Weihnachten in Paris - Georges Simenon - E-Book

Weihnachten in Paris E-Book

Georges Simenon

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

"Eine Verfolgungsjagd quer durch Paris am Heiligabend" und "Ein Weihnachtswunder in einem kleinen Restaurant in Montmartre" – zwei Weihnachtsgeschichten in einer schönen Geschenkausgabe. Zu Weihnachten leuchtet Paris noch glanzvoller als sonst. Ein ganz anderes Blinken beschäftigt die Inspektoren, die in der Weihnachtsnacht Dienst haben: Auf einem großen Stadtplan leuchtet ein Lämpchen auf, wenn jemand an einer der zahllosen Notrufsäulen der Stadt Alarm schlägt. Als plötzlich ein Lämpchen nach dem anderen anfängt zu blinken, ist die Ruhe dahin. Nie ist jemand am anderen Ende der Leitung, aber Inspektor Janvier ahnt, dass die Weihnachtsnacht auf den Boulevards alles andere als friedlich ist. Hat der Serienmörder wieder zugeschlagen, der ganz Paris seit Wochen in Atem hält? So ungewöhnlich die Jagd nach einem Mörder am Heiligabend, so traurig die Gewissheit, dass an den Feiertagen die Selbstmordrate steigt. Als sich in einem Restaurant in Montmartre ein Mann erschießt, bringt er mit seiner verzweifelten Tat zwei Frauen zusammen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, und ermöglicht so ein kleines Weihnachtswunder.

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Georges Simenon

Weihnachten in Paris

Zwei Erzählungen

Aus dem Französischen von Julia Becker, Elisabeth Edl und Wolfgang Matz

Kampa

Sieben Kreuzchen in einem Notizbuch

I

»Bei mir zu Hause«, sagte Sommer, während er auf einer elektrischen Kochplatte Kaffee zubereitete, »gingen wir alle zusammen zur Weihnachtsmesse. Das Dorf war eine halbe Stunde vom Hof entfernt. Wir waren fünf Jungs. Damals waren die Winter kälter, denn wir fuhren mit dem Schlitten zur Kirche.«

Lecœur, der an einer Vermittlungsanlage mit Hunderten von Stöpseln stand, hatte den Kopfhörer zurückgeschoben, um die Unterhaltung mitzubekommen.

»In welcher Gegend war das?«

»In der Lorraine.«

»Die Winter waren vor vierzig Jahren nicht kälter in der Lorraine, aber die Bauern hatten noch keine Autos. Wie oft bist du mit dem Schlitten zur Weihnachtsmesse gefahren?«

»Ich weiß nicht.«

»Zweimal? Dreimal? Vielleicht nur ein einziges Mal? Aber es hat dich beeindruckt, weil du ein Kind warst.«

»Jedenfalls gab es, wenn wir zurückkamen, eine herrliche Blutwurst. So etwas habe ich seither nie mehr gegessen – und das ist bestimmt keine Einbildung. Wir sind nie dahintergekommen, wie meine Mutter sie zubereitet hat, was sie reingetan hat, das sie besser gemacht hat als alle anderen Blutwürste. Meine Frau hat es versucht. Sie hat meine ältere Schwester gefragt, die behauptet, Mamas Rezept zu kennen.«

Er ging zu einem der großen Fenster ohne Vorhang, hinter denen nichts als tiefe Dunkelheit war, und kratzte mit einem Fingernagel an der Scheibe.

»Schau an, Raureif! Auch das erinnert mich an meine Kindheit. Wenn ich mich morgens waschen wollte, musste ich oft die Eisschicht in dem Krug durchbrechen, obwohl er in meinem Schlafzimmer stand.«

»Weil es keine Zentralheizung gab«, bemerkte Lecœur gelassen.

Sie waren zu dritt, drei »Nachteulen«, wie man sie nannte. Sie hielten sich seit elf Uhr abends in dem weitläufigen Raum auf, und jetzt, um sechs Uhr früh, kämpften sie gegen die Müdigkeit an. Essensreste lagen auf den Tischen, dazwischen standen drei oder vier leere Flaschen.

Ein Licht, kaum größer als ein Knopf, schien an einer Wand auf.

»13. Arrondissement«, murmelte Lecœur und schob den Kopfhörer wieder über die Ohren. »Quartier Croulebarbe.«

Er griff nach einem Stöpsel und steckte ihn in eine der Buchsen.

