Weihnachten - Maruan Paschen - E-Book

Weihnachten E-Book

Maruan Paschen

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Beschreibung

Ein Weihnachtsfest, das Fest der Liebe – oder aber das Fest der Tragödien, der Einsamkeit und der (Selbst-)Morde. Der Erzähler in Maruan Paschens rasantem und pointenreichem tragikomischen Familienroman berichtet einem Therapeuten vom letzten Weihnachtsfest mit seiner Familie: seine alleinerziehende Mutter und ihre Brüder. Voll abgründigem Witz kommt Paschen schnell zur Sache, da geht es um das Fondue, das in Handschellen zu sich genommen wird, um eine Liebesbeziehung im Kaufhaus, den kranken Onkel Art, der einen Weihnachtsbaum samt Auto klaut, Onkel Tarzan, der Araber hasst und von seiner Familie verlassen wurde, und Onkel Berti, der beim Versuch, das Weihnachtskonzert zu dirigieren, den Fonduetopf umwirft. Immer wilder werden die Geschichten und immer mehr erfährt man vom Leben des Erzählers und seiner Familie. In Erinnerungen an frühere Weihnachtsfeste und die Familiengeschichte tritt die Vergangenheit wieder hervor. Alte Kränkungen und dunkle Geheimnisse, die über Generationen weitergegeben werden und das Leben schleichend vergiften, kommen ans Tageslicht. Aber wer tötete wen? Und wer war der Therapeut?

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Maruan Paschen

Weihnachten

Inhalt

1. Von Geschenken und Schweigepflicht

2. Was wir essen. Und wann und wo und wie und warum

3. Wie Art ein Auto klaut und warum Lavendel ihn daran erinnert

4. Onkel Berlin und die drei Frauen

5. Der Dirigent

6. Nur ein Wort

6a. Berti sagt etwas

7. Die Familie

8. Als die alle klein waren

9. Die Arnelodds sind sicher auf ihre Weise auch das, was sie sind

10. Zahnärzte sind keine Ärzte

11. Von Wein und Deutschland

12. Tarzan, meine Mutter und die Araber

13. Araber in Deutschland

14. Generationen

15. Dinge, die ich kaputt gemacht habe

16. Meine drei Frauen

17. Die Jagd

18. Kinder, man kann nicht ohne sie

19. Bertis Außengrenzen

20. Otto

21. Kriminelle Energie

22. Tarzans Kinder

23. Am Fenster

24. Tarzans dritte Frau

25. Antworten und Fragen

1.

Von Geschenken und Schweigepflicht

Schleswig-Holstein ist am Fenster vorbeigefahren und der Schnee kam von vorne, also quasi aus Dänemark, wie eine Million kleine Pfeile. Ich habe geraucht und das Fenster deshalb einen Spalt offen gehabt, tausend dieser kleinen Pfeile sind mir von der Seite ins Gesicht geflogen. Ich bin einfach den roten Lichtern von meiner Mutter hinterhergefahren, und die ist vermutlich den roten Lichtern von meinem Onkel hinterhergefahren. Davor saß noch ein Onkel in einem silbernen Skoda und davor zwei Onkel zusammen in einem roten Mercedes. Und hinter mir fuhr noch ein Onkel. Ich sehe die Familie eigentlich nur zu Weihnachten. Und zu Weihnachten treffen wir uns am See.

