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»Hochaktuell« Saša Stanišić, GQ MAGAZIN Layla und Basil waren immer eine untrennbare Einheit, Geschwister, die zusammengehören, zwischen die nichts kommt. Bis Layla eine Entscheidung trifft, die alles verändert und die niemand versteht: Sie beschließt zu heiraten. Einen Mann in der alten Heimat, Saudi-Arabien. Keine Entscheidung aus Liebe, sondern aus Prinzip. ›Weil wir längst woanders sind‹ erzählt die Geschichte von Basils Reise nach Jeddah zur Hochzeit seiner Schwester. Er möchte ein letztes Mal die alte Nähe spüren. Zugleich führt ihn sein Besuch mitten hinein in die eigene Vergangenheit: in den liebevoll-skurrilen Kosmos der saudischen Verwandtschaft, die in seinem »deutschen Leben« nie anwesend war und doch immer da in der Erinnerung. Was treibt Layla – eine nicht religiöse, freiheitsliebende junge Frau – dazu, sich für ein Land zu entscheiden, in dem Frauen alles andere als frei sind? Wie soll man umgehen mit einem Gefühl von Fremdheit, das unauflösbar scheint? Rasha Khayat stellt schmerzhafte Fragen. Und sie findet Antworten, die ebenso irritieren wie im Innersten berühren. »Mit Rasha Khayat kommt eine starke, neue Stimme in die Literatur. Mit großer Klugheit, Witz und unendlicher Schönheit erzählt sie eine Welt, von der wir so noch nie gehört haben. Einfach nur großartig.« OLGA GRJASNOWA
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Seitenzahl: 223
Veröffentlichungsjahr: 2016
Rasha Khayat
Weil wir längst woanders sind
Roman
With so many dissonances in my life I have learned actually to prefer being not quite right and out of place.
Edward W. Said, ›Out of Place‹
Schnee
Eines Tages ist er einfach da. Über Nacht, ganz leise und unbemerkt. Er liegt dort, als wäre es nie anders gewesen, völlig selbstverständlich. Ich ziehe die Gardine im Wohnzimmer auf wie jeden Morgen. Und da steht es fest, so einfach, eine Tatsache.
Wir hatten noch nie echten Schnee gesehen. Schnee kannten wir bisher nur aus Kinderbüchern oder von den deutschen Fernsehsendungen, die unsere Großeltern uns auf VHS-Kassetten aufgenommen und in großen Paketen nach Hause geschickt hatten, zusammen mit Lebkuchen zu Weihnachten oder Schokoladenhasen zu Ostern. Und von Bildern kannten wir ihn, den Schnee. Von Kinderfotos meiner Mutter, wo Barbara, eingehüllt in einen roten Skianzug, auf einem hölzernen Schlitten sitzt und sich von ihrem Bruder über einen Weg oder eine Wiese, eine weiße Decke ziehen lässt.
Und nun liegt er da, auf unserem Balkon, in den Blumenkästen mit den abgeschnittenen Rosen und auf den seit Monaten unbenutzten Plastikstühlen.
Ich stehe und starre, eine Hand noch an der Gardinenschnur, im Schlafanzug, mit nackten Füßen, und kann es nicht glauben. Der Himmel ist in dichtes Grau verkleidet, und die Wolken hängen so tief, dass ich fürchte, sie könnten jeden Moment an der bunten Windmühle hängen bleiben, die Layla im Sommer in einen der Blumenkästen gesteckt hat. Eine pechschwarze Amsel sitzt am Rand des Blumenkastens und pickt suchend in dem eingeschneiten Rosenstrauch.
Hinter mir höre ich, wie Layla mit leisen, tapsenden Schritten ins Zimmer kommt. Sie bleibt ganz dicht neben mir stehen, barfuß und im Nachthemd. In der rechten Hand hält sie ihren Stoffhasen, für den sie mit ihren sieben Jahren eigentlich schon zu alt ist, der aber seit einigen Monaten wieder mit in ihrem Bett schläft. Ihre linke Hand greift nach meiner Rechten und umklammert sie ganz fest. Sie schaut hoch zu mir, als suche sie nach einer Vergewisserung.
