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Der Westen protzt. Der Westen stellt sich in Frage. Einerseits EU-Schulterschluss im Angesicht des Ukrainekrieges. Selbstzweifel, Selbstkritik und Selbstdementierung auf der anderen Seite. Zur europäisch-nordamerikanisch-westlichen Praxis gehört eben nicht nur die Erfindung der Demokratie und der Menschenrechte, nicht nur die Idee der Gleichheit der Menschen und die Idee pluralistischer Ordnungen, der Gewaltenteilung und des vernünftigen Interessenausgleichs, sondern auch seine radikale Dementierung. Kolonialismus, Faschismus und Nationalsozialismus, Imperialismus und Rassismus sind ohne Zweifel keine nicht-westlichen, keine nicht-modernen Erscheinungen. Sie gehören konstitutiv zur westlichen Moderne dazu. Das Kursbuch 211 stellt sich dieser Ambivalenz auf vielfältigste Weise. Eine besondere Form des Antagonismus zwischen einem angegriffenen Westen und seinen Feinden erzählt Rasha Khayat in ihrem Beitrag. Wie 9/11 nicht nur Zwillingstürme in Manhattan zum Einsturz brachte, sondern auch andere, erzählt sie an drei Septembern 1988, 2001 und 2002 – sehr bedrückend.
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Seitenzahl: 16
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Inhalt
Rasha KhayatSeptember.Eine Erzählung in drei Akten.
Die Autorin
Impressum
Rasha KhayatSeptember.Eine Erzählung in drei Akten.
I.09/01
Und dann fielen sie zusammen. In aller Stille.
Wir hatten am Strand gesessen, nicht einmal eine Stunde vorher. Die Sonne hatte geschienen, auf mich, auf dich, auf die anderen, die wir erst seit ein paar Tagen kannten. Ich hatte alles vergessen zu Hause. Hatte Geldsorgen vergessen, die Großeltern vergessen, ihre Fragen an mich vergessen. Du warst mit mir ins Auto gestiegen und wir sind einfach losgefahren. Irgendwann, nach einem oder zwei Tagen, war vor uns das Meer aufgetaucht und du hieltst an.
»So. Da sind wir.« Als hättest du von Anfang an einen Plan gehabt. Als hätte es ein Ziel gegeben, dieses Ziel, hier am Strand, Kieselstrand, der sich in die Fußsohlen bohrt, Kiefernnadeln auf dem Boden, Harz in der Luft, alles wie eine Postkarte. Worüber wir auf der Fahrt geredet haben, weiß ich heute nicht mehr. Du hast vielleicht über die Arbeit geredet, vielleicht über sonniges Nichts.
»Wusstest du, dass Herdentiere das kleinste, schwächste Kind im Wurf oft zurücklassen?«, hast du irgendwann gefragt, als wir für eine Entenfamilie anhielten, die über die Straße wollte.
»Wusste ich so jetzt nicht«, habe ich gesagt, »aber überrascht mich auch nicht. Guck uns an.«
Und du gucktest mich an, als wolltest du sagen: »Diese Tiere haben zwei Möglichkeiten. Aufgeben und am Ende verrecken, oder zäh werden. Zäh werden und durchhalten, und am Ende stärker sein als alle anderen, vom Kampf ums Überleben gestählt.« Ob du das wirklich gesagt hast oder ob ich mir das nur jetzt denke, ich weiß es nicht. Ob das überhaupt eine Rolle spielt, weiß ich nicht.
Und dann fielen sie zusammen. In aller Stille.