außerdem lautet die viel wichtigere Frage nicht wo, sondern wann.« Sie zwinkerte ihm zu, während er eine Regung an einem der Fenster bemerkte. Gebannt blickte er dorthin, wo sich die Gardine bewegte. Es war ihm alles so vertraut. Hier war er oft gewesen. Jeden Nachmittag nach der Schule, und später auch. Carol…
»Keine Sorge, schauen Sie sich nur um, es kann Sie niemand sehen«, versicherte Emma.
»Wieso kann mich denn niemand sehen?«
»Weil Sie so etwas ähnliches… wie ein Geist sind?«
»Sind wir etwa… in den Tod… gesprungen?«
»… Das alles zu erklären, wäre viel zu kompliziert. Dafür haben wir gar nicht die Zeit…«, murmelte Emma, ohne ihm zu antworten.
»Bin ich tot?«, schrie er sie erschüttert an.
»Was?« Sie hielt inne. »Sprung in den Tod? Ach nein, wo denken Sie hin. Sie sind gesprungen, ja, das schon. Und zwar direkt in die Vergangenheit. In das Jahr 1998, um genau zu sein. Solche Zeitsprünge sind auch weit weniger gefährlich, wissen Sie.« Miss Goodwill lehnte sich an die Hauswand und betrachtete überaus intensiv ihre Fingernägel. »Nur zu, werden Sie Zeuge dessen, was Sie angerichtet haben«, forderte sie ihn auf.
»Angerichtet?«
Er entdeckte Carol, die hinter der Gardine hervorlugte. Mein Gott, sie war noch ganz jung, und wunderschön. Ihre nussbraunen Haare waren zu Stocklocken gewickelt, und sie trug einen weißen Pulli mit Norwegermuster, an dessen Kragen sie nervös fingerte. James atmete tief durch und seufzte. Ihr Anblick versetzte auch ihn in die damalige Zeit zurück. Damals war alles anders gewesen…
* * *
»Kind, jetzt setz dich zu uns. Wir wollen essen«, rief Grandma Elly.
»Ich bin gleich bei euch«, erwiderte Carol und warf einen letzten Blick aus dem Fenster. Er war bestimmt gleich hier! Er musste einfach kommen! So wie er jedes Jahr zu Weihnachten zu Besuch kam. Das war doch Tradition bei ihnen.
Ihre Finger strichen zum gefühlt hundertsten Mal den Kragen ihres Pullis glatt. Unter dem Stoff spürte sie die Muschelkette, die er ihr letztes Jahr geschenkt hatte. Es war nicht nur ein Weihnachts-, sondern auch ein Abschiedsgeschenk gewesen. Denn vor genau einem Jahr war Jimmy nach New York gezogen.
Der Schnee wirbelte gegen die Scheibe, bedeckte nicht nur die kahlen Äste und Dächer der Nachbarhäuser, sondern auch jedes einzelne Auto in der Straße. Es sah aus, als hätte sich ein weißes Vlies über die Ortschaft gelegt. Aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Carol gab die Hoffnung dennoch nicht auf, dass Jimmy sein Versprechen halten würde. Sie hatten Pläne, an denen sie eisern festhielt. Sobald er sich in New York etwas aufgebaut hatte, wollte er sie nachholen. So die Idee, die sie letztes Jahr in Carols kleiner Wohnung über Grandma Ellys Garage ausgetüftelt hatten, als die Welt gerade unter fantastischem Feuerwerk ins neue Jahr gerutscht war.
»Ich will für immer mit dir zusammen sein«, hatte Jimmy gesagt. Und Carol war in seine Arme gesunken, hatte sich an seinen warmen Pulli gekuschelt und ihn festgehalten, so lange, bis sie eingeschlafen war.
Inzwischen hatte sich auch Carol nach einer Anstellung im Big Apple umgesehen und vielversprechende Anzeigen entdeckt, auf die sie sich beworben hatte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr geliebtes Kelsey verlassen würde, um endlich wieder bei ihm sein zu können. Denn glühende Briefe und gelegentliche Wochenendtreffen mochten noch so romantisch sein, nichts ging jedoch über einen Morgen, an dem sie in seinen Armen erwachte, oder ein gemeinsames Frühstück bei Sonnenaufgang.