Ich lasse die Gardinenschnur los und öffne die Tür. Zusammen treten wir auf den bestäubten Balkon. Die Luft ist kalt, und es riecht nach Regen und Abgasen. Vorsichtig treten wir auf, unsere Füße drücken die dünne Schicht nieder und reißen kleine Löcher in die weiße Decke. Ich zucke zusammen unter der feuchten Kälte an den Füßen und bücke mich, um auch mit der Hand zu fühlen, ob sich das feine Puder tatsächlich unter unseren Berührungen auflöst. Laylas Arme und Beine sind von einer Gänsehaut überzogen. Sie zittert ganz leicht. Der Schnee gibt dem sanften Druck meiner Handflächen sofort nach, zwei- oder dreimal spreize ich alle zehn Finger und ziehe sie wieder zusammen, schiebe kleine Schneehäufchen zur Seite und verteile sie auf dem Boden, bis meine Hände in einer kleinen Pfütze liegen.
Ich richte mich auf, schüttle die nassen Finger aus und lege Layla den Arm um die Schulter. Sie hat ihren Hasen sorgsam auf dem Wohnzimmerboden abgelegt und zerreibt nun bedächtig eine Handvoll Schnee zwischen den Fingern. Schließlich ist auch davon nur noch Wasser übrig, und sie wischt ihre kleinen Hände erleichtert an dem rosafarbenen Nachthemd ab.
Unter unserem Balkon fegt jemand den Bordstein, und auf dem Supermarktparkplatz wischt eine Frau mit einem Stück Pappe die Windschutzscheibe ihres Autos frei.
»Kann man es essen?«, flüstert Layla, fast nur für sich. »Bei Ronja Räubertochter lutschen sie auch Schnee. Basil, lass uns den Schnee probieren.« Sie schaut mich mit ihren großen schwarzen Augen an. Ihre Locken sind noch ungekämmt, und sie sieht selbst ein bisschen aus wie eine Räubertochter.
Ich nehme etwas Schnee von der Lehne des Plastikstuhls und gebe Layla die Hälfte in die Hand. Vorsichtig lecken wir erst ein bisschen an unseren Schneekugeln und stecken sie uns dann hastig in den Mund, schnell und hektisch, rein damit, wie eine Pille oder ein Schluck Hustensaft. Layla verzieht ihr Gesicht, ich kaue langsam und höre es knirschen zwischen meinen Zähnen. Der Schnee schmeckt nach nichts, und an Laylas Blick sehe ich, dass sie ein wenig enttäuscht ist, genau wie ich, auch wenn wir beide nicht wissen, was wir vielleicht erwartet haben.
Hinter uns in der Wohnung höre ich die Tür zum Badezimmer zufallen. Kurz darauf wird die Dusche aufgedreht. Schnell schiebe ich Layla zurück ins Wohnzimmer und schließe die Balkontür.
Später in der Woche nehmen uns meine Großeltern mit in den Stadtpark. Der Teich dort sei zugefroren, sagt meine Oma, wir könnten mit den anderen Kindern aus der Schule Schlittschuh laufen. Mein Opa hat zwei Paar Kinderschlittschuhe eingepackt und meine Großmutter Kakao in einer blauen Thermosflasche und eine Tüte belegter Brötchen. Mein Großvater parkt seinen roten Wagen an der Straße, in einer langen Reihe anderer Autos. Eltern und Großeltern strömen in den Park, die Kinder lachen und werfen Schneebälle, viele tragen ihre Schlittschuhe zusammengebunden über der Schulter.
Layla zupft an ihrer roten Wollmütze, die zu klein ist für den dichten Lockenkopf und immer wieder zu Boden fällt. Meine Großmutter nimmt ihr die Mütze ab, dreht die Locken zu einem Knoten ein und zieht Layla die Mütze wieder auf, bis sie knapp über den Augen sitzt. Meine Schwester schaut mich fragend an, ich zucke nur mit den Schultern. Auf meiner Mütze, die meine Oma mir zusammen mit einem türkisfarbenen Fleecepulli vor ein paar Tagen mitgebracht hat, ist das Wappen eines Fußballvereins aufgestickt, den ich nicht kenne.
