Weiße Sonne - J. Todd Scott - E-Book

Weiße Sonne E-Book

J. Todd Scott

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Chefs Stanford Ross zum Sheriff von Big Bend County befördert worden. Er macht sich daran, in seiner Stadt und seinem Department aufzuräumen. Als die Leiche von Billy Bravo, einem Flussführer am Rio Grande, mit zerschmettertem Schädel aufgefunden wird, kennt Cherry nur eine Gruppe, die zu solch brutaler Gewalt fähig ist: die Aryan Brotherhood of Texas. Sie will in der Geisterstadt Killing eine "rein arische" Siedlung errichten. Ist man ihnen beigetreten, gibt es keine Möglichkeit, wieder auszutreten und am Leben zu bleiben. Wer überläuft, stirbt, genau wie jeder, der sich ihnen in den Weg stellt. Chris und seine neuen Deputys Ben Harper und America Reynosa ermitteln gegen den Anführer. Doch der Gerechtigkeit Genüge zu leisten, ist nicht so einfach, wie Cherry es sich erhofft hat.

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J. Todd Scott

Weiße Sonne

Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke

Herausgegeben von Wolfgang Franßen

Polar Verlag

Originaltitel: High White Sun

Copyright: 2018 by Jeffrey Todd Scott

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with G.P. Putnam's Sons, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2023

Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke

Mit einem Nachwort von John Bassoff, Übersetzung von Harriet Fricke

© 2023 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Tobias Schumacher-Hernandéz

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © Didier San Martin/Adobe Stock

Autorenfoto: © J. Todd Scott

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm, Deutschland

ISBN: 978-3-948392-71-0

eISBN: 978-3-948392-72-7

Für meine Chief Deputys:Madeleine, Lily und Lucy

Inhalt

Damals

Sweetwater, Texas 1999

Fünfzehn Jahre später

Heute, Juli

Teil eins: Die Frau mit der Pistole

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil zwei: Hombres Malos

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Teil drei: Sundown Town

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Teil vier: Blood Out

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Später

La Chica con la Pistola

Dank

Lyrisch und brutal

»Aber die Gottlosen, spricht der HERR, haben keinen Frieden.«

Jesaja 48:22

Sometimes I wanna be like Jesus,

Sometimes I wanna be Jesse James …

»Jesse James«, Songtext von Ben Glover, Kyle Jacobs und Joe Leather

Damals

Sweetwater, Texas1999

Goodbye stranger …

Er donnerte über den Texas Highway 70, hatte das Radio voll aufgedreht und sang laut mit, als er die Frau am Straßenrand winken sah. Die Motorhaube ihres Wagens, ein zweifarbiger Ford Fiesta, war hochgeklappt. Er hatte das Auto schon einige Male auf dem Parkplatz vor dem Aces High stehen sehen. Eine Schrottmühle, mehr Rost als Auto; dass es liegengeblieben war, überraschte ihn nicht. Er blendete die Scheinwerfer kurz auf, um ihr zu signalisieren, dass er die Geschwindigkeit drosselte, und fuhr in einer Wolke aus Staub rechts ran, wo der Straßenbelag in hohes, trockenes Präriegras überging.

Bevor er aus seinem Pick-up-Truck stieg, musste er sich erst einmal sammeln, weil er merkte, dass ihn die vielen Pearls, die er sich im Aces gegönnt hatte, nach unten zogen wie die Schwerkraft. Auf dem Beifahrersitz lag ein Sixpack, das er sich für die Fahrt mitgenommen hatte, und die erste Flasche wurde auf seinem Schoß bereits warm. Er wollte das halbe Dutzend austrinken und die leeren Flaschen in irgendeinem Graben entsorgen, bevor er in die Stadt reinfuhr, deren vertraute Lichter momentan nur goldene Flecken waren, die sich wie verschwommene Fingerabdrücke in der Nacht verloren. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, zum Lake Sweetwater rauszufahren, neben dem alten Pfadfinder-Camp zu parken und sie dort zu trinken und bei heruntergelassenen Fenstern vielleicht für ein, zwei Stunden auf der Rückbank die Augen zuzumachen. Am See war es manchmal etwas kühler, manchmal auch nicht, warum, wusste er nicht. Vermutlich hatte es mit dem Wind zu tun … diesem gottverdammten Wind, der fast das ganze Jahr über Sand durch diesen Teil von Texas jagte. Der Wind war lebendig, bösartig, und streute auf alles eine Schicht Staub. Man konnte eine Küchenschublade aufziehen, und die Löffel waren damit überzogen. Manchmal war der Wind so laut, dass man die eigenen Gedanken nicht mehr hörte oder das Autoradio, weshalb er es immer bis zum Anschlag aufdrehte. Eine schlechte Angewohnheit. Doch in dieser Nacht war es anders. Der Vollmond übergoss alles mit seinem Licht, sodass die ganze Welt zu leuchten schien, und der Wind blies ruhig und gelassen, rüttelte nur leicht am Präriegras und zerzauste es, wie er es gern mit Dannys Haaren tat.

Trotzdem war es immer noch verdammt heiß, und das Hemd klebte an seinem Rücken.

Er drehte das Radio leiser, schnappte sich seinen Hut, richtete seinen Gürtel – sein Holster – und hoffte, dass er halbwegs nüchtern wirkte. Dann stellte er das angefangene Bier ab, stieg aus dem Pick-up und ging auf die Frau zu.

Sie war eine halbe Portion, füllte das dünne Kleidchen nicht mal ansatzweise aus, ihre Titten keine Handvoll. In der linken Hand hielt sie Plateauschuhe mit hohen Absätzen, mit der rechten schirmte sie die Augen gegen seine Scheinwerfer ab. Ihr Make-up war ruiniert, und im grellen Licht konnte er nicht erkennen, ob ihre Wimperntusche nur verlaufen war oder ob sie ein blaues Auge hatte. Er hatte sie schon tanzen, hatte sie schon nackt gesehen, doch jetzt, knapp bekleidet und barfuß am Straßenrand, wirkte sie noch verletzlicher. Das weißgelbe Licht umgab sie wie ein Heiligenschein und zeigte, wer sie wirklich war. Man sah ihr wahres Alter, ein halbes Kind, und das machte ihm ein schlechtes Gewissen, hatte er doch schon geglaubt, eine Begleitung für den See und vielleicht noch andere Dinge gefunden zu haben. Ein schlechtes Gewissen wegen des Eherings, der sich zu eng um seinen Finger schloss.

Und als sie auf Zehenspitzen hochkam, stellte er sie sich auf einer anderen Bühne vor. Bei einer Highschool-Aufführung. Als Tochter eines anderen Mannes.

»Miss, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich heiße Sierra«, sagte sie, der Akzent unverwechselbar West Texas.

Er trat näher, warf einen Blick zur hochgeklappten Motorhaube. »Okay, Sierra.« Sie hieß ganz sicher nicht Sierra. Sara oder Becky, vielleicht, oder Catherine, aber mit Sicherheit nicht Sierra. Seine Frau, die zu Hause schlief, hieß Catherine.

»Was hat er? Kolbenfresser? Tank leer?« Er wies mit dem Daumen zum Auto.

»Ach, das.« Sie schaute zum Fiesta, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. Die Hand, in der sie keine Schuhe hielt, zuckte nervös, als wollte sie eine Zigarette zum Mund führen, und auf der Straße lagen tatsächlich etliche Kippen, umgaben ihre Füße wie tote Motten. Sie stand hier schon eine ganze Weile. »Ich hab Sie schon mal gesehen«, sagte sie. »Im Aces? Ich tanze da.«

Er nickte. »Yeah, ich schaue hin und wieder vorbei. Dachte mir doch, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Heute Abend war ich auch da, aber Sie hab ich nicht … auf der Bühne gesehen.« Bei den letzten Wörtern verhaspelte er sich und schaute weg.

»Nee, heute nicht. Mir ging’s nicht so gut. Down Low wird mir die Hölle heiß machen, aber was soll’s.«

Down Low – Daryl Lynch – war der Besitzer des Aces, und außerdem Barmann, Türsteher und Zuhälter in einer Person. Hielt sich für einen beinharten Typen und bildete sich sonst was ein, wenn er seine brandneue Harley, eine Softail Night Train, vor der Tür des Ladens parkte, wo jeder daran vorbeimusste und sie mit der Weihnachtslichterkette, die das ganze Jahr über an der Veranda hing, um die Wette strahlte. Er kannte Lynch seit einigen Jahren, wusste, dass er ein Scheißkerl und ein Spitzel war, der ihm hin und wieder einen Tipp gab. Die teure Maschine hatte Lynch mit dem Geld bezahlt, das er im Gegenzug von ihm bekam, aber gereicht hatte es mit Sicherheit nicht. Nicht mal ansatzweise. Auch das Aces war keine Goldgrube, also musste Down Low ein verdammt guter Geschäftsmann sein, ein Selfmademan, der seine schmutzigen Finger überall drin hatte. Der Gedanke, dass der Möchtegernbiker die Mädels verdrosch, missfiel ihm. Vielleicht war mal wieder eine längere Unterhaltung mit Lynch fällig.

