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Winterzauber in den Highlands – Liebe inklusive
Ein verschneites Hotel in den schottischen Highlands, eine prominente Braut mit großen Plänen und zwei beste Freunde, die vielleicht mehr füreinander empfinden, als sie ahnen… In dieser festlichen Feelgood-Geschichte liegt Magie in der Luft.
Hotelier Harry Robertson ist fest entschlossen, das Applemore Hotel zu einem Erfolg zu machen. Kaum sind die letzten Gäste der Saison abgereist und die Bauarbeiter bereit zum Start, erhält er den Auftrag seines Lebens: eine opulente Weihnachtshochzeit für die berühmte Influencerin Ivy Winter, die sich nichts sehnlicher wünscht, als in dem Hotel zu heiraten, das ihre Großeltern so geliebt haben – und das bitte sofort. Mit Unterstützung seiner besten Freundin Polly, die den Hofladen führt, und einem ganzen Ort, der zusammenhält, scheint das Wunder möglich.
Doch als ein plötzlicher Rückschlag alles bedroht, zeigt sich, was wirklich zählt: Freundschaft, Zusammenhalt – und vielleicht sogar die Liebe. Wird dieses Weihnachtsfest auch Harrys und Pollys Leben für immer verändern?
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2025
Rachael Lucas
Weihnachten in Applemore
Das Erbe von Applemore
Aus dem Englischen von Sabine Schulte
Insel Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Christmas at Applemore.
eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der xx. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5122.
© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025Copyright © Rachael Lucas, 2022
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Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-78458-6
www.insel-verlag.de
Für Alice, Hayley und Keris
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Epilog Ein Jahr später
Dank
Informationen zum Buch
»Ach, guck doch mal …«
Polly Fraser seufzte träumerisch.
Da landete mit einem sanften Plumps eine große Schachtel auf ihrer Illustrierten und verdeckte die Fotos, die sie gerade so hingerissen betrachtete. Pollys Freundin Anna, die Konditorin, hatte ihre Gebäcklieferung gebracht, und nun stand sie im Hofladen von Gut Applemore auf der anderen Seite der Ladentheke, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und grinste über das ganze sommersprossige Gesicht.
»Keine Ahnung, warum du diesen Quatsch liest«, sagte Anna und deutete dann triumphierend auf die Schachtel. »Zimt-Rosinen-Cookies und Schokobrownies – mit Goldflitter, damit sie weihnachtlich glitzern.« Anna hob den Deckel ab, und der süße Duft von winterlichen Gewürzen und Schokolade schwebte durch den Raum.
»Lecker.« Polly war immer noch abgelenkt. Sie blickte nur kurz auf und lächelte zum Dank. »Sofort«, sagte sie. Sie schob die Schachtel achtlos zur Seite, um die glamourösen Fotos von einer Filmpremiere in London besser betrachten zu können.
»Polly! Fast hättest du die Figuren hier runtergestoßen!« Anna rettete einige zerbrechliche, handbemalte Holzfiguren, die nun gefährlich nah am Rand der Ladentheke balancierten. »Wenn du nicht gleich dein Klatschmagazin da zuschlägst, zerdepperst du den halben Christbaumschmuck, schon bevor du ihn überhaupt ins Regal gestellt hast.«
»Ja, ja«, sagte Polly und drehte die Zeitschrift um, sodass Anna, die gerade die Holzfiguren vom Tresenrand wegstellte, die Fotos sehen konnte. »Aber wärst du da nicht auch wahnsinnig gern dabei?«
Anna schüttelte den Kopf. Sie legte eine Hand schützend über die Schachtel, so als wolle sie ihr Backwerk vor dem Schicksal der Weihnachtsbaumfiguren bewahren.
»Nein, auf keinen Fall, das kann ich definitiv sagen. Keine Ahnung, warum du so was liest.« Anna schob sich eine ungebärdige Locke hinters Ohr und warf einen Blick auf die Fotos. Auf einem roten Premierenteppich standen einige mondäne Frauen mit extravaganten Frisuren und edlem Make-up. Mit ihren Kleidern aus bunter Seide und schimmerndem Satin wirkten sie wie eine Sammlung von Juwelen, fand Polly, oder wie eine Dose mit Weihnachtsschokolade in buntem Stanniolpapier.
»Weil das alles tausend Meilen von einem gewissen winzigen Kaff in den Highlands entfernt ist«, erwiderte Polly, »und weil solche Reportagen die einzige spannende Abwechslung sind, die ich in meinem Leben habe.«
Polly hob das oberste Papier in der Schachtel ab und enthüllte die Leckereien. Sie nahm einen der Zimt-Rosinen-Cookies – Annas neueste Kreation – heraus, betrachtete ihn einen Moment lang andächtig und knabberte ihn dann mit wonnevollem Stöhnen an.
»Einfach köstlich«, sagte sie, als der Keks ihr auf der Zunge zerging. Anna war ein Genie.
»Danke. Und warum willst du plötzlich hier weg? Ich dachte, du liebst unser Dorf.« Anna zog die Brauen ein wenig zusammen und sah Polly besorgt an. »Du hast doch nicht etwa vor, deine Zelte hier abzubrechen und Applemore gegen die hellen Lichter Hollywoods einzutauschen?«
»Klar, ich liebe unser Dorf.« Polly brach ein Stück von dem Keks ab und steckte es in den Mund. Sie ließ den Blick durch den Laden schweifen, über die weiß gestrichenen Wände des ehemaligen Wirtschaftsgebäudes von Gut Applemore und über die mit Tannengrün geschmückten Regale, an denen Lichterketten funkelten. Ein Torbogen führte in das gemütliche, gut besuchte Café im Nebenraum. Neben der Kasse auf dem Tresen des Hofladens flimmerten an einem winzigen Weihnachtsbäumchen bunte Lichter. Das ganze Ambiente war festlich, so wie in jedem Jahr, doch unausgesprochen hing ein Aber in der Luft. Polly fragte sich, ob Anna es wahrnahm, und sie war kurz davor, der Freundin ihre Gefühle anzuvertrauen. Doch da bimmelte die Türglocke, und eine grauhaarige Frau betrat den Hofladen. Der Augenblick war vorüber. Die Kundin griff nach einem der Flechtkörbe an der Tür und lächelte Polly und Anna grüßend zu.