Ich steige aus dem Auto, in jeder Hand einen Schlittschuh, und schaue den anderen Kindern hinterher. Es hat den ganzen Vormittag geschneit. Neben dem Eingang zum Park baut eine Gruppe kleiner Mädchen einen Schneemann. Auf der Wiese am Teich entdecke ich Stefan und Patrick aus meiner Klasse. Auch sie haben Schlittschuhe dabei, schwarze, glänzende, und Hockeyschläger. Sie treten aufs Eis und fahren sofort los, gleiten, verfolgen sich, schneiden enge Kurven um ein paar Mädchen aus der Parallelklasse und schlagen Schneebälle mit den Schlägern über die glitzernde Fläche. Als sie in unsere Richtung schauen, blicke ich auf den Boden, schiebe einen kleinen Schneeberg mit meinen Stiefelspitzen zusammen.
»Na los, Kinder, wollt ihr nicht auch mitmachen?«, fragt meine Großmutter, kniet sich vor Layla hin und beginnt, ihr die Schlittschuhe anzuziehen. Meine Großmutter trägt nie Hosen. Sie trägt Kleider, meist mit Blumen oder Streifen, auch heute, unter ihrem braunen Wollmantel, und ihre hautfarbene Strumpfhose saugt sich mit Schneewasser voll. An den Knien zeichnet sich schnell ein Fleck ab. Wie kleine Flüsse, kleine Adern wandert das Wasser über den Unterschenkel und bis in den Pelzbesatz ihrer Stiefel.
»Ich kann das doch gar nicht«, sagt Layla leise und zieht langsam ihren rechten Fuß weg.
»Ach, da ist doch nichts dabei«, sagt meine Oma. »Ihr lauft einfach los. Sogar die Kinder aus der ersten Klasse können Eislaufen. Das klappt schon. Schau mal, was die für einen Spaß haben.« Zögerlich hält Layla ihr den Fuß wieder hin und lässt sich die weißen Eislaufstiefel schnüren.
Meine Schlittschuhe sind am Spann zu eng, und das Auftreten auf der weißen Wiese tut weh.
»Na also, nun seht ihr aus wie die anderen Kinder. Basil, nimm deine Schwester mit, lauft mal los. Wir bleiben hier stehen. Keine Angst. Los, los, macht schon.«
Layla vergräbt ihre Hand in meinem Fäustling, und wir staksen gemeinsam auf das Eis. Sie rutscht sofort aus und reißt mich mit zu Boden. Ihr Schlittschuh verfängt sich in ihrem Anorak. Meine Knie zittern von der Kälte und vor Schreck, vorsichtig hangle ich mich an einem Baumstamm wieder hoch und helfe Layla aufzustehen. Mit weit ausgestreckten Armen und unglücklichem Gesicht macht sie drei Trippelschritte auf der Eisfläche. Um uns herum fliegen Schneebälle, und ein kleiner roter Dackel rennt so dicht an mir vorbei, dass ich ihn beinahe getreten hätte. Er trägt einen Stock im Maul und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick hinterher. Layla rührt sich keinen Zentimeter und schaut mir zu, wie ich mich langsam auf sie zubewege. Unter mir knackt das Eis, und die Kufen bleiben immer wieder an kleinen Löchern oder Furchen hängen. Auch der Hund lässt mich nicht aus den Augen und geht nun langsam neben mir her. »Komm schon, du schaffst das«, scheint er sagen zu wollen. »Ich kann’s ja auch, und ich kann sogar noch Stöckchen tragen dabei.«
Ich atme tief durch. Die Luft ist kalt und brennt in der Lunge. Mit zusammengekniffenen Lippen versuche ich, die Gleitbewegung der anderen Kinder nachzuahmen. Oberkörper nach vorn, Arme leicht zur Seite. Der Hund steht nun neben Layla, und die beiden sehen mir erwartungsvoll zu.