»War er das?« Er deutete auf ihr Auge.

Ihre Hand schoss nach oben. »Das? Nee, war was anderes. Sie wissen ja, irgendwas ist immer.«

»Stimmt wohl.« Wer wusste das besser als er? Sein Blick wanderte wieder zum Ford Fiesta. Der Motor knackte nicht, verströmte keine Hitze. Der Wagen stand schon länger da.

»Sie sind Cop, oder?«

Er nickte und drehte sich so, dass sie den silbernen Stern an seinem Gürtel sehen konnte. »Texas Ranger. Bob Ford.«

Sie lachte nervös. »Dachte, ihr seid auf Pferden unterwegs.«

Er lachte mit. »Nein, schon lange nicht mehr.« Schlagartig fühlte er sich müde, so müde, und fürchtete sich schon vor dem Kater, der ihn am nächsten Morgen erwartete. Irgendwas ist immer … An den See würde er nicht mehr fahren. Nachdem er das Auto von Sierra, oder wie auch immer sie hieß, zum Laufen gebracht oder die junge Frau irgendwo abgesetzt hatte, würde er auf direktem Weg nach Hause fahren. Leise würde er sich zur Tür reinschleichen und kurz nach Danny sehen, der zwar längst hätte schlafen sollen, aber mit Sicherheit unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe noch einen Comic las, gegen den Schlaf ankämpfte und auf seinen Daddy wartete. Am Sonntag wollten sie angeln gehen und morgen bei Sears die neue Rute abholen, die sie für Danny ausgesucht hatten. Und nachdem er nach seinem Sohn gesehen hatte, würde er neben Caty ins Bett fallen, hoffentlich ohne sie zu wecken.

Davor würde er noch eine Handvoll Aspirin einwerfen, die er im Bad unten versteckte, und sie mit einem letzten lauwarmen Bier runterspülen und dabei möglichst nicht in den Spiegel schauen – auf das erste Grau in seinem Bürstenschnitt oder die sich ausdehnende Wampe, die die Druckknöpfe an seinem Hemd abzusprengen drohte.

In diesen Spiegel, der zeigte, wer er wirklich war. Die ganze Wahrheit. Und Bob Ford gefiel nichts davon.

»Schon lange nicht mehr.«

Er beugte sich über den kalten Motor, versuchte, sich ein Bild zu machen, obwohl er kein Fachmann war. Sierra redete jetzt ohne Punkt und Komma, die Wörter hoben und senkten sich mit dem Wind, während das Radio in seinem Pick-up weiterlief. »Goodbye Stranger.« Das Lied hatte er immer gemocht, schon zu Highschool-Zeiten in Midlothian. Es erinnerte ihn daran, wie er mit Caty hinten im Chevy seines Dads gesessen hatte, beide mit einem Plastikbecher Johnnie Walker plus Cola bewaffnet, und er versucht hatte, eine Hand in ihre Bluse zu schieben, während Caty so tat, als wollte sie es nicht. Und wie sie hinterher, als die Becher leer waren und sie beide sich innen drin ganz warm fühlten, händchenhaltend auf dem alten Quilt seiner Mom lagen, in den Sternenhimmel schauten, den Grillen lauschten und die hin und wieder aufleuchtenden Glühwürmchen zählten – ein Zauber, der sich niemals abnutzte. Damals nicht und heute nicht, aber als er im Kopf ausrechnete, dass diese Nächte mindestens zwanzig Jahre zurücklagen, wollte er lieber nicht mehr daran denken.

»Keine Ahnung, was mit dem Auto los ist. Aber ich kann Sie mit nach Sweetwater nehmen. Dann können Sie morgen jemanden herschicken.«

»Oh, okay.« Offenbar war ihr die Lust am Reden vergangen. Auch das Auto interessierte sie nicht mehr. Und er auch nicht. Sie schaute nur über das sich sanft bewegende, vom Mond versilberte Präriegras.

Es waren über dreißig Grad, seine Arme trieften vor Schweiß, er tropfte ihm von der Stirn in die Augen, als ihm auffiel, dass sie die Schuhe achtlos zwischen die Zigarettenkippen fallen gelassen hatte. Sie schaute zu den Gräsern am Straßenrand und zitterte.

Als würde sie frieren.

Oder Angst haben.

Sie war auf Drogen, todsicher – Meth, Pillen, Crack. Wenn er ihr Auto durchsuchte, würde er wahrscheinlich zusammengeknüllte Alufolie, eine rauchgeschwärzte Glühbirne oder irgendeine andere selbst gebastelte Pfeife finden. Wenn er näher an sie herantrat, so nah, dass er die Wärme ihres Körpers spürte, würde er vielleicht Einstichnarben an ihren dünnen, nackten Armen entdecken. Das erklärte alles. Down Low dealte im Aces, aber Bob Ford sah meistens weg – ein notwendiges Übel und der Preis, wenn man mit harten Jungs Geschäfte machte. Sie war den ganzen Abend high gewesen und kam jetzt runter und blickte auf den Boden, der sich ihr näherte – viel zu schnell. Gleich würde sie abstürzen und verbrennen.

Deshalb waren ihre Augen mit einem Mal schwarz und riesig, die Iris wie große Fenster, hinter denen nur leere Räume lagen. Ihre flatternden Lider wie dünne Vorhänge, die im Wind wehten.

Sie drehte sich um die eigene Achse, wie eine Tänzerin, eine Hand erhoben, die andere auf dem Bauch, schützend. Sie schaute ihn an, und einen Herzschlag lang blickte er durch die Fenster in ihren Augen und durch sie hindurch, in sein eigenes Schlafzimmer, das so weit weg war und wo Caty unter der Decke träumte. Und weiter in Dannys Zimmer, an die Wände mit den Superhelden-Postern, in das Regal mit dem Aquarium, das er ihm zum neunten Geburtstag geschenkt hatte, leer bis auf die bunten Steine auf dem Boden. Danny liebte seine Superhelden und wollte, wenn er groß war, auch einer werden, nur davon, dass er Cop, ein Ranger wie sein Vater werden wollte, redete er nie. Es wäre ihm nie eingefallen, dass der eine auch das andere sein konnte.

Dann war der Moment vorbei und er meinte, sie flüstern zu hören: Es tut mir so leid.

»Was haben Sie gesagt?« Er ging zu ihr, legte ihr eine Hand auf die Schulter, wollte sie beruhigen.

Wollte sich selbst beruhigen.

»Es tut mir so leid«, wiederholte sie, lauter jetzt, und rannte los.

Das Gras fing an zu brennen, entzündet vom Mündungsfeuer, das von der Seite kam.

Er drehte sich in dem Moment um, als die erste Kugel unterhalb seines rechten Arms einschlug; wie ein heftiger Boxhieb, nur dass scheinbar alle wichtigen Organe und auch das Herz zugleich getroffen wurden. Er spürte seinen Arm nicht mehr, der jetzt nutzlos an seinem Körper hing, also griff er mit der linken Hand nach seiner SIG Sauer.

Wirbelte herum, stürzte, landete auf den Knien.

Dann sah er das Blut. Mehr als er jemals gesehen oder für möglich gehalten hatte – ein richtiger Bach, der sich über die Straße ergoss und bis zur hochgeklappten Motorhaube des Fiesta spritzte. Wäre Sierra nicht davongerannt, es wäre auf ihrem Gesicht gelandet.

Die zweite Kugel traf ihn in den Bauch und trat hinten wieder aus. Er hörte, wie sie von dem Fiesta abprallte, ein metallisches Echo in der Nacht. Er betete, dass sie nicht die Frau traf, die jetzt ebenfalls auf den Knien hockte, eine Hand vor dem Mund, die andere auf dem Bauch, während sie ihm beim Sterben zusah.

Schwanger. Caty hat ihre Hand damals auch so gehalten und Danny beschützt, bevor er überhaupt auf der Welt war.

An seine Waffe würde er nicht mehr herankommen. Nie mehr. Er schwankte auf seinen Knien, während der Wind den Rauch der beiden Schüsse über ihm verwehte.

Durch Tränen sah er, dass das trockene Präriegras tatsächlich brannte, Funken stiegen auf, tanzten um ihn herum, bevor sie auf dem schwarzen Asphalt niedergingen und starben.

Sie leuchteten auf und erloschen wie die Glühwürmchen vor zwanzig Jahren.

Zwei Männer kamen aus dem hohen Gras, bei jedem ihrer Schritte stoben weitere Funken auf, der eine hielt eine Pistole, der andere eine Schrotflinte. Den mit der Flinte erkannte er, den anderen, der eine Sturmhaube trug, nicht. Aber darauf kam es nicht mehr an.