Dr. Gänsehaupt, ich komme nicht zu Ihnen für eine Therapie. Ich komme zu Ihnen, weil Sie doch Schweigepflicht haben. Haben Sie? Ich möchte Ihnen erzählen, warum meine Familie nach diesem Weihnachtsfest sterben musste. Und natürlich auch, was ich dabei für eine Rolle gespielt habe, jetzt mal ohne das Wort »Mörder« gesprochen. Und deshalb möchte ich Ihnen von meiner Familie erzählen. Und am Ende wüsste ich gerne, ob es Ihnen in meinem Fall eigentlich eher leicht fällt, sich an Ihre Schweigepflicht zu halten (Sie haben jetzt noch gar nicht geantwortet. Sie haben ja eine, oder?) oder ob Sie eigentlich gerne jemandem von meiner Familie und meiner Rolle bei ihrem Ableben berichten würden, um mal ohne das Wort »sterben« zu sprechen. Nun, wie gesagt, wir treffen uns zu Weihnachten. Obwohl: Ich weiß nicht, ob wir uns treffen. Ich weiß nicht, ob sich zwei wirklich treffen können. Aber sieben sicher nicht. Ich weiß nicht, warum das so schwer ist. Wir treffen uns Heiligabend und essen Fondue. Meine Mutter ist meine Mutter. Und die anderen sind ihre Brüder. Ich bin ein Einzelkind. Vielleicht liegt es ja daran. Vielleicht weiß ich es einfach nicht besser. Wir reden über alte Zeiten. Älter als wir.

Es gab viele Hallos und alle sagten, wie es ihnen geht.

Meine Mutter fragte, wie es sei.

Tarzan sagte: »Muss ja.«

Otto fragte meine Mutter: »Und?« Und meine Mutter sagte: »Hach ja.«

Art nickte zu Berti und Berti kniff die Lippen zusammen.

Ich schwitzte, Otto freute sich, alle zu sehen.

Jemand sagte: »Brr, kalt.«

Dann tranken wir ein Glas Sekt.

Tarzan sagte: »Es ist ja hier nicht wie bei anderen armen Leuten.« Meine Mutter hörte zu.

Onkel Otto band Schleifen in die Schnürsenkel der Schuhe, die wir an der Tür ausgezogen hatten.

Wir schwiegen einen Moment und schauten auf die Terrasse, auf den See, leise rieselt der Schnee.

Finden Sie das auch komisch? Dass alle sagen, wie es ihnen geht? Ich meine, gleich am Anfang? Man hat ja noch den ganzen Abend, um herauszufinden, wie es den anderen geht! Eigentlich hätten wir dann ja nach Hause fahren können. Wie geht’s? Gut, danke. Dir? Auch. Tschüss. Tschüss.

Ich sag Ihnen was: Ich mache es Ihnen nicht kaputt. Ich verrate Ihnen jetzt noch nicht, wie es allen wirklich geht.

O. k., Tarzan heißt nicht wirklich Tarzan, Art heißt Art. Genau wie Otto Otto heißt und Berti Berti. Und es schien allen gut zu gehen, um nicht mit dem Wort »angeblich« zu sprechen.

Und mir? Wie ging es mir? Ich hatte gefrühstückt. Ich hatte gut geschlafen. Ich hatte mir die Zähne zweimal geputzt, ich hatte geübt zu sagen, wie es mir geht. »Wie geht’s dir? Ach ja, muss ja.« Ich hatte mir den Bart geschnitten, ein Hemd gebügelt. Einige Nachrichten beantwortet, einen Brief geschrieben, an mich selbst. Ich hatte meine Armbanduhr angelegt und einen Moment geweint. Ich hatte meiner Mutter geholfen, den Obstsalat zu machen, meine Schuhe nicht geputzt, meine Fingernägel nicht geschnitten, mich wohlgefühlt, mich schlecht gefühlt, alles in allem: »Ach ja, muss ja.«

Der Brief an mich war natürlich privat. Aber Ihnen mag ich den Brief schon anvertrauen. Ich hoffe, Sie haben Geduld:

»Lieber Maruan,

der See ist das Meer. Ich kann das andere Ufer nicht sehen und ich werde nicht das Wasser trinken. Ich werde keine Fische sehen, keine großen Wellen, lass es doch das Meer sein. Lass doch alle Weihnachten am See feiern und du feierst Weihnachten am Meer.« Das klingt für Sie vielleicht merkwürdig. Andererseits kommen Patienten ja sonst sogar mit Träumen zu Ihnen. Ich meine mit Monstern oder Nacktheit oder wenn ein heterosexueller Mann plötzlich träumt, mit einem Mann zu schlafen.