Eine Hand legte sich auf Carols Schulter. Als sie hinter sich blickte, schaute sie in das gütige Gesicht von Grandma. »Setz dich zu uns«, sagte sie sanft. Carol nickte und ließ die Gardine los.
Als sie sich zu der Familie an den gedeckten Tisch setzte, entgingen ihr die mitfühlenden und bedrückten Blicke nicht.
»Er wird kommen«, erklärte Carol und versuchte nicht nur ihre Eltern und Grandma Elly zu überzeugen, sondern vor allen Dingen sich selbst. »Er hat es versprochen.« Vor zwei Wochen erst war der Brief aus Manhattan eingetroffen, in dem er ihr versichert hatte, dass er zu Weihnachten vorbeisehen würde. Wie jedes Jahr eben. Deshalb hatte Carol jede Nacht in ihrem Bett gesessen und an dem Schal gestrickt, den sie ihm schenken wollte.
»Hat er denn gesagt, wann er hier sein will?«, hakte Mum nach.
Carol warf einen Blick auf die Wohnzimmeruhr. Es war kurz nach drei. Jimmy hatte geschrieben, er wolle so früh wie möglich hier sein, was immer das bedeutete. Sie schüttelte also mit dem Kopf.
»Fangen wir an, sonst wird die Gans kalt«, sagte Dad und schnitt den Braten an. Der verfressene Dackel Willibald kratzte sacht mit der Pfote an ihrem Knie, vermutlich hoffte er, dass das eine oder andere Häppchen zu Boden fiel oder jemand ihm etwas zusteckte. Carol hatte normalerweise immer ein Leckerli für ihn dabei, aber heute stand sie neben sich. Der Stuhl ihr gegenüber war leer, erinnerte sie daran, wie sehr Jimmy ihr fehlte. Sie vermisste die gemeinsamen Stunden vor dem Kamin, eingehüllt in eine kuschelige Wolldecke, oder die zarten Küsse hinter dem Haus; all das steckte noch immer in ihrem Herzen. Sie wollte es nicht loslassen. Und sie war überzeugt, dass es Jimmy genauso ging. Sicherlich steckte er nur im Stau. Die Straßen waren zugeschneit. Oder er schaute vorher noch bei seinen Eltern vorbei. Ja, so musste es sein!
Doch auch gegen 20 Uhr war Jimmy immer noch nicht da, und Carol stand erneut am Fenster, den mit Schleifen verzierten Schal in den Händen. Sanft presste sie ihn an ihre Lippen. ›Bitte komm, Jimmy‹, dachte sie…
* * *
»Warum ist sie nur so traurig?«, fragte James Leary, der auf der anderen Seite des Fensters stand und zu Carol hineinblickte.
»Das können Sie sich nicht denken?«, wunderte sich Miss Goodwill. »Sie sind schuld, mein Lieber. Weil Sie Ihr Versprechen gebrochen haben! Schlimmer: Dies ist auch der Tag, an dem Ihre Liebe zerbrochen ist. Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten es vergessen«, empörte sich die untersetzte Frau mit den toupierten Haaren und plusterte sich vor ihm auf.
»Doch, natürlich weiß ich das. Es waren die Umstände, die mich dazu zwangen. Aber nie wollte ich Carol wehtun. Es tut mir jetzt weh, sie so zu sehen. Aber damals war es richtig, sich zu trennen.«
»Die Umstände? Die Umstände hießen Jessica und Lorelai. Zwei hübsche junge Damen, die Sie in einer Bar wenige Tage, bevor Sie nach Kelsey fahren wollten, kennengelernt haben. Und Schluss haben Sie gemacht, indem Sie Carol an Neujahr auf den AB sprachen. Das, Mr. Leary, hatte wirklich null Stil.« Sie piekste ihm mit dem Finger gegen die Brust.