Den ganzen Abend war der Wind leise gewesen, doch nun wurde er plötzlich laut. Wahnsinnig laut, ein grausames Rauschen in seinen Ohren – ein ganzer Güterzug, der über ihn hinwegdonnerte, sodass er die eigene Stimme nicht mehr hören, den Namen seines Mörders nicht mehr herausschreien konnte. Sein Mund war voller Rost, Funken und Blut.

Aber er war kein Mann, der um sein Scheißleben bettelte.

Vielleicht hatte sein Junge von Anfang an recht gehabt. Cops waren keine Superhelden. Bloß Menschen, die alt und müde und langsam wurden und zu viele Fehler machten und manchmal mitten in der Nacht anhielten, um einem hübschen Mädchen zu helfen.

Helden starben nicht auf einer gottverlassenen Straße.

Die Mündung der Flinte berührte einen Punkt zwischen seinen Augen.

Sanft, zärtlich, so wie Catys Hand sich um seine gelegt hatte, damals, als sie noch Teenager – nein, Kinder – waren und die Sterne gezählt hatten.

»Howdy, Bob«, sagte der Mann mit der Flinte und drückte ab.

Bob Ford hörte weder die Begrüßung noch den eigenen Herzschlag oder das Radio aus seinem Pick-up oder den Schuss.

Der Wind auf seinem Gesicht war zu laut.

• • •

Fast zehn Jahre später wurden entlang des Texas Highway 70 die ersten Windräder der Sweetwater Wind Farm in Betrieb genommen – Reihe um Reihe aus Türmen mit dreiblättrigen Rotoren, die über dem Fleckchen Erde, auf dem Texas Ranger Bob Ford gestorben war, Wache hielten.

Hundert hoch aufragende weiße Kreuze, meilenweit zu sehen.

Sie versuchten, den gottverdammten Wind einzufangen und in etwas Gutes zu verwandeln.

Fünfzehn Jahre später

Zielen.

Ausatmen.

Abziehen.

So löscht man das Leben eines Menschen aus …

Das ist nicht mein Gesicht.

Ein, zwei Dinge daran erkenne ich wieder, aber es ist das Spiegelbild eines anderen. Wie ein Foto, das ich vor vielen Jahren betrachtet habe.

Die Augen könnten meine sein. Die Farbe kommt in etwa hin. Doch hinter ihnen spielt sich eine Menge ab, als hätte jemand, während ich weg war, zu viele Sachen hineingeschoben, die sich jetzt dort drängen, wo früher Leere war.

Vielleicht ist es Nervosität oder Angst, etwas, das ich früher kannte, aber vergessen hatte.

Dann die Form des Kinns, der Schwung des Munds, die kleine sternförmige Narbe an der Schläfe. Das alles wirkt vertraut und dann doch nur wie von einem anderen geborgt.

So wie die Tätowierungen auf meiner Haut. Sie sind die Landkarte mit den Orten, an denen ich gewesen bin, den Menschen, die ich gewesen bin.

Inzwischen glaube ich meine Lügen selbst.

Was aber vor allem nicht stimmt, sind die Haare. Sie sind nicht mehr so lang, um mit den Fingern hindurchzufahren, und trotzdem immer noch zu lang.

Nach meiner Rückkehr vom anderen Ende der Welt habe ich sie wachsen lassen. So wie viele von uns – eine Horde Scheißhippies, so hätte mein Vater uns wohl genannt –, aber ich fühlte mich nie richtig wohl damit. Meine Haare waren zu dunkel, zu schwer, sie passten nicht zu dem ausgemergelten, leeren Gesicht. Als ich dann an der Akademie angenommen wurde, war ich froh, sie wieder abschneiden zu können, und für die Zeit in McKinney rasierte ich sie richtig ab und ließ sie auch in Tyler und Ballinger so. Danach habe ich noch einmal versucht, sie wachsen zu lassen, wie damals als Kind, weil ich mir einbilde, mich daran zu erinnern, dass mein Vater sie immer verwuschelt hat. In Wahrheit hat alles an mir eine andere Form und Größe angenommen. Die Ecken und Kanten meiner Puzzleteile passen nicht mehr ineinander, es gelingt mir nicht, das frühere Bild zusammenzusetzen. Einige fehlen ganz. Ich weiß nicht, wo sie geblieben sind.

Ganz bestimmt nicht in diesem Spiegel, der mir nur zeigt, was alles fehlt. Was an mir nicht mehr stimmt.

Deshalb mache ich allen etwas vor. Lächle bei den psychologischen Beratungsgesprächen, zu denen ich verdonnert wurde, und bei der Schreibtischarbeit – tippe die Berichte der anderen ab und helfe, wo ich nur kann. Ich lächle und reiße Witze, weil sich die Menschen besser fühlen, wenn man sie anlächelt. Tust du es nicht, werden sie nervös. Sie hatten mich einigermaßen zusammengeflickt, ich war fast wieder ganz.

Bis heute Morgen … als Dyer mich zu sich bestellte und es mir erzählte.

Er wollte, dass ich es zuerst von ihm erfahre.

Er kannte meinen Vater. Damals, als das alles passierte – Scheiße, jeder kannte ihn. Er kennt die ganze Geschichte, meine Geschichte, und war im ersten Ermittlerteam. Er gehört zu den guten Menschen, die immer bemüht sind, noch besser zu werden. Und er wollte nicht, dass ich es von einem anderen erfahre. Oder es irgendwo auf der Straße aufschnappe. Dabei wissen wir beide, dass sie mich erst mal nicht wieder auf die Straße lassen. Wenigstens nicht mehr so wie in McKinney und Tyler. Und ganz sicher nicht wie in Ballinger.

Als er fertig war, schaute er mich lange an, weil er sehen wollte, wie ich es aufnehme.

Ich habe gesagt, es geht mir gut.

Ich habe mich bedankt, weil er sich Zeit für mich genommen hat. Er ist ein guter Mensch.

Und ich habe dabei gelächelt.

Höflich. Respektvoll. Ruhig.

Inzwischen glaube ich meine Lügen selbst.

Und beim Rausgehen lächelte ich immer noch.

Das ist nicht mein Gesicht. Nicht mehr.

Die Haare sind wieder ab, nackte Kopfhaut, hier und da noch ein paar Stoppeln. Besser kriege ich es mit einer Rasierklinge und einer Dose Schaum nicht hin.

Im Waschbecken ist Blut, auf meinem Schädel auch.

In meinen Augen.

Alles an mir ist neu, roh.

Meine Dienstmarke liegt auf dem Waschbecken, meine Waffe auch. Nur eins davon werde ich noch brauchen.

Ich richte die Waffe auf das Gesicht im Spiegel, und meine Hand zittert. Ich will es nicht mehr anschauen.

Ich will nicht sehen, was aus mir geworden ist. Wer ich jetzt bin.

Zielen. Ausatmen. Abziehen.

So löscht man das Leben eines Menschen aus …

Heute, Juli

Teil eins

Die Frau mit der Pistole

1

Einer Blutspur zu folgen war alles andere als einfach, wenn man mit achtzig Meilen über den Highway bretterte.

Sehen musste Sheriff Chris Cherry das Blut nicht, es war da, das wusste er auch so. Dicke Tropfen auf dem U.S. 90, sie liefen hinten von der Stoßstange des Nissan Maxima, der alles gab, um aus Chris’ Sichtfeld zu verschwinden, und Staub aufwirbelnd links und rechts über Fahrspuren und Randstreifen ausscherte.

Das Blut stammte von Tommy Milford, einem seiner Deputys. Ob er noch lebte, wusste Chris nicht.

Deputy Dale Holt kümmerte sich zehn Meilen entfernt um den Schwerverletzten. Er war mit Tommy Streife gefahren, als alles passierte, und obwohl er nur ein Jahr älter war als Tommy, hatte er, als Chris die Verfolgung aufnahm, die Hand des Kollegen gehalten wie ein Vater und immer wieder gesagt, halt durch, bitte halt durch. Ob sie Tommy bewegen durften, hatte Chris nicht gewusst. Gut sah es jedenfalls nicht aus. Doch bevor Dale den Sheriff alarmiert und den Krankenwagen gerufen, bevor er neben seinem verletzten Freund auf die Knie gegangen und dessen Körper mit dem eigenen abgeschirmt hatte, war es ihm noch gelungen, eine Handvoll Schüsse auf den flüchtenden Nissan abzufeuern. Ein Projektil hatte die Heckscheibe durchschlagen, sodass sich auf dem Sicherheitsglas ein Spinnennetz ausgebreitet hatte.

Auf dieses Spinnennetz konzentrierte Chris sich nun und nicht auf das Blut seines Deputys auf dem Asphalt.

Er betete, dass Tommy sich an Dales Hand festhielt und mit jedem Herzschlag fest zudrückte, damit Dale und alle anderen wussten, dass er noch am Leben war.

Bitte nicht sterben. Gott, bitte nicht heute.

Nicht heute. Nicht an Tommys erstem Arbeitstag.