Also, vor der Terrassentür standen holländische Holzschuhe mit bunten Mustern. Sie stehen da immer, damit wir in ihnen zum Rauchen in den Schnee gehen können. Eine Kiste Sprudel war auf der Terrasse geplatzt, große Glasscherben klebten an dem gefrorenen Mineralwasser.

Wir trugen alles, was in den Autos war, in die Hütte. Das Essen und die Geschenke, Fotoalben und Kekse, Weihnachtsschmuck und noch mehr Geschenke, und Tarzan hatte Zweige von einem Baum mitgebracht. Die Zweige sind unser Weihnachtsbaum, es hat was mit Bescheidenheit zu tun. Aber viel mehr weiß ich darüber auch nicht, es ist auf jeden Fall eine alte Tradition. Art legte Holz nach, alle hatten Wollpullover an, nur meine Mutter trug eine Bluse.

Die Geschenke waren in unterschiedliches Geschenkpapier verpackt. Meine Mutter hatte ihre Geschenke in drei Sorten Geschenkpapier verpackt, alle anderen hatten nur zwei Sorten benutzt.

Wie packen Sie Geschenke aus? Früher habe ich das Geschenkpapier von den Geschenken heruntergerissen. Meine Mutter hat mir erklärt, dass es eine Wertschätzung sei, seine Geschenke vorsichtig auszupacken. Denn sie, meine Mutter, habe sich sehr bemüht, die Geschenke schön einzupacken. Wir haben dann das Auspacken geübt, mit Zeitungspapier und einer Butterbrotdose. Also, erstmal hat meine Mutter die Butterbrotdose in Zeitungspapier verpackt und sich dabei viel Mühe gegeben. Dann hat sie mir gezeigt, wie man ein Geschenk vorsichtig schüttelt und horcht, wie man daran riecht und wie man sagt: »Hoffentlich ist es ein Buch!« Dann, wie man vorsichtig den Tesafilm entfernt, ohne das Papier zu beschädigen, wie man richtig »ohh« und »ahh« sagt und dass man es immer auch ein wenig lustig meinen könne, um nicht mit dem Wort »ironisch« zu sprechen.

Otto kann, was meine Mutter nicht kann: ehrgeizig die Geschenke ohne Tesafilm verpacken. Dazu fehle ihr der Ehrgeiz, hat sie gesagt. Ich packe meine Geschenke heute langsam aus und hoffe, dass mich niemand dabei beobachtet.

Zwischen dem Sekt und den Geschenken vergeht übrigens mehr Zeit, als eigentlich notwendig wäre. Ich meine, »notwendig« ist vielleicht das falsche Wort. Meine Mutter hat mir erklärt, dass Vorfreude die schönste Freude sei. Das kennen Sie ja sicher. Also, sie hat mir eben auch erklärt, dass man sich eigentlich das ganze Jahr vorfreut und dass es sich dann zuspitzt und dass, während wir den Sekt trinken, die Vorfreude an ihrem Höhepunkt angelangt ist. Alles, was wir an dem Tag essen und trinken, sei wie eine Rolltreppe der Vorfreude im U-Bahnhof der Wünsche. Zugegeben, das Bild, also das mit der U-Bahn, das ist jetzt nicht so genau. Die Rolltreppen gehen da ja nach unten, aber die Welt der Wünsche ist oben, und bezahlen muss man auch für die U-Bahn, aber im Großen und Ganzen versteht man doch wohl, worum es geht. Einige Stufen dieser Rolltreppe jedenfalls bestünden aus unseren Ritualen.

Das habe ich jetzt ausgelassen, aber ich will es trotzdem kurz erwähnen: Wir essen tagsüber immer noch eine Tomatensuppe mit Reis, wir machen einen Spaziergang, bei dem wir den Weihnachtsmann suchen, wir essen Grießbrei mit Banane und Honig und Zitronenschale. Und dann, wenn die Geschenke dran sind, dann gibt es eben noch das Auspacken, und dann freut man sich schon auf die Geschenke im nächsten Jahr. Bis auf den Moment, in dem wir die Geschenke auspacken, ist also das ganze Jahr voller Vorfreude.