»Quartier Croulebarbe? Euer Wagen ist gerade losgefahren? Was gibt’s?«

»Ein Polizist hat angerufen. Boulevard Masséna. Rauferei zwischen zwei Betrunkenen.«

Sorgfältig trug Lecœur ein Kreuzchen in einer Spalte seines Notizbuchs ein.

»Was treibt ihr denn so?«

»Wir sind nur zu viert auf dem Kommissariat. Zwei spielen Domino.«

»Habt ihr Blutwurst gegessen?«

»Nein. Warum?«

»Nur so. Ich lege auf. Im 16. ist irgendwas los.«

Ein riesiger Stadtplan von Paris war an der Wand gegenüber aufgemalt, und die Lämpchen, die aufleuchteten, stellten die Kommissariate dar. Sobald eines von ihnen alarmiert wurde, blitzte ein Lämpchen auf, und Lecœur steckte einen Stöpsel in die entsprechende Buchse.

»Hallo? Quartier Chaillot? Euer Wagen ist gerade losgefahren?«

In jedem der zwanzig Arrondissements von Paris standen vor den blauen Laternen der Kommissariate einer oder mehrere Wagen bereit, um bei einem Anruf sofort davonzubrausen.

»Womit?«

»Schlaftabletten.«

Natürlich eine Frau. Es war die dritte in dieser Nacht, die zweite im vornehmen Quartier Passy. Lecœur zeichnete in einer anderen Spalte ein Kreuz ein, während Mambret an seinem Schreibtisch Formulare ausfüllte.

»Hallo? Odéon? Was ist los? Ein gestohlener Wagen?«

Das war für Mambret, der sich Notizen machte und einen anderen Telefonhörer abhob, um Piedbœuf, dem Telegrafisten, das Autokennzeichen durchzugeben. Sie hörten seine dröhnende Stimme im Stockwerk über ihnen. Es war der achtundvierzigste Wagendiebstahl, den Piedbœuf seit elf Uhr zu melden hatte.

Für andere musste die Weihnachtsnacht einen besonderen Reiz haben. Tausende waren in die Theater und Kinos geströmt. Tausende hatten bis spätabends ihre Besorgungen in den großen Warenhäusern gemacht, wo die Verkäufer mit schweren Beinen von Regal zu Regal hasteten.

Hinter zugezogenen Gardinen fanden Familienfeiern statt, schmorten Truthähne vor sich hin, und wahrscheinlich gab es auch Blutwürste, die wie bei den Sommers nach einem sorgsam von Mutter zu Tochter weitergegebenen Familienrezept zubereitet wurden.

Kinder schliefen unruhig, und Eltern verteilten lautlos Spielzeuge um den Weihnachtsbaum.

In den Restaurants und Nachtlokalen waren acht Tage im Voraus alle Tische reserviert. Auf der Seine lag der Lastkahn der Heilsarmee, vor dem die Clochards Schlange standen und die guten Gerüche einsogen.

Sommer hatte Frau und Kinder. Piedbœuf, der Telegrafist von oben, war seit einer Woche Vater.

Ohne den Raureif auf den Scheiben hätten sie nicht gewusst, dass es draußen kalt war. Sie kannten die Farbe dieser Nacht nicht. Für sie gab es nur die gelbliche Farbe des weitläufigen Raums gegenüber dem Palais de Justice, inmitten der verlassenen Gebäude des Polizeipräsidiums, in die erst in zwei Tagen wieder Leute strömen würden, um Aufenthaltsgenehmigungen, Führerscheine oder Visa zu beantragen und alle möglichen Beschwerden vorzubringen.

Unten im Hof standen für Notfälle Wagen bereit, mit dösenden Fahrern, die auf Notrufe warteten.

Aber es hatte keine Notfälle gegeben. Die Kreuzchen in Lecœurs Notizbuch verrieten genug. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen. Er wusste, dass es in der Spalte Betrunkene rund zweihundert waren.

In dieser Nacht war die Polizei natürlich nicht allzu streng. Man versuchte die Leute zu überzeugen, nach Hause zu gehen, und mischte sich erst ein, wenn Betrunkene unangenehm wurden, Gläser zerschlugen und friedliche Gäste belästigten.

Zweihundert Personen, darunter einige Frauen, schliefen tief und fest auf dem Fußboden hinter den Gittern der verschiedenen Kommissariate.