»Ach Kinder, stellt euch doch nicht so an«, höre ich meinen Opa von hinten rufen. »Mutti, komm, wir zeigen den beiden mal, wie die Profis das machen.«
Meine Großmutter kommt nicht mehr dazu zu protestieren. Opa packt sie bei der Hand, zieht sie aufs Eis, umfasst ihre Taille mit seinem rechten Arm und gleitet in einen Tanzschritt.
»Jetzt mach doch keinen Quatsch, Vatter«, sagt meine Oma und lacht dabei. Es kommt nicht oft vor, dass sie lacht.
Zusammen bewegen sich die beiden immer weiter auf die Eisfläche. Sie tragen keine Schlittschuhe, nur ihre Winterstiefel, und mein Opa wiegt sich und hüpft und singt dazu: »Rosamunde, schenk mir dein Herz und sag Ja. Rosamunde, frag doch nicht erst die Mama.«
Um sie herum versammeln sich nun immer mehr Leute, klatschen und lachen. Mein Großvater gleitet schneller und schneller und dreht meine Oma mit sich, Drehung um Drehung, leichte Schritte, noch eine Strophe. Der Dackel mit dem Stöckchen hat die Aufregung gewittert, seinen Wachposten neben Layla verlassen und springt nun um meine tanzenden Großeltern herum. Meine Oma wirft den Kopf in den Nacken, die dunkle Dauerwelle wippt im Takt. Auf den Knien sind noch immer die Wasserflecken zu sehen.
Layla nimmt mich bei der Hand und lächelt. Mit der anderen Hand zieht sie sich die Mütze wieder vom Kopf und wirft sie aufs Eis. Sie schüttelt ihre Locken aus, genau wie unsere tanzende Großmutter, summt leise die Melodie mit, wippt im Takt. Die tückischen Schlittschuhe an ihren Füßen hat sie offenbar vergessen.
Als wir später zurück zum Auto gehen, beginnt es zu schneien. Das grautrübe Licht verwolkt sich immer mehr, und die surrenden Laternen im Park scheinen ihr sandiges Gelb in die Flocken. Stefan und Patrick haben mich nun doch gesehen und kommen kurz zu uns herübergelaufen. »Hey, nächstes Mal musst du mit uns Hockey spielen! Mein Vater hat noch Schläger in der Garage.« Ich nicke und verabschiede mich hastig, meine Schlittschuhe in der Hand.
Layla geht einige Meter vor mir, an der Hand meiner Großmutter. Mein Großvater singt noch immer den Refrain von Rosamunde, als er den Wagen aufschließt. Layla schaut in den Himmel, öffnet den Mund und versucht, mit der Zunge ein paar Schneeflocken zu fangen. Ich fahre ihr durch die dunklen Haare, die nun weiß gepunktet und schneedurchzogen sind.
»Komm, steig schnell ein, nicht, dass du dich noch erkältest«, sage ich, und sie krabbelt auf die Rückbank.
Auf der Fahrt legt sie ihren feuchten Kopf an meine Schulter.
»Basil, meinst du, wir fahren bald nach Hause?«
»Erinnerst du dich, Layla?«
Aufbruch
Der Spender mit den Papiertüchern ist leer. Ich wische mir die nassen Hände an der Hose ab und schaue in den beschlagenen Spiegel. Vielleicht hätte ich mich doch noch rasieren sollen. Ich fahre mit den Fingern über die dunklen Bartstoppeln und durchs Haar. Der Mann im Spiegel sieht müde aus und älter, als ich mich fühle. Das macht vielleicht aber auch das grelle Licht. Ein Businesstyp in Anzug betritt die Toilette und hält mir die Tür auf. Ich überlege, ob ich noch schnell eine Zigarette rauchen soll, aber die nächste Raucherzone ist am anderen Ende des Terminals.
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