Was ich bekommen habe? Ich bekam Geld, und jeder hatte es anders verpackt.

Tarzan hatte eine Tasse mit Euroschokoladentalern gefüllt und ganz unten einen 50-Euro-Schein hineingelegt. Berti hatte einen 50-Euro-Schein als Lesezeichen in ein Buch gelegt.

Und Art legte einen 50-Euro-Schein auf den Tisch. Und »Zenos Gewissen« von Italo Svevo, mit einem zweiten 50-Euro-Schein als Lesezeichen.

Meine Mutter sagte, dass wir danach mal sprechen sollten, was auch ungefähr 50 Euro ist. Alle bekamen Rumtopf. Art bekommt Rumtopf mit extra Erdbeeren, weil er die so gerne mag. Alle anderen bekommen normalen Rumtopf.

Berti bekam: Kondensmilch, Rumtopf, Essiggurken (selbst eingelegt), den ganzen Ring des Nibelungen auf zwölf CDs, ein Buch mit verblüffenden Fakten. Einen Pullover, grün, in der richtigen Größe. Dass Berti jedes Jahr die Kondensmilch geschenkt bekommt, ist eine lustige Geschichte, aber die erzähle ich vielleicht wann anders oder gar nicht, weil so lustig finde ich sie in Wirklichkeit nicht.

Geschenke für Tarzan:

Ein Buch mit erstaunlichen Fakten. Und eines von höherem poetischen Wert.

Geschenke für Art:

Viel. Zu viel, fand er. Und alle anderen auch.

Geschenke von meiner Mutter:

Etwa 50 Euro, Rumtopf, Essiggurken, Kekse, ein Berlin-Führer mit besonderen Erlebnisstätten. Und süße Kondensmilch.

Geschenke für Otto:

Porzellan, Marmelade, einen Bildband mit Schmetterlingen.

Warum ich nur erzählt habe, was meine Mutter geschenkt hat, aber nicht, was sie bekommen hat? Weil ich mich nicht daran erinnere. Lesen Sie da jetzt nicht zu viel rein.

In unseren Geschenken steckt Liebe und Vorausschau. Das glaube ich, solange ich Geschenke bekomme und solange ich Geschenke verschenke.

Zum Beispiel: Berti schenkt Otto ein Buch und ein Stück Seife. Damit Otto nicht denkt, dass Berti denkt, dass Otto stinkt, schenkt Berti allen anderen auch ein Stück Seife. Weil alle anderen nun Geschenke im Wert von beinahe 50 Euro erhalten, aber Otto jetzt nur noch Geschenke im Wert von 37 Euro erhält, lässt Berti für 10 Euro noch Ottos Namen in die Seife eingravieren.

Otto und Berti sind besonders. Als Otto und Berti klein waren, ist Berti jede Nacht, als alle schon geschlafen haben, zu seinem Bruder ins Bett geschlichen. Alle wussten, dass Berti das macht, weil alle wussten, dass er nachts alleine Angst hatte, und vor allem, weil Berti besonders lange geschlafen hat und deshalb nie rechtzeitig zurückschleichen konnte in sein eigenes Bett, das zwar im selben Zimmer stand, aber eben auch neben den Betten von Art und Tarzan. Alle wussten davon, aber niemand hat darüber geredet. Ich weiß es nur von meiner Mutter.

Erst als Berti ausgezogen ist, hat er in einem eigenen Bett geschlafen. Heute wohnen Otto und Berti wieder zusammen und niemand weiß, ob sie in einem Bett schlafen. Aber alle reden darüber. Das weiß ich von meiner Mutter. Was ich auch von ihr weiß: Tarzan, der eigentlich anders heißt, wird Tarzan genannt, weil er das gerne möchte. Zumindest wollte er das, als er zwölf war. Und jetzt, mit dreiundsechzig, ist er ein alter Tarzan. Was ich noch weiß: Dass Tarzan der Einzige in der Familie ist, der einen VW-Bus reparieren kann. Dass er der Einzige in der Familie ist, der seine Wäsche mit Kernseife waschen, an der Wuchsrichtung des Mooses die Himmelsrichtung bestimmen, einen Buchstabierwettbewerb gewinnen und den Zauberlehrling aufsagen kann. Und dass Tarzan als Student mal eine Therapie gemacht hat, für zwei Wochen. Aber ich glaube nicht, dass das so eine moderne Form war, wie Sie sie anbieten. Jedenfalls: Danach hat er sich davor geekelt, Angst anders zu fühlen als eine Flasche Bier oder Licht oder einen VW-Golf. Und noch mehr hat er sich davor geekelt, anders darüber zu sprechen.