»Au. Ist ja schon gut. Ich sehe es ein, ich war ein Egoist. Aber glauben Sie mir doch, Miss Goodwill, ich habe wirklich nicht geahnt, wie sehr es Carol das Herz brechen würde. Das wollte ich nie. Niemals.«
Miss Goodwills Gesicht nahm weichere Züge an. Sie nickte langsam. »Na schön. Warum haben Sie sich dann nie mehr von sich aus bei Carol gemeldet, obwohl sie doch Freunde bleiben wollten?«
»Ich hatte doch Kontakt zu ihr.«
»Ja, aber nur, wenn sie Sie anrief oder besuchte. Und dann haben Sie Carol wie eine Aussätzige behandelt, weil Ihre New Yorker Hipster-Freunde sie als Landei bezeichnet hatten.«
James seufzte. »Es lag auch an der Zeit.«
»Zeit, Zeit, Zeit… das ist immer Ihr Argument.«
»Es ist doch auch wahr, wer hat heutzutage noch Zeit?«
»Für Menschen, die wir lieben, nehmen wir uns die Zeit. So einfach ist das.«
Da war was dran, das sah James ein. Er hatte offenbar vieles falsch gemacht. Und das meiste davon war ihm nicht einmal bewusst gewesen. Er führte die Hand an die Fensterscheibe, weil er so sehr wünschte, Carol einfach in den Arm zu nehmen. Doch bevor seine Finger das Glas berührten, hielt er inne, ließ die Hand einfach davor schweben. Wenn er die Vergangenheit doch nur ändern könnte.
Da streckte Carol ihrerseits die Hand aus und legte sie von innen an die Scheibe, genau an die Stelle, an der seine war.
»Sehen Sie mal, Miss Goodwill. Merkt sie etwa doch, dass ich hier bin?«, hoffte er. »Carol! Es tut mir wirklich alles so leid. Verzeih mir bitte. Ich will es wieder gut machen, hörst du?«
»Sie kann Sie nicht hören«, erinnerte ihn Emma Goodwill. »Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt. Wir sind gerade in der Vergangenheit, was Sie hier sehen, ist bereits geschehen.«
»Aber… Carols Hand.« In dem Moment, in dem er seine eigene Hand auf die Scheibe drücken wollte, nahm Carol ihre wieder weg. Es war wohl nur ein Zufall gewesen. Aber James Hand glitt durch das Glas hindurch. Erschrocken zog er sie zurück. Und doch hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, sie hätten sich berührt.
»Sie haben wohl recht.« Er wandte sich um, als plötzlich Willibald losbellte, wie von Sinnen. Der kleine Kläffer, wie hatte James ihn je vergessen können?
»Was ist denn los, Willi?«, fragte Carol, und als sich James noch einmal zum Fenster wandte, stand dort der kleine Dackel breitbeinig auf dem inneren Fensterbrett, und starrte James mit grimmigem Blick an.
»Der kann mich sehen! Ich schwöre es Ihnen, Miss Goodwill. Der Wadenbeißer da kann mich sehen.« Natürlich meinte James das liebevoll. Willibald war schon immer eine coole Socke gewesen.
»Was, wirklich?«, staunte Miss Goodwill.
Carol hob den Dackel hoch und schaute erneut hinaus. »Jimmy? Bist du das?«, hörte er sie durch die Scheibe. Ihr Blick schien etwas zu suchen, doch im Gegensatz zu Willibald nahm Carol ihn nicht wahr.
»Ich war mir gerade ganz sicher, dass er hier ist«, sagte Carol, jedoch so leise, dass James es nur von ihren Lippen ablas. Dann ging sie hinein und machte das Licht aus. James stand im Dunkeln vor dem alten Haus und ließ die Schultern hängen.
»Sie werden es mir wohl nicht glauben, Miss Goodwill, aber jetzt wünsche ich mir nichts mehr, als dass ich damals nach Kelsey gefahren wäre.«
»Sie mögen Carol immer noch, nicht wahr?«
»Ich bin mit Tiffany liiert. Sie ist die Frau, der jetzt mein Herz gehört«, erklärte er, doch es schien fast, als versuchte er nicht Miss Goodwill, sondern sich selbst zu überzeugen.