Deputy Amé Reynosa kam hinter Chris herangeschossen und überholte ihn so dicht, dass ihr Wagen fast am Lack seines Pickups kratzte. Über Funk hatte er sie angewiesen, hinter ihm zu bleiben, aber natürlich hörte sie nicht auf ihn. Er beschleunigte, setzte sich wieder vor sie. Sie fuhren jetzt neunzig, fast hundert, fraßen sich an den Maxima heran, dessen Heck plötzlich ins Schlingern geriet, während die Bremsleuchten an- und ausgingen. Der Fahrer musste weiter vorn das blau-rote Blinklicht auf dem Wagen von Chief Deputy Ben Harper gesehen haben, und wusste wahrscheinlich nicht mehr, wo er jetzt hinsollte; vielleicht verlor er ebenfalls Blut, weil Dales Kugel auf ihrem Weg durchs Wageninnere abgelenkt worden war und doch noch ihr Ziel getroffen hatte. Harp hatte tagsüber in Artesia zu tun gehabt und war auf dem Rückweg nach Murfee gewesen, als Dale den ersten Schuss abgegeben hatte. Er fuhr dem flüchtenden Auto bereits entgegen, und Chris hatte ihn über Funk gebeten, auf der Höhe von Mile Marker 67 anzuhalten und die Nagelsperre auszulegen.

Im Vorbeifahren sah Chris das kleine grüne Schild.

Marker 65

Die Nagelsperren waren verflucht teuer gewesen. Chris hatte mit dem Kauf gezögert, weil er gelesen hatte, dass Polizisten beim Auslegen der verdammten Dinger gestorben waren – totgefahren von den Autos, die sie eigentlich hatten anhalten wollen –, und als Harp dann auch noch zugegeben hatte, dass das Dallas PD inzwischen auf solche Sperren verzichtete, war Chris die Entscheidung nicht leichter gefallen.

Aber hier draußen, in dieser weiten Leere, musste man den Flüchtigen im Zweifel bis El Paso oder gar bis nach Mexiko verfolgen, wenn man keine Möglichkeit hatte, ihn zum Anhalten zu zwingen.

Deshalb hatte Harp keine Ruhe gegeben, bis Chris dem Kauf zugestimmt hatte. Bis er klein beigegeben hatte. Das beschrieb ihr Verhältnis eigentlich am besten.

Tatsächlich hatte Chris gleich zwei Nagelsperren für jeden Streifenwagen bestellt, damit seine Leute sie über beide Fahrspuren ziehen konnten. Beim Training auf dem Parkplatz des Präsidiums hatten sich die Deputys relativ geschickt angestellt, aber bis heute hatte keiner sie im Ernstfall einsetzen müssen.

Marker 66

Fast da.

Chris drosselte die Geschwindigkeit und hoffte, dass die Nägel ihren Zweck erfüllen würden … und Harp sich aus der Gefahrenzone gebracht hatte.

Die Reifen des Nissans fraßen sich in den Asphalt, Rollsplitt wirbelte hoch, als der Fahrer hart auf die Bremse stieg, und der Wagen zur Seite ausbrach. Er verlor die Bodenhaftung, wurde vom Wind ergriffen und für eine Schrecksekunde sah es aus, als würde er sich auf dem Highway überschlagen und in einem Haufen aus gestauchtem Blech und zersplittertem Glas enden. Doch dann fing er sich wieder und schoss mit sechzig Sachen geradewegs über die Sperre. Die Stacheln durchlöcherten alle Reifen, und Chris hätte schwören können, unter dem Nissan einen Tanz aus grellen Funken zu sehen – ein Feuerwerk wie am 4. Juli –, als dieser unbeirrt weiterraste.

Um die Sperre zu umgehen, fuhr Chris über den ausgetrockneten Wüstenboden. Harp, der seinen Pick-up am gegenüberliegenden Straßenrand geparkt hatte, war nicht einmal hinter dem Wagen in Deckung gegangen, als der Nissan angedonnert kam und Gefahr bestand, dass der Fahrer beim Auftreffen auf die Sperre die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und frontal in ihn hineinraste. Stattdessen hatte Harp sich ein paar Meter weiter hingehockt und mit seinem Colt AR-15 auf die Windschutzscheibe des Nissan gezielt. Als das Fahrzeug nun an ihm vorbeizog, stand er auf und schaute ihm kurz nach, bevor er zu seinem Auto rannte, hineinsprang und parallel zu Chris aufschloss.

Der Nissan war mittlerweile mitten auf der Straße zum Stehen gekommen, die Schnauze schräg zur Fahrbahn, mit gut sichtbarer, aber noch geschlossener Fahrertür. Sie näherten sich im Schritttempo. Qualm hüllte den Wagen ein, die getönten Scheiben waren völlig verdreckt. Das Auto wirkte müde, erschöpft, der Lack an seiner linken Flanke war von einem langen Kratzer verunstaltet, wo ihn eine von Dales Kugeln getroffen hatte.

Chris schnappte sich seine Browning A5, stieg aus und ging hinter seiner Motorhaube in Deckung, während Harp auf der anderen Straßenseite dasselbe tat. Chris hörte, dass Amé hinter ihnen abbremste, da er den Nissan aber nicht aus den Augen ließ, spürte er nur, dass sie sich neben ihn stellte.

Sie atmete heftig und stützte die Hand mit dem Colt 1911 auf der Motorhaube ab.

»So ein mieses Arschloch«, sagte sie. »Pendejo.«

»Allerdings.« Nun schaute er doch kurz zu ihr hin; die Haare fielen ihr ins Gesicht, sie kniff die dunklen Augen zusammen und versuchte, irgendetwas hinter den getönten Scheiben des Nissan zu erkennen. In diesem Moment bereute Chris es zum ersten Mal, dass er Amé zum Deputy Sheriff des Big Bend County ernannt hatte. Nicht, weil sie ihren Job nicht gut gemacht hätte – sie hatte schon oft bewiesen, wie hervorragend sie sich dafür eignete, und war tougher als die meisten ihrer männlichen Kollegen –, sondern weil er sie keiner Gefahr aussetzen wollte.

In seinen zwei Jahren als Sheriff war keinem seiner Deputys im Job etwas zugestoßen. Das Leben in seinem Revier erinnerte an eine Schönwetterfront mit milden Temperaturen, an einen Wüstenregen. Doch so angenehm es auch war – nichts währte ewig.

Und er würde nicht zulassen, dass es gleich zwei seiner Leute an einem Tag traf.

»Sheriff, die Zeit rennt uns davon«, rief Harp ihm über die Straße zu.

Sein Chief Deputy machte mal wieder Druck. Harp beschwerte sich ständig, Chris wäre zu langsam, zu abwägend, zu unentschlossen … wie bei ihren endlosen Diskussionen, ob sie die Nagelsperren anschaffen sollten oder nicht. Obwohl Chris sich meistens gegen ihn durchsetzte, konnte der Ältere sich seine Sticheleien oft nicht verkneifen: Agieren statt reagieren, darauf kommt es an, Sheriff … man kann nichts zu Ende bringen, was man nie begonnen hat. Diese Art Belehrungen ließ Harp oft und ungefragt vom Stapel, und Amé Reynosa hatte schon viel zu viele davon verinnerlicht.

Chris wusste, was seine Deputys von der Strategie gehalten hätten, die ihm als Erstes in den Sinn kam: im sicheren Bereich hinter den Fahrzeugen so lange warten, bis das Arschloch im Nissan aufgab.

Einfach hoffen, dass der andere irgendwann die Geduld verlor und ausstieg – und wenn sie den ganzen Nachmittag warten mussten.

Das wäre wirklich verdammt unentschlossen.

Doch zu Harps Belehrungen gehörte auch der Spruch: Chris, Hoffnung ist keine Strategie …

Sheriff, die Zeit rennt uns davon.

Verdammte Scheiße.

Chris atmete tief durch und schaute kurz zu Amé. »Ich fordere ihn jetzt auf, auszusteigen. Wenn wir Glück haben, ist er allein und sogar verletzt. Ich sage ihm, er soll rückwärts auf uns zukommen. Wenn ich ihn dann auffordere, auf die Knie zu gehen, läufst du zu ihm hin, drückst ihn mit dem Gesicht auf den Boden und legst ihm Handschellen an. Ich behalte das Auto im Blick, falls da noch einer drinsitzt. Es steht genau in meiner Schusslinie, deshalb gibt Harp dir Rückendeckung. Sollte der Scheißtyp auch nur zucken und irgendwas aus der Tasche ziehen wollen, dann wird Harp schießen. Verstanden?«

Amé nickte, löste bereits die Handschellen von ihrem Gürtel und machte einen Schritt zum Heck des Pick-ups, wo sie ungeschützt wäre. Nicht lange zwar, aber doch ausreichend, falls der andere eine Waffe auf sie gerichtet hatte.