Das scheint jetzt erstmal nicht weiter von Belang zu sein, aber ich bitte Sie um etwas Geduld oder besser: Vergessen Sie das mit der Therapie einfach wieder, ich werde später noch einmal darauf zurückkommen.

Etwa zur selben Zeit, also vor zwanzig Jahren, hat Art mit mir Fußball gespielt, obwohl wir das beide nicht gerne mochten. Was wir beide gern mochten: Art hat mir die Odyssee auf eine Kassette gesprochen. Ich habe sie nachts gehört, und wenn ich sie ausgehört hatte, habe ich sie ihm zurückgegeben und Art hat ein neues Kapitel draufgesprochen.

Lange preisen wir, schon von den Zeiten unserer Väter, / Uns Gastfreunde. Du darfst nur zum alten Helden Laertes / Gehn und fragen … / Aber ich kam, weil es hieß, dein Vater wäre nun endlich / Heimgekehrt; doch ihm wehren vielleicht die Götter die Heimkehr. / Denn noch starb er nicht auf Erden der edle Herr Vater, Odysseus, / Sondern er lebt noch wo in einem umflossenen Eiland / Auf dem Meere der Welt; … / Meine Mutter, die sagt es, er sei mein Vater; ich selber / Weiß es nicht; denn von selbst weiß niemand, wer ihn gezeuget.

Also, das ist nicht ganz genau. Aber so ähnlich. Ach, oder:

Ganz unmöglich ist mir’s, Antinoos, die zu verstoßen, / Die mich gebar und erzog; mein Vater leb’ in der Fremde, / Oder sei tot!

Was wir noch mochten: Erdbeeren pflücken bei Erdbeerenselberpflückenhannes, obwohl wir beide auf Erdbeeren allergisch sind. Bei mir schwillt die Zunge an und ich bekomme rote Flecken im Gesicht. Art bekommt dann keine Luft mehr. Röcheln müssen wir beide. Art hat gesagt: »Wir röcheln Erdbeeren« und »Erdbeerhusten«. Finden Sie das lustig? Ich bin mir auch nicht sicher. Immerhin hatte Art immer eine Cortisonsalbe dabei und ein Asthmaspray. Aber richtig lustig finde ich es trotzdem nicht.

Er ist mit mir ins Wattenmeer gegangen, um Krebse zu sammeln. Dann kam die Flut und Art hat mich auf den Schultern zurück ans Ufer getragen. Art hat geweint und gesagt, dass das sehr knapp gewesen sei. Art hat auch eine Therapie gemacht, ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, er macht sie noch immer. Das ist jetzt eigentlich noch gar nicht wichtig, vielleicht vergessen Sie das einfach auch, weil über Art müssen wir später ohnehin noch genauer sprechen.

Meine Mutter hat ebenfalls eine Therapie gemacht, zehn Jahre. Ich habe sie gefragt, ob es was gebracht habe. Sie hat überlegt und dann gesagt: »Heute weiß ich, dass nicht jeder seine Geschenke ohne Tesafilm einpacken können muss und dass ich einen guten Obstsalat machen kann.«

Das können Sie ruhig behalten, das ist durchaus wichtig, aber nun genug davon.