»Tiffany, das Model, richtig. Die würde Sie bestimmt vermissen, wenn Sie jetzt für immer hier festsäßen. Oder auch nicht?« Miss Goodwill grinste von einem Ohr bis zum anderen.
»Wie ist das denn schon wieder zu verstehen?«
Sie packte seine Hand. »Genau so, wie ich es gesagt habe.« Dann machte sie einen kleinen unförmigen Hüpfer, der jedoch nicht nur sie, sondern auch James in die Höhe riss, und zwar so rasant, dass ihm förmlich schwindelte. Im nächsten Augenblick hatte er Kelsey verlassen und stand in seinem Apartment in New York City. James atmete auf. Er war wieder zu Hause. Zum Glück. Und Miss Goodwill war auch nirgends zu sehen. Also endlich wieder Normalität!
* * *
»Tiff? Bist du zu Hause?«, rief er, doch er bekam keine Antwort. Stattdessen hörte er ein Kichern, das aus dem Schlafzimmer kam. Sie wartete offenbar schon auf ihn. Er lockerte die Krawatte und lief eilig den Flur herunter. Endlich alles beim Alten! Wie sehnte er sich nach Carols Küssen. Äh! Tiffs Küssen. Das hatte er denken wollen! Nein, sollen! Ach, egal. Er ging durch die offene Tür und erstarrte, als er Lukas, seinen guten Freund und Partner von Advist, in seinem Bett entdeckte. Dessen Klamotten lagen am Boden verteilt. Die Bettdecke war halb heruntergeglitten. Lukas selbst lag auf Tiff und überhäufte sie mit Küssen.
»Ich kann einfach nicht genug von dir kriegen«, hauchte er.
»Du musst jetzt gehen, James kommt bald nach Hause, eigentlich müsste er schon längst hier sein.«
Schon längst hier sein? Er WAR hier! »Was geht hier vor?«, rief James. Aber keiner reagierte. Da blieb ihm glatt die Spucke weg.
»Wie lange soll das denn noch so weitergehen?«, fragte Lukas.
»Ich rede mit ihm, versprochen. Damit wir endlich zusammensein können. Gleich morgen gehe ich in sein Büro.«
»Wirklich? Keine Rückzieher? Du hast es schon oft versprochen.« Lukas rollte sich von ihr runter und sie kuschelte sich an seine nackte Brust. »Es ist kurz vor Weihnachten. Ich weiß nicht, ob ich wirklich den Mut aufbringe, zu Weihnachten mit ihm Schluss zu machen.«
»Aber irgendwann musst du es tun. Oder willst du für immer Versteck spielen?«
»Nein, natürlich nicht.« Sie seufzte.
Endlich fand James seine Sprache wieder. Ungeheuerlich, was hier vor sich ging! Nicht nur, dass Tiffany offenbar eine Affäre mit seinem besten Freund hatte, die beiden taten, als würden sie ihn nicht sehen! Obwohl er mitten im Raum stand.
»Raus hier!«, brüllte er.
Doch sie ignorierten ihn weiter. Das machte James unglaublich wütend! Er spürte, wie ihm das Herz vor Zorn bis zum Hals schlug, ganz von selbst ballten sich die Hände zu Fäusten und er verspürte den unwiderstehlichen Drang, Lukas aus seiner Wohnung zu prügeln.
»Ich sollte jetzt wirklich gehen«, sagte Lukas und setzte sich auf, hob die Jeans vom Boden und streifte sie über.
»Das solltest du allerdings! Aufnimmerwiedersehen! Raus hier!«, wiederholte James.
»Hast du was gesagt?«, fragte Lukas.
»Ich? Nein«, meinte Tiff.
»Mir war so, als hätte ich was gehört. Eigenartig.«
Eigenartig war es in der Tat. Hier stimmte doch etwas nicht! Und als James ihn packen wollte, glitt seine Hand durch Lukas hindurch.