Chris legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du bist wütend, das sind wir alle. Aber du darfst das nicht so an dich heranlassen. Halte dich genau an die Vorschriften. Warte, bis er auf den Knien ist.« Er ließ sie los. »Okay?«

Sie lächelte finster. »Bueno.«

Er gab Harp ein Zeichen. »Ich fordere den Fahrer auf, auszusteigen und rückwärts auf uns zuzukommen. Amé führt aus, du gibst ihr Deckung.« Harp, der den Nissan nicht aus den Augen ließ, nickte.

Am liebsten hätte Chris sich den Fahrer selbst vorgenommen, aber er wusste nicht, ob auf sein kaputtes Knie Verlass war. Nach einer Sportverletzung hatte er sich bei der Schießerei auf der Far Six erneut am Knie verletzt, und sein Bein hatte sich nie vollständig davon erholt. Du hast dich nicht vollständig davon erholt. Er schob den bitteren Gedanken beiseite. Zum Glück hatte Harp fast dreißig Jahre beim Midland PD gearbeitet, einen Großteil davon bei der taktischen Spezialeinheit SWAT. Und obwohl Harp mit Amé fast jede freie Stunde am Schießstand in der Nähe der Chapel Mesa trainierte und sie inzwischen für eine hervorragende Schützin hielt, gab es niemanden, dem Chris einen gezielten Schuss mehr zutraute als seinem Chief Deputy. Er war aus seinem Team der Einzige, der mehr Menschen getötet hatte als Chris. Und deshalb blieb ihm keine andere Wahl, als Amé in den direkten Kontakt mit dem Fahrer zu schicken, sofern dieser denn überhaupt ausstieg.

Chris atmete einmal tief durch, machte sich innerlich bereit. Über den gekürzten Lauf seiner A5 beobachtete er den Nissan. Nichts rührte sich darin, der Fahrer wartete weiter ab.

Wartete darauf, dass er etwas tat. Wie seine beiden Deputys.

»Lassen Sie das Fenster runter und werfen Sie den Schlüssel raus. Dann strecken Sie die linke Hand aus dem Fenster und öffnen die Tür.« Seine laute Stimme überraschte ihn selbst.

Doch nichts geschah.

»Lassen Sie das Fenster runter und werfen Sie den Schlüssel raus.« Sonst … was? Chris wollte Harp und Amé nicht zum Auto schicken, um den Fahrer mit Gewalt herauszuholen. Der Weg dahin war zu weit, und hier draußen gab es keine Deckung. Und von ihrer jetzigen Position aus das Feuer zu eröffnen wäre sinnlos. Und selbst wenn er dem Fahrer drohte, den Nissan mit Blei vollzupumpen, würde der ihm das abkaufen? Würde er selbst überhaupt glaubwürdig klingen können? Vielleicht erfüllte sich sein Wunsch, und sie standen den ganzen Nachmittag hier wie alte Westernhelden beim Duell, für immer im High Noon gefangen, ohne dass einer zuerst zog.

Verdammte Scheiße.

Schweißtropfen sammelten sich in seinen Augen. Keine seiner Optionen war gut, jede auf ihre Art beschissen. Sein Hemd klebte wie eine zweite Haut an ihm – die hochstehende weiße Sonne brannte erbarmungslos auf alles nieder. Seit Tagen war es höllisch heiß, und keine Abkühlung in Sicht. Die Blätter der Kreosotbüsche ringsherum waren braun verbrannt, skelettartig, spröde, kurz davor, zu Staub zu zerfallen. Abgesehen von den Agaven, die von elfenbeinfarbenen Blüten gekrönt wie Soldaten zu den entfernten Bergen zu marschieren schienen, wirkte die Welt hier draußen vollkommen leblos. Als würde ein heißer Atemzug reichen, um alles in Brand zu setzen.

Die Luft über dem Nissan schlug Wellen, reflektierte die Hitze des Motors zum Himmel, wo sie sich verlor.

Amé machte einen Schritt nach vorn und hatte den sicheren Bereich hinter seinem Fahrzeug verlassen; sie war zu weit weg, als dass er sie noch hätte zurückhalten können. Sie hatte Harps Lektionen tatsächlich schon zu sehr verinnerlicht.

»Lassen Sie …«, begann er mit mehr Nachdruck, aber bevor er den Satz beenden konnte, glitt das Fenster auf der Fahrerseite herunter.

Chris visierte mit seiner A5 einen Punkt in der dunklen Kabine an.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Motor nicht mehr lief.

Die Sekunden zogen sich hin, alle hielten den Atem an.

Dann fiel ein Schlüssel aus dem geöffneten Fenster und landete scheppernd auf dem Asphalt.

Im nächsten Moment schob sich ein Arm aus dem Fenster, eine Hand langte nach dem Türgriff und öffnete die Tür.

Ein Mann stieg aus.

Das stimmt nicht ganz, er war jung, Anfang zwanzig, wenn es hochkam, Hispano, in schwarzer Jeans und weißem T-Shirt. Seine Haare waren nach hinten gegelt, und er trug eine Sonnenbrille – schmale Fassung, Designermarke.

Blut war nicht zu sehen.

Chris richtete die A5 auf ihn. »Drehen Sie sich um, verschränken Sie die Hände hinter dem Kopf und kommen Sie rückwärts auf uns zu … langsam … bis ich Sie auffordere, stehen zu bleiben.«

Der Junge – denn das war er für Chris, obwohl er selbst kaum älter war – befolgte die Anweisungen. An seinem Handgelenk hing eine Uhr, sehr groß, teuer. Rückwärts ging er los, warf dabei einen kurzen Blick über die Schulter.

»Augen geradeaus und weitergehen. Langsam.« Da die Tür des Wagens nun offen stand, konnte Chris sehen, dass niemand auf dem Beifahrersitz saß – was aber nicht hieß, dass sich keiner auf der Rückbank versteckte. Während Harp und Amé den Jungen festnahmen, würde er sich also vergewissern müssen, ob der Wagen tatsächlich leer war.

Und dann hörte er es, blecherne Musik, die durch die Wüste hallte. Ein Rap-Stück, das er im Radio schon ein paarmal weggedrückt hatte. Ein, zwei Takte, in Dauerschleife – ein Klingelton – irgendwo im Auto lag ein Handy. Hatte der Junge während der Fahrerflucht etwa telefoniert? Auf einen Scheißanruf gewartet, während Tommy Milford auf der Straße verblutete?

Als der Fahrer die beiden pfeilförmig angeordneten Pick-ups erreichte, hörte das Klingeln auf.

»Noch fünf Schritte. Zählen Sie laut mit, und runter auf die Knie. Die Hände bleiben hinter dem Kopf.«

Eins.

Zwei.

Falls der Junge mitzählte, hörte Chris es nicht.

Drei.

Vier.

Fünf.

Er hatte die Knie erst halb gebeugt, da rannte Amé auch schon los, die Handschellen wie ein Kreuz vor sich her haltend.

Gottverdammt.

Diese Ungeduld.

Chris richtete seine A5 auf die offene Tür, das dunkle Maul des Nissan, wartete auf eine Bewegung im Wageninnern. Aber dann konnte er nicht anders und schielte kurz zu Amé hin, die dem Jungen gerade die freie Hand auf den Hinterkopf legen wollte, um ihn mit dem Gesicht auf den Boden zu drücken. Im selben Moment drehte der Junge den Kopf blitzschnell zu ihr um. Er schien sie zu mustern. Und obwohl seine Augen hinter der teuren Brille versteckt waren, hatte Chris das Gefühl, dass in ihnen etwas vorging … als würde er Amé erkennen … und dann bewegte er die Lippen, sprach aber so leise, dass nur Amé es verstehen konnte.

Sie erwiderte nichts, drückte ihn nur fest auf den Boden, bevor sie seine Arme nach hinten drehte und die Handschellen zuschnappen ließ. Beide waren so jung … sein Deputy und ihr Gefangener. Sie erinnerten Chris an Kinder, vielleicht sogar Bruder und Schwester, die im Garten miteinander rangen. Amé zog den Mann hoch, schleifte ihn in Richtung der Pick-ups. Harp bewegte sich bereits auf den Nissan zu, schwenkte sein Gewehr dabei nach links und rechts, ruhig und regelmäßig wie ein Pendel. Harp würde die Beifahrerseite des Nissan übernehmen, während Chris zur offenen Fahrertür ging, damit sie die Überprüfung des Wagens abschließen konnten. Vielleicht fanden sie dort die Erklärung, warum der Scheißkerl durchgedreht war.

Doch dann sagte der Junge noch etwas zu Amé. Lauter jetzt und auf Spanisch, seine Zunge schnellte hervor wie bei einer gottverdammten Schlange.

Chris blieb stehen, vergaß Harp und den Nissan. Trotz der bereits herrschenden Gluthitze schien die Temperatur noch um ein paar Grad zuzulegen.