Wir haben also unsere Geschenke ausgepackt und dann haben wir mit unseren Geschenken gespielt. Das machen wir, glaube ich, anders als andere Familien. Meine Mutter erklärt allen, warum sie genau das Geschenk erhalten haben, das sie erhalten haben. »Dies ist ein Buch mit erstaunlichen Fakten«, sagte sie zu Tarzan. »Ich dachte, das ist sicher was für dich, weil du selbst auch immer so erstaunliche Fakten hast.« Dann versuchten Berti und Tarzan herauszubekommen, wie unverschämt genau meine Mutter das Geschenk gemeint haben könnte. Gewonnen hat immer derjenige, der die bösartigste Interpretation der Intentionen des Schenkenden formuliert. Allerdings verliert diese Person dann auch immer etwas. Oder sagen wir, es gibt wenig zu gewinnen bei dem Spiel, um einmal ohne das Wort »Galle« zu sprechen.

Zur selben Zeit bedankte sich Otto bei Berti für die Seife mit den Worten: »Das muss ja ein Vermögen gekostet haben! Graviert!«, und Berti sagte zu meiner Mutter, die genau zugehört hatte: »Schau einer an, Otto weiß es einfach zu schätzen, wenn man ihm ein Geschenk macht. Und selbst macht er auch immer so herzliche, manchmal sogar rührende Geschenke.« Berti holte sein Portemonnaie aus der Manteltasche und bot Otto einen 10-Euro-Schein an.

Wir klappen Bücher auf, klappen Kalenderblätter um und fächern 50-Euro-Scheine auf. Wir wechseln Pullover und naschen von der süßen Milch. Wir reden über Wagner und Bayreuth, über Schmetterlinge und Kekse, Rezepte in Sütterlin, Rezeptbücher in Sütterlin. Wir reden darüber, ob Mama Mama heißt oder Mutti oder Oma oder Mutter. Dann spielen wir weiter.

Vor ein paar Weihnachten hat Tarzan mir einmal, ach so, davor vielleicht: Ihnen ist ja sicher nicht entgangen, dass ich, sagen wir, nicht richtig schwarz oder so, vielleicht milchkaffee-, cappuccinofarben bin. Zumindest im Sommer. Und dass meine Nase und meine Augen, also das liegt daran, dass mein Vater ein Araber war. Aber der Rest meiner Familie ist so deutsch wie ein Volkswagen. Vor ein paar Weihnachten hat mir Tarzan ein Buch geschenkt, ein Wörterbuch von Duden, für Kanakisch – Deutsch, Deutsch – Kanakisch. Alle fanden das ganz drollig, das haben sie gesagt, dass das drollig sei, ich selbst benutze das Wort gar nicht. Ich habe gewartet, bis meine Mutter und ich auf dem Heimweg waren, und dann habe ich das Buch im Auto zerrissen. Meine Mutter hat das erst gar nicht verstanden, dann habe ich es ihr erklärt. Meine Mutter hat dann Tarzan angerufen und ihm gesagt, dass »wir« nicht mit seinem Geschenk einverstanden seien, »wir« hätten es dann zerrissen. Meine Mutter und Tarzan haben danach zwei Jahre nicht mehr miteinander gesprochen, aber Tarzan hat mir bei der nächsten Gelegenheit ein Wörterbuch Deutsch – Arabisch, Arabisch – Deutsch geschenkt. Sie denken jetzt vermutlich: Aber der kann doch sicher Arabisch! Und Sie haben Recht, das schon. Aber die Frage ist doch: Weiß Tarzan das? Ich weiß es bis heute nicht. Davon hängt aber natürlich ab, was ich von dem Geschenk halten soll. Ich habe es vorsichtshalber auch zerrissen. Ach, vergessen Sie das.

2.

Was wir essen. Und wann und wo und wie und warum

Der beste Teil des Abends kommt jetzt: Der Beginn der Vorfreude auf die Geschenke im nächsten Jahr. Ob ich das ernst meine? Hm. Auf jeden Fall kommt jetzt das Essen.

Wir haben noch einiges vor uns.

Jetzt essen wir und dann spielen wir ein Spiel.

Dann essen wir und dann verstecken wir uns.

Wir verstecken uns, dann essen wir und wir spielen noch ein Spiel. Dann essen wir und erzählen die Geschichte meiner Geburt.

Dann essen wir noch einmal und dann bleibt nur die Vorfreude auf die Geschenke im nächsten Jahr.