»Ach, da sind Sie ja«, sprach ihn plötzlich Miss Goodwill an, die wie aus dem Nichts neben ihm stand. »Schönes Schlafzimmer! Na ja, was hätte ich auch anderes von Ihnen erwarten sollen. Sie haben eben Geschmack, meistens! Ich habe Sie unterwegs übrigens verloren. Ich kann mir nicht erklären, wie, aber…«
»Was geht hier vor sich? Ich bin doch in der Gegenwart, oder nicht? Wieso sehen die mich nicht? Bin ich immer noch ein Geist?«
Lukas streifte sein Hemd über, warf Tiff eine Kusshand zu und verließ seelenruhig das Zimmer, während sich die Frau, der eigentlich sein Herz gehörte, mit einem seligen Gesichtsausdruck auf ihr Kissen sinken ließ. James musste etwas unternehmen! Der Kerl spannte ihm die Freundin aus. Und er stand hier und hatte keinerlei Einfluss!
»Da ist wohl etwas schief gegangen. Tut mir sehr leid, Mr. Leary.«
»Ach, Ihnen tut es leid? Wer sind Sie eigentlich, Miss Goodwill? Die gute Fee?«
»Ich…«
»Das wird das schlimmste Weihnachten aller Zeiten!«
»Sie haben noch nicht die Zukunft gesehen«, deutete Miss Goodwill an.
»Wie war das?«
»Ach… Sie sagen doch selbst immer, dass Weihnachten nicht Ihr Ding ist, und…«
»Nein, nein. Sie sprachen von der Zukunft.«
Da kam ihm was in Erinnerung! Sein Blick glitt durch den Raum und blieb an seinem Nachtschränkchen hängen, auf dem ein Buch lag. Charles Dickens »A Christmas Carol«. Auch als «Eine Weihnachtsgeschichte« bekannt. Tiff hatte es ihm geschenkt, weil sie ihn damit in Weihnachtsstimmung hatte bringen wollen, was natürlich nicht geklappt hatte.
»Jetzt wird mir alles klar!«, rief James. »Natürlich! Nur so kann es sein. Ich träume! Das alles hier, das ist genauso wie in der Geschichte von Charles Dickens. Der Geist der Weihnacht, der mich in die Vergangenheit und Gegenwart bringt. Und jetzt in die Zukunft, ist es nicht so, Miss Goodwill?«
»Ja, das hatte ich durchaus vor, gut kombiniert, Mr. Leary.«
»Sie haben aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Erstens: Ich bin nicht Ebenezer Scrooge! Es besteht nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen ihm und mir!«
»Ähm… na ja… also, ehrlich gesagt…«
»Zweitens bin ich nicht gewillt, dieses Spiel weiterzuspielen. Ich verlange, dass ich auf der Stelle aufwache.«
»Für Ihren Schlafrhythmus sind wirklich nur Sie selbst verantwortlich, Mr. Leary.«
»Also schön.« Er kniff die Augen zusammen und strengte sich mächtig an, aufzuwachen. Doch nichts geschah. Als er blinzelte, stand er immer noch in seinem Schlafzimmer, Miss Goodwill neben ihm und Tiff im Bett, die gerade eingeschlafen war.
»Na ja, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«, neckte ihn Miss Goodwill. »Aber sehen Sie es positiv, wenn das alles nur ein Traum ist, dann haben Sie ja auch nichts zu befürchten, wenn wir jetzt gemeinsam Ihre Zukunft anschauen.«
Er schnippste mit dem Finger. »Sie haben´s erfasst, Miss Goodwill. Also los, wie komme ich in meine grauenvolle Zukunft?«
»Einfach mir nach, würde ich sagen.« Miss Goodwill öffnete das Fenster und hielt ihm die Hand hin.
»Wieso können Sie eigentlich Gegenstände oder mich anfassen, und ich kann das nicht?«
»Wie Sie schon sagten, vielleicht bin ich ja eine gute Fee? Und jetzt kommen Sie.«
»Ach bitte, nicht schon wieder ein solcher Sturz.«
»Daran gewöhnt man sich«, versprach sie. Und kaum, dass er ihre Hand genommen hatte, rauschten sie in die Tiefe, direkt in die nächste Szene.