»Amé … nein …«

Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht deuten: War es Wut, Überraschung oder etwas anderes? Sie nickte, als würde sie sich das, was der Junge gesagt hatte, oder Chris’ Befehl noch einmal durch den Kopf gehen lassen, doch dann holte sie aus und schlug dem gefesselten Scheißkerl mit voller Wucht ins Gesicht.

2

Stunden später, als die Sonne unterging und sich lange Schatten zwischen den Chisos und Santiago Mountains sammelten, stand Chris auf der Veranda seines unfertigen Hauses und trank ein Bier, auf das aller Voraussicht nach noch etliche folgen würden. Die Sterne ließen sich Zeit, hielten den Atem an, warteten – während über den niedrigeren Bergen ein Sommergewitter tobte.

Hundert Blitze, aber immer noch keine Abkühlung. Seit Wochen war der Regen ausgeblieben, und es war so bald auch mit keinem zu rechnen.

In Murfee hatten es einige befremdlich gefunden, dass Chris das Grundstück seines Vaters verkauft und sich dieses weitab gelegene Stück Land gekauft hatte, einen Teil der alten Far Six Ranch. Chris war in der kleinen Stadt aufgewachsen, aber gleich nach der Schule weggezogen, und niemand, Chris am allerwenigsten, hatte damit gerechnet, dass er zurückkommen und sich auch noch ein Stück Land … dieses Stück Land … kaufen würde. Doch vor zwei Jahren war dann alles anders gekommen, als er hier draußen fast gestorben wäre. Als er drei Kugeln kassiert und drei Männer erschossen hatte. Ins Gesicht hätte es ihm niemand gesagt, aber wenn die Leute im Earlys über ihrem Bier oder Whiskey saßen, sprachen sie Melissa darauf an – sie wollten wissen, warum er ausgerechnet hier leben wollte, und wieso Mel es überhaupt zuließ. Doch Mel zuckte jedes Mal nur die Schultern und fragte lächelnd, ob sie noch ein Getränk bringen durfte. Wie hätte sie es auch erklären sollen, wenn nicht mal Chris eine Erklärung dafür hatte? Vielleicht lag es an Augenblicken wie diesem, wenn die Natur nur für ihn ein Spektakel veranstaltete. Oder daran, dass das Land spottbillig gewesen war und er so nicht länger in der Stadt wohnen musste, die sich schon vor der Schießerei viel zu klein angefühlt hatte, und hinterher richtig beengend, weil die Leute an seinem Haus vorbeifuhren und darauf zeigten, wie sie es früher bei Sheriff Ross’ Anwesen getan hatten.

Hier draußen, auf diesem unermesslichen, menschenleeren Land sah er ein Auto bereits aus meilenweiter Entfernung. Hier draußen sah er alles.

Vielleicht war er aber auch hergezogen, weil er hier Blut verloren hatte und nun glaubte, er würde dem Land etwas schulden oder umgekehrt. Zu Mel hatte er das allerdings nicht gesagt. Und sie hatte seine Entscheidung nie infrage gestellt oder versucht, es ihm auszureden, obwohl sie nun lange Fahrten zur Stadt und zum Earlys auf sich nehmen musste, wo sie immer noch stundenweise arbeitete. Mehr als einmal hatte er ihr gesagt, sie solle den Job aufgeben; aber in Wahrheit brauchten sie das Geld, und Mel beklagte sich nie. Er wusste, dass sie während der Fahrten bei offenem Fenster rauchte, immer sorgsam darauf achtend, die vertrockneten Büsche ringsum mit der Asche nicht aus Versehen in Brand zu setzen.

Doch vor allem war es hier draußen am Rand der Wüste verdammt schön.

Mit dem Haus allerdings war es so eine Sache. Das meiste funktionierte, nur eben nicht immer alles zur selben Zeit. Die Klärgrube hatte ihre Macken, der Strom setzte hin und wieder aus und die Holzbohlen der Veranda waren krumm und schief. Chris hatte fast alles allein gebaut, aber es aufgegeben, nachdem Mel im Earlys einen Witz über Chris’ Handwerkskünste gemacht und Judah Canter angeboten hatte, mit seiner Crew rauszufahren und die Schäden zu reparieren. Als Judah Chris’ Stümperei sah, hatte er nur mit der Zunge geschnalzt und nicht einen Schluck von dem gereichten Bier getrunken, als hätte er Angst, auch damit wäre irgendwas nicht in Ordnung. Helfen wollte er trotzdem. Auf Judah war nicht nur Verlass, er war auch noch billig – seit Jahrzehnten schon besserte er in der Gegend um Murfee Häuser aus – und dank ihm und seiner Leute war das Haus inzwischen einigermaßen bewohnbar. Erst kürzlich hatten sie zwei Kanonenöfen eingebaut, doch bis Mel und Chris Gelegenheit für einen Testlauf hätten, würden noch Monate ins Land gehen. Da Chris diesmal nicht selbst Hand angelegt hatte, standen die Chancen gut, dass die Öfen nicht das ganze Haus einräuchern würden.

Und dass es schon so lange nicht mehr geregnet hatte, hatte auch sein Gutes … denn so musste Chris sich keine Gedanken machen, wo das Wasser als Nächstes durchs Dach tropfte.

Mel kam durch die Fliegengittertür nach draußen und reichte ihm ein herrlich kaltes Rahr & Sons. Sie setzte sich auf die Verandaschaukel, die sie mit ein paar wenigen anderen Sachen aus dem alten Haus mitgenommen hatten. Die Schaukel hatte seiner Mutter gehört, und Mel hatte sich so wenig davon trennen können wie er.

»Amé hat ihm also eine runtergehauen?«, nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Ja, einen hübschen rechten Haken, mitten ins Gesicht. Der Typ hat Blut gespuckt.«

Mel schüttelte den Kopf. »Was hat er bloß zu ihr gesagt?«

»Irgendwas über Tommy, dass er froh ist, dass er ihn angefahren und schwer verletzt hat. Behauptet sie wenigstens. Aber ob das stimmt? Keine Ahnung.«

Mel schaute zum dunkler werdenden Himmel hin. »Was sagt Ben dazu?«

Chris zuckte die Schultern und trank einen Schluck Bier. Was sagt Ben dazu? hatte sich im letzten Jahr zu Mels Standardfrage entwickelt. Ben Harper hatte den Dienst beim Midland Police Department eigentlich schon quittiert gehabt, weil er seinen Lebensabend mit seiner Frau Jackie am Falcon Lake in Starr County mit Biertrinken und Barschangeln verbringen wollte, doch dann hatte Jackie einen Schlaganfall gehabt und war kurz danach gestorben. Nachdem Chris zum Sheriff des Big Bend County gewählt worden war, hatte ihm ein Kollege aus Midland von Harp erzählt – er sei ein erfahrener Polizist und könne sein Revier auf Vordermann bringen, in dem das nackte Chaos herrschte, seit der alte Sheriff Stanford Ross von seinem Chief Deputy Duane Dupree ermordet worden war.

Als Chris bei Harp anrief, stellte dieser ihm keine Fragen, weil er offenbar zwischen den Schlagzeilen der Zeitungen herausgelesen hatte, dass hinter der Geschichte weit mehr stecken musste. Und er hatte versprochen, ihm zu helfen, obwohl Chris ihm gestanden hatte, dass man ihn nach Ross’ Tod nur zum Sheriff gewählt hatte, weil er in Murfee als Held galt und nicht etwa wegen seiner Befähigung, ein Revier zu leiten. Ben hatte von der Polizeiarbeit mehr verlernt, als Chris in seinem einen Dienstjahr gelernt hatte, und schon seine Anwesenheit brachte Ruhe in den Laden. Vor anderen stellte er Chris nie infrage und er versuchte auch nicht, seine langjährige Erfahrung gegen ihn auszuspielen, doch wenn sie allein waren, hatte er kein Problem damit, Chris gute Ratschläge zu erteilen. Seine berühmten Belehrungen. Chris hatte ihn sofort zum Chief Deputy ernannt, und Harper hatte die anderen Deputys, allen voran Amé, unter seine Fittiche genommen und sich außerdem mit Mel angefreundet. Er hatte die Wohnung über Modelle Greers Garage gemietet und verbrachte viele Abende im Earlys, wo er Mel am Tresen Gesellschaft leistete.

Chris mochte ihn und vertraute ihm; das taten sie beide.