»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte Polly. Sie wischte sich Krümel aus dem Mundwinkel, schlug die Zeitschrift zu und schob sie wieder unter die Ladentheke. Rote Teppiche hin oder her, sie musste ihren Laden führen und die Weihnachtsvorbereitungen organisieren.
Anna warf einen Blick auf die Wanduhr über Pollys Kopf.
»Ich gehe mal wieder. Im Kindergarten gibt's heute eine Weihnachtsvorstellung, und ich hab versprochen zu kommen, damit ein paar mehr Zuschauer da sind. Ich könnte schwören, dass Weihnachten jedes Jahr früher ist.«
Polly hatte im Hofladen schon seit einer ganzen Weile Weihnachtslieder abgespielt, und jetzt blickte sie auf den Christbaumschmuck, den sie verkaufte, und lächelte schuldbewusst. »Ich bekenne, dass ich schon immer so war – sobald Halloween vorbei ist, freue ich mich auf Weihnachten. Heiße Schokolade mit Zuckerstangen und Kekse und Kuchen mit Zimt und überall Lichterketten und …«
Anna hob belustigt die Augenbrauen. »In deinem Laden hängen doch immer überall Lichterketten.«
»Na gut, ich hab sie das ganze Jahr über. Ist doch kein Verbrechen, oder?« Polly zuckte lachend die Schultern. Auch in ihrem kleinen Cottage funkelten winzige Lichter, sie umrahmten die Haustür und zierten zu allen Jahreszeiten das Kaminsims. In der Vorweihnachtszeit jedoch schöpfte Polly aus dem Vollen. In diesem Jahr hatte sie noch einmal vier große Kartons mit Lichterketten für außen gekauft, und ihr Bruder Lachlan hatte versprochen, ihr noch in dieser Woche einen frisch geschlagenen Weihnachtsbaum aus dem eigenen Wald zu bringen. Schon als kleines Mädchen hatte Polly sich immer bemüht, ihre Umgebung möglichst heimelig und gemütlich zu gestalten, was allerdings in dem riesigen, kalten Gutshaus, in dem sie aufgewachsen war, nicht so einfach gewesen war.
»Jetzt muss ich aber wirklich los«, sagte Anna und gab Polly einen Klaps auf die Finger. »Und dass du mir nicht deine ganze Ware selbst auffutterst.«
Polly riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf. »Für wen hältst du mich denn?!«
So war das eben in Applemore, dachte sie, während sie kurz darauf eine Kundin bediente – obwohl Anna selbst genug zu tun hatte, half sie ihrer Freundin. Hier im Dorf kümmerte man sich umeinander. Was natürlich auch hieß, dass man keine Geheimnisse haben konnte und dass alle Dorfbewohner alles voneinander wussten. Man brauchte nur einmal zu niesen, schon ging eine halbe Stunde später das Gerücht um, man sei fürchterlich erkältet und gehöre ins Bett. Wenn man andererseits wirklich einmal krank war, taten die Dorfbewohner sich zusammen und halfen. So war es in Applemore üblich.
Nachdem Polly in einem der Gebäude am ehemaligen Wirtschaftshof von Gut Applemore den Hofladen eröffnet hatte, war er bald zu einem Zentrum für Neuigkeiten und Klatsch geworden, daher wusste sie immer, was unten im Dorf vor sich ging. Im Sommer wimmelte es im Ort von Touristen, während gleichzeitig die Schülerzahlen in der Dorfschule zurückgingen, weil immer mehr Häuser als Zweitwohnsitze verkauft wurden. Wenn die Dorfbewohner nicht aufpassten, würden bald Menschen von außerhalb Applemore übernehmen, die nicht die gleiche Bindung an den Ort hatten wie die Alteingesessenen. Im Hofladen wurde zurzeit deutlich weniger verkauft als in der Sommersaison, doch die neuen Backkurse waren der Hit. Matt, der sie leitete, war gelernter Bäcker und hatte ebenfalls eins der alten Wirtschaftsgebäude übernommen. In einem weiteren Gebäude befand sich jetzt eine Galerie, in der Künstler aus der Umgebung ihre Werke ausstellten. Das Atelier daneben, von dem aus man den Blick über die Felder hatte, nutzten die Künstler abwechselnd, sodass immer jemand anwesend war, wenn Besucher ein Bild oder einen anderen Kunstgegenstand als Andenken an ihren Aufenthalt in den Highlands mit nach Hause nehmen wollten.
Wieder seufzte Polly. Obwohl es um sie herum funkelte und glitzerte, fühlte sie sich matt und trübsinnig. Sie musste diesen Durchhänger überwinden – schließlich wusste sie ja eigentlich, was ihr fehlte, aber es fiel ihr schwer, sich das einzugestehen. Sie liebte ihr Leben in Applemore, den Laden, in dem sie sämtlichen Dorfklatsch brühwarm mitbekam, und die eng verbundene kleine Dorfgemeinschaft, zu der sie gehörte. Sie hatte nur ein einziges Problem, und das konnte sie nicht lösen.
»Na, was geht in dir vor?« Gavin, der das Café neben dem Hofladen betrieb, kam durch den Torbogen zu ihr herüber. Er war schlank und sportlich und mit seinem schwarzen Polohemd und den schwarzen Jeans wie immer tadellos angezogen. »Was soll dieses grimmige Gesicht?«
»Ach nichts.« Polly schüttelte sich, um ihre trüben Gedanken zu vertreiben. »Ich hab einfach einen blöden Tag.«
»Das kennen wir alle, Herzchen«, sagte Gavin mit seinem warmen walisischen Akzent. »Überlass Jenny die Kasse und komm mit nach drüben, dann kannst du Onkel Gavin erzählen, was dich bedrückt.«
Jenny arbeitete in Teilzeit für Polly, und gerade hockte sie vor einem Regal und ordnete die Kerzen mit Weihnachtsduft neu. Sie blickte auf, sah von Polly zu Gavin hinüber und nickte. »Klar, kann losgehen.« Sie stellte noch eine einzelne Kerze vor die anderen und erhob sich.