Fünf Messerstechereien, zwei an der Porte d’Italie und drei ganz oben in Montmartre, nicht dem Montmartre der Nachtlokale, sondern in der heruntergekommenen Gegend, zwischen den Hütten aus alten Kisten und Dachpappe, wo über hunderttausend Nordafrikaner lebten.

Einige vermisste Kinder, die im Gedränge während der Messen verloren gegangen waren, bald darauf aber wieder gefunden wurden.

»Hallo? Chaillot? Wie geht es der Frau mit den Schlaftabletten?«

Sie war noch am Leben. Die starben nur selten. Meistens gaben sie sich Mühe, am Leben zu bleiben. Es war eher ein Hilferuf.

»Apropos Blutwurst«, warf Randon ein, der eine große Meerschaumpfeife rauchte, »das erinnert mich an …«

Sie erfuhren nicht mehr, woran es ihn erinnerte. Im dunklen Treppenhaus waren zögerliche Schritte zu hören, eine Hand tastete umher, und sie sahen, wie sich der Türknauf drehte. Alle drei starrten zur Tür, überrascht, dass jemand auf die Idee gekommen war, sie um diese Zeit zu besuchen.

»Morgen!«, sagte der Mann und warf seinen Hut auf einen Stuhl.

»Was führt dich hierher, Janvier?«

Janvier, ein junger Inspektor der Mordkommission, ging als Erstes zur Heizung, um sich die Hände zu wärmen.

»Ich habe mich gelangweilt, ganz allein da drüben«, sagte er. »Wenn der Mörder zuschlägt, erfahre ich das hier am schnellsten.«

Auch er hatte die Nacht über Dienst gehabt, aber auf der anderen Straßenseite, in den Büros der Kriminalpolizei.

»Darf ich?«, fragte er und hob die Kaffeekanne hoch. »Der Wind ist eisig.«

Seine Ohren waren rot, er blinzelte heftig.

»Vor acht Uhr werden wir nichts erfahren«, sagte Lecœur.

Seit fünfzehn Jahren verbrachte er seine Nächte hier vor der Karte mit den Lämpchen und der Vermittlungsanlage. Er kannte die Namen der meisten Polizisten von Paris, zumindest die der »Nachteulen«. Er war sogar über ihre kleinen Alltagssorgen auf dem Laufenden, denn wenn es nachts ruhig war und die Lämpchen nur selten aufleuchteten, plauderte man miteinander.

»Wie steht’s denn bei euch so?«

Er kannte auch die meisten Kommissariate, wenngleich nicht alle. Er konnte sich die Atmosphäre dort vorstellen, die Polizisten mit gelockertem Koppel und offenem Hemdkragen, die ebenfalls Kaffee kochten. Aber gesehen hatte er sie nie. Er hätte sie nicht auf der Straße erkannt. So wie er noch nie einen Fuß in die Krankenhäuser gesetzt hatte, deren Namen ihm so vertraut waren wie anderen die Namen ihrer Tanten und Onkel.

»Hallo? Bichat? Wie geht es dem Verletzten, der vor zwanzig Minuten bei euch eingeliefert wurde? Tot?«

Ein Kreuzchen im Notizbuch. Man konnte ihm die schwierigsten Fragen stellen:

»Wie viele Verbrechen werden jährlich in Paris aus Habgier begangen?«

Und er antwortete, ohne zu zögern:

»Siebenundsechzig.«

»Wie viele Morde werden von Ausländern begangen?«

»Zweiundvierzig.«

»Wie viele …«

Er gab nicht damit an. Er war gewissenhaft, das war alles. Das war sein Beruf. Er war nicht dazu verpflichtet, die Kreuzchen in sein Notizbuch zu machen, aber es ließ die Zeit schneller vergehen und verschaffte ihm genauso viel Befriedigung wie anderen eine Briefmarkensammlung.

Er war unverheiratet. Niemand wusste, wo er wohnte, was er trieb, wenn er das Büro verließ, in dem er nachts arbeitete. Ehrlich gesagt konnte ihn sich niemand so recht draußen auf der Straße vorstellen.

»Bei gravierenden Vorfällen muss man warten, bis die Leute aufgestanden sind, bis die Concierges die Post heraufbringen oder bis die Dienstmädchen das Frühstück zubereiten und ihre Herrschaft wecken.«

Solche Dinge wusste er eben, da es immer gleich ablief. Im Sommer etwas früher, im Winter später. Und heute noch später, da viele erst den Rausch der vergangenen Nacht ausschlafen würden. Noch immer waren ein paar Leute auf der Straße, und die Türen der Restaurants öffneten sich kurz, um die letzten Gäste hinauszulassen.