Berti füllte auf der Terrasse die Karaffe mit Weißwein auf. Er hatte den Wein in einem Pappkarton mitgebracht und sagte, dass das ja heute so sei, dass der Wein aus den Pappkartons heute der bessere Wein sei. Er schenkte allen ein, nur Art hielt seine Hand über das Glas.

Wir tranken auch Sekt und Wasser und Rumtopf. Wir trinken alle viel. Ich trinke viel Bier, meine Mutter trinkt viel Wein, Art trinkt viel Armagnac. Aber auch Wasser und Apfelschorle oder Saft. Tee, Kaffee, Kaffee mit süßer Kondensmilch. Kaffee mit Armagnac, Kaffee mit Likör, Kaffee mit Portwein, kurz: Wir trinken viel, um einmal ohne das Wort »saufen« zu sprechen. Ich glaube, wenn wir nicht so viel essen würden, dann würden wir sogar zu viel trinken. Ich habe Berti gesehen, wie er Bratensaft von einem Teller getrunken hat. Er hat aufgeschaut von seinem Teller und alle haben ihn angesehen. Seine Lippen klebten noch am Teller. Er hat den Teller abgesetzt und gesagt: »Das macht man natürlich eigentlich nicht«, und dabei ist ein Faden Bratensaft von seiner Unterlippe zurück auf den Teller getropft.

Berti erzählte, dass der Weißwein ein auf Schieferplatten gewachsener Riesling sei, weshalb er einen weniger mineralischen Geschmack habe. »Dieser hier«, sagte er, »kommt von einer der letzten Weinterrassen in der Pfalz.« Dass die Reben sehr alt seien und seit einigen Jahrhunderten von derselben Familie geschnitten würden und dass Tarzans Wochenendhaus ganz in der Nähe liege, sagte er auch noch. Dass er selbst da gewesen sei und den Winzer getroffen habe, um sicherzustellen, dass der kein Diethylenglycol im Keller habe, und seine Frau nicht schlage. Tarzan sagte, dass doch wohl jeder Riesling nach dem dritten Glas geschmacklich nicht von Glycolwein zu unterscheiden sei. Und Berti sagte, dass aber dieser Winzer sogar nach dem fünften Glas noch immer seine Frau nicht schlagen würde.

Otto zog seinen nackten Fuß über die geölten Dielen. Das scheint eher nebensächlich, ich will es aber trotzdem erzählt haben.

»Es ist ja so«, sagte Tarzan, »dass die meisten Winzer gar nicht wissen, dass Schieferplatten alle paar Jahre neu geschlagen werden müssen, damit sich keine Bitterstoffe in den Wein mischen.«