»Also komm.« Gavin nahm Polly an der Hand und zog sie hinter sich her durch den Laden ins Café, sodass sie lachen musste. »Setz dich. Ich versorge dich mit Kaffee, und du erzählst mir, warum meine kleine Polly Sunshine so betrübt ist. Das geht doch jetzt schon seit Tagen so.«
Polly setzte sich gehorsam an einen kleinen runden Tisch und sah zu, wie Gavin sich an seinem Ehemann Tom vorbei hinter die Theke des Cafés drängte, um den Kaffee zuzubereiten. Tom kochte gerade Tee für eine Gruppe durchnässter Wanderer und verteilte Kuchenscheiben auf Teller.
»Abrakadabra«, sagte Gavin, als er kurz darauf zwei Kaffeetassen mit jeweils einem Keks auf der Untertasse an ihr Tischchen brachte. »Das ist eine neue Röstung. Sag mal, was du davon hältst.« Er lehnte sich erwartungsvoll zurück, während Polly den ersten Schluck trank.
»Köstlich«, sagte sie, obwohl sie den Unterschied zwischen den verschiedenen Kaffeesorten und den Röstungen eigentlich gar nicht schmeckte. Sie packte den Keks aus und knabberte daran.
»Lügnerin.« Gavin grinste. »Für dich schmecken sie alle gleich, stimmt doch, oder?«
»Erwischt!« Polly lachte. »Aber sie schmecken mir alle richtig gut.«
Jetzt trank Gavin einen Schluck, wobei er in seligem Genuss die Augen schloss. »Keinen Sinn für die feinen Unterschiede, das ist dein Problem«, sagte er dann. »Du kommst zwar aus einem herrschaftlichen Schloss, aber deine Geschmacksknospen sind auf Heinz-Dosenbohnen auf Toast und Instantnudeln geprägt.«
»Instantnudeln sind gar nicht so verkehrt.« Pollys Bruder und ihre beiden Schwestern witzelten immer, dass sie die schlechteste Köchin unter den Geschwistern war.
»Na gut, du hast immerhin Harry, der dir Gourmetgerichte zaubern kann. Ihr zwei seid ja ein Herz und eine Seele.«
»Spinnst du?« Polly blickte in ihre Tasse und hoffte, dass ihr Gesicht sie nicht verriet. Harry Robertson führte das Applemore Hotel, er hatte es von seinen Eltern übernommen, als sie sich zur Ruhe gesetzt hatten. Obwohl einige Dorfbewohner mit Veränderungen grundsätzlich nicht einverstanden waren, war Harry gerade dabei, das Haus auf den neuesten Stand zu bringen. Finanzielle Unterstützung bekam er dabei von Rob Jones. Rob war erst kürzlich ins Dorf gezogen, er war der Partner von Charlotte, Pollys ältester Schwester, und als ehemaligem Börsenmakler und Sohn reicher Eltern fiel es ihm leicht, sich an Harrys Vorhaben als Investor zu beteiligen.
Als Polly aus London zurückgekehrt war, wo sie erst studiert und dann einige Jahre als Kindermädchen gearbeitet hatte, war auch Harry nach fast zehn Jahren in Sydney gerade wieder in seinen Heimatort zurückgekommen. Ihre Beziehung war von Anfang an entspannt und unbefangen, und sie waren sich rasch nähergekommen – dabei aber immer Freunde geblieben, nicht mehr. Harry betrachtete Polly als Kumpel, er konnte Ideen mit ihr austauschen und mit ihr besprechen, wie schwierig es war, einen Betrieb zu modernisieren, in dem sich seit Ewigkeiten nichts verändert hatte. Das Problem war jedoch, dass Polly neuerdings Herzklopfen bekam und von einer nie gekannten Erregung ergriffen wurde, sobald sie mit Harry zusammen war. Das war der Grund für ihre Niedergeschlagenheit – aber vor Anna oder Gavin hätte sie das niemals zugeben können und vor ihren Geschwistern schon gar nicht. Warum bloß sah Harry in ihr nur die kleine Schwester seines Freundes Lachlan? Und auch ihre Geschwister behandelten sie, obwohl sie fast dreißig war, immer noch als das Baby der Familie. Polly seufzte. Vielleicht war es Zeit für etwas Neues – auch wenn es eher unwahrscheinlich war, dass sie nach Hollywood flüchten würde, um in hautengen Satinroben bei Filmpremieren zu posieren.
»Was für ein tiefer Seufzer«, riss Gavin sie aus ihren Gedanken. »Also, was gibt's Neues? Wie läuft es mit der Hotelrenovierung?«
Pollys Gesicht hellte sich auf, und sie griff quer über den Tisch nach Gavins Keks. Er stimmte mit kurzem Nicken zu, aber sie hatte ohnehin gewusst, dass er nichts dagegen haben würde, denn er achtete penibel auf seine Figur und mied raffinierten Zucker.