Weitere Wagendiebstähle würden gemeldet werden. Wahrscheinlich auch zwei, drei unterkühlte Betrunkene.

»Hallo? Saint-Gervais?«

Sein Paris war ein eigentümliches Paris, dessen Wahrzeichen nicht der Eiffelturm, die Oper oder der Louvre waren, sondern dunkle Verwaltungsgebäude, vor denen Polizeiwagen unter einer blauen Laterne standen und an deren Wände die Fahrräder der Polizisten gelehnt waren.

»Der Chef ist überzeugt«, sagte Janvier, »dass der besagte Mann noch heute Nacht etwas anstellen wird. Solche Nächte haben es in sich. Feste und Feiertage, das reizt sie.«

Es fiel kein Name, da man keinen kannte. Man konnte noch nicht einmal von dem »Mann im beigen Mantel« oder dem »Mann mit dem grauen Hut« reden, weil ihn niemand gesehen hatte. In manchen Zeitungen wurde er »Monsieur Dimanche« genannt, denn drei der Morde waren an einem Sonntag begangen worden. Seither hatte es aber fünf weitere Morde gegeben, die an anderen Wochentagen geschehen waren, durchschnittlich einer pro Woche, aber auch da ergab sich kein Muster.

»Musst du seinetwegen Wache halten?«

Aus diesem Grund hatte man die Nachtwachen in ganz Paris verstärkt, was für die Polizisten und Inspektoren Überstunden bedeutete.

»Wenn wir den schnappen«, sagte Sommer, »werdet ihr sehen, dass es wieder ein Spinner ist.«

»Ein Spinner, der andere ermordet«, seufzte Janvier und trank seinen Kaffee. »Da, eines deiner Lämpchen ist angegangen.«

»Hallo? Bercy? Euer Wagen ist losgefahren? Wie bitte? Moment. Ertrunken?«

Man sah, dass Lecœur zögerte, in welche Spalte er sein Kreuz eintragen sollte. Da gab es eine für jene, die sich erhängten, eine andere für diejenigen, die sich mangels Waffe aus dem Fenster stürzten. Es gab eine Spalte für die Ertrunkenen, eine für die, die sich erschossen, eine für die, die …

»Hört mal! Wisst ihr, was gerade ein Kerl am Pont d’Austerlitz gemacht hat? Apropos Spinner … Der Typ hat sich einen Stein um die Knöchel gebunden, ist mit einem Strick um den Hals auf die Brüstung und hat sich eine Kugel in den Kopf geschossen.«

Tatsächlich gab es auch hierfür eine Spalte: Neurasthenie.

Jetzt war die Stunde, in der die Leute, die nicht Heiligabend gefeiert hatten, zur Frühmesse gingen. Sie liefen gebückt, mit triefenden Nasen, die Hände in die Taschen vergraben und kämpften gegen den Wind an, der wie Eisstaub über die Bürgersteige fegte. Es war auch die Stunde, da die Kinder allmählich aufwachten, die Lampen anknipsten und barfuß im Nachthemd zum Weihnachtsbaum stürzten.

»Wenn unser Kerl wirklich ein Spinner wäre, würde er, dem Gerichtsmediziner zufolge, immer auf die gleiche Weise töten, ob nun mit einem Messer, einem Revolver oder sonst was.«

»Was für eine Waffe hat er beim letzten Mal benutzt?«

»Einen Hammer.«

»Und davor?«

»Ein Messer.«

»Und was beweist, dass es immer derselbe war?«

»Zunächst die Tatsache, dass die acht Verbrechen fast Schlag auf Schlag begangen wurden. Es wäre erstaunlich, wenn plötzlich acht neue Mörder in Paris am Werk wären.«

Man spürte, dass Inspektor Janvier bei der Kriminalpolizei viel darüber gehört hatte.

»Außerdem gibt es eine Art Typähnlichkeit bei diesen Morden. Jedes Mal ist das Opfer, ganz gleich, ob jung oder alt, eine alleinstehende Person ohne Familie, ohne Freunde.«

Sommer blickte auf Lecœur, dem er nicht verzieh, dass er ledig war, und erst recht nicht, dass er keine Kinder hatte. Er selbst hatte fünf, und seine Frau erwartete das sechste.