Ich weiß, was Sie denken: Tarzan ist sicher ein Winzer. Aber vielmehr ist es so, dass Tarzan ein Wochenendhaus in einem Weinanbaugebiet hat. Und Tarzan ist ein sehr interessierter Mensch. Der interessiert sich eigentlich für alles. Aber immer nur so viel, dass er noch genügend Kapazitäten hat, um sich auch für alles andere zu interessieren. Berti sagte, dass es doch immer wieder erstaunlich sei, dass man keinen Jesus brauchen würde, um Wasser in Riesling zu verwandeln, sondern lediglich einen Tarzan. Das hat er gesagt. Was halten Sie eigentlich von Ironie? Mein Freund, der Schriftsteller ist, sagt, dass Ironie nur da sei, um sich von einer Aussage zu distanzieren. Deshalb verzichte er in seiner Arbeit beinahe gänzlich auf Ironie, weil er kein Feigling sein wolle. Stattdessen würde er alles sehr ernst meinen und zum Beispiel sagen: »Tarzan war sehr traurig.« Aber nur dann, wenn Tarzan tatsächlich sehr traurig gewesen sei. Seine Bücher sind natürlich brillant! Und ganz nebenbei noch sehr ökonomisch. Ich meine, könnten Sie sich einen kürzeren Weg vorstellen, um zu sagen, dass Tarzan traurig war? Sollte er die Welt aufschreiben, dann wäre das Buch genau so groß wie die Welt, keinen Millimeter kleiner oder größer. Ein sehr genauer Beobachter. Aber finden Sie das auch, das mit der Ironie? Sie sind ja vermutlich ganz häufig mit Ironie konfrontiert, also von Berufs wegen. Ich finde das nämlich nicht. Ich meine, wenn ich Ihnen sage, dass ich finde, dass Sie ein ganz hervorragender Therapeut seien, aber in Wirklichkeit finde, dass Sie ein besonders stümperhafter Therapeut seien, vielleicht sogar sagen möchte, dass Sie gar kein Therapeut sind, dann ist ja klar, dass, Sie mich eigentlich richtig verstehen. Und dann habe ich irgendwie beides gesagt und Sie haben irgendwie beides verstanden. Wenn ich Ihnen aber sage: »Ich finde Ihren Ansatz der Therapie ganz großartig! Sie geben mir das Gefühl, dass alles, was mir widerfährt, nur passiert, damit es mir widerfährt!«, dann haben wir doch eine ganz neue Sprache. Sie wissen nicht, was ich denke. Ich kann kaum kontrollieren, wie Sie auffassen, was ich sage. Aber wir sprechen eben doch. Wir kommunizieren eben doch. Ist das nicht großartig? Ich könnte auch sagen: »Tarzan hat auf mich eine große Wirkung. Ich höre immer gespannt zu. Ich muss ihn eigentlich nur irgendwo anstechen und es läuft aus ihm heraus und es läuft immer etwas mehr heraus, als je hineingeflossen ist.« Verstehen Sie? Nein? Ich hoffe, dass es noch klar wird.

Vor dem Essen falteten wir noch das Geschenkpapier vorsichtig zusammen und legten die Geschenke auf Haufen, die ihren neuen Besitzern gehörten. Wir legten das gefaltete Geschenkpapier vor die Geschenke, die das Geschenkpapier verhüllt hatte, als sie noch Geschenke waren. Je ein gefaltetes Blatt rotes Papier mit weißen Punkten vor jeden Rumtopf, einen Bogen silberglitzerndes Papier vor die Kalender, ein Stück beiges Papier mit preußischblauen Streifen vor die Bücher und durchsichtige Folie mit roten und orangen Bändern vor die Konservendosen mit der süßen Milch. Art zündete sieben Teelichter an und stellte sie den Haufen bei, vor das Geschenkpapier. Obwohl die sieben Kerzen eigentlich den Raum heller hätten machen müssen, wurde es etwas gemütlicher, um nicht mit dem Wort »dunkler« zu sprechen. Wir standen vor den Geschenken und schwiegen, Otto verteilte Tassen mit dampfendem Rumtopf. Art pustete in seine Tasse. Seinen Blick, den er auf die Geschenke warf, warfen die Geschenke direkt zurück zu ihm. Ich sag Ihnen was: Dieser Moment hat mich eingenommen. Alles, was jetzt passiert, alles, was ich von jetzt an erzähle, ist durchdrungen von diesem Moment. Alle Ereignisse, die folgen, alle meine Rechtfertigungen und Zweifel, meine Gefühle und Handlungen, meine Gedanken, meine Absichten, mein Verständnis und damit Ihr Verständnis von diesem Weihnachten läuft durch den Filter dieses Moments. Denken Sie bei diesem Moment an eine Beerdigung? Ja? Ich nämlich auch.

Dann kam Tarzan aus dem Keller mit den Handschellen und fragte:

»Wer hat Hunger?«

Es gibt immer: Würstchen, Feuersoße, Walnusssoße mit frischer Minze.

Ein Glas Remoulade mit Kapern und für Berti ein kleines Glas ohne Kapern.

Es gibt Reh, Hirsch, Schwein, Rind, Strauß, Kaninchen und Lamm.

Maiskölbchen, Oliven, Cornichons, Currysoße, Silberzwiebeln, Peperoni. Brot, Kartoffeln und rote Grütze.

Es gibt immer einen Topf mit Brühe und einen mit Fett.