»Ich denke, der Startschuss fällt, sobald die letzten Gäste verschwunden sind, das müsste … ungefähr Ende der Woche sein.«
»Und was passiert dann?«
»Dann kommt der Bauunternehmer, Kenny, der hat eine Menge Arbeit vor sich, und Harry hat eine wunderbare Innenarchitektin, sie hat schon ganz viele Skizzen gemacht. Neuer Teppichboden – dieser scheußliche alte mit dem Tartanmuster kommt endlich weg –, und überhaupt wird alles ganz hell und topmodern.«
»Das wurde aber auch Zeit«, sagte Gavin. »Mit Conor hat Harry einen spitzenmäßigen Küchenchef, und das Hotel hat so viel Potenzial. Stell dir mal vor, was für eine Goldgrube das wird, wenn es nicht mehr so aussieht, als wäre da vor fünfzig Jahren die Zeit stehengeblieben.«
»Ich weiß.« Polly war plötzlich sehr stolz auf Harry. Er hatte sich so angestrengt, um das alles hinzukriegen. »Und sie sind auf der Suche nach einem Airstream-Caravan, einem Oldtimer, den wollen sie dann zu einem Seafood-Imbiss umbauen. Der kommende Sommer wird richtig spannend.«
»Da ist ja das Lächeln, das ich vermisst habe«, sagte Gavin und griff ihr unters Kinn, als wäre sie ein widerspenstiges Kind. »Schon viel besser.«
Polly verzog das Gesicht. »Jetzt behandle mich bitte nicht wie ein Baby. Die anderen machen mir damit schon oft genug das Leben schwer.«
»Das tun sie bloß, weil du so bezaubernd und schnuckelig bist.«
»Hiermit lasse ich dich wissen, dass ich eine knallharte Geschäftsfrau bin«, protestierte Polly.
»Oh, da widerspreche ich dir ja gar nicht. Du hast ein altes Stallgebäude in einen blühenden Laden verwandelt, und dann hast du auch noch Räume für eine Bäckerei und eine Galerie geschaffen.«
»Im nächsten Sommer wollen wir außerdem auch Kunstworkshops anbieten. Und in den Wochen vor Weihnachten wird Beth in der Galerie Abendkurse im Weihnachtskranzbinden geben.« Dabei fiel Polly ein, dass sie die Flyer, die Beth ausgedruckt hatte, noch verteilen und ein paar davon neben ihre Kasse legen musste.
»Du bist einfach genial. Aber was bedrückt dich denn so sehr, Polly? In den vergangenen Wochen hast du dich verändert.«
Polly zuckte die Achseln. »Vielleicht hab ich so was wie Fernweh? Ich habe die Sache hier ins Laufen gebracht, und jetzt kann ich nicht mehr viel tun, außer vielleicht neue Räume anbauen oder die große Scheune hinten umbauen, und beides wäre eine Menge Arbeit.«
»Du brauchst mal was Neues, Aufregendes. Mir scheint, du bist ein bisschen festgefahren.« Gavin rieb sich nachdenklich das Kinn.
»In welcher Richtung aufregend?«
Er sah sie eindringlich an. »Du weißt schon, welche Art von Aufregung ich meine, Polly Fraser. Du bist hinreißend, witzig, clever und immer noch single. Du musst mal raus und jemanden kennenlernen. Deine Geschwister haben alle Partner. Worauf wartest du noch?«
Auf Harry Robertson, dachte Polly, aber das kann niemals was werden.
Sie zog eine Grimasse und hob resigniert die Hände. »Ach komm, Gavin, ich weiß ja, dass ihr beide, dein Tom und du, verliebt und glücklich seid. Aber es ist doch kein Geheimnis, dass es in Applemore so gut wie keine Dating-Szene gibt.«
»Wer weiß? Tom hat einen Vetter, der erst kürzlich wieder hier hochgezogen ist. Wenn ich mal ein Wörtchen mit ihm rede – vielleicht kann ich ein heißes Date für dich einfädeln?«
Tom blickte von der Theke aus zu ihnen herüber und winkte, so als spüre er, dass über ihn gesprochen wurde.
»Kommt überhaupt nicht infrage.« Polly wollte aufspringen und stieß ihren Stuhl zurück, so heftig und so laut, dass einige Wanderer sich überrascht nach ihr umdrehten, sich dann aber auf die höfliche britische Art rasch wieder ihrem Tee zuwandten. »Solche organisierten Dates hab ich schon genug mitgemacht, die waren immer eine Katastrophe.«
»Dieses wird vielleicht anders. Man muss schließlich ein paar Frösche küssen und so weiter. Und was für eine Alternative hättest du denn?« Gavin setzte klappernd seine Kaffeetasse ab und rieb sich die Nase. Polly blickte sich in dem kleinen Café um. Etwa eine Hälfte der Tische war mit Leuten aus der Umgebung besetzt, die sie kannte, und die andere Hälfte mit Touristen, die sich in der Nebensaison im Dorf eingemietet hatten und dem Wetter entsprechend angezogen waren. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie auch in fünfzehn Jahren noch hier sitzen, vor der gleichen Szenerie, ohne dass sich in ihrem Leben etwas geändert hätte.
»Also schön.« Sie verschränkte die Arme und seufzte ergeben. »Wenn ich dich auf diese Weise loswerde – dann bin ich zu einem Blind Date mit Toms komischem Vetter bereit.«
»Nur noch eine Woche«, sang Harry Robertson leise vor sich hin. Er stand draußen vor dem Applemore Hotel, unterschrieb einen Lieferschein und winkte dann dem abfahrenden Bierlaster nach. Der Himmel war grau, und eisiger Regen rann ihm in den Nacken. Auf der anderen Straßenseite, auf dem Geländer an dem kleinen Hafen, hockte eine Möwe und beäugte ihn.
Es war Ebbe, und in der Ferne arbeiteten ein paar Fischer an ihren Hummerreusen, die jetzt, nach dem Ende der Saison, an Land aufgestapelt waren. Der Sommer war lang und anstrengend gewesen, und Harry freute sich sehr, dass er für eine Weile weder lächelnd Hotelgäste begrüßen noch hinter der Theke stehen und dem alten Jimmy zuhören musste, während der sich in allen Einzelheiten über die gegenwärtigen Probleme der Landwirtschaft ausließ und dabei anderthalb Stunden an einem einzigen Pint Bier nippte. Normalerweise hielt Harry den Hotel- und Restaurantbetrieb auch im Winter aufrecht, so wie seine Eltern es gemacht hatten – auch wenn im Winter kaum mehr hereinkam als die Kosten –, aber in diesem Jahr war das anders.
Als er Zettel an der Bar ausgehängt und im Applemore Newsletter angekündigt hatte, dass er wegen Renovierung schließen und dann im Januar das umgebaute, modernisierte Applemore Hotel eröffnen würde, war das im Dorf ein kleiner Skandal gewesen.