»Harp stand näher dran und hat gehört, dass der Junge was gesagt hat, aber weil es auf Spanisch war, hat er kein Wort verstanden.« Chris drehte die Bierflasche in den Händen. »Harp hat sie später danach gefragt, und sie hat ihm dasselbe erzählt wie mir. Aber darauf kommt es nicht an. Man schlägt niemanden, der Handschellen trägt, ganz gleich, was er sagt oder tut.«

Mels Blick schien zu sagen, dass sie es anders sah. »Hast du noch mal im Krankenhaus angerufen? Wie geht’s Tommy?«

»Besser als befürchtet und wesentlich besser als er aussah, als er auf der Straße lag. Er ist bei Bewusstsein, hat sogar Witze gerissen. Buck und Dale sind jetzt bei ihm. Er wollte einen Burger aus dem Hamilton, und sie haben ihm einen geholt. Für Bier ist er eigentlich noch nicht alt genug, aber ich hab den Jungs erlaubt, ihm eins ins Krankenhaus zu schmuggeln. Seine Verletzungen lesen sich wie eine Einkaufsliste. Punktierte Lunge, geprellte Milz, gebrochene Rippen und was nicht alles. Das linke Bein hat es übel erwischt … richtig übel. Gehen kann er erst mal vergessen. Wenn er Pech hat, wird er nie wieder richtig laufen können.« Chris schaute nicht auf sein eigenes Knie. Mit schweren Beinverletzungen kannte er sich selbst nur allzu gut aus, vor allem mit solchen, die niemals vollständig verheilten. Er kippte den letzten Schluck Bier hinunter. »Harp hat mich gewarnt, die beiden nicht allein auf Streife zu schicken. Er mag Dale, denkt aber, der Junge hätte zu viele Filme gesehen. Und er hat Tommy dabei erwischt, wie er auf der Toilette mit der Waffe auf sein Spiegelbild gezielt und trocken abgedrückt hat. Es sollte nur für ein paar Tage sein, um Tommy einzuarbeiten. Harp kann sich nicht um alles kümmern. Und er kann nicht bei jedem mitfahren.«

»Und du auch nicht. Es ist passiert. Und es wird wieder passieren.« Mel streckte ein Bein aus und tippte ihn mit dem nackten großen Zeh an. »Du konntest das doch nicht ahnen.«

»Ja, aber vielleicht wird gerade das von mir erwartet.« Er griff nach ihrem Fuß, hielt ihn fest. »Dale ist gerade mal zwanzig, Amé nicht viel älter. Till Greer ist was? Dreiundzwanzig? Buck Emmett ebenfalls. Gott, Tommy ist vorgestern neunzehn geworden. Alles noch halbe Kinder. Und ich schicke sie raus, wo sie verletzt werden können.«

»Sagt der alte Mann von sechsundzwanzig Jahren. Wir sind uns einig, dass Ben und du nicht überall sein könnt. Ihr müsst sie so gut es eben geht einarbeiten, und dann hoffen, dass sie das Richtige tun. Und weißt du was? Selbst dann wird ab und zu mal was schiefgehen. So ist der Job nun mal.«

Er ließ ihren Fuß los. »Harp sagt mir ständig, dass Hoffnung keine Strategie ist. Aber du hast recht. So ist der Job nun mal. Trotzdem wird es dadurch nicht besser. Vielleicht weiß ich selbst noch nicht genug, um sie richtig einzuarbeiten.«

Sie stand auf, legte einen Arm um ihn und schaute in dieselbe Richtung wie er, dorthin, wo das Sommergewitter tobte und bald die Sterne aufziehen würden. »Du weißt eine Menge. Schließlich hast du ein Vermögen für diese ganzen Bücher ausgegeben.« Sie lachte noch einmal, und dieses Mal stimmte er mit ein. Er hatte sich Dutzende Bücher besorgt, über Strafverfolgungsmethoden, Polizeipsychologie, Personalführung. Alles, was ihm half, seinen Job gut zu machen. Die Bücher lagen in seinem Pick-up, auf dem Nachttisch, einige hatte er sogar in seiner Schreibtischschublade auf dem Revier versteckt. Harp hatte sie gesehen, aber sich einen Kommentar verkniffen, doch vor ein paar Monaten hatte er Chris sein zerlesenes Exemplar von Edward Conlons Blue Blood gegeben. Für einen großen Leser hatte er Harp nicht gehalten, aber der Mann war schon mehr als einmal für eine Überraschung gut gewesen. Er bemalte seine Fischköder mit der Hand, spielte Schach gegen sich selbst und hatte Chris die paar Male, als er ihn herausgefordert hatte, mühelos geschlagen, obwohl Chris kein schlechter Spieler war. Außerdem kannte er unzählige Geschichten aus dem Wilden Westen, konnte stundenlang Cowboy-Gedichte aufsagen und hörte nur Jazz. Einen Fernseher besaß er nicht, stattdessen ließ er in seiner Wohnung und dem Auto immer eine CD aus seiner gigantischen Sammlung mit Alben von Art Tatum, Charles Mingus und Thelonious Monk laufen.

»Warum wollten Tommy und Dale den Typen eigentlich anhalten? Und warum ist er abgehauen?« Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie hinzufügte: »Drogen?«

Ein heikles Thema wegen der Geschichten, die sich in Murfee abgespielt hatten und in die nicht nur der ehemalige Sheriff und sein Chief Deputy verwickelt gewesen waren, sondern auch Deputy Amé Reynosas älterer Bruder Rodolfo.

»Nein, er ist zu schnell gefahren, und dann haben die Jungs das Nummernschild aus Arizona gesehen, und das hat sie stutzig gemacht.« Den anderen Grund, den wahren Grund, wie er vermutete, erwähnte er nicht. Seine beiden weißen Deputys hatten einen jungen Mexikaner gesehen, der nicht in einem rostigen Pick-up mit einem Nummernschild aus Ojinaga saß, sondern in einem Neuwagen, der ein Jahresgehalt kostete. Nur deshalb waren sie auf den Mann aufmerksam geworden. Ein Mex in einem schicken Auto – das hatte sie stutzig gemacht.

»Als sie ihn angeblinkt haben, ist er rechts ran, aber als Tommy zu dem Auto hinwollte, hat er mit Vollgas zurückgesetzt und Tommy einfach über den Haufen gefahren. Vielleicht war er genauso nervös wie die beiden, und es war keine Absicht. Woher sollen wir das wissen? Er weigert sich, mit uns zu reden. Ich habe morgen früh einen Termin bei Royal, mal sehen, was sich da ergibt.«

Royal Moody war der Staatsanwalt, der für Big Bend, Terrell, Jeff Davis und noch ein paar andere Countys zuständig war – für einen Großteil der Trans-Pecos-Region, fast sechzehntausend Quadratmeilen. Mehr als die Hälfte davon wurde von Chris und seinen Deputys kontrolliert. Royal selbst hatte ein Büro in Murfee und eins in Nathan.

»Laut Führerschein heißt er Azahel Avalos und ist dreiundzwanzig.«

Mel schmiegte den Kopf an Chris’ Schulter. »Also auch nicht viel älter als Tommy oder Amé.«

Chris küsste sie aufs Haar, legte den Arm um ihre Schulter, zählte die Blitze und wartete auf den Donner, der nicht kam.

»Nein, nicht wirklich.«

• • •

Chris hatte im Schlaf die Decke weggetreten, sodass sein langer, dünner Körper bis auf die Boxershorts nackt war. Nach der Schießerei und der anschließenden Reha hatte er sein ehemaliges Sportlergewicht nicht wiedererlangt. Aber wenn man ihn heute in Uniform oder Zivilkleidung sah, sodass seine Narben verdeckt wurden, wäre man nie darauf gekommen, wie schlimm es ihn damals erwischt hatte. Nur wer ihn von früher kannte, konnte sehen, welchen Preis er bezahlt hatte.

Wie viel er von sich zurückgelassen hatte – im Guten wie im Schlechten.

Mel legte sich neben ihn auf die Decke. Sie hatte zwei Kastenventilatoren im Schlafzimmer aufgestellt und ließ sie auf Hochtouren laufen, trotzdem war es immer noch viel zu heiß. Sie war völlig nackt, weil sie die Wärme seines Körpers an ihrer Haut spüren wollte. Er rührte sich, redete im Schlaf, während der Mond auf sein Gesicht schien.

Manchmal konnte sie sich kaum vorstellen, dass er hier draußen fast gestorben wäre, vielleicht sogar in Sichtweite ihres Schlafzimmers. Ihm hatte sie nie erzählt, dass sie, wenn sie allein war, Angst hatte, aus dem Fenster zu schauen. Angst, Chris’ früheres Ich als Geist zu sehen, der nun den Weg nach Hause nicht mehr fand und durch die Wüste irrte. Ihr war bewusst, dass es ihn tröstete, hier zu wohnen; gerade so, als könnte er mit dem Menschen, der er einmal war, in Kontakt treten. Doch dieser Mensch existierte nicht mehr. Alles, was auf der Far Six und in Murfee geschehen war, hatte Chris für immer verändert. Einige seiner Charakterzüge waren verschwunden, andere wirkten jetzt ausgeprägter, manche dunkler, was der Dauerstress, ein Revier zu leiten und die Verantwortung für seine Mitarbeiter zu tragen, noch verstärkte. Denn er tat alles, um nicht zu werden wie Sheriff Ross und Chief Deputy Dupree – die Männer, die ihn damals hatten töten wollen. Aber auch Mel hatte an dem Tag, als er angeschossen wurde, etwas verloren: das Gefühl von Sicherheit, eine sorglose Zukunft. Sie brauchte Chris, wie sie ihn immer gebraucht hatte, und ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht mehr vorstellen. Dennoch würde sie hier draußen immer Angst haben, weil der Geist des Mannes, in den sie sich damals verliebt hatte, so nah war. Des einzigen Mannes, den sie jemals lieben würde.