* * *
James schaute sich irritiert um. Er hatte damit gerechnet, sich auf einem Friedhof wiederzufinden, wie es eben in manchen Versionen der Weihnachtsgeschichte war. Stattdessen stand er in einem sterilen Raum vor einem Krankenbett, in dem ein ihm völlig fremder Mann lag, angeschlossen an Maschinen, die ihn am Leben hielten.
»Was soll das hier?«, wunderte sich James.
»Ich zeige Ihnen Ihre Zukunft«, erklärte Miss Goodwill ganz sachlich.
»Aber das da bin nicht ich.«
»Doch, das sind Sie, Mr. Leary.«
»Was?« Er beugte sich über die Person, die abgemagert und bleich aussah. Die Augen waren offen, doch sie blickten in die absolute Leere.
»Das ist Ihr Ich im Jahre 2019.«
»Wollen Sie mich… veralbern? So soll ich schon nächstes Jahr enden? Ich erkenne mich selbst nicht wieder.«
»Das liegt wohl daran, dass Sie einen schweren Motorradunfall hatten und ins Koma fielen.«
James taumelte einige Schritte zurück. Das musste ein Irrtum sein! Er hatte nie so enden wollen! Angewiesen auf Maschinen, nicht mehr Herr seiner Sinne. Eingeschlossen in einen verfallenden Körper. Womit hatte er das nur verdient?
»Was ist passiert, Miss Goodwill? Jetzt sprechen Sie schon.«
»Ganz wie Sie wünschen, Mr. Leary. Es fing damit an, dass Lukas sich mit Jo Bronak zusammentat und Ihnen, nun ja, Advist quasi aus den Händen stahl. Sie verloren Ihre Anteile, Tiffany und auch Ihr Heim, woraufhin Sie mit enormer Wut im Bauch mit dem Motorrad zu Lukas fuhren, um ihn zur Rede zu stellen. Dort kamen Sie aber nicht an.« Miss Goodwill lächelte unglücklich. »Tut mir sehr leid, Mr. Leary, dass es so für Sie ausging.«
»Aber… das kann doch nicht das Ende sein? Mehr soll ich nicht aus meinem Leben gemacht haben?« Er fuhr sich über das Gesicht. »Ich bin nur noch eine Last für alle, sehen Sie mich doch an.«
»Nun, das würde ich so nicht sagen, Mr. Leary.«
»Ach nein?«
»Es gibt ehrlich gesagt niemanden, dem Sie zur Last fallen, weil niemand Sie vermisst.«
Nun schossen ihm die Tränen in die Augen. Er hatte doch Freunde! Bekannte! Sogar Familie. Er konnte doch unmöglich allen egal geworden sein, nur weil er sich ihnen gegenüber hin und wieder etwas hatte gehen lassen oder sich für einige Zeit nicht gemeldet hatte. Zeit, Zeit… hätte er sich doch nur Zeit für die Menschen um sich herum genommen!
»Ich sehe da doch eine Karte!«, sagte er mit klopfendem Herzen und deutete zu dem Tischchen neben seinen Bett.
»Ach ja, das hätte ich fast vergessen«, sagte Miss Goodwill. In dem Moment ging die Tür auf und eine zierliche Gestalt, eingehüllt in einen Wintermantel und mit Bommelmütze, betrat das Krankenzimmer. Es war Carol, die sich einen Stuhl an sein Bett zog, sich zu ihm setzte und ein Buch aus ihrer Manteltasche zog.
»Was… was tut sie da?«
»Sie liest Ihnen vor, weil sie glaubt, dass Sie sie hören können.«
»Und? Kann ich das?«
»Ich weiß es nicht, Mr. Leary. Können Sie es? Hören Sie mal hin…« Miss Goodwill zwinkerte ihm zu.