»Ich sehe nicht, was an dem Hotel, so wie's jetzt ist, verkehrt sein soll«, hatte Old Jimmy gebrummt und seine Zeitung aufgeschlagen.
»Seit über zwanzig Jahren ist hier nichts gemacht worden«, hatte Harry zum hundertsten Mal erklärt, während er Gläser polierte und ins Regal stellte.
»Genau, und so, wie es ist, ist es schön.« Jimmy hatte sich geräuspert.
»Das wird noch viel schöner werden.«
Der alte Jimmy hatte sorgenvoll den Kopf geschüttelt und sich wieder den Rinderpreisen im Scottish Farmer zugewandt.
Auch andere Dorfbewohner hatten gemeckert und gemurrt, sich aber schließlich damit abgefunden, dass Harry für einige Wochen zumachen würde. Geholfen hatte, dass er als Kompromiss an den Wochenenden einen Abholservice für Bier versprochen hatte. Freitags und samstags würde er für durstige Dorfbewohner öffnen, damit sie sich Growler mit ihrem Lieblingsbier abholen konnten, das waren verschließbare Krüge, die er extra zu diesem Zweck bestellt hatte. Das würde sich zwar – wenn er ehrlich war – nicht lohnen, aber immerhin doch ein bisschen Geld einbringen und, was wichtiger war, ihm das Wohlwollen der Dorfbevölkerung erhalten. Dabei gab es, wie sein Geldgeber und neuer Freund Rob betont hatte, im näheren Umkreis kein Lokal, in das seine Stammgäste zwischenzeitlich hätten abwandern können. Harrys Pub war der einzige in Applemore, er hatte keine Konkurrenz. Harry setzte das Fass im Keller ab und ging wieder nach oben.
»Da kam eben einen Anruf, ein Paar will ganz kurzfristig buchen«, sagte Phoebe hinter der Theke. Sie warf ihr regenbogenbuntes Haar zurück und sah ihn zweifelnd an.
»Ich hab gesagt, keine Gäste mehr«, erwiderte Harry.
»Ich weiß, ich weiß …«, sagte Phoebe. »Aber wir schließen erst nächste Woche. Denk doch an das Geld.« Während Phoebe sprach, flatterte eine der langen Lamettagirlanden, die sie über die Theke gehängt hatte, auf den Boden. Die Weihnachtsdeko war offenbar genauso müde wie er selbst. Von Weihnachten hatte er die Nase jetzt schon gestrichen voll, obwohl es noch ein paar Wochen hin war.
»Ich denke daran, wie teuer die Bauarbeiten werden. Und überhaupt die ganze Renovierung. Und die neue Einrichtung und das alles.«
Harry hatte gehofft, die Unterstützung durch einen Investor würde ihm die ganze Geschichte erleichtern, aber auch wenn Rob die großen Ausgaben ganz locker nahm, hatte er selbst festgestellt, dass er jeden Penny dreimal umdrehte. Er wollte nicht, dass es so aussah, als würde er den Reichtum seines Freundes ausnutzen.
»Dann soll ich den Gästen also absagen?«
Harry blickte aus dem Fenster. Ein Fischerboot tuckerte dem Horizont entgegen. Der Himmel war immer noch bleigrau, und wegen der tiefhängenden Wolken konnte man die violetten Berge auf den Inseln in der Ferne nur erahnen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass ihm endlich genügend Geld zur Verfügung stand, um die Veränderungen vorzunehmen, von denen er schon lange träumte. Er hatte immer geglaubt, wenn jemand ihm einen Blankoscheck überreichen und ihm sagen würde, er könne das Geld ganz nach eigenem Gutdünken verwenden, würde er vor Freude ausrasten – aber die Realität sah anders aus. Er spürte eine große Verantwortung, so als müsse er das Hotel perfekt herrichten, um Robs Investition zu rechtfertigen. Er war zwar überzeugt, dass das frisch renovierte Applemore Hotel viele neue Gäste anlocken würde, doch nervös war er trotzdem.
»Ich hatte gehofft, wir könnten schon anfangen, das Haus auszuräumen, damit die Arbeiten dann gleich losgehen können.« Zerstreut griff er nach einem Tuch und wischte über die tadellos saubere Theke. Phoebe beobachtete ihn scharf.
»Der Mann hat am Telefon gesagt, sie hätten schon lange vorgehabt, nach Applemore zu kommen. Irgendwie soll es eine Überraschung sein, hat er gesagt, und irgendwas von einem familiären Bezug erzählt – ach, ich weiß es nicht mehr genau, aber er war wild entschlossen. Er meinte, er würde auch mehr als üblich zahlen, wenn das hilft.«
»Merkwürdig.« Ins Applemore Hotel kamen viele Gäste, die schon vor Jahren mit ihren Familien hier Urlaub gemacht hatten, aber keiner von ihnen hatte die Angewohnheit, mit Geldscheinen zu wedeln, um seinen Willen durchzusetzen. »Also gut«, sagte Harry schließlich, »schaden kann es vermutlich nicht. Aber damit ist dann endgültig Schluss, okay? Keine Überraschungsbuchungen mehr. Am kommenden Montag schließt das Hotel, und es wird seine Türen erst im neuen Jahr wieder öffnen.«
»Aye, aye, Käpt'n.« Phoebe salutierte mit schiefem Lächeln und schlug die Hacken zusammen.
»Sehr witzig.« Harry schüttelte den Kopf. An einem Tisch am Kamin saßen zwei Männer bei ihren Pints. Sie spielten Schach und schienen den Frieden der Nachmittagsflaute zu genießen. »Gut, jetzt ist es gerade ruhig, da will ich mal im Keller aufräumen. Ruf mich, falls plötzlich ganze Scharen von Gästen einfallen.«
Phoebe sah ihn skeptisch an. »Mach ich.«
Harry kümmerte sich um die Eismaschine, die selbst an ihren guten Tagen launisch war. Er räumte alle Fruchtsäfte und Sirups in die Regale, fegte und wischte den Boden, und während er Kartons und Packpapier sortierte, überlegte er nicht zum ersten Mal, dass diese Verpackungen sich in den Ecken zu stapeln schienen, sobald er dem Keller den Rücken zukehrte. Phoebe war im Umgang mit den Gästen super, aber für das Chaos im Keller schien sie keinen Blick zu haben. Kopfschüttelnd stopfte er die Pappe draußen in die Papiertonne.