Diese Angst ließ sich nicht mit der Alarmanlage oder den Bewegungsmeldern vertreiben, mit denen sie das Haus ausgerüstet hatten.

Vielleicht war es die Sorte Angst, die sich niemals legen würde.

Ben hatte ihnen geraten, sich einen Hund anzuschaffen, damit Mel hier draußen nicht so allein wäre. Wie sie wusste, war er vor der wilden Verfolgungsjagd in Artesia gewesen, um sich einen Wurf Welpen anzusehen. Das hatte er ihr vorgestern Abend im Earlys erzählt, aber sie hatte erwidert, wenn jemand einen Hund brauche, dann er. In Wahrheit brauchte er aber eine neue Frau.

Mel war sich nicht sicher, ob Chris wusste, wie sehr Ben noch immer unter dem Tod seiner Frau Jackie litt. Dass er in der Einzimmerwohnung über Modelle Greers Garage kaum schlief und jeden Tag viel zu viel trank, und das nicht nur, wenn er bei ihr im Earlys saß. Sie mochte den älteren Mann sehr, der auf seine Art immer noch gut aussah. Er war dünn, drahtig, das grau durchwirkte Haar trug er stoppelkurz, und seine Augen hatten die Farbe eines kalten Himmels, der von Schnee kündet. Sie fühlte sich in seiner Nähe wohl, schätzte seine Lebenserfahrung und rechnete es ihm hoch an, dass er Chris unterstützte und ihm Selbstvertrauen gab. Dass Chris das Revier ohne ihn so gut im Griff hätte, konnte sie sich nicht vorstellen, so wenig wie sie sich vorstellen konnte, was Ben Harper machen würde, wenn er Chris nicht mehr unter die Arme greifen durfte. Auf den ersten Blick waren die beiden Männer grundverschieden, bei genauerer Betrachtung jedoch mehr wie die beiden Seiten einer Münze. Chris und Ben brauchten einander, auch wenn sie das selbst vielleicht nicht wussten. Trotzdem machte Mel sich Sorgen wegen der vielen Nächte, in denen Ben allein in seiner Wohnung hockte, Jazz-CDs hörte und trank. Und wenn er tatsächlich einmal schlief, sicher von seiner Frau träumte.

Sie stellte sich vor, wie Amé Reynosa diesem Azahel Avalos eine runtergehauen hatte, und musste unwillkürlich lächeln. Wie jeder in Murfee hatte sie am Anfang Zweifel gehabt, ob es richtig gewesen war, die junge Frau zum Deputy zu ernennen. Selbst heute noch hörte Mel hin und wieder, wie sich die Leute etwas über ihren verstorbenen Bruder und ihre Familie in Mexiko zuraunten. Doch Chris betonte immer wieder, dass sie ihren Job verdammt gut machte und es für das Sheriff’s Department des Big Bend County ein notwendiger Schritt gewesen war, jemanden wie sie einzustellen. Er hatte volles Vertrauen zu Amé und hatte zu Mel schon oft gesagt, sein Deputy würde ihn daran erinnern, wie sie gewesen war, als sie sich an der Baylor University kennengelernt hatten – höllisch temperamentvoll und geradeheraus.

Baylor kam ihr inzwischen unendlich weit weg vor. Dort hatte sie Chris zum ersten Mal gesehen, als er mit einem Football an der Seitenlinie des Spielfelds stand. Doch seit der Schießerei hatte er keinen Ball mehr angerührt. An jenem Abend aber hatte er hinter ihrem alten Haus etliche Bälle in die kalte, dunkle Wüste gefeuert, bevor er aufgebrochen war, um sich mit Duane Dupree auf der Far Six zu treffen. Zu der Zeit hatten Chris und sie sich schon länger nicht mehr richtig verstanden und wegen Dingen gestritten, die heute keine Bedeutung mehr hatten; doch an dem Abend war er für wenige Stunden wieder der alte Chris gewesen, hatte mit ihr gelacht, sie geküsst und seine Bälle geworfen, bevor er seine Pistole geholstert hatte und weggefahren war. Nach den Monaten voller Streit hatte sie geglaubt, ihn zurückgewonnen zu haben, aber dann war der Mann, der von der Far Six zurückgekehrt war – der überlebt hatte – nicht mehr derselbe gewesen; doch sie war es auch nicht mehr.

Die Melissa Bristow, die Chris an der Baylor kennengelernt hatte, war nun ebenfalls ein Geist.

Mel wurde dieses Jahr dreißig, und obwohl Chris älter war als seine Deputys – von Ben einmal abgesehen – und gern Witze über die »jungen Leute« machte, war ihr klar, dass sie beide selbst viel zu jung waren, um sich so abgeklärt zu fühlen. Gut, sie hatten Narben davongetragen, aber sie waren an der Vergangenheit nicht zerbrochen. Und sie würde immer dagegen ankämpfen, damit sie nicht eines Tages nur noch nebeneinanderher lebten und sich an die Erinnerungen an ihr früheres Selbst klammerten.

Sie drehte sich auf die Seite, schaute ihm beim Schlafen zu. Fragte sich, wovon er träumte. Vor ein paar Monaten hatte er angefangen, Notizblöcke vollzuschreiben und sie in einer Schublade in seinem Arbeitszimmer zu verstecken. Sie hatte keine Ahnung, was er schrieb – Geschichten oder Ideen, wie er die Arbeit auf dem Revier verbessern konnte –, aber wenn er es tat, hatte er denselben Gesichtsausdruck wie an dem Abend, als er in ihrem alten Garten Bälle geworfen hatte. Hochgradig konzentriert – der Körper zwar anwesend, aber der Kopf weit weg. Auch jetzt im Schlaf sah er so aus.

Um ihn nicht zu wecken, küsste sie ihn sanft auf die Wange, bevor sie die Augen schloss.

Sie wachte auf – in Panik, weil Chris auf dem Bett saß und telefonierte.

Irgendwas war los … ging es um Tommy Milford oder den jungen Mexikaner, den sie ins County-Gefängnis gebracht hatten? Oder gar um Ben? Sie setzte sich auf, zog die Decke bis zur Brust hoch, schaute zum Fenster, hinter dem sich der Mond verzogen hatte und sich die Morgendämmerung grau ankündigte. Chris beendete das Gespräch und schaute jetzt ebenfalls zum Fenster hin, ins sich langsam ausbreitende Licht.

Er wollte gerade aufstehen, als er merkte, dass sie wach war.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Das war Harp. Es wurde ein Toter gefunden, drüben in Terlingua, in der Nähe des Wikiup. Das ist eine Kneipe, gibt es schon ewig.«

»Von dem Laden habe ich schon gehört.« Mel hielt die Decke umklammert, weil sie trotz Hitze im Zimmer plötzlich fror. Bei der letzten Leiche, die man in der Nähe von Murfee gefunden hatte, hatten Chris’ Ermittlungen zur Identität des Opfers einen Flächenbrand entfacht, bei dem ein FBI-Agent sowie der korrupte Sheriff Ross und sein Deputy Dupree gewaltsam ums Leben gekommen waren; Duane Duprees enthauptete Leiche hatte man in den verbrannten Überresten seines Hauses gefunden. Sheriff Ross’ minderjähriger Sohn Caleb hatte Murfee daraufhin verlassen. Und in Amé war der Wunsch geweckt worden, in den Polizeidienst einzutreten, nachdem herausgekommen war, dass es sich bei dem Toten, den Chris in der Wüste gefunden hatte, um ihren Bruder Rodolfo handelte – ermordet wegen seiner Verbindungen zu einem mexikanischen Drogenkartell. Alles war erst zu Ende gewesen, nachdem Chris auf der Far Six drei Killer des Kartells erschossen hatte und dabei selbst fast gestorben wäre. Eine abenteuerliche Geschichte, die so klang, als wäre sie anderen Leuten passiert – aber es war ihre eigene. Und wenn das, was Tommy gestern zugestoßen war, schon schlimm genug war, so wäre ein weiterer namenloser Toter … ein weiterer Mord … mit Sicherheit hundertmal schlimmer.

»Wisst … wisst ihr schon, wer es ist …?«

»Ja, ein gewisser Billy Bravo, hat als River Guide gearbeitet. Seine Freundin hat ihn identifiziert. Sie hat ihn auch gefunden. Nach einem Unfall sieht es nicht aus, aber …« Chris stand auf. »Ich schicke Harp und Amé hin. Ich muss heute zu Moody, besprechen, wie es mit unserem Gefangenen weitergeht.«