Und da vernahm James Carols Stimme, die so weich und lieblich klang. Die schönste Melodie, die er je gehört hatte…
* * *
Die Nachricht von Jimmys Unfall hatte Carol schwer getroffen, doch sie hatte keine Minute gezögert und war sofort zu ihm gefahren. Seitdem war sie jeden Tag ins Krankenhaus gekommen, um ihren Ex-Freund zu besuchen. Mal las sie ihm vor, mal erzählte sie ihm von ihrem Tag. Etwas in ihr war überzeugt, dass er sie hörte. Vielleicht war das albern. Aber Carol glaubte fest daran, dass das Band zwischen ihnen nie gänzlich zerrissen war. Ja, es war nicht mehr so stark wie früher, zugegeben. Aber es war unverkennbar da. Sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben. Und sie liebte ihn auch jetzt noch.
Sanft griff sie nach seiner Hand, hielt sie fest. »In drei Tagen ist Weihnachten, Jimmy«, flüsterte sie. »Ich werde mit meiner Familie in Kelsey feiern, wie jedes Jahr. Ich wünschte, du könntest bei uns sein. Aber du wirst in meinem Herzen sein.« Sie schloss das Buch, steckte es in ihre Manteltasche zurück und beugte sich über ihn, küsste ganz vorsichtig seine Wange, die sich angenehm warm anfühlte.
»Dein Geschenk habe ich auch dabei. Ich habe es all die Jahre aufgehoben«, erklärte sie und zog den selbst gemachten Schal aus einem Geschenktütchen, das an ihrem Arm baumelte. Sacht legte sie den Schal auf seine Brust. »Wie schade, dass du ihn nicht tragen kannst.« Tränen stiegen ihr in die Augen, wie eigentlich jeden Tag, wenn sie bei ihm war. Es tat ihr so leid, was ihm widerfahren war.
»Frohe Weihnachten, Jimmy«, flüsterte sie und wandte sich um.
»Merry Christmas, Carol«, hauchte er, gerade in dem Moment, in dem sie die Hand nach der Türklinke ausgestreckt hatte.
Erschrocken fuhr Carol herum. Hatte sie gerade wirklich seine Stimme gehört? Sie eilte zu seinem Bett, seine Augen bewegten sich, seine Lippen auch! Er sah sie an! Nicht durch sie hindurch, sondern direkt in ihre Augen! Es war ein Wunder!
»Jimmy! Kannst du mich hören?« Sie drückte den Notfallknopf, der die Schwester verständigte.
»Carol… bist du es wirklich?«
»Aber ja, Jimmy. Mein Gott!« Sie schlug vor Glück die Hände vor dem Mund zusammen.
»Wo ist… Miss Goodwill?«
»Wer?«
»Die Frau mit den… Haaren. Sie war… gerade noch hier. Sie hat… mir gezeigt, was wirklich… wichtig ist.« Er versuchte ein Lächeln, griff nach ihrer Hand und drückte sie.
Die Tür ging auf und eine Schwester kam herein. Als sie Jimmys Zustand sah, hielt sie überrascht inne. »Das ist unmöglich. Der Patient ist wach?«
»Ja, und er spricht sogar mit mir«, freute sich Carol. Tränen rannen vor lauter Glück über ihre Wangen.
»Ich hole sofort einen Arzt«, sagte die Krankenschwester. Wenige Augenblicke später kehrte sie mit gleich zwei Medizinern zurück. Sie baten Carol, draußen zu warten, was diese gerne machte. Als die beiden Ärzte nach einer gründlichen Untersuchung zu ihr zurückkehrten, erklärten sie Jimmys Zustand für stabil, was Carol mit solchem Glück erfüllte, dass sie im Überschwang den Chefarzt kurz umarmte. Warum er ausgerechnet jetzt, drei Tage vor Weihnachten, wieder zu sich gekommen war, konnten die Männer im Kittel sich allerdings nicht erklären. Über die Feiertage wollten sie ihn sicherheitshalber hierbehalten.
»Darf ich denn wieder zu ihm?«
»Natürlich. Sie tun ihm offenbar gut«, sagte der Chefarzt.