»Hallo, Harry.« Er hörte einen vertrauten walisischen Akzent hinter sich. Als er sich umdrehte, stand Gavin vor dem schmalen Durchgang, der das Hotel von der Reihe der benachbarten Cottages trennte.
»Wie geht's?« Während Harry auf Gavin zuging, bestaunte er dessen Regenbekleidung. »Schöner … Regenmantel.«
»Findest du?« Strahlend drehte Gavin sich einmal um sich selbst.
»Jedenfalls bist du für Autofahrer unübersehbar.«
Gavin zupfte den leuchtend gelben Kragen seines Mantels zurecht. »Ich bin nun mal der Meinung, dass ein bisschen Farbe nicht verkehrt ist. Ihr Highlander seht immer aus, als wolltet ihr farblich mit der Landschaft verschmelzen.«
»Dann hast du dich also entschlossen, ein bisschen was Knalliges in unseren grauen Alltag zu bringen?«
»Genau. Aber was läuft denn gerade so bei dir? Hab dich ja seit Ewigkeiten nicht gesehen – seit du dich mit Charlottes knackigem Lover rumtreibst und ihr plant, die Weltherrschaft zu übernehmen.«
Harry musste lachen. Gavin war wie ein frischer Windstoß. Vor einigen Jahren war er zusammen mit seinem Partner Tom, der aus Applemore stammte, ins Dorf gekommen, und er hatte sich gut eingelebt. Die beiden betrieben mit großem Erfolg das Café in Pollys Hofladen, und der ganze Ort hatte das Paar ins Herz geschlossen. Es war eine Freude, das mitzuerleben.
»Ich treibe mich keineswegs mit ›Charlottes knackigem Lover‹ herum, ich treffe mich mit Rob, und wir überlegen, wie wir aus dem alten Kasten da ein erstklassiges Hotel machen können.«
»Aber du musst doch zugeben, dass Rob verdammt gut aussieht.« Gavin schmunzelte.
»Muss ich nicht.« Harry schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mein Typ.«
»Wo wir gerade dabei sind«, sagte Gavin mit listigem Lächeln, »ich hab eben mit Polly über den erbärmlichen Zustand ihres Liebeslebens gesprochen. Jetzt versuche ich, ein Date mit Toms attraktivem Vetter für sie zu organisieren. Oder jedenfalls vermute ich, dass er attraktiv ist, weil er ja mit Tom verwandt ist. Von wegen der Gene und so. Er ist erst kürzlich wieder hier in die Highlands gezogen.«
Harry machte eine nervöse Bewegung, trat einen Schritt zurück und schob eine Hand in die Gesäßtasche, dabei bemühte er sich, ganz lässig zu wirken. »Klingt gut. Polly ist eine tolle Frau.«
»Das stimmt«, sagte Gavin, »aber sie ist schon ewig single. Mal ehrlich, in Applemore wimmelt es nicht gerade von passenden Männern.«
»Ich muss zugeben, dass ich auf dem Gebiet nicht so bewandert bin.«
Gavin lachte.
»Dieser Vetter von Tom«, platzte Harry zu seiner eigenen Überraschung heraus, »das ist doch ein anständiger Typ, oder?« Irgendwie war ihm bei der Vorstellung, dass Polly zu einem Date mit irgendeinem hergelaufenen Kerl losziehen könnte, nicht ganz wohl.
»Selbstverständlich. Ich meine, ich kenne ihn zwar nicht, aber Tom sagt, er ist ein guter Mann. Tom würde Polly doch wohl kaum mit einem Serienmörder verkuppeln wollen, oder?«
»Na gut.« Harry bemühte sich, sein Unbehagen loszuwerden. »Ich hatte keine Ahnung, dass Männer hier so rar sind.«
»Also, immer wenn ein alleinstehender Mann im Dorf auftaucht, schnappt eine von den Fraser-Frauen ihn weg. Guck dir Beths Jack an – der ist doch ganz in Ordnung, oder? Und jetzt sind Charlotte und Rob ein Paar. Die anderen Frauen im Dorf haben gar keine Chance.« Gavin lachte über seinen eigenen Scherz.
Ein Landrover fuhr vorbei. Hinter dem Steuer saß Charlotte, sie hupte kurz, und Harry und Gavin hoben beide die Hand zum Gruß.
»Wahrscheinlich fährt sie zum Midsummer House und guckt, wie die Arbeiten da vorangehen«, sagte Gavin.
»Ich hoffe, ihr ist klar, dass Kenny im nächsten Monat nur für mich arbeitet.« Harry beobachtete, wie der Wagen rechts blinkte, an der Kreuzung hielt und dann in die Straße aus dem Dorf heraus abbog. »Du weißt ja, wie Charlotte ist, wenn sie richtig loslegt. Aber vielleicht hat sich das geändert, seit sie mit Rob zusammen ist.«
Gavin sah ihn zweifelnd an. »Du glaubst doch nicht etwa, dass die arbeitswütigste Frau, die wir kennen, sich von einem millionenschweren Geschäftsmann bremsen lässt?«
»Okay«, Harry rieb sich das Kinn, »da hast du recht.«
»Ich bin sicher, dass sie deinen Umbau auf der Reihe hat. Und abgesehen davon könnte Rob es sich auch leisten, jederzeit einen großen Bauunternehmer aus Inverness zu holen, wenn die Sache vorangehen soll.«
»Stimmt.« Harry fuhr sich mit der Hand durch das vom Seenebel feuchte Haar. Ein Stück die Straße hinunter sah er, wie ein Mitarbeiter des Highland Council neben einer Straßenlaterne parkte, die schon ewig lange nicht mehr funktionierte. Das wird aber auch Zeit, dachte er.