»Genau wie du, Lecœur! Pass auf!«

»Ein weiterer Hinweis sind die Gegenden, in denen er sein Unwesen treibt. Keiner der Morde ist in reichen oder auch nur bürgerlichen Quartieren begangen worden.«

»Trotzdem stiehlt er.«

»Er stiehlt, aber nicht viel. Kleinere Beträge. Erspartes, in einer Matratze versteckt oder einem alten Rock. Er ist kein Einbrecher, scheint dafür auch nicht ausgerüstet zu sein, und doch hinterlässt er keine Spuren.«

Ein Lämpchen. Ein gestohlener Wagen vor der Tür eines Restaurants an der Place des Ternes, unweit der Étoile.

»Die Leute, die ihren Wagen nicht mehr vorfinden, ärgern sich bestimmt am meisten darüber, dass sie mit der Metro nach Hause fahren müssen.«

Noch eine Stunde, anderthalb Stunden, dann war Schichtwechsel, außer für Lecœur, der einem Kollegen versprochen hatte, ihn zu vertreten, damit dieser das Weihnachtsfest bei seiner Familie in der Nähe von Rouen verbringen konnte.

Das kam häufig vor. Es war so normal geworden, dass niemand mehr Hemmungen hatte, ihn zu fragen:

»Sag mal, Lecœur, kannst du mich morgen vertreten?«

Zu Beginn hatte man noch eine sentimentale Ausrede erfunden; eine kranke Mutter, eine Beerdigung, eine Erstkommunion. Zum Dank brachte man ihm Kuchen, charcuterie oder eine Flasche Wein.

Tatsächlich hätte Lecœur, wenn er gekonnt hätte, vierundzwanzig Stunden am Tag in diesem Raum verbracht, sich gelegentlich auf dem Feldbett ausgeruht und sein Essen auf dem Elektrokocher zubereitet. Es war merkwürdig: Obwohl er ebenso gepflegt war wie die anderen, gepflegter sogar als manche, als Sommer zum Beispiel, dessen Hosen selten gebügelt waren, hatte er etwas Farbloses an sich, das den Junggesellen verriet.

Er trug eine Brille mit Gläsern, die so dick waren wie eine Lupe und seine Augen so groß aussehen ließen, dass man jedes Mal erstaunt war, wenn er die Brille abnahm, sie mit einem Lederläppchen putzte, das er stets in der Tasche hatte, und man seinen flüchtigen, fast schüchternen Blick entdeckte.

»Hallo? Javel?«

Eines der Lämpchen des 15. Arrondissements war angegangen, im Industriegebiet beim Quai de Javel.

»Ist euer Wagen losgefahren?«

»Wir wissen noch nicht, was passiert ist. Jemand hat die Scheibe einer Notrufsäule in der Rue Leblanc eingeschlagen.«

»Niemand hat etwas gesagt?«

»Nein, nichts. Der Wagen ist unterwegs. Ich melde mich wieder.«

In Paris gibt es entlang der Bürgersteige Hunderte dieser roten Säulen, deren Scheiben man nur einzuschlagen braucht, um mit dem nächsten Kommissariat in Verbindung zu treten. Hatte sie diesmal ein Passant versehentlich eingeschlagen?

»Hallo? Zentrale? Der Wagen ist zurück. Es war niemand da. In der Umgebung ist alles ruhig. Wir lassen die Gegend überwachen.«

Trotzdem trug Lecœur in die letzte Spalte mit dem Titel Diverses ein Kreuzchen ein, um sich ja nichts vorwerfen zu müssen.

»Kein Kaffee mehr da?«, fragte er.

»Ich mache neuen.«

Dasselbe Lämpchen leuchtete auf. Seit dem ersten Anruf waren keine zehn Minuten vergangen.

»Javel? Was gibt’s?«

»Wieder eine Notrufsäule.«

»Und keiner hat sich gemeldet?«

»Nein, niemand. Irgendein Spaßvogel, der es komisch findet, uns aufzuscheuchen. Diesmal werden wir versuchen, ihn zu erwischen.«

»Wo war das?«

»Am Pont Mirabeau.«

»Na, euer Freund ist aber schnell unterwegs.«

Zwischen den beiden roten Säulen lag tatsächlich eine beachtliche Strecke. Aber man scherte sich nicht mehr um solche Anrufe. Vor drei Tagen hatte jemand die Scheibe einer Säule eingeschlagen und schamlos gerufen:

»Tod den Bullen!«