Nicht mehr lange, und die Straßen wären von weihnachtlichen Lichterketten beleuchtet, denn die Dorfbewohner würden die Fenster ihrer Häuser und Geschäfte schmücken, um dem Ort ein festliches Aussehen zu verleihen. Schon jetzt erschienen in manchen Fenstern Weihnachtsbäume, und abends hatte die Atmosphäre im Dorf etwas Erwartungsvolles. Am schwarzen Brett gab es Hinweise auf Weihnachtskonzerte in der Schule und das Anleuchten des Weihnachtsbaums, und ein Minibus war organisiert worden, um die Dorfbewohner zu Weihnachtseinkäufen nach Inverness zu bringen. Zum Glück brauchte er selbst über diesen ganzen Kram nicht nachzudenken, dachte Harry. Ihm war klar, dass er eine recht gute Nachahmung des griesgrämigen grünen Grinch abgab, aber er fand es erleichternd, sich ausnahmsweise mal aus dem ganzen Weihnachtsspektakel ausklinken zu können.
Folglich würde er auch keinen Weihnachtsbaum besorgen, sondern sich einfach zu Hause einen faulen Tag machen und vielleicht eine Runde mit seinem Mountainbike fahren. Sein Freund Lachlan hatte ihn zwar eingeladen, den ersten Weihnachtstag mit ihm und dem ganzen Fraser-Clan im Gutshaus Applemore zu verbringen, aber Harry wollte versuchen, ein bisschen Abstand zu Polly zu gewinnen. Er hoffte, die Sache vielleicht auf diese Weise in den Griff zu bekommen. Sie hatten in den vergangenen Monaten mehr und mehr Zeit miteinander verbracht, aber vor einer Weile hatte Lachlan einmal etwas geäußert, woraus Harry schloss, dass Pollys großer Bruder eindeutig etwas dagegen haben würde, wenn er weitere Schritte auf sie zu machen würde. Vorausgesetzt natürlich, Polly sah etwas anderes in ihm als einen guten Freund – und Harry war sich ziemlich sicher, dass das nicht der Fall war.
»Ich zieh mal lieber wieder los«, unterbrach Gavin ihn in seinen Gedanken.
Mit einem Schütteln holte Harry sich in die Realität zurück.
»Alles klar –«, er bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. »Falls du ins Café zurückfährst, grüß Polly von mir. Ich hab sie ewig nicht gesehen.«
Gavin warf ihm einen prüfenden Blick zu. Harry fühlte sich beobachtet und bückte sich umständlich nach einem Stück Papier, das der Wind vor sich hertrieb.
»Ich richte ihr aus, dass du dich nach ihr erkundigt hast. Lass dich mal wieder blicken.«
Und damit setzte Gavin die Kapuze seines hässlichen gelben Regenmantels auf und entfernte sich.
Harry blieb noch einen Moment stehen und sah ihm nach, einem Farbfleck an diesem ansonsten grauen Tag. Doch dann lenkte ein Blitz aus rotem Fell ihn ab. Pickle sauste an ihm vorbei, die halbwilde Katze, die in einem Schuppen neben dem Hotel hauste und sich zwar gnädigerweise täglich einmal füttern ließ, aber jeglichen weiteren Kontakt mit Menschen ablehnte. Wenn ich nicht aufpasse, geht es mir bald genauso, dachte Harry und kehrte ins Haus zurück.
»Alles klar? Du siehst aus, als würde die Welt gleich untergehen.« Phoebe hatte mittlerweile alle Flaschen aus dem Spiegelregal hinter dem Tresen geräumt und wischte sie sauber. »Hab gedacht, ich mache das schon mal, dann verklebt der Staub auf den Flaschen nicht so, wenn wir sie vor dem Renovieren wegpacken. Dieser Schlehenlikör klebt ja wie nichts Gutes.«
»Das ist der ganze Zucker«, sagte Harry zerstreut. »Und ja, alles in Ordnung. Ich hab einfach viel zu bedenken.«
Während sie gemeinsam weiterarbeiteten, ließ er sich von Phoebes fröhlichem Geplapper ablenken. Gelegentlich wurden sie von einem Gast unterbrochen, hörten sich die neuesten Geschichten aus dem Dorf an, und ab und zu bedienten sie auch Touristen, die sich über das warme Kaminfeuer freuten, etwas tranken und einen der Snacks bestellten, die Conor, der Küchenchef, zubereitete. Wenn nicht viel los war, probierte Conor gern neue Gerichte aus, und durch die Schwingtür zur Küche drangen köstliche Düfte.
»Ich hab einen Wahnsinnshunger«, sagte Phoebe, als sie die letzten Flaschen ins Regal zurückstellten. Gerade kam Conor aus der Küche, um sich eine Cola zu holen. Er hob den Zeigefinger.
»Wartet mal kurz.«
Gleich darauf kehrte er mit einem Teller voller Mini-Burger in weichen Hamburgerbrötchen zurück. Der geschmolzene Käse, der an den Rändern herunterlief, ließ Harrys Magen knurren.
»Hab gar nicht gewusst, dass ich Hunger habe.«
»Greift zu«, sagte Conor. Er lehnte sich gegen die Theke und schlug ein Bein über das andere. »Und sagt mir bitte, welche Kombination euch am besten schmeckt.«
»Die sind unterschiedlich?«
»Klar.« Conor deutete auf einen der Burger. »Dieser ist mit Rindfleisch aus Brust und Nacken, dazu doppelt Käse, in Ahornsirup marinierter Bacon, in Bratenfett geschmorte rote Zwiebeln und selbst eingelegte Gurken.« Dann zeigte Conor auf einen anderen Burger, der ganz ähnlich aussah. »Und der hier hat oben drauf Cheddar-Schmelzkäse, dazu dann geräucherten Bauchspeck, in Kirschmarinade eingelegtes und mit Kirschholz geräuchertes Pulled Pork, mariniertes Rotkraut und eine Cherry-Cola-Barbecuesoße.«
»Ich nehme schon mal einen mit Kirschen«, sagte Phoebe. »Du kannst ja einen mit … na, was auch immer probieren.«
Conor schüttelte betrübt den Kopf. Dann hielt er ihnen den Teller hin und beobachtete gespannt, wie sie in ihre Mini-Burger bissen.
»Wow, das ist der Wahnsinn«, sagte Harry mit vollem Mund.
»Mmm«, Phoebe nickte und wischte sich das Kinn ab.
»Außerdem habe ich eine Idee.« Connor wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. »Wir könnten im Sommer doch auch eine Speisekarte mit Streetfood machen. Was hältst du davon?«
Harry wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ja klar, unbedingt.« Diese Geschmackskombinationen waren umwerfend. »Ich mache alles mit, was du vorhast.«
»Und was vermutlich einigermaßen im Rahmen bleibt.« Conor grinste. »Wie wär's denn mit Wagyu-Steak-Burgern?«
»Ich fürchte, auf dem Wagyu-Steak-Level sind wir noch nicht ganz angekommen.« Harry nahm sich einen weiteren Mini-Burger.
»Warte mal ab«, sagte Conor, »in ein paar Jahren können wir uns vor Preisen nicht mehr retten.«
Harry runzelte die Stirn. Er wusste, wie ehrgeizig Conor war und wie viel er für das Restaurant bedeutete. Es würde nicht leicht sein, einen Koch mit seinem Talent zu halten. Aber wenn der Neustart des Hotels gelang und der Betrieb hoffentlich bald gutes Geld abwarf, dann würde er Conors Gehalt ordentlich erhöhen, damit es sich für ihn lohnte, in Applemore zu bleiben. Bis dahin jedoch bestand das Geheimnis, Conor bei der Stange zu halten, darin, dass er ihm in der Küche freie Hand ließ – abgesehen natürlich von Wagyu-Steaks. Wichtig war einfach, dass sie nach der Neueröffnung gute Publicity bekamen, dann war alles möglich. Doch dafür musste ein kleines Wunder geschehen. Sein neuer Freund und Investor Rob war allerdings zuversichtlich, dass es klappen würde – aber Rob besaß das Selbstvertrauen eines Mannes, der mit Geld aufgewachsen war, mit einem Reichtum, von dem Harry nur träumen konnte. Er selbst hatte als Jugendlicher mitangesehen, wie seine Eltern kämpften, um Hotel und Restaurant am Laufen zu halten. Er hatte begriffen, dass die wirtschaftliche Lage in den Highlands unsicher war und dass der Betrieb nur überleben konnte, wenn Gäste aus Inverness bereit waren, eine Fahrt über Land auf sich zu nehmen – mit dem Auto waren es gut anderthalb Stunden –, um das Restaurant in Applemore zu besuchen.
»Für diese Burger werden die Leute vermutlich bis auf die Straße Schlange stehen«, sagte er.
»Das ist der Plan«, meinte Conor befriedigt. Er wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging in die Küche zurück, während Harry und Phoebe in seligem Schweigen die übrigen Burger verzehrten.
»Wenn du hier klarkommst, kann ich dann ein bisschen früher abzischen? Ich bin nachher verabredet«, sagte Phoebe, als sie den letzten Bissen aufgegessen hatte. Sie traf sich jetzt schon eine ganze Weile mit Danny, dem stellvertretenden Leiter des Abenteuerzentrums außerhalb des Dorfes, und Harry war aufgefallen, dass ihr Gesicht jedes Mal leuchtete, wenn sie von ihm sprach.
»Zwischen euch beiden bahnt sich was Ernsthaftes an, oder?«
Phoebe senkte den Kopf und bekam rote Wangen. »Könnte gut sein.«
»Demnächst hören wir hier Hochzeitsglocken läuten.«
»Halt den Mund, du.« Phoebe kicherte. »Gut, wenn das okay ist, verschwinde ich jetzt. Ich nehme den Teller mit in die Küche.«
Harry sah ihr nach, als sie in die Küche hüpfte, ganz erfüllt von ihrer jungen Liebe. Ihm war merkwürdig zumute, so als stünde er irgendwie neben sich. Vielleicht war der Burger schuld, dachte er, als er sich für den Abendbetrieb hinter die Theke begab. Oder vielleicht – im Spiegel hinter den Ginflaschen zog er sich selbst eine Fratze – war es die Vorstellung, dass Polly mit irgendeinem Kerl ein Date hatte. Wenn das so weiterging, waren alle im Dorf bald verpartnert, nur er blieb allein. Doch irgendwie machte ihm diese Aussicht nicht so sehr zu schaffen wie der Gedanke, dass Polly sich mit einem anderen Mann zusammentun könnte.
»Hallo, Murdo«, sagte er, als ein Stammgast aus dem Dorf eintrat.
»Ich dachte, ich nutze lieber noch die Gelegenheit, bevor du hier schließt und ich jeden Abend mit meiner Frau zusammenhocken muss«, sagte der alte Herr mit grimmigem Lächeln. »Du solltest dich glücklich schätzen, dass du der Ehe entronnen bist, mein Junge.«
Harry machte sich daran, ein Bier für Murdo zu zapfen. Im Kopf hörte er dabei erneut Lachlans Worte – in einem dieser scheinbar unverfänglichen Gespräche, die bedeutsamer waren, als man anfangs wahrnahm.
»Du bist nicht der Typ, der sich häuslich niederlässt«, hatte Lachlan gesagt. Sie hatten im Restaurant gesessen. Harry hatte gerade Lachlans kleines Mädchen auf dem Schoß gehabt, und er hatte auf das Kind hinuntergeblickt und überlegt, dass diese Zuschreibung anscheinend an ihm klebte, bloß weil er die Welt bereist und keine Frau gefunden hatte, mit der er langfristig zusammensein wollte.
»Vielleicht doch.« Er hatte die kleine Kitty auf den Knien geschaukelt, sodass sie vor Lachen gegluckst hatte. »Man weiß ja nie. Sieh doch dich und Rilla an – ihr liebt euch und habt eine Familie gegründet.«